Das verschwundene Pfarrhaus in Salzhausen - Michael Rannenberg - E-Book

Das verschwundene Pfarrhaus in Salzhausen E-Book

Michael Rannenberg

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Beschreibung

Nach 40 Jahren Tätigkeit als kirchen- und gesellschaftskritischer Berliner Pfarrer packte mich als Großvater - je mehr ich meinen Enkeln von meiner Kindheit erzählte - die Lust, meine anregenden und reizvollen jungen Jahre im verschwundenen besonderen Landpfarrhaus der Lüneburger Heide aufzuschreiben. Auferstehen lasse ich die riesige Pfarrscheune neben dem stattlichen Pfarrhaus und riesigem Gartengrundstück in der Dorfmitte. Lebendig werden lasse ich ungewöhnliche Kinderspiele, die Erkundung der uralten Felsstein-Dorfkirche mit ihrem geheimnisvoll-mächtigen Turm und Ausguck in der Spitze. Ich hebe unsere Privilegien heraus: Freiheitsräume für Kreativität und Abenteuer zu erleben - ebenso auch die Härten und heute unvorstellbaren Pflichten, die für Pastorenkinder als selbstverständlich galten. Ich beschreibe ausführlich unser anziehendes, gemeinschaftliches, stilvolles Pfarrhaus-Familienleben. Ich mache an eigenen Begegnungen deutlich, wie nicht wenige Dörfler noch die NS-Jahre verherrlichten und die Eliten - unsere Eltern eingeschlossen - die Naziverbrechen verschwiegen bzw. verharmlosten. Ich protestiere gegen das profitsüchtige Zerstören nachhaltiger Werte in der Neuzeit am Beispiel des unersetzlichen Pfarrhauses von 1766. In Salzhausen haben sich mannigfaltige alte Sitten und Gebräuche erhalten. In der Nachkriegszeit wurden sie wahrscheinlich nach dem niederschmetternden Zusammenbruch Nazideutschlands besonders intensiv gepflegt, jedenfalls so, dass sie mich stark beeindruckt und sich sämtlichst in meinem Kindergedächtnis eingegraben haben, sodass ich jetzt 65 Jahre später noch lebendig über sie erzählen kann. Ich beschreibe, wie in den Sechzigern der Gottesdienstbesuch spürbar zurückging, was meinen Vater stark belastete, mich aber früh darauf einstellte: "Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Kirche ist zwar für einen Teil der Dorfbewohner weiterhin wichtig, aber für viele andere dreht sich ihr Leben um Sport, Mode oder neuen Medien." So komme ich auch auf das Auseinanderklaffen Heidepastorat 1950 und Großstadtpfarramt 2000 zu sprechen, das auch durch meine Person hindurchgeht, aber auch auf eine Verbindung: Denn seit frühester Salzhäuser Kindheit wuchs ich berührt und betroffen vom Nachkriegsflüchtlingselend auf. Und dann als Moabiter Pfarrer hat es sich dann in den Achtzigern wie von selbst ergeben, dass ich Asyl in der Kirche unterstützte und bis heute in der Flüchtlingshilfe tätig bin.

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INHALT

VORWORT Ein Haus für viele Kinder

TEIL I Das Pfarrhaus

Der Anblick des Pfarrhauses von 1766 in der alten Dorfmitte

Erdgeschoss

Großer Eingangsflur

Frauenhilfszimmer

Unser Wohnzimmer

Die Küche

Mahlzeiten – regelmäßige Gemeinschaft

„Arier-Zimmer“

Verandazimmer – Unsere „gute Stube“

Veranda und Sommervergnügen in Salzhausen

Oberes Stockwerk

Mädchenzimmer

Badezimmer

Jungenzimmer

Elternschlafzimmer

Studierstube

Riesiger Hausboden

TEIL II Herkommen und Entfaltung der Rannenberger im Salzhäuser Pfarrhaus und im Wechsel von Kriegs-Krisen und Wohlstandsjahren

Meine überraschende Altersentdeckung: „Automobile“ Familienentfaltung

Wie das Pfarrhaus „Verkehrsopfer“ der Massenmotorisierung wurde

Meine Familie

Was mir aus der zeitweise dramatischen Lebensgeschichte meines Vaters bekannt geworden ist

Wie kamen Hilde und Georg zusammen

Dienstwagen und privates Familienglück

Nachruf auf ein Automobil

Mein Bild meiner Mutter

Mein Bild von meinem Vater

Meine Geschwister

Der vielbeschäftigte Jüngste (Heimarbeiter und „Vielfalt-Außenminijobber“)

Winter und Frühjahrs-Zeitvertreib

Sommer- und Herbst-Freuden

Ganzjährige Tätigkeiten

Pastorin Hilde Rannenberg – „Energiezentrale des Salzhäuser Pfarrhauses“

TEIL III Weihnachten im Pfarrhaus

TEIL IV Spielparadies Salzhäuser Pastorengrundstück

Selbst kreierte Spiele

Spiele-Brennpunkt Pfarrhaus- und Kirchgelände

Kirchturmbesteigung/Glocken

TEIL V Schulzeiten

Volksschuljahre

„Fahrschüler*innen-Freud“ und noch mehr Leid

TEIL VI Dorfbekanntschaften

Kartoffelnbuddeln und Gärtnerei-Hilfsarbeit

Tante Mormi

Nachbarn von gegenüber – Tante Galster und Onkel Paul

TEIL VII Brauchtümer/Vereine/Feste

Das Besondere am alten Dorf Salzhausen

Schützenfest

Erntefest

Pfingstbräuche

Hochzeitsbräuche

„Katersteg“ und „Strickziehen“

Feuerwehrfest

Konfirmation

Missionsfeste

Salzhäuser Badeanstalt und Schwimmverein

SCHLUSSWORT Zum Auf(aus-)bruch aus meiner „Kindheitsburg“ Heide-Pfarrhaus

DANKSAGUNG

BILDNACHWEIS

VORWORT

Ein Haus für viele Kinder

Wer den Titel liest: „Das verschwundene Pfarrhaus“, könnte auf den Gedanken kommen, hierbei handelt es sich um eine fantastische Geschichte über eine alte Wohnstätte einer langen Pfarrerdynastie in der noch bis ins 20. Jahrhundert hinein abgelegenen, an Geheimnissen reichen Lüneburger Heide. Denn hier haben sich Spukgeschichten, Aberglauben, Zauberei und – wie es norddeutsch heißt – Spökenkiekerei (=Geisterseher) noch bis heute gehalten.

Aber ebendieses Pfarrhaus ist überhaupt nicht aufgrund übernatürlicher Ereignisse vom Erdboden verschluckt worden, sondern im Gegenteil ganz diesseitig und nüchtern per Abrissbirne und Baggerschaufel am Ende der 1960er-Jahre kleingemacht und auf einer Bauschuttdeponie endgelagert worden.

In seinen letzten Bestandsjahrzehnten bin ich mit meinen drei Geschwistern in diesem Haus groß geworden, und es hat mich wegen seines stattlichen Anblicks, seiner ehrwürdigen Größe, seinem hohen Alter, dem großen Garten und der dazugehörigen Scheune von früh an beeindruckt und geprägt. Als ich später als Student in Göttingen von dem Abriss erfuhr, ging es mir – wie unser gesamten Familie – durch Mark und Bein. Und schon wenige Jahre später haben viele Dorfbewohner diesen hirnlosen Abbruchcoup bereut und bedauert. Die Jusos haben zu seiner Zeit die Maßnahme als erste angeklagt und verurteilt. Mir wurde berichtet, dass der Abriss fast tragisch war, weil die untere Denkmalbehörde kurz danach um 1970 das Haus in seine Liste aufnehmen wollte. Mich hat dieses gedankenlose Verschwindenlassen eines echten Denkmals lebenslang gewurmt – fast wie ein unaufgeklärtes Verbrechen. Jetzt, wo ich im Ruhestand bin, habe ich die Zeit, mit meinen Erinnerungen das alte Pfarrhaus wieder lebendig werden zu lassen und dem Betongeist noch ein Schnippchen zu schlagen.

Niemals hätte ich mir als junger Mensch vorstellen können, dass an meinem Lebensabend einmal ein Haus eine herausragende Bedeutung einnehmen würde. Dabei handelt es sich nun aber nicht um das Stadtpfarrhaus in Berlin-Moabit, wo meine Frau Dagmar und ich zehn Jahre nach Verlassen des Kindheitshauses Anfang der 70er unsere Familie gründeten, in dem unsere Kinder Judith und Benjamin aufgewachsen sind, und in dem meine Frau und ich fast 40 Jahre wohnten. Denn fast so lange habe ich als einer von mehreren Pfarrer*innen in der einst großen Heilandsgemeinde gewirkt. Auch hier habe ich wie mein Vater noch das Privileg genossen, in einem besonderen Gebäude zu wohnen, zu arbeiten und zu leben. Denn das Heiland-Gemeindehaus von 1905 ist auch mehr als ein Nullachtfünfzehn-Altbau: Es präsentiert sich dem Betrachter vom benachbarten Ottopark aus nahezu wie ein neugotisches Schloss. Und in einer der vier Pfarrdienstwohnungen mit sieben Zimmern auf 220 Quadratmetern habe ich nahezu 40 Jahre residiert, wie sich die protestantische Pfarrschaft lange gesehen hat.

Dennoch im Rückblick beeindruckender hat sich in meiner Erinnerung das evangelische Pfarrhaus meiner Kindheit im Heidedorf Salzhausen bei Lüneburg eingegraben, wo mein Vater Georg Rannenberg 42 Jahre als Pastor wirkte. Dem Pastorenhaus schräg gegenüber und in meiner Erinnerungssicht eng damit verbunden, erhebt sich vom Dorfplatz ein Stück zurückgesetzt auf einem Hügelchen der mächtige Rundturm der eindrucksvollen an die 800 Jahre alten Salzhäuser Feldstein-Kirche. Beide – die alte Dorfkirche und das stattliche Pfarrhaus – haben sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingegraben. Unser ansehnliches, stilreines Pastorenhaus stammte aus dem 18. Jahrhundert: Es war als zweistöckiger solider Ziegelfachwerkbau errichtet und mit einem hohen Ziegelwalmdach gekrönt. Als Kind in den 50ern beeindruckte mich die aufwendige Renovierung der Südfassade: Ihr Weinbewuchs wurde abgerissen, das Mauerwerk neu verfugt und die Fachwerk-Balken wurden braun gestrichen.

Das Pfarrhaus bildete so zusammen mit dem zurückgesetzten mächtigen Feldstein-Kirchturm eine Zierde des Dorfplatzes. Über 200 Jahre bot dieses 13-Zimmer-Gebäude zeugungskräftigen Pfarrherren im trauten Heim die Chance, mithilfe einer reichen Kinderschar und starken Familie sich eine ihm ergebene Gemeindebasis zu schaffen und zu sichern.

Jetzt im Alter habe ich wieder gemerkt, wie tief mein Kindheitshaus sich bis heute in meine Erinnerung eingegraben hat.

Weil ich jetzt im Ruhestand die Zeit habe, fing ich schon vor Jahren an, für meine Kinder und Enkel Erinnerungskomplexe aufzuschreiben. Je mehr und je länger ich schrieb, um so mehr Lust bekam ich, Eindrückliches zusammenzutragen, niederzuschreiben und festzuhalten. Was ich in dieser Schrift über Vater, Mutter und Geschwister festgehalten habe, beruht ausschließlich auf meinen persönlichen Erinnerungen und meiner subjektiven Sicht. Allerdings habe ich die überwiegenden Teile meiner Niederschrift mit meiner ältesten Schwester abgestimmt, mit ihrer Hilfe Unrichtiges korrigiert und einiges aus ihrem Wissen ergänzt, beziehungsweise mit meinen Erinnerungen in Einklang gebracht.

TEIL I

DAS PFARRHAUS

DER ANBLICK DES PFARRHAUSES VON 1766 IN DER ALTEN DORFMITTE

In meinen Salzhäuser Grundschuljahren ab 1950 führte der letzte Teil meines Heimweges die Lüneburgerstraße entlang, die auf dem kleinen Platz vor Kirche und Pfarrhaus endet und bis heute zur Hauptstraße umbenannt weiter durchs Dorf verläuft. Immer noch stehen in lebhafter Erinnerung vor mir diese letzten Meter der Lüneburgerstraße mit dem schmalen Bürgersteig entlang der hohen Kirchhofsmauer vor Augen: Wie sich nach leichter Steigung und kurzer Biegung endlich der dreiseitige Kirchplatz vor mir auftat, und als Erstes gegenüber das Platz beherrschende Pfarrhaus-Gebäude ins Auge fiel. Wenn ich hier angelangt mein Haus erblickte, schwanden nicht selten auf einmal nach Schulärger oder Krach mit Freunden, Bedrückung, Unwohlsein und schlechte Stimmung, ja da wurde es mir leicht ums Herz. Denn dieses freundliche Haus zog mich einladend an, empfing mich wie ein sicherer Hort und barg mich wohltuend in seinen sicheren Mauern: Endlich zu Hause!

Foto des Endstückes der Lüneburgerstraße aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier steigt sie sacht parallel zur Kirchhofsmauer an und mündet in den Hauptplatz von Salzhausen ein, von dem im ganzen 5 Straßen abzweigen! So schmal und auch teils in dieser alten Bebauung stand mir das Straßenstück als Kleinkind noch vor Augen.

Was hatte es nun mit diesem Haus und Pfarrgrundstück auf sich? Aus meinem Erleben möchte ich das Besondere und Eigentümliche beschreiben und erzählen.

Genau in der Mitte der Vorderfont des stattlichen Salzhäuser Pfarrhauses am Kirchplatz befand sich die breite zweiflügelige Eingangstür. Vom Bürgersteig erreichte man die grüne schwere Haustür über eine dreistufige Steintreppe. Rechtwinklig zur Hauswand und die Stufen begrenzend standen viele Jahre rechts und links der Steintreppe Holzbänke mit Rückenlehnen, auf denen ich als kleines Kind gern herumturnte und selbstbewusst in die Gegend schaute. Erst zum Ende der 50er waren sie so marode, dass sie ersatzlos abgerissen wurden. Dieser Pfarrhaus-Eingangsbereich unterbrach einen bepflanzten schmalen Vorgarten an der Hausfassade, der parallel zum Bürgersteig mit einem Lattenzaun abgegrenzt war.

Pfarrhaus Vorderseite

In der Nachkriegszeit war dieser Eingangsbereich mit seinen Sitzbänken bei warmen Wetter ein viel genutzter Treffpunkt der Hausbewohner und Nachbarn, besonders in den Jahren als noch mehrere Flüchtlingsfamilien bei uns im Hause wohnten. Je mehr vorne los war, um so intensiver und länger wuselten wir Kinder dort zwischen den Erwachsenen herum.

Die Vorderfront am Kirch- und Dorfplatz zeigte nach Süden. An der Hinterseite nach Norden breitete sich das bis heute weitläufige Pfarrgrundstück aus: Direkt an diese Nordseite schloss sich ein einmal kunstvoll angelegter und von Mutter achtsam gepflegter, sogenannter Ziergarten an. Dicht am Haus standen eine große Eibe und ein zum Klettern geeigneter größerer Lebensbaum. An den drei Hausecken erhoben sich schlanke, haushohe Thuja-Bäume, auf die man unmöglich hoch klettern konnte.

Ursprünglich sollten sie wohl an die Ecktürme einer Burg erinnern. An den Ziergarten angrenzend und hinter der Pfarrscheune erstreckten sich der große, breite Obst- und Gemüsegarten und mehrere Rasen- und Gebüschflächen. Auf der Westseite des Grundstücks parallel zum Pfarrhaus, getrennt durch den Hof, der unser Spielhof war, stand ein mächtiges Scheunengebäude mit ebenfalls hohem Giebeldach und rotem Ziegelwerk. Es legte noch Zeugnis ab von der einst „fetten Pfründe“, die das Kirchspiel Salzhausen mit elf Außendörfern jahrhundertelang verkörperte. Am Nordende des Grundstückes – gleichsam als Pendant zum Pfarrhaus an der Südseite – erhebt sich bis heute eine mächtige breitkronige Blutbuche, die uns nicht nur als Kinder beeindruckt hat. Das Pfarrgrundstück befindet sich an einer dreieckigen Dorfkreuzung, die vor dem Autozeitalter noch einen gemütlichen Dorf- und Kirchplatz bildete. Denn vom Pfarrhauseingang schräg gegenüber, etwas zurückgesetzt, befand und befindet sich noch heute auf einer kleinen Erhebung die uralte romanische Dorfkirche mit dem westlich gerichteten, mächtigen Felssteinrundturm und dem Kirchenschiff in Ostrichtung dahinter. An der dritten Platzseite uns schräg gegenüber befindet sich bis heute ein stattliches zweistöckiges Gebäude, das frühere „Deutsche Haus“, die wichtigste Gastwirtschaft für die fleißigen und zahlreichen Kirchgänger als Labung nach langen Gottesdiensten am Sonntagmorgen. Das Gebäude beherbergte zu meiner Zeit zusätzlich das Post- und Telegrafenamt, davor und uns gegenüber befand sich die Haupthaltestelle des Post- und Bahn-Buslinienverkehrs.

ERDGESCHOSS

Großer Eingangsflur

Wenn man die zweiflügelige schwere, bis in die 60er-Jahre Tag und Nacht unverschlossene grüne Haustür öffnete, stand man in einem großen, nach hinten sich beidseitig verbreiternden dunklen Hausflur, der mit quadratischen, rötlich-braunen Sandsteinplatten ausgelegt war. Licht fiel nur durch das einzige Flurfenster gleich neben der Haustür. Darunter befand sich noch ein Grünpflanzengestell.

Gleich nach dem Eintreten stand man linker Hand vor der Küchentür, und anschließend fiel eine gediegene, schwarzbraune, hohe und schlanke Eichen-Truhe ins Auge. An der Wand hinter und über ihr hing ein im gleichen Truhenstil geschnitztes Zierbrett, das an der Oberkante mit einem schmalen Bord abschloss. Darauf standen zur Zierde drei alte Zinnkannen, die zu Beginn der 60er, als Vater immer noch nicht nachts die Haustür verschloss, eines Tages verschwanden. Unter dem Zierbord des Wandbehangs sind die Worte eingeschnitzt: „Beke Bolwinkel 1709“. Die Truhe und das darüber angebrachte Wandbord mit Zierbrett sind kunstvoll geschnitzt. Es ist wahrscheinlich eine Aussteuertruhe für ein junges Mädchen namens Beke. Die Truhe schließt oben mit einem beidseitig abgeschrägten schweren Deckel-Aufbau ab.

Seine Form ähnelt einem echten Sargdeckel. Das wertvolle alte Stück nannten wir daher alle stets nur die „Sargtruhe“. Schon früh entdeckte ich, dass sich der schwere Sargdeckel öffnen ließ und sich an die Wand dahinter anlehnen ließ. Sobald es meine Kräfte hergaben, öffnete ich ihn, kletterte hinein und schloss den Deckel zu einem idealen Versteck, wie ich entdeckte. Zwischen Küchentür und vor der Sargtruhe hing an einem Wandhaken ein Gong. In meiner Erinnerung besaß er einen wunderschönen tiefen Klang, und ich habe oft an ihm neue Klänge ausprobiert.

Von uns Kindern wurde der durchs ganze Haus schallende Gong gern angeschlagen, um unseren Vater aus dem Obergeschoss zu einer Mahlzeit herzurufen.

Trat man dann weiter in die Tiefe des Flures ein, weitete sich der dunkle Raum rechts und links. Auf der rechten Seite stand im Anschluss an die Garderobe, etwas zurückgesetzt eine weitere solide, schlichte Bettentruhe. Dann folgte die Tür zu einer größeren Stube, die vor meiner Geburt und der Einquartierung ausgebombter Hamburger Flüchtlinge das gute Mahagoni-Zimmer meiner Mutter beherbergt hatte. Dieses ursprünglich „Gute Zimmer“ von Mutter wurde 1944 verlegt und einem Flüchtlings-Ehepaar Hinzmann eingeräumt. Als wohl Hamburger*innen hatten sie bei Bombenangriffen Schreckliches erlebt. Sie durften Küche und Bad mitbenutzten. Das führte zu Spannungen zwischen unserer Mutter und Frau H. Das Trauma ihrer Ausbombung wirkte zerstörerisch auf ihre Persönlichkeit, und der Umgang mit ihr wurde allen Hausbewohner*innen schwer erträglich. Eines Tages fand dann unser Vater Frau Hinzmann aufgehängt an der Türangel der Badezimmertür. Als ich Jahre später davon erfuhr, dass sich jemand, als ich gerade geboren war, an unserer Badezimmertür erhängt hatte, wurde mir richtig unheimlich zumute, und es beschäftigte mich, wie es möglich sein konnte, sich an dieser nicht hohen, schmalen Tür das Leben zu nehmen.

Später bezog dieses Zimmer ein anderes älteres Flüchtlingspaar Scherer aus Schlesien. In den Folgejahren besuchten in den Ferien wiederholt ihre Tochter und die Enkel*innen Hans und Bärbel aus Tübingen ihre Großeltern. Sie waren ungefähr im Alter von Jörg und Hilke und waren bald mit ihnen befreundet. Auch wir Jüngeren hängten uns an diese Bekanntschaften der Großen an und freuten uns über ihren Besuch in den Großen Ferien.

Als dann 1945 der riesige Flüchtlingsstrom aus den deutschen Ostgebieten einsetzte, zog Mutti offenbar die Konsequenz, dass Badezimmer- und Küchen-Mitbenutzung durch die Flüchtlinge im Hause fortan untersagt waren. Daher wurde Ende der 40er-Jahre eine zweite Küche im Obergeschoss neben dem Badezimmer eingerichtet und zusätzlich am Scheunengebäude mehrere Plumpsklos für mehrere Familien angebaut. Erst circa 1964 starb Frau Scherer als letzte der bei uns wohnenden Flüchtlinge, und ich erlebte sogar noch kurz das Pfarrhaus als „unseren 13-Zimmerpalast“. Meine Salzhäuser Freund*innen, ich und meine Schwester Ute, die inzwischen in Berlin Kunst studierte und in den Sommer-Semesterferien gerade in Salzhausen weilte, beschlossen in dem leer stehenden ehemaligen Scherer-Zimmer eine Party zu feiern.

Eingang zum wild bemalten ehemaligen Mieterraum Scherer

Dabei schlug Ute vor, den Raum vorher auszumalen. Sogar unsere Mutter fand die Idee toll! Ute schuf nicht nur die größten und fantastischen, sondern auch die abstraktesten und unheimlichsten Gemälde von uns allen. Das beflügelte auch unsere Kreativität fantasievoll, und meine Freunde und ich fanden rasch großes Vergnügen am großflächigen Ausmalen. Unsere Mutter war hellauf begeistert. Doch unser Vater hatte wie so oft vom realen Leben oben in seiner Studierstube nichts mitbekommen und war zu unserem Glück zum Zeitpunkt der Hausparty gerade auswärts auf einer Tagung. Die Party wurde ein voller Erfolg dank dieser einmaligen Kulisse. Als unser Vater Tage später das bemalte Zimmer sah, war er entsetzt: „Ich hätte den Kirchenvorstand fragen müssen, denn wenn der das Zimmer wieder vermieten will, muss ich nun vorher den Maler bezahlen“. Aber es war klar, dass 1964 niemand mehr darauf aus war, sich in einem Zimmer ohne Wasser und mit Hofklo einzumieten, und nach und nach hat sich unser Vater dann auch wieder beruhigt.

Aber nun zurück zur Flurmitte: Auf der linken Seite hinter der Sargtruhe und gegenüber der Betten-Truhe erhob sich ein schwarzer, vergoldeter Spiegel aus dem Gründerzeitbarock über einem schwarzen Ziertisch mit drei geschwungenen Beinen. Hatte man die längliche Eingangshalle bis hierhin durchschritten, befand man sich im Zentrum des Flures: Vor dieser der Haustür gegenüberliegenden Längswand stand mittig ein runder Tisch mit einer altertümlichen dunklen Brokat-Decke. Rechts und links war er von zwei Barockstühlen flankiert und hinter ihm, parallel zur Wand, stand eine mit Kissen belegte, schwarze, geschnitzte Sitztruhe. Über der Sitztruhe hing mittig eine Skulptur-Kopie der Madonna im Früchtekranz von Luka della Robbia. Diese und noch mehr alte Stücke hatte mein Vater von seinem Onkel Karl geerbt, der um die Jahrhundertwende als Pfarrer im Dorf Nienstedt am Harz gewirkt hat. Er war Junggeselle geblieben und hatte ein geräumiges, romantisches Pfarrhaus – ähnlich dem unsrigen – bewohnt. Er pflegte Ende des 19. Jahrhunderts als aufwendiges Hobby das Sammeln antiker Möbel, wozu ihn das stattliche Pfarrhaus mit den ebenfalls zahlreichen Zimmern angeregt haben mag. Rechts neben der zentralen Sitzgruppe betrat man die Tür zu unserem geräumigen Wohnzimmer, und nach links öffnete sich rechtwinklig zur länglichen Eingangshalle ein weiterer Flurabschnitt mit einem Durchgang, einerseits zur Treppe ins Obergeschoss und andererseits zum Hinterausgang auf den Hof und zum Abgang in den kleinen Keller des Hauses. Vom großen Eingangsflur gingen fünf Türen ab: Die erste Tür nach Hauseintritt rechts führte in einen Raum, mit dem sich – seitdem ich denken konnte – auch die Bezeichnung „Arier-Zimmer“ verband, was für mich als Kind eine normale, fraglos praktische Raumbezeichnung wie Frauenhilfszimmer oder Aktenkammer war. Diesen Raum und die dahinter liegende Kammer bezog in den frühen 40ern die in Hamburg ausgebombte Familie Eschenbach und danach circa 1948 die Flüchtlingsfamilie Schrader aus Pommern, die dort ein Gut besessen hatten. An ihren Einzug knüpfen sich ganz frühe Kindheitserinnerungen: Wie ich ein geradezu diebisches Vergnügen dabei empfand, wenn ich mit Rainer, dem ältesten Sohn von Theo Schrader und Ehefrau Bärbel geborene Diebig (!), zwischen ausgepackten Kartons und riesigen Papierbergen in ihrem werdenden kleinen Wohnzimmer herumwühlte und tobte. Rainer wurde einer meiner besten und frühesten, gleichaltrigen Kinderfreunde. Die Geburtstage von Rainer, von meiner Schwester Ute und mir fallen ganz dicht am Jahresanfang zusammen und liegen nur eine knappe Woche auseinander. Mehrere Male wurden diese drei Geburtstage mit mindestens 20 süßhungrigen und kreischenden Kindergästen als „Gemeinschaftsevent“ gefeiert. Höhepunkt dieser Großveranstaltungen war das Kasperletheater, das die Mütter Rannenberg/ Schrader und unsere älteste Schwester Hilke im Eingangsflurbereich vorführten. Der Türrahmen des sogenannten Arier-Zimmers wurde zur Kasperlebühne aufgewertet, indem die Zimmertür um 180 Grad an die anschließende Wand gedreht wurde, eine Stange in Mannshöhe zwischen die Türpfosten angebracht und darüber eine Decke, die zum Boden reichte, gehängt wurde. Anfangs war das Theater nur mit selbst hergestellten Figuren bestückt. Am tiefsten beeindruckt hat mich ein Drache mit einem riesigen Schnappmaul aus zwei innen rot gefärbten Zigarrenkistendeckeln, die durch ein Stoffscharnier zusammenhielten, auf denen sich unten und oben ein grüner Panzer wölbte. Vorn befand sich ein aufgenähtes Paar weißer Knöpfe mit schwarzem Punkt. Diese tückischen, glasigen Drachenaugen lehrten mich früh das Fürchten. Bis in die 80-er Jahre existierte dieser Drache zusammen mit mehreren anderen, alten Figuren und erfreute auch meine Kinder beim später selbst aufgeführtem Kasperlespiel. Erst beim letzten Umzug aus meiner Pfarrdienstwohnung in Berlin habe ich auch diesen Drachen schweren Herzens weggeworfen. Schon 1952 beschloss Westdeutschland das Lastenausgleichsgesetz für Deutsche, die nach der Flucht im Osten große Vermögensverluste erlitten hatte. Das setzte Familie Schrader dank des staatlichen Hilfsgeldes in die Lage, ein eigenes Grundstück zu erwerben und sich ein kleines Häuschen zu erbauen. Rainer, sein jüngerer Bruder Klaus und seine Eltern zogen zu meiner tiefen Betrübnis fort, und ihre drei Räume fielen wieder in die Rannenbergnutzung zurück.

Frauenhilfszimmer

Unser größtes zum Garten hin gelegenes Zimmer war seiner ursprünglichen Bestimmung nach das „Frauenhilfszimmer“ und Vorläufer der später obligatorischen Gemeindesäle. Im Zuge der Flüchtlingsbelegung des Pfarrhauses ab 1943 mit ausgebombten Familien aus Hamburg wurde dieser Gemeinderaum zusätzlich beziehungsweise überwiegend als Pfarrfamilien-Wohnzimmer eingerichtet und genutzt, denn auch die Rannenbergs waren am Kriegsende zu einer Großfamilie von bis zu zehn Personen angewachsen: Zeitweise arbeiteten zwei „Dienstmädchen“ im Haushalt, mehrere Verwandte flüchteten sich aus kriegszerstörten Ecken Deutschlands in die entlegene Lüneburger Heide und wurden von unserer Mutter über Wochen und Monate im Pfarrhaus aufgenommen. Ende 1945 schließlich fanden unsere Großeltern mütterlicherseits aus dem zerbombten und russisch besetzten Potsdam bei uns in Salzhausen Zuflucht. Großvater Konrad starb schon nach kurzer Zeit bei uns an einer Lungenentzündung. Nach monatelangem Hungern und harten Entbehrungen im russisch besetzten Potsdam war er so ausgemergelt und entkräftet, dass die Krankheit ihn im Nu dahinraffte. Für mich, den 1944 Geborenen, war und blieb das „Frauenhilfszimmer“ als größtes Zimmer des Hauses der wichtigste Ort und die „Familienzentrale“ meiner Kindheit im Pfarrhaus. Denn eigene Kinderzimmer hatten wir trotz der vielen vorhandenen Räume noch nicht.

Unser Wohnzimmer

Dieser eigentlich ursprüngliche Gemeinderaum wurde also unser Familienmittelpunkt.

Der Raum war über eine Flügeltür nach Westen mit dem Verandazimmer unserer Mutter verbunden, denn es hatte eine Außen-Flügeltür zur Veranda. Es wurde am Kriegsende die neue „Gute Stube“ (auch: Gutes Zimmer/Mahagonizimmer), nachdem das erste „Gute Zimmer“ mit Flüchtlingen belegt worden war. Die lange Wohnzimmer-Fensterseite zeigte nach Norden zum Garten.

Auf der Ostseite des Wohnzimmers schloss noch eine Kammer an, sie diente als Schlafzimmer unserer „Dienstmädchen“. Weil es nur übers Wohnzimmer zugänglich war, schliefen die jungen Mädchen stets gut „bewacht“, besonders seitdem unsere Großmutter nach ihrer Flucht aus Potsdam ab 1946 im zweiten Bett dieser Kammer für Jahre nächtigte. Ich erinnere mich gerade noch an den Alarm, den sie einmal im Sommer empört schlug: „Im Garten unter dem Fenster steht ein Mann, und Adelgunde hängt vor ihm aus dem Fenster.“ Ich kann mich an Adelgunde nur noch dunkel, aber angenehm erinnern, weil sie, als ich ganz klein gewesen sein muss, mich gewaschen und ins Bett gebracht hat.

Aber wieder zurück ins Wohnzimmer!

In der Mitte stand der breite schwere, noch in der Kaiserzeit handgefertigte Tafeltisch auf dicken gedrechselten Beinen. An jeder Seite kann man ihn (bis heute!) dreimal herausklappen lassen, wobei sich unter der zweiten Platte beim Hervorziehen automatisch jeweils zwei Stütz-Beine zur Stabilisierung aufstellen, sodass die dritte Platte fest anschließen kann. Ausgezogen finden an der riesigen Tafel bis über 20 Personen Platz. Der Tisch ist eine solide Handwerksarbeit aus dem frühen 20. Jahrhundert. Aus der Heide nach Berlin kehrte er 1972 in die Preußen-Metropole in unsere erste Berliner Behausung zurück. Heute im Jahr 2020 steht das gute Stück weiter unversehrt und solide im größten Zimmer unserer Steglitzer Wohnung. Nach wohl fast 150 Jahren haben wir ihn jüngst vom Fachmann untersuchen und pfleglich „behandeln“ lassen, ohne dass irgendetwas Wesentliches zu reparieren oder zu ersetzen gewesen wäre. Seine starken Beine stehen unverändert solide und fest, die Auszieh-Technik funktioniert wie eh und je.

Dieser Tisch der Superlative wird noch weit ins dritte Jahrtausend n. Chr. hinein unsere Kinds- und Kindeskinder erfreuen. Immer wenn ein neuer Freund als Gast zu uns nach Salzhausen kam, demonstrierte ich unweigerlich die raffinierte und technisch ausgereifte Verwandlungsfähigkeit dieses preußischen Handwerkswunders. Mindestens zwei- bis dreimal im Jahr hatte unser Wohnzimmertisch in Salzhausen seine Sternstunden:

Regelmäßig im Juni zum Missionsfest, fast jedes Jahr auch zu einer Pfarrkonferenz, zu denen sich die Pastoren der über zehn Kirchengemeinden nebst Ehefrauen monatlich reihum ganztägig trafen, gut zu Mittag speisten und mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurden, schließlich in größeren Abständen auch zu Bewirtungen vielköpfiger Visitationsgremien und besonderer Kirchenversammlungen im Pfarrhaus. Unsere Mutter war dafür perfekt gerüstet: Riesige Tafeltücher mit eingestickten Wäschezeichen: „SB“, was für „Schulz-Bunte“ stand, der Familie unserer Großmutter Elisabeth. Tochter Hilde hatte sie zur Aussteuer geerbt. Dazu gehörte auch ein kostbares, mit feinen, veilchenartigen Blütenstengeln verziertes Tafelgeschirr für 20 Personen, ebenso mehrere nur zu festlichen Anlässen genutzte besondere Kaffeegedecke. Auch das gute Tafelsilber konnte für große Gesellschaften aus den Tiefen des soliden Salzhäuser Tischlermeister Hermann Kaiser 1936 angefertigten schweren langen Buffets hervorgeholt werden. Ich war an den Vorbereitungen und Nacharbeiten dieser feudalen Tafeln mit großem Interesse beteiligt, natürlich beim Ausziehen des Tisches und später beim Hervorholen des kostbaren Geschirrs und beim aufwendigen Tischdecken.

Denn die Familie und wir Kinder kamen mit diesen Kostbarkeiten nur an hohen Festtagen und bei Familienfesten in Berührung.

Früh stand hier ganz rechts neben dem Kachelofen anstatt des Barockstuhls der „ROTE STUHL“.

Wenn dann eine Kaffeetafel einer Pfarrkonferenz zu Ende ging, überwachte ich intensiv das Abräumen der abgegessenen Kuchen- und Tortenplatten, sicherte mir die noch attraktivsten Stücke und schwelgte hemmungslos im Kuchengenuss. Denn außer einem Nachtisch gab es Süßigkeiten und Eis nur ganz selten und Torten nur zu besonderen und festlichen Anlässen. Alles Süße war daher in den 50er-Jahren bei uns Kindern hoch begehrt.

Im Wohnzimmer stand über Eck ein mannshoher heller, damals moderner Kachelofen. Mit einer Ladung Steinkohle brannte er über zwölf Stunden, und in Frostperioden heizte er auch die Nacht durch. Im großen Pfarrhaus mit den riesigen Fluren wurden im Winter nur die Küche, das darüber liegende Studierzimmer und unser großes Wohnzimmer geheizt. Bade-Schlafzimmer und die riesigen Flure in der Hausmitte blieben eiskalt, wenn wir im Winter morgens aufwachten, waren die Einfachfenster voller Eisblumen und unser Atem wurde in der kalten Luft sichtbar.

Wenn ich zum Beispiel vom Schlittenfahren durchgefroren nach Hause kam, verzog ich mich sofort hinter den Kachelofen.

Dort stand dann nicht selten schon Großmutter Elisabeth auf der anderen Seite, und wir begannen das Kuckuck-Spiel, indem wir abwechselnd rechts und links uns seitlich zublinzelten und neckten. Direkt neben dem Ofen stand der sogenannte Rote Stuhl – allerdings ohne ein „rotes Telefon“, aber mit einer gewölbten Rückenlehne und hochgezogenen Seitenlehnen. Auf dem guten Stück lagen auch Kissen, und dazwischen kuschelten wir Kinder uns gern ein. Der rote Stuhl war das letzte Überbleibsel einer mit rotem Plüsch bezogenen Sofagarnitur aus dem Büttel-Haushalt von Vaters Eltern im nachgebildeten Rokokostil. Hilke als die Älteste von uns erinnert sich noch an die alte vollständige Garnitur und an ihre Trauer, als schließlich das Sofa samt einem Sessel von Mutti als stillos entsorgt wurden. Und an eine ähnliche Trauer erinnere ich mich, als das letzte „Stilscheusal Roter Stuhl“ auch verschwand und an seine Stelle ein eher unbequemer, aber stilechter Holzsessel aus der Barockzeit den Platz neben dem Ofen eroberte. Unsere 1946 aus Potsdam ins Pfarrhaus geflüchtete Großmutter Elisabeth sorgte stets für den Fortschritt im Pfarrhaus. Sie spendierte Mitte der 50er unseren ersten Dual-Plattenspieler, der an das altertümliche Radio angeschlossen wurde.

Und ich bekam damals mit zwölf Jahren die erste Single meines Lebens geschenkt mit dem Lied „Banana“ von Harry Belafonte.

Solange wie Großmutter Elisabeth in Salzhausen wohnte, wurde der Plattenspieler intensiv von ihr genutzt. Sie war eine leidenschaftliche Anhängerin klassischer Musik. Hatte sie eine Platte aufgelegt, setzte sie sich in den Roten Stuhl neben dem Kachelofen und entschwebte mit den harmonischen Klängen in höhere Sphären. Natürlich hatten alle ruhig zu sein. Kam zum Beispiel Ute herein, konnte sie verzückt ausrufen: „Höre doch nur Ute!

Diese dramatischen Bässe ...“ Oder erschien meine Mutter, konnte sie ihr zurufen: „Hilde höre doch nur mal, wie diese zarten Geigen das Thema geheimnisvoll umspielen“. Das war allerdings in der Regel verlorene Liebesmüh. Denn unsere Mutter setzte sich nicht einfach mal hin, um zwischendurch bei schöner Musik abzuschalten. Eigentlich war sie bis auf die Zeit des Mittagsschläfchens ganztägig von 8 Uhr bis 24 Uhr in angespannter Aktion.

Eine Ausnahme gab es über viele Jahre, als im Radio, ich meine freitags nach 20 Uhr, die Kabarettsendung „Der Insulaner“ lief. Und da waren alle Familienglieder bis auf unseren Vater versammelt. Immer besetzte ein Glücklicher dazu den Roten Stuhl, manchmal saßen Ute und ich als die Kleinsten zusammen im Sessel. Vor allem unsere Mutter und Berlinerin blühte dann auf, und wir alle amüsierten uns stets köstlich. Natürlich war in dieser Zeit das Lied: „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“ der Küchenschlager.

Im Wohnzimmer befanden sich mehrere Schränke, und jedes Kind hatte dort Fächer für seine Spielsachen. In der Ecke gegenüber dem Summa-Ofen stand ein schmaler höherer Bücherschrank. Im oberen schlanken Teil hinter Glastüren standen Bücher, der darunter vorspringende Sockel-Schrank mit zwei Türen beherbergte das überschaubare Kinderspielzeug von uns beiden Jungen. Es gab zusätzlich eine Kommode links neben dem Kachelofen. Hier lagerten interessante Spielsachen, Schätze der Eltern und sogar Großeltern: Spannende Bücherstapel mit wenig beschädigten, vorbildhaft geschonten und gut erhaltenen Bilderbüchern, streng moralisierende und einschüchternde Exemplare aus der Kaiserzeit, zum Beispiel „Lachende Kinder“ von einem Herrn Hosemann. Es ist ein Bilderbuch, das im Vergleich zum „Struwelpeter“ wie ein „Nesthäkchen-Idyll“ wirkt. Nicht einen Lacher vermochte dieses schwarze Machwerk bei mir auszulösen.

Denn hier wird die brutale Bestrafung ungezogener Kinder illustriert und in Versen gefasst, z.B. „Der unordentliche Max“ oder „Der Lügen-Karl, und Höhepunkt meines Gruselns – schon Jahrzehnte vor der Flut digitaler Horrorprodukte – war: „Das Horch- und Klatschlorchen“, das seine Neugier nicht bezwingen kann und durch deren Lippen daraufhin ein Vorhängeschloss gestoßen wird. Nachdem es dann trotzdem immer weiter hinter Türen horcht, erleidet es ein brutales Ende:

Kam der lange Griesegram!

Lorchen beim Schlafittchen nahm,

Wie sie schreit, er trägt sie doch in sein finstres Felsenloch.

Das Bild und der Text zu diesem menschenfressenden Unhold erschienen mir so unheimlich und grausam, dass ich erst wieder und wieder diese Seite überschlug, um sie erst im vielleicht im fünften Anlauf schon fast zwanghaft als Mutprobe aufzuschlagen.

Ein bebildertes „Zahnmoral-Mahnbilderbuch“ gehörte auch zu den frühen Geschenken, an die ich mich erinnere. Es war auch ein eher grausiges Bilderbuch, das Kinder zur Zahnpflege erpressen will, indem Karies-Bakterien zu Ungeheuern vergrößert dargestellt werden, die sich mit Sägen, Hämmern und Zangen bewaffnet an riesigen Zähnen zu schaffen machen. Später entdeckte ich in diesem Machwerk versteckte Hakenkreuze und weitere NS-Embleme. Also dieses Geschenk entpuppte sich als ein ausgedienter Ladenhüter aus der NS-Zeit, den jemand aus meiner NS-infizierten Berliner Verwandtschaft uns Kindern geschenkt hat. Mich hat es wegen seiner bösartigen Fremdheit angezogen und zugleich abgestoßen. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass grausame Fantasien unter uns befreundeten behüteten Landkindern auch schon eine beträchtliche Rolle spielten. Andererseits ist das von Eltern begleitete, gedankliche Ausleben von Brutalitäten in Märchen und alten Kinderbüchern wahrscheinlich notwendig, um später einen gesunden Widerwillen gegen reale Gewalt zu entwickeln.

Bei mir hat es genau so gewirkt: Gewalt von Menschen und gegen Menschen verabscheue ich bis heute. Ich mache meinen Eltern keine Vorwürfe, dass sie uns mit grausamen Geschichten aus der Bibel, mit Märchen und uralten, autoritären Bilderbüchern, in den Menschen geschunden werden, konfrontierten. Ihr Wertesystem, ihre Menschenachtung und ihr überwiegend liebevoller Umgang mit uns Kindern war so eindrücklich, dass wir früh die Abneigung brutaler Gewalt und das Niedermachen von Mitmenschen internalisierten.

Meine Neugier erregten als Kind von circa fünf Jahren eine große Anzahl gleichgroßer Pappschachteln in der Spielkommode.

Irgendwann bemerkte ich, wie mein großer Bruder Jörg sie hervorholte. Er packte sie auf dem großen Wohnzimmertisch aus, und ich sah zum ersten Mal 1. Weltkriegs-Zinnsoldaten unterschiedlicher europäischer Länder. Bis heute habe ich noch die hässlich braunen abstoßenden russischen Soldaten vor Augen.

Es war eine richtige Masse von Soldaten und Jörg hat wohl vor mir mit ihnen spielen dürfen, aber wohl leidenschaftslos. Mich hat damals die Menge und die Vielfalt zwar auch fasziniert, aber ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, dass ich dann später wieder nach ihnen gefragt oder noch einmal mit ihnen gespielt hätte. Und weil wohl Jörg sie selbst kaum oder gar nicht mehr hervor geholt hat, vergaß ich ihre Existenz und kam als Älterer gar nicht mehr auf die Idee, nun auch damit Krieg zu spielen. Wahrscheinlich stammten diese Zinnsoldaten von dem Bruder unserer Mutter, dem gefallenen Onkel Dieter, der preußisch militaristisch aufgewachsen und begeistert in den Hitlerkrieg gezogen ist. Unsere Mutter hat offensichtlich dieses Kriegsspielzeug mit gemischten Gefühlen weitgehend unter Verschluss gehalten.

Unter dem alten Spielzeug gab es auch zwei Modelle von Mittelalter-Ritterburgen mit Zugbrücke, Zinnen und Türmen, dazu auch zwei „nette“, bunte alte Blechkanonen, die Erbsen verschießen konnten. Ich habe später mit einem meiner engen Freunde Ritterfehden nachgespielt. Beide Seiten bekamen eine der romantischen Ritterburgen, ich glaube sogar auch einmal ausnahmsweise eine kleine Armee russischer oder deutscher Zinnsoldaten aus dem 1. Weltkrieg. Jeder stellte sie auf seinem Burghof auf. Und dann begann der Erbsen-Krieg mit dem Ziel, möglichst viele der gegnerischen Soldaten an- und umzuschießen. Später vervollkommneten wir unsere „Kriegsführung“. Wir legten jeweils zwei Streichhölzer der Länge nach mit den Schwefelköpfen aneinander, umwickelten sie mit Silberpapier fest zu einer Stange. Die wurde so in ein Kanonenrohr gesteckt, dass die Mitte der „Lunte“ gerade noch über den Rohrrand hinausreichte. Unter diese Mitte wurde eine brennende Kerze gestellt, die die inneren Streichholzköpfe erhitzten, bis es schließlich zu einer echten kleinen Explosion kam und kräftig zischend eine „Staniolstreichholzrakete“ in Richtung gegnerischer Burg flog. Die Trefferquoten und Zerstörungen hielten sich in Grenzen!

Aus der Zeit des 1. Weltkrieges existieren vier Anker-Steinbaukästen meiner Mutter mit denen sie als Kind schon intensiv gespielt hatte und die sie an uns Kinder weitergab. Vor mir bauten damit ansatzweise schon meine älteren Geschwister. Als ich dann ins Alter kam, entwickelte ich im Bauen damit eine wahre Leidenschaft. Meine Mutter hatte die Steine ihren Kindern als ein Vorbild von Behutsamkeit und Ordentlichkeit fast vollständig und unbeschädigt übergeben. Jahrelang war der Anker-Steinbaukasten mein bevorzugtes Spielzeug, mit dem ich mich viele Stunden allein beschäftigen konnte. Immer neu trieb mich an, andere ausgefallene Bauwerke zu errichten: Hohe Türme, Triumphbögen, Schlösser und dreischiffige Kirchen. Als ich nach Berlin gezogen war, fiel mir als Erstes auf, wie bekannt mir die Kirchen erschienen. Bald merkte ich, zahlreiche der überwiegend neugotischen Gotteshäuser mit ihren typischen Verzierungen, Bögen, Spitzen und Bauelementen schienen mehr oder weniger aus meinem Ankersteinbaukästen erstanden zu sein. Und deren Entstehungszeit ist das Berlin der Jahrhundertwende, als der „Kirchenboom“ der Gründerzeit ausgebrochen war. Und ich stellte schließlich fest, die 1894 errichtete Heilandskirche in Moabit, an der ich Jahrzehnte als Pfarrer wirkte, hatte ich als Kind schon ähnlich mit dem Steinbaukasten „vorher erschaffen“.

Als älteres Kind integrierte ich den Steinbaukasten und kreierte Brücken, Rampen, Bahnhöfe und Häuser für meine sich Jahr für Jahr vergrößernde elektrische Eisenbahnanlage. An Feiertagen durfte ich die Eisenbahn und Bausteine auch mal auf dem Riesen-Ausziehtisch im Wohnzimmer ausbreiten, das war dann das denkbar Größte für mich.

Hierbei dauerte das Aufbauen, Abbauen und Verpacken sogar fast länger als die reine Spielzeit. Mehrere Jahre war ich mit diesem Bauen viele Sonntage hintereinander beschäftigt. Später bekam ich mit, dass immer mehr meiner Altersgenossen mit großen Eisenbahn-Landschaften auf festen Platten spielten. Ich war aber gar nicht neidisch. Im Gegenteil ich war stolz, dass ich immer wieder neue Eisenbahnlandschaften mit meinen Steinbaukästen, mit gewachsenem Schienennetzen und Bahnhofsanlagen schuf und bedauerte eher die Freunde mit festen Platten, weil man sich mit steif Vorgegebenem bald langweilt. Ich habe sie so oft und vielseitig genutzt, dass sie am Ende sichtbar lädiert waren und nicht mehr ganz vollständig erhalten sind. Aber sie existieren in diesem noch weiter nutzbaren Zustand bis heute als Privatdenkmal einer meiner großen Kindheitsleidenschaften in einem Schrank unserer Steglitzer Wohnung, vielleicht interessieren sich dafür auch noch einmal unsere Enkelkinder.

Auch im Wohnzimmer spielten wir Geschwister mit unserer Mutter oder auch mit Freunden Gesellschaftsspiele. Wenn alle mitmachten – leider niemals unser Vater – empfand ich das als Höhepunkt und war echt glücklich.

Am vorhandenen Wohnzimmer-Schreibtisch machten wir in der kalten Jahreszeit unsere Schularbeiten. Wenn es kalt wurde, wenn Besuch kam, an Geburtstagen und sonn- und feiertags, spielte sich alles, was ich attraktiv fand, im Wohnzimmer ab: Alle Mahlzeiten, Adventssingen, Weihnachten, Haus-Andachten, Geburtstage, gemeinsam Radiohören und auch gemeinsam Musikhören vom ersten Dual-Plattenspieler, ja und Höhepunkt jeder Woche: Der Sonntagskuchen!

Am wichtigsten waren mir die Gesellschaftsspiele am großen Wohnzimmertisch, solange wir alle vier Geschwister noch zu Hause lebten. Beliebt war ein altes Spiel, das Mutti schon als Kind leidenschaftlich gespielt hatte: „Glocke und Hammer“. Dabei spielte auch Geld eine Rolle, und das war in Form vieler blanker, weißer Bohnen im Gebrauch. Glocke und Hammer war für uns lange der Hit, leider habe ich die Spielregeln nicht behalten, aber googeln lassen sie sich. Dann kam auf einmal Monopoly auf den Markt und das faszinierte uns auf neue Art und Weise.

Nachdem unsere Großmutter Elisabeth schon lange zum Sohn nach Darmstadt gezogen war, und Mitte der 50er „Dienstmädchen“ als Hausangestellte angemeldet und versichert werden mussten, trat mit den 60ern der Zeitpunkt ein, dass meine Geschwister Hilke, Jörg und Ute nacheinander das Haus zum Studium verließen und die letzte Flüchtlingswitwe Frau Scherer circa 1963 starb. Jetzt herrschte im Pfarrhaus „der Dreierest“ der Rannenbergfamilie über 13 Zimmer.

Kurz davor im Herbst 1962 erlebte unser Wohnzimmer und Pfarrhaus sein letztes Krönungsfest: In seinen Mauern fand die Feier der Hochzeit der Ältesten unserer Familie – nämlich von Hilke – mit ihrem Nikolaus statt. Hier und natürlich im sich anschließenden Edel-Verandazimmer feierten wir mit wohl 30 Gästen das größte Familienfest der Rannenberg-Pfarrhaus-Ära.

Drei Tage vorher wurde ich losgeschickt, um einen Kasten Bier zu kaufen, was mich fast umwarf, nicht wegen des schweren Gewichts, sondern weil ich unseren Vater bis dahin weder in der Nähe eines Bierkastens, geschweige denn jemals mit einer Flasche Bier gesehen hatte. Und nachdem ich mich gegen seinen Widerstand mit 16 Jahren unaufhaltsam zum Kneipengänger entwickelte, hatte sich bei mir der Eindruck verfestigt, mein Vater befürchtete ernsthaft, dass stets dort, wo schon zwei oder drei Biertrinker versammelt waren, sich todsicher Sünde, Suff und Sittenlosigkeit ausbreiten würden. Allerdings hat meine Schwester Hilke diese Einschätzung inzwischen relativiert und klärte mich darüber auf, dass sie als Kind von Vati immer wieder mal gegenüber ins Gasthaus Albrecht geschickt worden sei, um eine Flasche Bier zu holen, was mich im Nachhinein nur erfreute und erleichterte (natürlich weil er sich mit einer Flasche begnügte!).

Damals galt die sehr vernünftige Hochzeitsregelung: Polterabend keinesfalls am Vorabend der Trauung, sondern schon drei Tage vor der Trauung, also am Mittwoch, damit ein Ausnüchterungstag das Poltern vom Traugottesdienst an dem üblichen Hochzeits-Freitag trennte! Darauf waren wir selbstverständlich eingestellt. Aber was geschah am Mittwoch, dem dritten Tag vor der Hochzeit? Kein Salzhäuser wagte offenbar beim sittenstrengen Pfarrer zu poltern, was mich als Bierbeschaffer und stets in Sehnsucht nach Events ausgerichteter kleiner Bruder erst mal tief enttäuschte. Aber am Donnerstagabend da schepperte und krachte es abends plötzlich an der Haustür und in den Flur hinein, und eine Horde in Salzhäuser Sitten unbewanderter meist auswärtiger Bekannter der ältesten Pastorentochter polterte, was das Zeug hielt. Frau Pastor eilte herbei und schlug die Hände über den Kopf zusammen angesichts des scherbenerfüllten Hausflures und befahl: „Ihr sollt doch draußen auf der Steintreppe poltern“. Aber das kümmerte niemanden. So rief unsere Mutter das Brautpaar herbei, bewaffnete es mit Besen und Schippe, damit diese Ehe auch ja sauber und ordentlich beginnen konnte.

Das Poltern scheuchte ebenfalls Herrn Pastor weg von letzten Ausfeilungsarbeiten an der Hochzeitspredigt! Er flog aus dem Oberstock die Treppe herab, wie es auch sonst seine Gewohnheit war, er schmunzelte tatsächlich, denn er war ja dank seines Jüngsten vorbereitet mit Bier. Es kamen noch mehr Polternde herbei, und auch wenn Georgs Jüngster schulisch eine Katastrophe war, Bier schleppen konnte er perfekt und wurde zu mancher weiteren Verblüffung in die nächste Gastwirtschaft geschickt, um Bier nachzuholen.

Wie raumgreifend und bedeutsam diese Hochzeit war, offenbarte plötzlich der erstaunliche Bedeutungsverlust meines gerade vor diese herbstlichen Hochzeitstage gefallenen Katastrophen-Herbstzeugnisses: Fünf Fünfen und „Versetzung aussichtslos“! Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Nachricht unsere Mutter an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Stattdessen erfüllte sie das Hochgefühl über die mehr als standesgemäße Vermählung ihrer Tochter mit einem klugen vielversprechenden Theologen, der einmal Probst beziehungsweise Regionalbischof werden sollte, voll und ganz aus, dass die Schande ihres Jüngsten weggedeckelt war; und so war diese Hochzeit von Hilke auch für mich ein wahres Himmelsgeschenk!

Und was unseren Vater anging, der noch bei meiner Konfirmationsfeier 1958 mir das von meinem Patenonkel eingeschenkte erste Weinglas meines Lebens entsetzt entriss, um mich vor dem Abgrund zu bewahren, er überraschte auf dieser Hochzeitsfeier alle: Noch nie bisher hatte er als Amtsträger und Pastor zu tanzen gewagt und allen Bitten unserer Mutter widerstanden. Nun aber im festlichen Pfarrhaus-Hochzeitsgemach tanzte er leibhaftig mit seiner Frau, zum ersten Mal wieder seit Jahrzehnten, und ich war als Zeuge dabei. Zum zweiten Mal habe ich es dann acht Jahre später bei meiner eigenen Trauung erlebt, die auch in Salzhausen – aber bereits nach verschwundenem Pfarrhaus – ganz im Saal von Rüters Gasthaus, gefeiert wurde. Da tanzte er sogar mit meiner attraktiven Schwiegermutter. Ja, so ändern sich die Zeiten!

Erst in seinem letzten halben Lebensjahrzehnt, als alle seine Kinder ohne für ihn erkennbare schwere moralische Fehltritte erwachsen und selbstständig geworden waren und ihm sogar schon die meisten Enkel und Enkelinnen geschenkt wurden, wich der tiefe Ernst von ihm, seine moralische Verkrampftheit und Starre lockerten sich, besonders seit 1968 sein Ruhestand begann.

Das war die Zeit meiner letzten Studien- und Ausbildungsjahre zum Pfarrer, als wir uns nur noch sehr selten gesehen haben; und wenn, dann freute ich mich, wie unser Vater als Ruheständler lockerer und zugewandter geworden war.

Leider hielt sein Herz nicht mehr lange durch. Denn schon als Jugendlicher mit 18 Jahren erkrankte er lebensgefährlich an Diphtherie, und machte nach dem Krieg und in seiner Studienzeit bis 1925 infolge familiärer Katastrophen und in den Nachkriegshungerjahren seelisch und körperlich Schweres durch. Darüber werde ich im weiteren Verlauf meiner Erinnerungen ausführlicher berichten. In seinen „besten Jahren“, seinen Fünfzigern, hatte er lange mit einer tuberkulösen Lungenentzündungen zu kämpfen.

Wir alle hätten ihm nach seinem Ruhestandsantritt noch viele unbeschwerte Jahre mit Frau, Kindern und Enkeln gewünscht.

Die Küche

Sie befand sich links neben dem Eingang des Pfarrhauses auf der Südseite. Mir erschien sie als Kind recht groß. Für heutige Verhältnisse wäre sie auch ungewöhnlich geräumig. Aber früher waren besonders auf dem Lande Küchen mit reichlich Platz für eine große Familie und das „Gesinde“ die Regel. Und unsere im Grundriss nahezu quadratische und geflieste Küche maß nach meiner Erinnerung nicht viel mehr als 20 qm und war zwar noch kein Tanzsaal, aber in meiner ganzen Kindheit ein lebendiges „Alltags-Familienzentrum“.

An der Flurseite neben der Eingangstür befand sich der große gekachelte Heizküchenherd mit zwei runden Brenn- beziehungsweise Kochstellen. Sie waren mit jeweils von außen nach innen hin immer kleineren Eisenringen abgedeckt. Ausgerüstet war der Herd mit Backofen und Warmwasser-Bassin, die allerdings zu meiner Zeit nur noch mangelhaft funktionierten. Gegenüber dem Herd an der Westwand war auch an der Ecke ein rechteckiges Spül- und Abflussbecken und darüber ein Kaltwasserhahn installiert. Daran schloss sich ein Holzgestell für Kücheneimer und Putzzeug an. An der Westwand weiter erhob sich unser einziger breiter, hoher – auch vom Salzhäuser Tischlermeister Kaiser zur Aussteuer unserer Mutter handgefertigter – Küchenschrank.

Neben ihm an der Ecke von dritter zur vierten Küche – und an der Fensterwand stand erstens die „Kochkiste“, in der Mitte zwischen den Fenstern ein dritter größerer Arbeitstisch, und an der Ecke fast neben der Eingangstür war die Nähmaschine abgestellt.

Genau in der Mitte der Küche stand der größte Küchentisch mit sechs Stühlen, an dem die meisten unserer Mahlzeiten eingenommen wurden. Hier fanden wir sechs Familienköpfe und zeitweise dazu noch unsere Großmutter Elisabeth so wie ein „Dienstmädchen“ Platz.

Bestimmt ist diese Küche der Ort meiner Kindheit gewesen, an dem sich sowohl überwiegend der Alltag unserer Mutter wie der von uns vier Geschwistern abspielte. Und ebenso war die Küche der Ort, an dem viele der wichtigsten und besonderen Vorgänge und Ereignisse unseres Lebens vorbereitet wurden und stattfanden; und das war damals wohl schon ebenso wie in den gegenwärtigen „besser gestellten“ mitteleuropäischen Küchen.

Hier habe ich mich, wenn ich allein war, mit meinen Lieblingsspielen ausgebreitet, nämlich mit dem Steinbaukasten und der Inbeschlagnahme des großen Küchenmitteltisches für den Aufbau meiner elektrischen Eisenbahn.

Fest in Erinnerung geblieben sind mir die oft von allen Geschwistern im Team durchgeführten Großabwäschen nach dem Abendbrot auf dem ersten Küchentisch an der Wand gegenüber den Fenstern zwischen Herd und Spülstein. Nebeneinander stellten wir zwei große Blechschüsseln, die eine mit heißem Wasser, die andere zum Abtropfen des Geschirrs. Eine Person musste abwaschen, zwei abtrocknen und die vierte Person das Geschirr wegstellen. Eindrücklich war dabei: Alles geschah unter Gesang.

Unsere Mutter war sehr sangesfreudig, und viele Lieder habe ich von ihr übernommen: Kinder- und Volkslieder, Operettenarien und ältere Schlager der 20er und 30er-Jahre. Aus dem Radio aufgeschnappt sangen wir bald dazu die gängigen Nachkriegsschlager und schmetterten sie im Chor. Manchmal kreischten, quakten und brüllten wir Spaßlieder der „Mundorgel“ so ohrenbetäubend laut, dass unser Vater aus seinem Amtszimmer über der Küche plötzlich buchstäblich wie Blitz und Donnerschlag auf uns herabfuhr und uns Mäßigung befahl.

Während wir Kinder mit dem Abwasch beschäftigt waren, blieb unsere Mutter nicht untätig. Wenn der mit weißer Tafeldecke versehene Essenstisch nach dem Abräumen nicht mehr so weiß und oft bunt befleckt war, holte sie sich vom Küchenherd eine Tasse heißes Wasser und mit einem Tuch und manchmal auch mit Seife begann sie penibel jeden Fleck zu entfernen, bis auch der kleinste und letzte Schandfleck verschwunden war, und die gleiche Prozedur wiederholte sie unzählige Male zu jedem wieder neu befleckten Tag. Vielleicht hatte sie als Kind im bildungsbürgerlichen Elternhaus der Sisyphus-Mythos so über alle Maßen beeindruckt, dass sie dem ununterbrochen neuen Aufwärtsrollen des Steines zwanghaft nacheifern musste. Bis ins hohe Alter gehörte die Fleckenentfernung bestimmend zu ihrem Alltag dazu.

Es ist etwas Verrücktes mit der Erinnerung: Während ich dies alles nach 70 Jahren aus dem Gedächtnis hervorhole, will ich zwischendurch in meinen Kalender schauen, aber finde das Stück einfach nicht! Erst nach circa 20 Minuten stelle ich die Suche vorerst ein.

Ich versuche, mich wieder auf meine Kindheit zu konzentrieren, und plötzlich taucht stattdessen vor mir der seit 50 Jahren eigentlich ewig versunkene seichte Schlager auf: Eine Kutsche voll Mädel und die Taschen voller Geld, wer hat so viel Glück bestellt? Na und? Es ist verrückt – prompt findet sich im Anschluss daran der Kalender auch wieder.

Mein frühestes Küchenerlebnis aus meiner Erinnerung dreht sich um das „Dienstmädchen“ Adelgunde und meine Großmutter, als ich vielleicht vier Jahre alt war. Adelgunde war ein junges, hübsches Mädchen, und ihre reizvolle Gestalt soll junge Männer so angezogen haben, dass manchmal in der Dämmerung diese gefährlichen Mannsbilder um unser Pfarrhaus herumgeschlichen sein sollen. In den Augen unserer Großmutter galt Adelgunde daher als „mannstoll“, und natürlich war es allein ihre Schuld, dass sie so reizvoll aussah und Männer verrückt machte! In den Augen von Elisabeth Pfeiffer bestand nämlich das eigentliche Manko Adelgundes in ihrer „niederen“ Herkunft und ihrem unverzeihlichen Makel, dass sie nicht lesen und schreiben konnte. Als alte preußische Lehrerin hatte sie erkannt, ihr fehlt die Bildung, und sie hat schleunigst lesen und schreiben zu lernen. Dazu gehörte unsere Großmutter zu den ersten Frauen, die an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts den Lehrerberuf ergreifen durften. Mehrere Jahre unterrichtete sie um die Jahrhundertwende an einer Volksschule in Berlin, bis sie heiratete. Ihre Lehrertätigkeit lag nun schon fast 50 Jahre hinter ihr. Aber sie fühlte sich berufen, an Adelgunde und ebenso an uns, ihren Enkel*innen, ihre intensive Ohrfeigen-Alphabetisierungs-Pädagogik anzuwenden. Es muss dahingestellt bleiben, ob ihr diese tatsächlich im frühen Lehrerinnenseminar beigebracht worden ist, oder ob sie selbst erst im Zuge ihrer tiefgehenden persönlichen Familienerfahrung zur Anwendung dieser Lehrmethode „reifte“.

Adelgunde jedenfalls zeigte sich den engagierten und „handfesten“ Alphabetisierungs-Anstrengungen unserer Großmutter gegenüber zunehmend renitent, bockig und widerspenstig. Daher gab sie ihre Lehranstrengungen als inzwischen vergebliche „Liebesmüh“ auf. Ich erinnere mich daran, dass unsere Großmutter häufig mit ihr und über das „undankbare, ungelehrige Gör Adelgunde“ schimpfte.

Ich kann mich an das Aussehen des jungen Mädchens kaum noch erinnern, nur dass ich sie mochte. Eine ihrer regelmäßigen Aufgaben war, mich abends im Ausguss unserer Küche zu waschen und danach ins Bett zu bringen.

Bei gutem Wetter stand ein Küchenfenster zum Dorfplatz hin auf. Eines Abends hob sie mich wieder aus dem Becken, stellte mich auf den dritten Küchentisch vor das geöffnete Fenster und trocknete mich ab. Plötzlich tauchte Oma Elisabeth auf dem Trottoir unter dem Küchenfenster auf und brüllte: „Willst du wohl den nackten Jungen vom Fenster wegnehmen?“ Und dann stürmte sie in die Küche, entriss ihr mich vor dem Dorfplatz schamlos „Nackt-zur-Schau-Gestellten“ und „machte sie so heftig zur Minna“, dass sie danach wohl auch nicht einmal mehr ihren Namen Adelgunde zu buchstabieren vermochte.

Was sich schließlich eines Abends beim Abwasch ereignen sollte, beruhte dann bestimmt nicht auf der bösen Absicht des Mädchens Adelgunde. Aber es war vielleicht auch kein reiner Zufall, was da Frau Oberregierungs- und Baurätin Pfeiffer widerfuhr. Großmutter hatte mit dem Abwaschen begonnen, und sie trug der abtrocknenden Adelgunde auf: „Bring mir sofort mehr heißes Wasser vom Herd!“ Sofort nahm Adelgunde den gerade kochenden alten, zerbeulten Wasserkessel vom Herd. Sie brauchte sich nur umzuwenden. Und das tat sie auch in einer schwungvollen Drehung mit dem Kessel im Fingergriff, stoppte genau über der Abwaschschüssel vor der Großmutter, und genau jetzt flog unglücklich der Deckel des Kessels heraus: Anstatt in die Abwaschschüssel ergoss sich ein fürchterlicher Schwall kochend heißen Wassers über die Beine unserer Großmutter, ich stand daneben und sah was geschah!

Großmutter schrie auf vor entsetzlichen Schmerzen. Doch die viel gescholtene Adelgunde reagierte geistesgegenwärtig, zerrte die Verbrannte zum Spülbecken und sorgte mit Kaltwassergüssen für erste Schmerzlinderung. Bald erschien Dr. Fischer, der Chefarzt des Salzhäuser Krankenhauses, denn die Arzt- und die Pastorenfamilien auf einem Dorf standen sich „standesgemäß“ nahe. Elisabeth Pfeiffer kam erst einmal ins Krankenhaus, weil das eine Bein von ihr großflächig, hochgradige Verbrennungen erlitten hatte. Als sie nach Tagen wieder entlassen wurde, begann für alle Familienglieder eine schwere Zeit. Denn Großmutter Pfeiffer bestand zum Ärger unserer Mutter darauf, sich im Wohnzimmer auf dem Sofa ihr Krankenbett einrichten zu lassen. Ab da befand sie sich wochenlang mitten in unserem „Winter-Familienzentrum“ und kontrollierte und dirigierte alles. Das konnte unsere Mutter immer schwerer ertragen. Denn es dauerte viele Wochen, bis sie hin und wieder langsam aufzustehen begann und sich wieder auf ihren Beinen vorwärts bewegte. Noch schwerer hatte es danach Adelgunde, auf der der unausgesprochene Vorwurf lastete, sie hätte bei der Verletzung mit dem kochenden Wasser nachgeholfen. Sie blieb dann auch nicht mehr lange bei unseren Eltern, denn ihre große Familie mit ihren vielen Geschwistern wanderte bald danach gen Australien oder Kanada aus.

Die Verbrennungen unserer Großmutter heilten Gott sei Dank schließlich vollständig.

Abschließend ist zu erzählen, dass unsere gern sich von uns mit Omi anreden lassende Großmutter nicht nur Verbrennungsopfer war, sondern mehrfach selbst in der Küche „Verbrennungen“ verursacht hat.

Unser dritter Küchenarbeitstisch stand ja zwischen den beiden Küchenfenstern. Und da befand sich das erste und fast einzige elektrische Fortschrittsgerät des 20. Jahrhunderts in der Pfarrküche: ein Tauchsieder und eine schwarze Stromsteckkontaktdose!

Die Krönung des noch nach heutigen Maßstäben nahezu hundertprozentigen, rein nachhaltigen Haushaltes unserer Mutter war eine alte zerbeulte, kaum noch zum Aufrechtstehen fähige, schiefe Blechkanne – in Vorzeiten einmal Kaffeekanne – woran die noch vorhandene verbogene Tülle erinnerte! Wenn zwischendurch oder frühmorgens oder spät abends schnell noch kochendes Wasser gebraucht wurde, nutzte unsere Familie schon (!) diesen Tauchsieder, am häufigsten zum Aufgießen des kochenden Wassers in den Melitta-Kaffeefilter zur Bohnenkaffeebereitung. Dazu brauchte der Tauchsieder nur in die mit Wasser gefüllte Blechkanne auf dem Fenstertisch eingetaucht werden, der Stecker in die Steckdose gedrückt werden und nach ein paar Minuten des Wartens kochte schon das Wasser. Unsere 1881 lange vor der Elektrifizierung des Deutschen Reiches geborene Großmutter nutzte dieses Wasserschnellkochsystem mit Tauchsieder während meiner Salzhäuser Kindheit oft und gern, um sich zum Beispiel ihre Wärmflasche zu füllen. Allerdings hatte sie es schon mehrere Male vergessen, nach der Entnahme des Tauchsieders auch den Stecker herauszuziehen.

Meistens bemerkte dann ein anderes Familienmitglied früher oder später den Brandgeruch und riss den glühenden Tauchsieder von der schon mal rauchenden Tischplatte. Am Ende der Salzhäuser Jahre von Elisabeth Pfeiffer, vor ihrem Umzug nach Darmstadt zum Sohn, war der Holztisch unter den Küchenfenstern mit unterschiedlich tiefen, großen und kleinen braunen und schwarzen Brandflecken verziert. Sie bestellte eines Tages schuldbewusst den Tischler Hermann Kaiser, der den Küchentisch mit in seine Werkstatt nahm, dort die tiefste schwarze Brandstelle aussägte, ein entsprechendes neues Holzteil einsetzte und die ganze übrige angesengte Tischplatte abhobelte. In den folgenden Jahren besuchte uns unsere Großmutter weiter regelmäßig in der warmen Jahreszeit, um die Sommerfrische im Heidepfarrhaus zu genießen.

Das wiederum bekam dem restaurierten Küchentisch wiederum nicht gerade gut. Erneut wurde der gestresste Küchentisch am Fenster mit Brandflecken verziert, allerdings sahen die Schadstellen jetzt eher harmlos aus.