Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Emilia und ihre Freunde haben es geschafft, die alten Schmieden von Oragon, die al Manor Oragon zu finden. Emilia ist erleichtert, doch etwas überschattet ihr Glück. Emilia ist eine Erbin der Kalinor und hat ihre Aufgabe noch lange nicht erfüllt. Sie muss in den Krieg ziehen und für ihr Land Alenach und die gesamte zweite Welt kämpfen. Ein Glück, dass sie ihre Freunde an ihrer Seite hat. Als Emilias Bruder auf einem Ausritt entführt wird, spitzt sich die Lage zu. Und ausgerechnet jetzt beginnt Emilias Freundin Viktoria sich sehr merkwürdig zu benehmen. Dabei braucht Emilia doch alle Hilfe, um ihr Erbe zu erfüllen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 303
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Carlotta Oertel
Das Vermächtnis
Von
Synaton II
Texte: © Copyright by Carlotta Oertel
Umschlaggestaltung: © Copyright by Carlotta Oertel
Verlag:Astrid OertelGroendelle 842555 Velbert
Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Inhalt
Prolog6
Die Eröffnung des Krieges?14
Ein altes Schwert36
Kriegerin44
Was erwartet diese Welt von mir?60
Emmi75
Angst, Respekt und Liebe79
Selvin89
Der Auftakt des Krieges96
Das Rätsel138
Folter172
Der Beginn181
Viktoria192
Der Plan197
Die Rettung und das Ende der Welt213
Viele Schwüre232
Letzte Verzweiflung263
Der Verrat294
Ein Leben ohne Liebe342
Eine Krone aus alter Zeit382
Grausam und brutal386
Die Sonne schien hell und warm auf die Wiese. Es war hochsommerlich warm, Schmetterlinge schwirrten über die Wiese und von fern hörte man die Rufe und das Lachen spielender Kinder.
Der alte Mann, der auf der Wiese stand, lächelte und sog die Luft tief in sich hinein. Hier schien der Krieg nicht zu existieren. Er genoss das Gefühl, hier zu stehen, in vollen Zügen. Wie lange war es her, dass er unbeschwertes Lachen gehört hatte? Wann hatte er das letzte Mal Kinder gesehen, oder war an einem friedlichen Ort gewesen? Er konnte es nicht sagen.
Die Wiese, auf der er stand, lag auf einem Hügel. An dessen Fuß war ein kleines Dorf zu sehen. Er überlegte gerade, ob er hinunter gehen sollte, als ein kleines Mädchen auf ihn zu rannte. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, ihre Augen strahlten in einem Dunkelgrün und ihr kleines Gesicht schien vor Freude zu glühen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn hinter sich her, hinunter ins Dorf. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor, obwohl er sicher war, sie nie zuvor gesehen zu haben.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann. Die kleine antwortete nicht, sondern strahlte nur über ihr ganzes Gesicht. Das Mädchen lief so schnell, dass er mit seinen alten Knochen kaum mithalten konnte. Sie führte den alten Mann zu einem großen Haus in der Dorfmitte. Auf dem Weg dorthin wurden sie mit neugierigen Blicken bedacht. Gerade wollte er klopfen, als die Tür sich öffnete. Ein Junge erschien, der dem Mädchen sehr ähnlich sah. Nur sein Haar war kürzer.
Die Zwillinge - der Mann nahm an, dass es welche waren - führten ihn in ein geräumiges Wohnzimmer. Dort saßen zwei Personen in Sesseln. Sie erhoben sich, als sie die drei Neuankömmlinge bemerkten. Es waren eine Frau und ein Mann, beide nicht älter als dreißig. Die Frau hatte langes, hochgestecktes dunkelbraunes Haar, der Mann war kahlköpfig. Unter seinem Hemd zeichneten sich deutlich die kräftigen Muskeln ab. Als die Frau den Alten sah, erstarrte sie. Sie klammerte sich an ihrem Gemahl fest. Dann stürmte sie los und warf sich in seine Arme. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Neunzehn Jahre“, schluchzte sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt. „Eine viel zu lange Zeit“.
„Ja viel zu lange“. Ohne, dass er es bemerkt hatte, waren auch ihm Tränen in die Augen gestiegen.
Eine Zeit standen sie so da, ineinander verschlungen. Dann kam der junge Mann näher und legte seine mächtigen Arme um sie beide. Er wollte so stehen bleiben, für den Rest seines Lebens, doch es gab Dringendes zu erledigen. Der Alte löste sich sanft aus der Umarmung seiner Tochter und ihres Gemahls. Dann schlug er einen heiteren Tonfall an.
„Wie ich sehe, habt ihr für Nachwuchs gesorgt“. Unter Tränen lächelte die Frau. „Sie sind wunderschön, nicht? Zwillinge, alle beide gesund und munter. Neun Jahre sind sie nun alt“.
„Und wie heißen sie?“.
„Das Mädchen haben wir Viktoria genannt, weil wir auf euren Sieg hofften. Und der Junge…nun ja, wir haben ihn nach dir benannt, Selvin“. Selvin stockte mitten in der Bewegung. Ein Kind, welches seinen Namen trug. Er hatte es nicht verdient, diese Ehre, nicht nach dem, was er getan hatte.
„Wir dachten, du seist tot“, meldete sich das erste Mal der Vater der Kinder zu Wort. Sein Name war Hellmund. Seine Frau und Selvins Tochter hieß Mariana.
„Ich bin nicht tot. Ich war dem Tod sehr nahe, das stimmt, doch ich bin ihm entronnen. Doch nun sagt mir, wo ist Erina?“.
„Aber Selvin, sie ist doch“… stotterte Hellmund und brach ab. Er war blass geworden.
„Ich weiß“, sagte Selvin mit fester Stimme. Er wusste es und er würde sich noch einmal von dieser Neuigkeit zerschmettern lassen.
„Wo habt ihr sie begraben?“. Mariana hatte sich wieder so weit gefasst, dass sie sprechen konnte.
„Auf einem Hügel, nicht weit von hier. Unter einer großen Linde, wie es ihre Lieblingsbäume waren“.
„Ich will es sehen“, meinte Selvin nur.
Er stand mit gesenktem Kopf an Erinas Grab. Es war schlicht, der Grabstein ein einfacher, ein wenig polierter Steinblock, der ihren Namen trug. Darum herum hatte jemand Blumen gepflanzt. So hätte es seiner Ehefrau gefallen. Sacht legte er eine Blume auf den Schriftzug, der nur lautete:
Erina
Danach wandte er sich zu seiner Tochter und seinem Schwiegersohn um.
„Ich wäre gern ein wenig allein“. Die beiden nickten stumm und liefen hinab ins Dorf. Als er sicher war, dass sie weg waren, griff sich Selvin in die innere Manteltasche und zog eine kleine Schatulle heraus. Sie bestand aus Metall, auf dem Deckel mit Edelsteinen besetzt. Er warf einen Blick über die Schulter, dann hob er den Grabstein an, grub darunter eine kleine Kuhle, legte das Kästchen vorsichtig hinein und füllte das Loch wieder mit Erde. Zum Schluss ließ er den Stein wieder auf die Stelle fallen, an die er gehörte. Wie seltsam leicht er war, wie für diesen Moment gemacht.
„Es tut mir so leid, Erina. Ich habe dich enttäuscht. Ich habe dein letztes Geschenk behütet, aber nicht genug. Ich habe es jedoch wiedererlangt, nun soll es wieder bei dir sein. Bald bin ich ohnehin wieder bei dir, meine geliebte Frau. Doch das Geheimnis darf niemand erfahren, niemand. Es tut mir so leid. Ich werde diese Welt verlassen, aber keine gute zurücklassen. Gib mir die Kraft, die ich brauche. Ich habe etwas Schreckliches getan, Erina. Etwas, das mir kein lebendiger Mensch wird verzeihen können. Es war nötig und doch zerreißt mich diese Tat fast. Und es wird schlimmer kommen. Auf Wiedersehen, geliebte Gemahlin. Ich hoffe auf ein Wiedersehen. Es sei denn, ich komme nicht ins Himmelreich. Das werden wir sehen. Nur Gott kann mir jetzt noch verzeihen“. Weinend presste der alte Mann eine Hand auf den Stein.
Und er bemerkte nicht die kleine Gestalt, die hinter dem Baum stand und alles gehört hatte. Viktoria stand reglos da. Ihr zuvor so fröhliches Gesicht wie versteinert. Da sank der Mann vor dem Grabstein plötzlich zusammen, ein Pfeil ragte aus seiner Brust. Er war tot. Viktoria rannte panisch hinüber zum Hügelkamm. Das Dorf brannte lichterloh. Schreie sterbender Menschen waren zu hören. Viktoria schrie laut nach ihrer Familie, doch niemand antwortete ihr. Und da kamen Männer in schwarzer Rüstung auf sie zu, versuchten, sie zu packen. Viktoria rannte um ihr Leben, oder mindestens ihre Freiheit. Sie rannte zum Dorfrand, zu der kleinen Weide dort. Sie wich Feinden aus und umkurvte Feuer. Es war unerträglich heiß. Sie kletterte über den Zaun und schwang sich auf den Rücken des jungen Apfelschimmels, den sie erst vor einer Woche von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Bei ihrem Hengst stand auch noch der ihres Bruders. Viktoria öffnete das Gatter und galoppierte los, ihres Bruders Pferd hinter sich. Ihr Ross war schnell, schneller als die Tiere ihrer Verfolger. Nach einer Weile entkam sie ihnen. Doch sie ritt weiter, bis sie am Abend einen Fluss erreichte, wo sie Halt machte. Ihre Augen brachten schon längst keine Tränen mehr hervor und ihr Hals war vom vielen Schluchzen ganz rau.
Jetzt weiß ich einenNamen für ihn, dachte sie, als sie ihrem Pferd den Hals streichelte. Swiko, soll er heißen und mich für immer an den Schmerz erinnern, den ich erlitten habe. Denn ich konnte meine Familie nicht retten.
Emilia stöhnte vor Schmerz, als Darwins Holzschwert mit voller Wucht gegen ihre linke Kniescheibe knallte. Sie sank in die Knie und presste eine Hand auf den schmerzenden Punkt, wo bestimmt gerade ein Bluterguss entstand. Doch schon griff Darwin wieder an. Gerade noch rechtzeitig hob Emilia ihr eigenes Holzschwert und parierte den Hieb. Ein Zittern lief durch ihren ganzen Arm, als die Stöcke aufeinanderprallten. Doch sie riss sich zusammen und ging ihrerseits zum Angriff über. Sie versuchte, ein Netz um Darwins Klinge zu legen, so wie er es ihr beigebracht hatte, doch er wich seitlich aus und traf sie an den Rippen, wo sie vor scheinbar so langer Zeit der Pfeil verwundet hatte. Sie biss die Zähne zusammen und schwang ihr Schwert zum Gegenstoß. Diesmal landete sie einen Treffer an dem Arm ihres Gegners und kratzte ihm -eher unabsichtlich- über die Wange. Ihr Lehrer lächelte und gab seiner Schülerin ein Zeichen, den Kampf zu beenden.
„Wie war ich diesmal?“, fragte Emilia ihren Lehrer. „Besser“, antwortete dieser. „Aber du musst dich mehr auf den Kampf konzentrieren. Deine Gedanken schweifen zu schnell ab. Wenn du voll und ganz auf den Kampf fokussiert bist, dann kannst du mit einer Klinge wahre Wunder vollbringen. Doch wenn du währenddessen über etwas anderes nachdenkst als über deine Taktik, wirst du zu einer leichten Beute“.
Emilia nickte stumm. Seine Worte überraschten sie nicht. Er sagte es jedes Mal. Sie schaffte es einfach nicht, an nichts außer an den Kampf zu denken. Man sollte ja meinen, dass der Schmerz in ihren Knochen sie daran hinderte, an etwas anderes zu denken, jedoch stimmte das nicht. Sie konnte nicht aus ihrem Kopf verdrängen, was Viktoria, Lilien und Loan ihr erst gestern mitgeteilt hatten. Dass sie eine Erbin der Kalinor war. Diese Neuigkeit war ein Schock gewesen. Sie konnte es nicht glauben. Sie, eine Kalinor. Eine Prinzessin von Alenach. Denn die Kalinor waren gleichzeitig die Königsfamilie und Nachfolger von Vrena, einer Kriegsheldin. Und von Vrena kam ihre Macht und von den Sinaja. Emilia verstand die Geschichte nicht ganz. Die Kalinor hatten im Krieg eine wichtige Rolle gespielt, soviel kapierte sie wenigstens. Und meine Mutter war eine der mächtigsten seit Vrena, dachte das Mädchen mit grimmigem Stolz. Und ich?Werde ich auch eine gute Kalinor sein? Eine mächtige Kriegerin? Und was ist mit Mio und Rebekka? Werden sie auch kämpfen müssen? Bei dem Gedanken ans Kämpfen, nicht an Trainingsstunden mit Holzschwertern sondern ans richtige Kämpfen, wurde Emilia ganz übel. Sie wollte keine Menschen töten, auch wenn sie böse waren. Sie bezweifelte auch, dass sie es konnte.
Seit sie die Schmieden von Oragon gefunden hatten, drehte sich alles nur um Krieg. Aus den unterirdischen Werkstätten der Stadt dröhnten Hammerschläge, denn die besten Schmiede des Landes fertigten dort Rüstungen und Waffen nach der Anleitung der alten Meister aus Oragon-Metall an oder Methiain, wie es genannt wurde. Diese Anleitungen waren in große Tafeln aus Eisen graviert.
„Wir machen Schluss für heute“, sagte Darwin und unterbrach damit ihre Gedanken. Emilia nickte und lief davon auf die andere Seite des Übungsfeldes, wo sie sich eine halbe Stunde im Bogenschießen unterweisen ließ, von einem Soldaten namens Felix. Felix hatte in einer Schlacht sein linkes Bein verloren und war somit nicht mehr zum Schwertkampf fähig. Doch er hatte sich nicht vom Schlachtfeld vertreiben lassen und deswegen das Bogenschießen perfektioniert. Bei ihm lernte Emilia viel, sie hatte in der wenigen Zeit, in der sie den Umgang mit Waffen lernte, schon sehr viel gelernt, was hauptsächlich an ihrem Lehrer lag - Kalinor hin oder her, perfekt im Umgang mit allem Kriegswerkzeug war Emilia nicht, auch wenn sie Talent hatte.
Nach der Übung ging sie in den großen Speisesaal und aß zu Mittag. Sie saß an einem Tisch mit ihren Geschwistern und Viktoria, die für den Schutz der Kleinen verantwortlich war. Nach dem Essen ging Emilia zum Unterricht bei Lilien.
Und so verstrichen dieser Tag und auch der nächste, so, wie sie immer waren. Morgens stand Emilia früh auf, wenn ihre Geschwister noch schliefen, und machte sich fertig. Dann ging es zum Frühstück. Danach hatte sie mehrere Stunden Kampfunterricht, um den Umgang mit allen möglichen Waffen zu lernen. Ob Schwert, Bogen, Dolch, Speer, Kriegshammer, Streitaxt, Hellebarde, Pieke, Keule oder Steinschleuder, anscheinend sollte sie alles können. Danach gab es Mittagessen, wo sie Mio, Rebekka und Freunde traf. Schließlich ging es weiter zum Unterricht. Hier lernte sie allerlei über Krieg und Strategien, Geschichte der zweiten Welt, den Bau und Aufbau von Waffen und das Kämpfen. Außerdem seit neustem auch etwas über Regieren.
Wenn es Nachmittag wurde, ging Emilia immer zu ihrem Pferd Larjina und ritt oft auf ihr. Am Abend aß sie und ging früh schlafen. Und überall, wo sie hinging, folgten ihr drei Wachsoldaten. Das regte sie immer auf, doch Lilien ließ sich nicht erweichen, wenn Emilia sie bat, die Wachen fortzuschicken. So verstrich die Zeit. Es war Winter, Schnee fiel und die Bäche froren größtenteils zu, denn sie waren hoch in den Bergen. Und immer noch kühlte es täglich ab. Immer mehr Menschen kamen, um in der Stadt Ta stall de Manor Oragon, um Zuflucht zu suchen, oder um sich der Armee, die sich dort sammelte, anzuschließen.
Die Stadt war groß genug, um Hunderttausende unterzubringen. Doch noch waren viele Fenster dunkel, viele Häuser und Räume leer. Etwa elftausend lebten inzwischen hier und noch mehr würden kommen. Aber auch die Feinde. Wenn tausende Menschen zu der Stadt hinzogen, konnte es nicht unbemerkt bleiben. Schon entflammten kleine Kämpfe, kaum zwanzig Meilen von der Festung entfernt.
Und als der Dezember sich dem Ende neigte, zog die erste Kompanie in den Kampf. Sie wollten zum nächsten Dorf ziehen, welches 50 Meilen weit weg war und von den Feinden angegriffen wurde, und es evakuieren. Während des Wartens auf ihre Rückkehr, krampfte sich die Angst in Emilias Bauch zusammen. Lilien, Loan und Rufus waren mit in den Kampf gezogen.
Endlich, als der Januar schon den fünfzehnten Tag zählte, kehrten die Krieger zurück. Sie waren siegreich gewesen und brachten einen Haufen Dorfbewohner mit, doch es war kein froher Sieg. Emilia stand auf dem Wehrgang über dem Tor, als die Menschen hineinritten. Sie hatte sie schon gesehen, als sie loszogen und war entsetzt. Etwa die Hälfte der Krieger fehlte. Zwar waren viele Dorfbewohner dabei, verängstigte Menschen, die gerade aus ihrer Heimat hatten fliehen müssen, doch man erkannte sie unschwer, da sie keine Rüstungen trugen. So viele, dachte sie. Und doch war sie erleichtert, als sie an der Spitze des Heeres Lilien, Rufus und Loan erblickte. Sie rannte hinunter, um sie zu begrüßen. Sie umarmte Rufus, die in den Monaten, die sie nun schon in der zweiten Welt lebte, eine ihrer besten Freundinnen geworden war. Ihre schwarzen Locken waren noch zerzauster als sonst, um ihren Unterarm war ein Verband geschlungen und ihre dunkle Haut war verschwitzt, doch sie lächelte noch wie eh und je. „Emilia“, grüßte Rufus. Dann kam Lilien auf Tasan zu ihr, Loan und Mireijla direkt dahinter.
Nach einer Begrüßung ging die Prinzessin von Oragon mit ihrem Leibwächter wieder fort, um irgendwelche wichtige Beratungen durchzuführen. Rufus begleitete Emilia zum Kampfplatz. Am Nachmittag gab es eine Versammlung aller Oberen. Auch Emilia war dabei. Sie fand einen Platz zwischen General Kalim und Namin, den sie schon von der ersten Versammlung vor Monaten in Doru Tea kannte. Sie wusste allerdings nicht, wer er genau war. Mio, Rebekka, Brigitte, Rufus und Ewin waren nicht da, allerdings Loan, Lilien und Viktoria. Die Leitung übernahm Lilien, da ihre Schwester nicht anwesend war. Torkila war immer noch in Doru Tea, entschlossen, es bis zuletzt zu verteidigen.
„Ich habe euch hier zusammengerufen“, begann Lilien, „weil eine wichtige Entscheidung zu fällen ist. „Sollen wir dem Feind entgegen marschieren, oder sollen wir hier warten, bis der Feind zu uns kommt?“. Sie breitete eine Karte auf dem vor ihr stehenden Tisch aus. Sie zeigte, so schien es, die gesamte zweite Welt. Emilia war beeindruckt davon, wie detailliert sie war. „Wir sind hier“. Lilien setzte ihren Finger auf einen Punkt in den Bergen, der von Wald umgeben war und nahe der Grenze zu Alenach lag. Allerdings war dort nichts eingezeichnet. Ist ja klar, wäre Ta stall de Manor Oragon auf jeder Karte eingezeichnet gewesen, so wäre die Suche ja nicht so schwierig gewesen, dachte Emilia. Lilien zeigte mit der Hand auf das nächst liegende Dorf. „Das ist Erroster, das Dorf, das wir eingenommen oder vielmehr überrannt haben“. Sie setzte einen blauen Stein auf die Karte. Ihr Finger wanderte weiter. „Hier liegt Doru Tea, das die Feinde noch nicht erobert haben“. Auch hier platzierte sie einen blauen Stein. „Synaton ist komplett vom Feind besetzt, ebenso viele Dörfer und Städte an der Grenze in Oragon“. Sie verteilte entsprechend rote Steine. „Über diese drei Dörfer haben wir noch keine Meldung erhalten“, drei Dörfer in Oragon, etwas näher in Richtung Doru Tea. Auf jedes wurde ein gelber Stein gelegt.
Und so ging es die nächste halbe Stunde weiter. Emilia erfuhr viel Neues. Zum Beispiel hatte sie nicht gewusst, dass Kaminhatt Land der Feinde war, ebenso wie ein großer Teil von Alenach. Einige Dörfer im Herzen von Oragon waren ebenfalls von den Torkinlarnt adrinromal eingenommen und besetzt. Doch viele Dörfer in Oragon und in Alenach waren noch nicht angegriffen worden. In Synaton war kein einziges Dorf, das nicht in Händen der Feinde war. Emilia betrachtete die vielen roten Steine auf der Karte, bestimmt über hundert. Überall waren diese roten Punkte. Wie Blutstropfen sehen sie aus, dachte Emilia. Die gelben Steine waren wie Fliegen auf dem Papier. Von ihnen gab es nur wenige, doch sie waren jeder einzeln eine Quelle von Ungewissheit. Lilien sprach wieder. „Wir könnten die Arbeiten an den Waffen und Rüstungen beschleunigen, damit wir für die gesamte Armee Ausrüstung haben. So könnten wir binnen eines Monats losziehen“. „Aber wohin sollen wir uns dann wenden?“, fragte Namin. „Wir könnten erstmal in Richtung Alenach vorgehen, es einnehmen und dann…“, meinte Kommandantin Valida, wurde aber von Graf Alkorn unterbrochen. Die Kalinor kannte sie ebenfalls von ihrer ersten Ratsversammlung „Was bringt es denn, wenn wir Alenach einnehmen? Wir müssen den Krieg gewinnen! Aber das können wir mit unserer Truppe nicht schaffen. Die Hälfte von uns sind doch nur halb verhungerte Bauern, die noch nie ein Schwert in der Hand gehalten haben. Wir brauchen Methiain Waffen und Rüstungen, aber vor allem brauchen wir die Kalinor. Wieso kämpfen sie nicht, jetzt wo es endlich wieder Hoffnung gibt? Die Kalinor sollen hervortreten und zeigen, ob sie wirklich die Macht von Vrena in ihrem Blut tragen. Ob sie würdige Nachfahren von Anya Blütenfels sind. Verzeiht meine harten Worte, doch ich muss sagen, dass es feige von ihnen wäre, jetzt nicht in den Kampf zu ziehen!“.
Er beendete seine wütende Ansprache und verschränkte die Arme. Lautes Stimmengewirr setzte ein. Hin und wieder schnappte Emilia einige Sätze auf. „Sie sind noch zu jung“. „Unmöglich“. „…keine abgeschlossene Ausbildung“. „Es muss schnell gehen“. „Zu jung“. „Keine Hoffnung“. Schließlich hob Lilien die Hand. Sofort verstummten alle. „Als allererstes müssen wir entscheiden, ob wir den Krieg eröffnen wollen“. „Ist er nicht längst eröffnet worden?“, fragte General Kalim. „In gewisser Weise, aber nicht in voller Stärke“, antwortete Lilien. Emilia hob die Hand. „Wenn du erlaubst Lilien“. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf. Sie war wütend von den Sticheleien Graf Alkorns. „Wie ihr alle wisst, weiß ich von meinem Erbe erst seit einer kurzen Zeit. Und wie ihr sicher ebenfalls wisst, komme ich sogar aus einer anderen Welt und lebe erst seit wenigen Monaten hier. Ich habe bisher nicht gekämpft, das ist wahr. Doch auch, wenn es hier anders ist, in unserer Welt bin ich ein Kind. Meine Eltern sind hier geboren, haben hier gelebt, hier gekämpft, hier gelitten und sind von hier geflohen, um mich und meine Geschwister zu retten, nachdem sie schon Gefangene der Torkinlarnt adrinromal waren. Und obwohl ich nicht viel von ihnen weiß, bin ich sicher, dass sie viel für Alenach und alle Länder getan haben. Und dasselbe werde ich tun, um sie zu ehren. Ich werde kämpfen, jawohl. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich meine Eltern aus den Fängen der Feinde befreien. Ich werde für sie kämpfen und für meine Freunde und Geschwister und für die Freiheit aller guten Menschen in dieser Welt“. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war.
Den Rest der Sitzung blieb Emilia stumm und hörte auch kaum noch zu. Das Blut pochte heiß in ihren Ohren. Als Lilien den Rat beendete, sprang sie von ihrem Sitz auf und verließ die Kammer, ohne ein Wort zu sagen. Sie hielt schnurstracks auf ihre Räume zu. Emilia warf sich voll angezogen und ohne Abendessen aufs Bett und schlief ein. Einmal wachte sie noch auf, als ihre Geschwister das Zimmer betraten, doch danach schlief sie tief und fest, müde, von den Anstrengungen des Tages.
Da sie früh eingeschlafen war, stand sie auch früh auf, es war noch dunkel. Sie zog sich leise an und verließ das Zimmer. Als sie die Tür öffnete, lag dort ein Zettel. Sofort erkannte Emilia Liliens Handschrift. Das Datum darauf war das von gestern.
Emilia,
ich bin jetzt für ein paar Tage weg. Es war sehr mutig von dir, was du gesagt hast, aber du musst dir sicher sein, dass du bereit bist. Mio und vor allem Rebekka sind noch zu klein und benötigen Hilfe. Wenn du jedoch entschlossen bist zu helfen, dann finde dich morgen um sechs Uhr mit Larjina vor der Schmiedekammer in dem achten Mauerring ein. Sage den Schmieden, dass du eine volle Ausrüstung benötigst, aber kein Schwert. Das ist wichtig, sie sollen dir kein Schwert geben, sonst aber alles andere. Die besten Grüße sende ich dir
Lilien
Emilia überlegte kurz, während sie den Zettel in ihre Hosentasche schob. War sie wirklich entschlossen? Ja, sie war es. Für meine Eltern, Freunde und Geschwister, dachte sie. Also schlug sie den Weg zu den Ställen ein. Sie verließ die Burg und betrat die riesige Höhle, die zu einer Seite offen war. Drei Gänge zweigten von ihr ab. Einer nach rechts, einer nach links und einer geradeaus. Der Gang geradeaus führte zu den unterirdischen Schmieden und Erzgängen, wo das Methiain gewonnen wurde. Das Geräusch von Hämmern auf Ambossen schallte bis in die Vorhöhle. Der linke Gang führte zu den Kammern, Schmieden, Lagern und Wohnräumen, die Fenster zur Stadt hin hatten, aber in den Fels gehauen waren. Der rechte hingegen brachte einen in vielen Windungen hinauf auf die Hochebene, wo sich die Pferdewiesen, Felder und anderen Tiergehege befanden. Die meisten Pferde, welche oft gebraucht wurden, waren für den Winter in Ställe nahe der Burg gebracht worden. Auch Larjina stand dort, wurde tagsüber aber manchmal hoch auf die Ebene gebracht. So wie heute. Emilia stieg die Treppe hinauf, welche sich direkt neben dem Gang befand, der so gebaut war, dass Pferde, Stiere und andere Tiere ebenso wie Karren und Kutschen hinauf und hinunter gelangen konnten. Emilia war verschwitzt, als sie oben ankam. Sie lief über einen kleinen Pfad auf eine der großen Pferdewiesen zu auf der nur wenige Pferde standen. Zum Glück war es eine der nächsten. Zu den am weitesten entfernten Feldern und Weiden musste man mindestens eine Stunde laufen.
Emilia öffnete das Tor und rief nach ihrer Stute. Larjina kam sofort angetrabt. Sie wieherte und legte ihr samtweiches Maul auf Emilias Schulter. Lächelnd klopfte Emilia ihrem wundervollen Pferd den Hals. Sie putzte sie kurz, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre und sattelte und trenste Larjina. Dann sprang sie in den Sattel und ritt hinunter in die Stadt. Als sie an der Burg vorbeikam, bemerkte sie ihre vier Wachen, waren es nicht neulich noch drei gewesen? Wahrscheinlich waren sie ihr schon die ganze Zeit gefolgt, Emilia bemerkte sie oft nicht. Die Straßen waren menschenleer, bis auf einige wenige Bauern, die durch die Gassen huschten.
Es war nicht weit bis zum achten Mauerring. Die Schmiedekammer war ein kleines Haus, mit einem Vordach, unter dem ein Balken mit Ringen angebracht war, wo man Pferde anbinden konnte. Das Haus selbst war unscheinbar gestrichen, in einem einfachen hellgrau. Emilia stieg ab, trat mit ihrer Stute am Zügel zur Tür und ergriff den eisernen Türklopfer in Form eines Hammers und einer Zange die sich kreuzten, um zu klopfen.
Kaum hatte das Metall die Tür berührt, als diese auch schon mit Schwung geöffnet wurde. Vor ihr stand eine kräftig gebaute Frau mit schweißnassen hellbraunen Haaren und einem markanten Kiefer. Sie war sehr muskulös, vor allem an den Armen, ihre Haut war gebräunt und mit Brandnarben bedeckt. Anscheinend war die Arbeit als Schmied nicht ungefährlich.
„Guten Tag. Mein Name ist Susanna. Sei herzlich willkommen. Was wünschst du?“ Susanna ergriff Emilias Hand. Dabei bemerkte Emilia die vielen Schwielen und Blasen an den Handflächen der Frau. „Ähm, ich bin Emilia. Prinzessin Lilien schickt mich, ich soll mit meinem Pferd kommen und eine volle Ausrüstung bestellen bis auf ein Schwert“, stammelte Emilia. „Na, dann komm mal rein“.
Susanna öffnete die Tür und Emilia trat ein, Larjina am Zügel. Glücklicherweise war die Tür groß genug für ein oder mehrere Pferde. Sie kamen in einen großen Raum, der gar nicht zu dem so klein wirkenden Haus zu passen schien, in dem überall Ambosse, Werkbänke und Tische herumstanden. Darauf lagen allerlei Werkzeuge, Stifte, Tintenfässchen, Papierbögen, Zeichnungen und einiges an Zeichenmaterial herum. Von der Decke hingen kleine Modelle und Karten. Susanna gab Emilia einen Wink, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Larjina wurde ein Stück entfernt an der Wand angebunden. Da kamen zwei Männer auf sie zu. Der eine war kahlköpfig, hochgewachsen und schlaksig. Er trug einen eingewachsten blonden Schnurbart und hatte matte blaue Augen. Der andere war mittelgroß, kräftig und hatte buschige, schulterlange schwarze Haare. Sein eines Auge war braun, von dem anderen sah man nur das Weiße. Emilia begriff, dass der Mann auf einem Auge blind war. „Emilia, das sind Karl und Leon“, stellte Susanna vor. „Karl, Leon, das ist Emilia. Sie ist hier, weil sie und ihr Pferd Rüstungen und Waffen benötigen. Übernehmt ihr?“ „Klar doch“, meinte der Kahlkopf, der anscheinend Leon war. „Ich brauche aber kein Schwert“, sagte Emilia hastig, sich daran erinnernd, dass Lilien geschrieben hatte, es sei sehr wichtig. Leon nickte nur, doch Karl zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts.
Zuerst musterten die beiden Männer Emilia genau und eingehend, was sie, zugegebenermaßen etwas nervös machte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie auch, dass andere Leute dasselbe mit Larjina machten. Dann setzte sich Leon auf einen Stuhl ihr gegenüber und platzierte vor sich ein Gestell, auf dem ein Blatt befestigt war. Er nahm auch einen Stift zur Hand. Karl lief um sie herum und gab dabei Kommentare von sich, die sein Kollege offensichtlich notierte. Dann zückte der Mann vor Emilia ein Maßband und begann sie zu messen. Zuerst vom Scheitel zu den Füßen, danach vom Kopf bis zur Brust, vom Ellenbogen zum Handgelenk, von der Schulter bis zu den Fingerspitzen und so weiter. Es dauerte über eine Stunde, in der Emilia sich vorkam, wie ein Versuchsobjekt. Doch schließlich durfte sie aufstehen, musste dann aber eine weitere Viertelstunde warten, bis Larjina fertig war. Karl und Leon behielten sie genau im Auge. Da war auch Susanna wieder. „Komm in vier Tagen wieder, dann wird alles für euch bereit liegen. Übrigens habe ich gerade einen Brief erhalten. Bring deine beiden Geschwister und ihre Pferde bitte morgen um 11 Uhr zu mir, oder sorg dafür, dass sie gebracht werden. Bis bald“. Sie schob Emilia zur Tür hinaus.
Draußen angekommen, genoss das Mädchen erstmal die Sonne, nachdem sie so lange in dem staubigen Raum gewesen war. Danach bestieg sie ihr Ross und ritt hinauf zur Burg. Nachdem sie Larjina einem Stallburschen in Gewahrsam gegeben hatte, ging sie in ihr Zimmer, mit der Absicht, ein Bad zu nehmen und sich fürs Essen die Haare zu kämmen, am Morgen hatte sie dafür nicht viel Zeit gehabt. Mio und Rebekka waren wahrscheinlich noch beim Kampftraining oder spielten gemeinsam mit einigen anderen geflüchteten Kindern Verstecken. Emilia überlegte gerade, ob sie später noch Zeit haben würde, ihnen Gesellschaft zu leisten, als sie die Tür aufstieß. Wie erwartet, waren ihre Geschwister nicht da, doch jemand anderes stand dort.
Die Gestalt hatte ihr den Rücken zugewandt und trug einen schwarzen Kapuzenumhang. Sie zeigte keine Regung, als das Mädchen den Raum betrat. Ein Schauer überlief Emilias Rücken. Niemandem außer ihr und ihren Geschwistern war es gestattet, diesen Raum zu betreten, ausgenommen den Leuten, die die Räume putzten und die schmutzige Wäsche einsammelten. Aber dass diese Person dort keine der Putzleute war, was der Kalinor augenblicklich bewusst. Wer war das?
Die Gestalt drehte sich nicht um, als Emilia die Tür hinter sich schloss und ein paar Schritte in den Raum hinein machte, wobei eine innere Stimme ihr immer wieder zurief, dass es dumm war, sich einer unbekannten Person zu nähern und zusätzlich noch die Tür hinter sich zu schließen.
Unsicher, was sie tun sollte, blieb sie stehen. Ein leichtes Angstkribbeln überlief sie. War das etwa ein Torkinlarnt adrinromal oder einer ihrer Diener? Aber wie hätten diese an den Wachen vorbeikommen können? Da wandte die Gestalt den Kopf. Emilia erkannte die eisigen hellgrauen Augen und das blasse Gesicht sofort. Lily war zurück. Jetzt nahm sie auch die Kapuze ab. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr geschmeidig über den Rücken. „Da bist du ja Emilia“.
Torkilas Stimme klang so kalt wie eh und je. „Ich bin da. Hast du auf mich gewartet?“
„Allerdings“.
Liliens Schwester zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe etwas für dich“. Jetzt zog Emilia eine Augenbraue hoch. „Was denn?“, fragte sie. Darauf antwortete die Prinzessin von Oragon nicht, sondern griff hinter sich. Sie nahm sich ein in Leder gewickeltes Paket, das sie auf Rebekkas Bett abgelegt hatte. Mit langsamen, präzisen Bewegungen wickelte Schatten es aus. Emilia kam ins Staunen, als sie darunter das Funkeln von Edelsteinen wahrnahm. Und da fielen auch schon die letzten Lagen des Leders zur Seite und darunter kam eine wunderschöne Schwertscheide zum Vorschein. Sie bestand anscheinend aus Methiain - welches man an dem Glanz des Metalls im Dunkeln erkannte - war mit Blattgold verziert und mit Rankenmustern aus Edelsteinen aller Farben bedeckt. Runen waren in das Gold graviert und oben war ein Wappen eingelassen. Emilia beugte sich näher, um es zu betrachten. Es zeigte einen Wolfskopf mit funkelnden Saphiren als Augen. Er war wundervoll filigran gearbeitet. Über dem Wolfswappen war der Rand der Scheide mit Perlen besetzt. Und da sah Emilia das Schwert, was in der Scheide steckte. Das lange Heft war mit Verzierungen bedeckt und auf der Parier-Stange glitzerten Saphire. Wie von selbst schlossen sich Emilias Finger um den Griff. Er schien sich in ihre Finger zu schmiegen, der Knauf war nicht unangenehm an der Hand, wie er es bei so vielen anderen Schwertern war, die sie ausprobiert hatte. Als Lily nichts tat, um sie zu hindern, zog Emilia die Klinge langsam aus der Scheide. Auch die Klinge war verziert. Runen waren darin eingraviert und mit winzigen blauen Steinen besetzt worden. Das Schwert war lang, doch nicht zu lang für Emilia. Ihre beiden Hände passten problemlos um das Heft und die gesamte Waffe lag in perfektem Gleichgewicht. Das Methiain glitzerte in dem Licht der Sonne, welches durch das offene Fenster drang. Vom Knauf bis zur Spitzte zog sich ein aus dunklerem Metall gefertigtes Rankenmuster. Die Linien waren fein und nicht so auffallend wie die auf der Scheide. Lily begann plötzlich zu sprechen:
„Das ist Linaryar, genannt Torkil cargar, Schattenpeiniger. Es war das Schwert deiner Mutter und davor das deiner Großmutter und Urgroßmutter und so weiter. Es war eins der ersten Schwerter, die je aus Methiain angefertigt wurden und eins der schönsten auf der ganzen Welt. Der damalige König von Oragon, mein Ururgroßvater, ließ es für die Königin von Alenach anfertigen, um einen kleinen Teil des Verlustes des flammenden Schwertes wettzumachen. Es ist nun sehr alt. Denn, wie du weißt, sind die Waffen, die Vrena fertigte, vierzig Jahre nach ihrem Tod verschwunden. Einundvierzig, um genau zu sein. Alle auf einmal und niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Und da kam die zweite Welle. Die Torkinlarnt adrinromal drohten, diese ganze Welt zu vernichten, oder zu versklaven.
Doch da entdeckte Harald - ein junger Schmied aus einem Bauernhaus - das Methiain. Und er fand eine Möglichkeit, wie man es schmieden konnte. Und mein Ururgroßvater ließ ihn dieses Schwert für deine Urururgroßmutter machen. Dunkelblau und Silber sind die Farben von Alenach. Zu der Zeit war die Macht der Kalinor verschollen und Angst drohte, alle zu überwältigen. Nur das Oragon Metall brachte Hoffnung. Mit Mühe und Not schafften es Oragon und Alenach, die Feinde zurückzuschlagen. Synaton verfiel einem dunklen Schatten, der von den Schattengestalten kam. Mit dem Bogen der Bestimmung verloren sie den letzten, wenn auch noch so kleinen Teil von Vrenas Macht, den sie besaßen. Deswegen sagt man, Synaton sei verflucht. Und deswegen haben es die Thronerben von Synaton so schwer. Zusätzlich zu allem anderen. Dann kam die dritte Welle, und diesen Krieg gewannen eigentlich die Torkinlarnt adrinromal, auch wenn Ellia es dir anders berichtet hat. Die Menschen versteckten sich nur in Festungen und verschanzten sich. Doch die Schattengestalten zogen sich wieder zurück, um noch stärker zu werden. Und dann kam deine Mutter, Emilia. Zusammen mit ihrem Bruder Eldur. Sie besaßen die gesamte Macht der Kalinor und brachten neue Hoffnung. Ohne sie hätten wir damals nicht gewonnen. Ab da, glaube ich, kennst du die Geschichte. Jenes Schwert, welches du jetzt in Händen hältst, ist sehr alt. Es gehört nun dir“.
Die Prinzessin von Oragon überreichte Emilia die wunderschöne Schwertscheide, die Waffe selbst hatte sie ja schon der der Hand. Sie steckte es in die Scheide. Torkila gab ihr auch einen ledernen, mit Metalldrähten und Plättchen verstärkten Schwertgürtel, den Emilia sich umschnallte und an dem sie die Scheide befestigte. Die Edelsteine funkelten und blitzten in der Sonne.
„Danke“, stammelte Emilia. Schatten nickte nur kurz, drehte sich um und verschwand durch die Tür. Sie hatten sich beide in der Zeit, die sie sich schon kannten, nie sonderlich gemocht, doch gerade spürte Emilia eine gewisse Zuneigung zu Liliens Schwester in sich aufsteigen. Sie hatte es nie leicht gehabt, da war es wohl kein Wunder, dass sie sich oft so eigenartig benahm. Aber trotzdem, der eisige Tonfall und der kalte Blick. Generell das Verhalten anderen Menschen gegenüber, warum war sie so? Selbst wenn sie nicht glücklich war, wieso musste Torkila zu den anderen so sein? Emilia seufzte. Dieses Grübeln würde sie jetzt nicht weiterbringen. Sie öffnete die Tür und ging zum Kampfplatz, um sich bis zum Mittagessen im Umgang mit Waffen zu üben; der Gedanke, sich zu ihren spielenden Geschwistern zu gesellen, war schon wieder verflogen. Schwertkampf würde jetzt besser für sie sein. Es machte ihr jetzt auch immer mehr Spaß, denn sie wurde immer besser und besiegte nun sogar ihren Lehrer.
Nach einem anstrengenden Training ging sie zum Mittagessen. Als der Abend kam und sie im Bett lag, fühlte sie sich auf einmal wohl. Was auch immer auf sie zukam, gerade war sie glücklich. So glücklich man hier nur sein konnte. Hoffentlich würde sie nicht so bald wegmüssen. Nur nach Mathilda sehnte sie sich sehr und Schuldgefühlte krallten sich in ihren Bauch. Sie wusste, dass, wären ihre Rollen vertauscht gewesen, Mathilda nie verschwunden wäre, ohne ihrer besten Freundin etwas davon zu sagen. Wie es Matti wohl ging? Doch trotzdem ging es Emilia hier gut. Und mit dem Gedanken, dass sie Mathilda irgendwann wiedersehen würde, schlief Emilia ein und träumte von Dingen, die sie erlebt hatte, vermischt mit Entwürfen ihrer Fantasie.
Emilia hörte Larjinas Schnauben und rieb sich die müden Augen. Es war zwar acht Uhr morgens, eine Zeit zu der Emilia eigentlich schon wach war, aber sie hatte die letzte Nacht nicht gut geschlafen.
Nun stand sie in einer langen Schlange, die sich im achten Stadtkreis vor der Schmiedekammer gebildet hatte. Anscheinend waren Emilia und Larjina nicht die einzigen, die auf ihre Rüstung warteten.
Es dauerte eine Stunde, bis sie an die Reihe kamen. Ein kleiner korpulenter Mann mit beeindruckenden Augenbrauen, die seine Augen verdeckten und bei denen die Kalinor sich fragte, wie er mit ihnen noch sehen konnte, stand vor der Tür und winkte einen nach dem anderen hinein. Wer fertig war, wurde aus einer anderen Tür hinausgelassen.