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Heidenheim, 8. Jahrhundert. Die junge Nonne Michal lebt mit ihren Ordensschwestern im Kloster Heidenheim, wo sie den Menschen der Grafschaft dient und das Evangelium verkündet. Michals Leidenschaft gilt dem Anfertigen von Urkunden und Schriften. Eines Tages soll sie ein Dokument vervielfältigen, das ihren Argwohn entfacht: eine üppige Schenkungsurkunde Kaiser Konstantins an die Römische Kirche. Michal ist entsetzt: Sollte die Kirche sich nicht mit dem Evangelium statt mit Ländereien schmücken? Hat nicht Jesus selbst bei der Versuchung in der Wüste die Reiche dieser Welt abgelehnt? Das Dokument lässt Michal nicht mehr los, und ihre gefährliche Suche nach der Wahrheit führt sie mitten in den Sündenpfuhl Roms … Gerold ist der älteste Sohn und rechtmäßige Nachfolger des Grafen von Heidenheim. Eines Tages wird die Grafschaft überfallen und seine Familie ausgelöscht. Um sein Leben zu retten, muss er sich im nahegelegenen Kloster verstecken. Dort trifft er auf die junge Nonne Michal, und beide verlieben sich unsterblich ineinander. Doch die junge Frau will ihren Gelübden treu bleiben. Enttäuscht flieht Gerold nach Rom, wo er hofft, den Anspruch auf seine Grafschaft durchsetzen zu können ...
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Seitenzahl: 701
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ROBERT STORCH
Das Versprechen der Nonne
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96140-087-4
© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelgrafik: Dietmar Reichert, Dormagen
Satz: Harfe-Verlag und Druckerei GmbH, Rudolstadt
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
www.brendow-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Buch I: 762 – 763
Gotteszeichen: 2. Kapitel
Winter: 3. Kapitel
Süßes Erwachen: 4. Kapitel
Versuchung: 5. Kapitel
Buße: 6. Kapitel
Teufelsränke: 7. Kapitel
Um Leben und Tod: 8. Kapitel
Buch II: 769 − 773
Pilgerfahrt: 10. Kapitel
Am Hof des Papstes: 11. Kapitel
Die des Handschrift Teufels: 12. Kapitel
Der Thron Petri: 13. Kapitel
Krieg um Rom: 14. Kapitel
Buch III: 773 – 774
Mächtige Liebe: 16. Kapitel
Epilog: Weihnachten 800
Weitere Informationen
Adelind legte die Hand auf Gerolds Schwertarm. „Du darfst jetzt nicht gegen Voto kämpfen! Du bist doch noch ganz schwach.“
Jeden anderen hätte Gerold unwirsch zur Seite gestoßen: Er war der Sohn des Grafen, niemand verbot ihm einen Schwertkampf! Doch Adelind, seine vier Jahre jüngere Schwester, ließ ein Gefühl der Zuneigung in ihm aufsteigen, gegen das all sein Stolz machtlos war. Die zierliche Hand der Elfjährigen krallte sich in seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, und die großen, graugrünen Augen, die zu ihm aufblickten, konnten sich nicht entscheiden, ob sie flehen oder drohen sollten. Wehmütig erinnerte er sich, wie er sie einst an den Händen genommen und auf ihren ersten Schritten geführt hatte. Jetzt wuchs sie zur Zierde der Grafschaft heran. Er wollte sie drücken, doch dies wäre eine unziemliche Geste gewesen vor all den Menschen, die sich vor der Kapelle des Grafenhofs um sie versammelt hatten und jede seiner Bewegungen beäugten. Also legte er seine Hand an den Schwertgriff und gab zurück: „Ich bin wieder so stark wie früher.“
„Wir dachten, dass …“ Sie schlug den Blick nieder. „Dass du stirbst. Das willst du jetzt am liebsten vergessen, aber du bist noch nicht so stark wie früher.“
Ihn ärgerte es, dass sie ihn besser kannte als er sich selbst. Sie hatte recht: Er, der vorher nie krank gewesen war, hatte an der Schwelle zum Tode gestanden. Das hatte Zweifel am Grafenhof gesät: Wollte Gott ihn für etwas bestrafen? Zehn lange Tage hatte er nicht aufstehen können! Trotzdem wollte er Adelind widersprechen, doch sie hob entschieden die Hand. „Du bist zu ungeduldig. Hast du nicht gehört, was Walburga heute Morgen an deinem Krankenbett sagte? Morgen wirst du kräftiger sein. Und am Tag danach noch kräftiger.“ Ihre Stimme bekam etwas Flehendes. „Und noch einen Tag später wirst du so kräftig sein wie vor dem Fieber.“
Die Erinnerung an das Fieber ließ Gerold den Mund verziehen, als hätte er sauren Most verschluckt. Ausgerechnet er, der Sohn des Grafen, der noch nie einen Zweikampf verloren hatte, war schwach und schwindelnd darniedergelegen, unfähig, ein Glas Wasser zum Mund zu führen. In höchster Not hatte Graf Gebhard die Äbtissin Walburga aus dem Kloster in Heidenheim um Hilfe gerufen. Walburga war seinem Ruf gefolgt: Mit demutsvoll gesenktem Haupt hatte sie an Gerolds Bettstatt gebetet und ihm obskure Mixturen verabreicht, woraufhin das Fieber aus dem Körper gewichen war.
„Herrgott, ich werde einmal Graf sein! Sollen die Leute mich für einen Schwächling halten?“ Er warf einen Seitenblick auf die Menschen, die immer zahlreicher vor der Kapelle zusammenliefen. Mitten unter ihnen knetete Voto, der baumlange Waffenknecht, seine pfannengroßen Hände in Erwartung des Zweikampfs mit dem Grafensohn.
Fünfzehn Jahre lang war Gerold auf diesem Hof aufgewachsen, er kannte jeden, vom Haushofmeister über die Handwerker und Stallmeister bis zu den Schreibern und Mägden. Die Nachricht, der Grafensohn sei genesen und habe den stärksten Waffenknecht zum Zweikampf herausgefordert, hüpfte schnell von einem Ohr zum nächsten. Er beugte sich zu seiner Schwester hinunter und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du kennst die Menschen hier so gut wie ich. Sie arbeiten hart und sind Vater treu ergeben, aber sie vermuten hinter jedem Vogelflug und jedem Donnergrollen ein Zeichen Gottes. Sie haben, das weiß ich, sich auch während meiner kurzen Übelkeit Sorgen gemacht, haben sich gefragt, womit ich den Zorn Gottes beschworen habe. Dieses Gerede kann ich nicht ertragen, nicht einen Tag länger!“
„Dieses Gerede kannst du in drei Tagen auch noch beenden. Deshalb nennt dich doch niemand einen Schwächling!“
Mit einem Handstreich wischte er die Einwände weg. „Ich gewinne heute gegen Voto, denn Gott steht auf meiner Seite. Er hat mich geheilt. Das hat Walburga gesagt. Und er wird mir jetzt Kraft geben, darum habe ich ihn heute Mittag gebeten.“ Er deutete auf die mit einem Holzzaun umfriedete Kapelle, die wenige Schritte hinter ihm den mit einem Kreuz gekrönten Altar umschloss. Hinter der Kapelle breitete sich der langgestreckte Große Saal des Grafenhofs aus, dessen rechte Hälfte von der Kapelle verdeckt wurde. Nur das mit Rohr gedeckte Dach ragte über der Kapelle auf. Im Großen Saal wurde das Abendessen vorbereitet: Durch die Dachöffnung in der Mitte stieg Rauch, er verschmolz mit funkelnden Strahlen der weit im Westen stehenden Sonne. Neben dem Eingang zum Großen Saal, linker Hand der Kapelle, war eine Falltür in den Boden eingelassen. Sie führte zum Gefängnis. Es war meist von Knechten bewohnt, die − oft nach unmäßigem Weingenuss − Händel begonnen hatten. Neben der Falltür ragte ein Holzpfosten auf mit einem angebundenen Seil, mit dessen Hilfe die Delinquenten, ausgenüchtert und nach dem Gebet dreier Paternoster, aus dem Gefängnis kletterten.
Adelind seufzte. „Dickkopf! Ob du heute kämpfst oder nicht: Niemand würde zweifeln, dass du Vater eines Tages beerben wirst.“
Die Hand am Schwertgriff, blickte Gerold über seine Schwester hinweg. „Du vergisst, dass ich nicht einfach nur Graf werden will. Ich will so werden wie Vater!“
Eine schwere Hand landete in diesem Moment auf seiner Schulter, und Gerold fuhr herum. Hinter ihm stand Graf Gebhard. Er lächelte. Die Falten, die fächerförmig von seinen Augenwinkeln ausgingen, vertieften sich, und seine von grauen Strähnen durchsetzten Haare fielen bis zum Hemd herab, das mit Kastaniensaft gefärbt war. „Danke, mein Sohn.“
Verlegen blickte Gerold zu Boden.
Vater legte den Arm um seine Schulter. „Gerold, du trägst schon ein Schwert, deshalb liegt es an dir zu entscheiden, wann du kämpfen willst. Aber ein Graf muss nicht nur kräftig sein, sondern auch weise. Er kämpft nur dann, wenn er gewinnen kann.“
Gerold löste sich aus der Umarmung seines Vaters und rief so laut, dass der ganze Grafenhof ihn hören konnte: „Warum denkt jeder, ich kann kein Schwert mehr führen, nur weil ich ein paar Tage im Bett lag? Wo ist Voto? Ich werde ihn besiegen, jetzt!“
„Hier!“, erklang eine Stimme. Sie kam aus der Mitte der versammelten Menschen − und von oben. Eine Gasse öffnete sich und gab den Blick frei auf Voto. Der Waffenknecht war einen Kopf größer als Gerold, mit Armen wie Baumstämme, aber etwas schwerfällig. Dies hatte Gerold schon in einigen Zweikämpfen ausgenutzt − vor seinem Fieber. Jetzt, da Voto den abgemagerten Grafensohn sah, blitzte in seinen Augen die Vorfreude darauf, sich für frühere Niederlagen zu revanchieren.
Gerolds Nackenmuskeln spannten sich an. Er zog das Holzschwert aus der Scheide und warf es in die Luft, wo es sich einmal drehte, bevor der Griff wieder in seine Hand glitt. „Man gebe mir meinen Schild!“
Ein Knecht reichte ihm den Schild.
„Viel Glück!“, sagte Adelind.
Gebhard klopfte ihm auf die Schulter.
Zusammen mit den anderen traten sie zurück und bildeten einen Kreis um Gerold und Voto. Gespannte Ruhe legte sich über den Grafenhof. Selbst die Vögel, die auf dem sanften Anstieg östlich des Grafenhofs gezwitschert hatten, hielten nun inne und verfolgten vom Waldrand aus, der den Anstieg nach hundertfünfzig Schritten beendete, das Schauspiel. Gerold hatte seinen Gegner fest im Blick und das Schwert fest in der Hand. Sie umkreisten sich, jeder den anderen belauernd.
Plötzlich − in einem Augenblick der Schwäche − knickten Gerolds Knie ein. Obwohl er den Fall sofort auffing, witterte sein Gegner die Chance: Er stürmte vor. Gerold duckte sich, spürte den Lufthauch von Votos Schwert an seinem Ohr, sprang zur Seite, rollte über den Boden und kam wieder auf die Beine.
Ein Raunen durchlief die Zuschauerreihen.
Graf Gebhard rief: „Selbst ein Methusalem stäche schneller zu als Ihr!“
Einige Zuschauer schmunzelten, die meisten jedoch ließen sich durch die Bemerkung des Grafen nicht ablenken.
„Danke Vater!“, knurrte Gerold leise − und fintierte: Mit einem Ausfallschritt spiegelte er einen Angriff vor, doch mitten in der Bewegung brach er ab, sodass er Voto die ungedeckte rechte Seite anbot.
Sofort fiel der Recke in die rechte Seite ein.
Gerold drehte sich weg, Votos Schwert sauste neben ihm durch die Luft − bis Gerold den Schwertarm zu fassen bekam. Der Waffenknecht guckte belämmert drein, und Gerold überlegte, ob er einen Treffer in Votos wertvollstes Stück setzen sollte, doch schließlich trat er ihm nur in den massigen Bauch und ließ gleichzeitig den Arm los.
Der Waffenknecht taumelte nach hinten, mit den Eichenarmen rudernd, bis er wieder fest auf den Beinen stand. Auf der Stirn des Riesen schwoll eine Ader an, er stieß einen markerschütternden Schrei aus und rollte, das Holzschwert schwingend, auf den Grafensohn zu.
Genau im richtigen Augenblick wich Gerold einen Schritt zurück.
Wieder ging der Schwerthieb ins Leere, wieder fasste Gerold mit seinem rechten Arm den Arm des Riesen.
Votos Arm fest im Griff, ließ er den Schild fallen, warf das Schwert in die freie Linke und drehte sich um den Gegner. Nach einer Vierteldrehung stieß er ihm den Ellbogen in die Rippen, nach einer ganzen Drehung stand er hinter ihm. Er stieß den Schwertknauf auf einen der unteren Halswirbel, während er mit dem Fuß zwischen die Beine trat.
Der Schmerzensschrei des Hünen klang viel höher als sein Angriffsschrei. Voto ging auf die Knie und krümmte sich, die Hände schützend über sein bestes Stück haltend.
Die Zuschauer schrien aufgeregt durcheinander.
Triumphierend hob Gerold die Arme, drehte sich einmal im Kreis und tätschelte dann Votos Schulter. „Guter Kampf.“
„Jaja, schon gut“, presste Voto hervor.
Gerold reckte seinem Vater das Schwert entgegen. „Mein Schwert trifft noch immer schnell wie eine Franziska und hart wie eine Eisenfaust.“
Die Zuschauer klatschten vor Freude. Gerold spürte ihre Erleichterung darüber, dass Gottes Zorn verflogen war und der Erbe des Grafen wieder kämpfen konnte, auch wenn in diesen Friedenszeiten niemand mit einem Krieg rechnete, erst recht nicht an einem friedvollen Tag wie diesem, wahrscheinlich einem der letzten warmen Tage des Jahres. Der Graf hatte denn auch viele Waffenknechte zum Einbringen der Ernte auf die Felder geschickt, nur Voto und ein zweiter Waffenknecht bewachten den Grafenhof.
Gerold steckte das Schwert in die Scheide seines Wehrgehänges, neben die Franziska, deren Klinge schon manchen Eberschädel gespalten hatte. Einen stolzen Blick warf er in die Menge. Auch ein Grafensohn muss sich Treue verdienen, dachte er. Aber ich werde es schaffen. Und eines Tages werde ich ebenso gerecht herrschen wie Vater.
Gerolds Augen erspähten das horizontblaue Kleid seiner Schwester. Er verneigte sich in ihre Richtung, sie erwiderte seinen Gruß mit einem ebenso spöttischen wie huldvollen Nicken.
Der Graf klopfte ihm auf die Schulter. „Bist doch flinker als ein Methusalem, mein Sohn.“
In jenem Augenblick, als die Harmonie auf dem Grafenhof wiederhergestellt schien, vernahm Gerold ein leises Sirren. Es war kaum mehr als ein Vibrieren der Luft, dennoch sollte er sich den Rest seines Lebens an dieses Geräusch erinnern.
Denn mit diesem Sirren endete seine Jugend.
Es war ein Pfeil, der an seinen Rippen vorbeisirrte, sodass er noch dessen Luftzug spürte. Zwei Handbreit weiter schlug er in die Brust seines Vaters ein.
Gerold wusste nicht, wie lange er dastand, den Blick fassungslos auf den Pfeil gerichtet.
„Vater?“
Um die Pfeilspitze herum sickerte Blut aus der Brust.
Vaters Mund öffnete sich, er wollte etwas sagen, doch bevor es dazu kam, sackte er zusammen.
Reflexartig fing Gerold den Sturz ab. Er legte Gebhard ins Gras, mit seinem linken Arm stützte er den Kopf. Blut tropfte aus dem Mund und floss das bleiche Kinn hinunter.
Voto kniete sich neben ihn und fragte: „Herr?“ Als erwartete er einen Befehl seines Grafen.
Doch der Graf gab keinen Befehl mehr.
„Vater!“, schrie Gerold, ihn immer noch im Arm haltend.
Endlich schaute er sich um. Im Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung: Im Osten trieben fünf Reiter, in ihren Sätteln vornübergebeugt, schwarze Pferde aus dem Wald heraus und das sanft abfallende Gelände hinunter. Einer der Reiter reckte eine Lanze in die Luft, die vier anderen Reiter führten gleichzeitig die Hände zu den Wehrgehängen und zogen die Schwerter.
Von dort musste der Pfeil gekommen sein.
Voto warf das Holzschwert weg, rannte zur Wachhütte, wo sein Stahlschwert lag, und stellte sich den fünf Reitern aus dem Osten entgegen, doch sie galoppierten an ihm vorbei und hielten auf die Menge vor dem Großen Saal zu. Die Menschen schrien auf. Einige stoben davon, andere blieben wie festgewurzelt stehen.
Auch im Westen stürmten Reiter aus dem Wald hervor, flogen an den Wirtschaftsgebäuden und am Großen Saal vorbei, zückten ihre Schwerter und preschten mitten hinein in die Zuschauermenge, stachen in Hälse, zertrümmerten Schädel.
Gerold glaubte die Bilder nicht, die seine Augen erfassten. Er suchte nach Adelind. Sie stand inmitten der Menge, hob sich aus ihr hervor mit ihrem blauen Kleid. Das Gesicht kreidebleich, starrte sie in seine Richtung, wo Vater am Boden lag.
Ich muss sie in Sicherheit bringen, dachte Gerold. Sanft legte er den Kopf seines Vaters ins Gras und rannte zu ihr.
Wie ein Dämon tauchte hinter ihr ein Reiter auf.
„Adelind!“, schrie Gerold. „Lauf weg!“
Sie sah den Dämon nicht, ebenso wenig das Schwert, das hoch über ihr in der Sonne blitzte.
„Adelind!“, schrie Gerold, wild mit den Armen fuchtelnd. „Hinter dir!“
Das Schwert sauste auf sie nieder. Es schlitzte in ihren Nacken und drang tief in den Hals. Ihre Augen weiteten sich in einem Augenblick des Unglaubens, dann drehte sie sich um die eigene Achse und sackte zusammen.
„Nein!“, schrie Gerold. In vollem Lauf griff er die Franziska und schleuderte sie gegen den feindlichen Reiter. Das Beil schlug in dessen Rücken ein, und der Mann stürzte vom Pferd.
Reglos lag seine Schwester am Boden. Er kniete neben ihr nieder. Aus dem Hals sprudelte Blut. „Adelind!“, rief er, mit der Hand die Backe tätschelnd. „Schwesterherz!“
Ihr Name schien irgendetwas in ihr zu wecken. Die Augen blickten zu ihm hinauf, und die Mundwinkel zogen sich zu einem leisen Lächeln nach oben. „Bruder“, flüsterte sie.
Das Lächeln erstarb, ebenso ihre Augen, weit aufgerissenen starrten sie gen Himmel.
Er fasste an ihre Schulter und rüttelte sie. „Schwester!“
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, es war Voto. „Sie ist tot, Herr.“
„Nein.“ Schwach schüttelte Gerold den Kopf, Tränen schossen ihm in die Augen.
Er zwang seinen Blick von ihr weg, er sah auf. Die Menschen flohen in alle Richtungen; die einen versuchten, den Wald zu erreichen, andere stürzten in den Großen Saal. Voto rannte nach Osten, den Abhang hinauf.
„Wer sind die überhaupt?“, fragte sich Gerold, gegen Tränen ankämpfend. „Wo kommen sie her?“
Er stand auf und zog sein Schwert, doch am Gewicht merkte er, dass er nur das Holzschwert in der Hand hielt.
„Voto!“, rief Gerold ihm hinterher.
Voto blieb stehen, er zögerte einen Moment, als überlegte er, ob er Gerolds Ruf folgen sollte, doch dann kehrte er um.
Gerold warf das Holzschwert weg und streckte die Hand aus. „Gib mir dein Schwert!“
Voto legte ihm das Schwert in die Hand.
Gerold nickte. „Du kannst gehen.“
Voto rannte davon, wurde aber von zwei Reitern eingeholt und niedergemacht.
Gerold hob seinen Schild vom Boden auf.
Die Reiter wendeten, erblickten Gerold und trieben ihre Pferde in seine Richtung.
Gerolds Atem ging schneller. Ich bin der Nächste, schoss es ihm durch den Kopf.
Ein Reiter − der rechte − hielt kein Schwert in der Hand, sondern eine drei Schritte lange Lanze.
Gerold hatte den Großen Saal im Rücken. Der feste Vorsatz, nicht zu fliehen, wankte mit jedem Schritt, den die Pferde näherkamen, ein wenig stärker.
In vollem Galopp donnerten sie auf ihn zu.
Gerold machte einen Schritt zurück.
Der Reiter hob die Lanze, bereit, die Eisenspitze in Gerolds Brust zu bohren.
Gerold blickte über die Schulter. Zu spät. Zu weit war die Tür zum Großen Saal entfernt. Er hörte das Schnaufen der Pferde. Verzweifelt warf er sich nach links, weg vom Lanzenreiter − und geriet vor die Hufe des anderen Pferdes. Er riss mit der linken Hand den Schild vor das Gesicht und mit der rechten Hand das Schwert nach oben; er schloss die Augen, um die Pferdehufe, unter denen er zermalmt werden würde, nicht kommen zu sehen.
Das Schwert schnitt in Fleisch, das Pferd wieherte ohrenbetäubend.
Gerold riss die Augen auf, nahm den Schild vom Gesicht.
Er sah in einen Pferdehuf.
Ehe er sich rühren konnte, stampfte der Pferdehuf auf: ins Gras, keine zwei Halme neben seinem Ohr.
Das Pferd bäumte sich auf, der Reiter rutschte vom Pferderücken.
Gerold sprang zum gestürzten Reiter und stieß ihm die Schwertklinge in den Bauch, bevor dieser aufstehen konnte. Während der Schrei des Getroffenen in Gurgeln überging, drehte sich Gerold nach dem Reiter mit der Lanze um.
Doch der Lanzenreiter war nicht mehr allein.
Drei weitere Reiter hatte er um sich gesammelt, sie schwärmten aus und umstellten Gerold: In einem Halbkreis standen sie vor ihm, hinter sich hatte er den Großen Saal.
Gerold erkannte, dass sie ihn dort hineindrängen wollten. Er blieb stehen.
Für einige Augenblicke stand alles still. Gerold dachte, sie könnten ihn zur Aufgabe auffordern, um später für ihn Lösegeld auszuhandeln.
Aber niemand sagte ein Wort.
Er ahnte: Sie wollten keine Münzen, sondern sein Leben. Er spürte eine unsichtbare Hand, die sich um seinen Hals legte und die Kehle zudrückte.
Ein Wunder, dachte er, ich brauche ein Wunder.
Als würde sein Flehen erhört, stach ihm seine Franziska ins Auge: Sie steckte noch im Rücken des Reiters. Gerold hechtete zu ihr, warf das Schwert weg, riss die Franziska aus dem Rücken und schleuderte sie auf den Lanzenreiter.
Der Reiter riss den Schild hoch, krachend prallte die Franziska daran ab.
Der Lanzenreiter lachte leise.
Schritt für Schritt kamen die vier Reiter näher.
Gerold nahm das Schwert wieder vom Boden auf. Erneut spürte er die unsichtbare Hand an seinem Hals. Er wusste, dass er in den Großen Saal fliehen musste. Aber was, wenn sie ihn anzünden würden?
Verzweifelt suchte er einen Ausweg, irgendeine Möglichkeit zur Rettung, ein Wunder − und erspähte zwei Eisenringe im Boden. Sie gehörten zur Falltür, die in das Gefängnis führte.
Noch zehn Schritte war der Lanzenreiter entfernt.
Gerold rannte zur Falltür.
Der Lanzenreiter stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken.
Gerold warf den Schild weg, zog die Falltür an den Eisenringen auf und warf das Schwert hindurch.
Er sah den Lanzenreiter nicht, hörte nur das Donnern der Hufe, befürchtete, jeden Moment die Lanzenspitze in seinem Rücken zu spüren.
Dann sprang er in das Loch. Er sah den Boden nicht kommen, ohne Vorwarnung knallte er auf Knie und Ellbogen. Gerold stöhnte, zog den modrigen Geruch durch die Nase. Er zitterte am ganzen Körper. Ist das alles wahr?, fragte er sich. Nein, das kann unmöglich wahr sein. Mein kleines Schwesterherz, sie kann nicht …
Draußen landete einer der Reiter auf seinen Füßen. Schritte näherten sich.
Wulfhardt hielt die Lanze in der rechten Hand im Anschlag. Er lugte über den Schild, während er sich an die geöffnete Falltür wagte. Dort unten, im Dämmerlicht, streckte Gerold ihm das Schwert entgegen. Die Schwertspitze vibrierte vom Zittern der Hand.
Der ist am Ende, dachte Wulfhardt. Er nahm den Helm ab. Abendluft kühlte sein Gesicht, das sich unter dem Metallschutz erhitzt hatte. Die Kettenglieder, die den Nacken schützen sollten, klimperten. „Sieh an, der Bastard meines Bruders.“
Gerolds Schwertarm versagte für einen Augenblick die Arbeit. Er sank.
Wulfhardt lachte. Ausgerechnet Gerold, Liebling des Grafen und der Mädchen, ausgerechnet er hatte Angst. Gerold war Wulfhardt nie geheuer gewesen: Da war diese absonderliche blonde Strähne, sie zog sich über der Stirn mitten durch die hellbraunen Haare. Und dann seine Angewohnheit, mit der Franziska, einem Bauernwerkzeug, auf die Jagd zu gehen! Doch jetzt hielt er keine Franziska in seinen Händen, und in seinen hellblauen Augen spiegelte sich Entsetzen.
Gerold reckte ihm das Schwert wieder entgegen. Die Schwertspitze berührte das über ihm baumelnde Seil, mit dessen Hilfe man sich aus dem Gefängnis zog. Das andere Ende des Seils war neben Wulfhardt an einen Holzpfosten geknotet.
Wulfhardt beugte sich hinunter und griff das Seil. Er wartete, bis Gerold merkte, dass Wulfhardt ihm seine einzige Möglichkeit nahm, das Gefängnis zu verlassen. Erst als Gerolds Hand nach oben zuckte, um das Seil zu fassen, zog Wulfhardt es hoch. „Leb wohl, Neffe.“ Er warf das Seil neben den Holzpfosten und schloss die Falltür.
Wulfhardt drehte sich zu seinen Reitern um. Zwei von ihnen hatten Fackeln entzündet. Er nickte. „Zündet den Saal an!“
Das Reetdach entflammte sofort, bald fraß sich das Feuer durch das Flechtwerk an der Außenwand und schließlich in die hölzernen Pfosten, die Wände und Dach trugen. Die Menschen, die aus dem Saal brachen, rannten in die Schwerter der Reiter. „Tötet jeden!“, rief Wulfhardt seinen Reitern zu. „Niemand darf entkommen!“ Im Westen färbte sich der Himmel blutrot. Wulfhardt strich sich über den lang herabhängenden Schnurrbart, während seine Augen einer Magd folgten, die mit brennenden Haaren aus dem Saal rannte und kreischte. Er erinnerte sich, dass er in diesem Saal bei der Abendtafel nie an der Stirnseite hatte sitzen dürfen. Der Platz dort war für seinen Bruder reserviert gewesen. Aber der Pfeil, den er seinem Bruder in die Brust geschossen hat, hatte alles verändert. Ein süßes, befriedigendes Rachegefühl durchfuhr ihn bei dem Gedanken daran.
Kurz dachte er an all die Demütigungen, die er erfahren hatte, während er mit seinem Bruder zusammen hier am Hofe aufgewachsen war. Zum Beispiel an die Schlacht gegen die Baiern vor vielen Jahren, als Vater noch geherrscht hatte. Sowohl Wulfhardt als auch sein Bruder hatten jeweils eine eigene Einheit befehligt. Plötzlich war er von Feinden eingekreist gewesen, hatte Vater ihm doch die unerfahrensten Leute unterstellt. Ausgerechnet sein Bruder hatte ihn aus der Umklammerung der Feinde befreit und dafür das Lob seines Vaters bekommen. Wulfhardt hatte sich − welch eine Demütigung! – anschließend sogar bei seinem Bruder für die Hilfe bedanken müssen. Hätten sie ihm nur einen Moment länger gegeben, so wäre er selbst in der Lage gewesen, sich zu befreien. Als ob sein Bruder nur darauf gewartet hätte, die Situation für sich zu nutzen.
Und das war nur der Gipfel eines ganzen Berges voller Demütigungen, unter dem seine Eltern und sein Bruder ihn in all den Jahren begraben hatten. „Dein Bruder konnte das schon in deinem Alter.“ Wie oft hatte er diesen Satz von seinem Vater oder dem Priester hören müssen, der ihm Schreiben und Lesen beibrachte?! Oder seine Mutter, die oft ihr Bedauern darüber äußerte, mit dem zweiten Sohn nicht so viel Glück gehabt zu haben wie mit dem ersten. Natürlich nur, wenn sie dachte, dass er es nicht mitbekäme.
So hatte es ihn nicht gewundert, dass Vater ihm im Testament nur die Bischofswürde zugesprochen hatte. Damit war Wulfhardt verdammt gewesen, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen und jeden Tag einen Mann aus einem unbedeutenden Stamm zu ehren, der in einem Stall geboren und wie ein Verräter ans Kreuz geschlagen worden war. Sein Bruder dagegen war zum Grafen ernannt worden. In seinem Letzten Willen hatte Vater ihm zu verstehen gegeben, dass er nur Messen lesen konnte, mehr nicht. Dennoch hatte es auch hier sein lieber Bruder verstanden, die Wunde noch tiefer zu reißen. Denn im Ton unendlicher Großherzigkeit hatte er vor dem versammelten Grafenhof verkündet, er werde den Letzten Willen des Vaters respektieren und seinen Bruder in das Bischofsamt einführen. Damit hatte er ihn zum Bischof von seinen Gnaden degradiert, trotzdem hatten die Menschen diesen Heuchler für seine Großzügigkeit gepriesen. Nur Mutter nicht. Sie hatte es für einen Fehler gehalten, Wulfhardt auch nur zum Bischof zu ernennen. Zum Glück war sie vor zwei Jahren gestorben. Natürlich hatte Wulfhardt sich seine Freude nicht anmerken lassen, sondern an ihrem Grab eine Lobrede auf sie gehalten, die einige der Frauen sogar zu Tränen gerührt hatte.
Um ihn vollends dem Spott der Meute auszuliefern, hatte sein lieber Bruder ihn vor wenigen Tagen auch noch der Herrschaft des Bischofs von Rom unterstellen wollen; und das nur aus Dankbarkeit gegenüber Walburga, der Äbtissin des nahegelegenen Klosters, nachdem sie mit einem Dämonenzauber dessen Sohn Gerold geheilt hatte. In welch unwürdige Abhängigkeit wäre diese Grafschaft geraten! Es war der Tropfen gewesen, der das Fass in Wulfhardt zum Überlaufen gebracht hatte.
Zum Glück hatte er schnell handeln können. Das verdankte er der Tatsache, dass er in den letzten Jahren − unbemerkt vom neunmalklugen Bruder − das Ohr des bairischen Herzogs Tassilo gesucht und gefunden hatte. Tassilo wartete nur auf eine Gelegenheit, die Gebiete zurückzuerobern, die Baiern im Krieg vor vierzehn Jahren an das Fränkische Reich verloren hatte. Jede Schwächung eines fränkischen Grafen kam ihm zupass. Deshalb hatte er nicht gezögert, als sich Wulfhardt vor zwei Tagen bewaffnete Reiter von ihm erbeten hatte, um den Hof seines Bruders zu überfallen. Und hier waren sie: Der unbewachte Grafenhof samt seiner Bewohner war eine leichte Beute gewesen.
Wulfhardt rief sich selbst zur Ordnung. Er wusste, dass er seine Gedanken nicht an die Vergangenheit verschwenden durfte, sondern dass er sie auf die Aufgaben richten musste, die vor ihm lagen: Der nächste Schritt seines Plans sah vor, die Schuld für den Überfall auf andere zu lenken. Nur wenn ihm dies gelänge, würde der König ihn zum Grafen ernennen. Er hatte alles genau durchdacht. Und diese Pläne würde Gerold bestimmt nicht durchkreuzen, dort unten im Verlies, wo er verhungern würde.
Wulfhardt bezahlte die Reiter aus der gräflichen Schatztruhe und entließ sie. Er warf sich einen schwarzen Mantel über, der auf der rechten Schulter mit einer goldenen Spange geschlossen wurde.
Barfuß, auf einen Stab gestützt, wanderte er an den nächsten Tagen durch die umliegenden Dörfer. Mit tränengefüllten Augen und stockender Stimme erzählte er, welch furchtbare Zerstörung er am Hof seines lieben Bruders vorgefunden habe. Er lud jeden ein, sich ihm anzuschließen, um seine Familie zu Grabe zu tragen. Nach einer Woche kehrte er mit Hunderten trauernder Männer und klagender Weiber an den Grafenhof zurück.
Zwar missfiel es Wulfhardt, dass sein Bruder so beliebt beim gemeinen Volk war, dennoch frohlockte er bei dem Gedanken, diese Beliebtheit für seine Zwecke auszunutzen.
Als er mit der Menschenmenge den Hof erreichte und einen beiläufigen Blick auf die Falltür warf, die zum Gefängnis führte, erstarrte er: Sie war offen, mit einem faustgroßen Loch in der Mitte, im Verlies von Gerold keine Spur. Warum nur hatte er ihn nicht gleich mit seiner Lanze durchbohrt? Zum Glück schrieben die Menschen seine Verwirrtheit der Trauer um seine Familie und den vielen Leichen auf dem Grafenhof zu. Erst am nächsten Morgen konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Er nahm sich vor, dennoch alles so durchzuführen wie geplant. Er ließ Gräber ausheben für die Grafenfamilie. In Gerolds Grab ließ er eine der verkohlten Leichen aus dem Großen Saal legen. Er hielt die Trauerrede am Grab des Bruders. Es fiel ihm leicht, den trauernden Bruder zu spielen, denn während all der Jahre am Grafenhof hatte er gelernt, sich zu verstellen und seinen Groll zu verstecken. Und so setzte er nun ein Gesicht auf, in das die Traurigkeit tief eingegraben war, und er wählte Worte voller Wehmut. Dies alles, während er jeden Moment befürchtete, Gerold könnte vor die Trauernden treten und ihn den Mörder seiner Familie schimpfen.
Aber Gerold tauchte nicht auf, auch nicht, als Wulfhardt nach der Beerdigungsrede die Schuldigen für diesen Überfall anklagte: „Die Heiden waren es!“, rief er, scheinbar vor Rachedurst bebend. „Dort, auf diesem Hügel im Osten, verstecken sie sich im Wald. Ihr wisst es, ihr braven Männer. Sie treffen sich an Quellen und Lichtungen, wo sie ihren Dämonen opfern, anstatt den Herrn Jesus anzubeten.“ Er riss die rechte Hand nach oben, von dort baumelte ein Halsband herunter, an dem ein Tierknochen hing. „Und die Opfertiere tragen sie mit sich herum! Wie dieses, das ich gleich hier am Grafenhof, inmitten unserer Toten gefunden habe!“ Wütend heulte die Menge auf. Wulfhardt kannte sie: Den Heiden hatten sie schon lange nicht mehr über den Weg getraut. „Ihr guten Menschen! Ihr wisst: Wer den Grafenhof überfällt, kann auch jedes andere Dorf überfallen!“
Männern stieg die blanke Angst in die Augen, Frauen hoben klagend die Arme gen Himmel.
„Doch wir können ihnen ein Ende machen, jetzt und für immer!“ Wulfhardt reckte sein Schwert in die Höhe. „Wer folgt mir?“
„Wir!“, riefen die Männer. „Wir folgen dir!“
Wulfhardt verteilte Schwerter an die erzürnte Meute und marschierte mit ihnen durch den Wald bis zu einer Lichtung. Die Schatten der die Lichtung umsäumenden hohen Buchen und dichte Wolken hielten die Sonne zurück. Fahles Licht fiel auf drei windschiefe Hütten. Die Weizenfelder rund um die Hütten waren abgeerntet bis auf eines, in dem drei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder ihre Sicheln in immer gleichen Bewegungen gegen die Halme führten. Ein weiterer Mann schüttete Abfälle in einen von grunzenden Schweinen umsäumten Trog.
Einer der Männer, die im Weizenfeld standen, drehte sich zu Wulfhardt um, wahrscheinlich hatte er ihn im Augenwinkel gesehen. Er musterte die Schwerter in den Händen von Wulfhardt und seinen Männern. Ein Schreckensruf verständigte seine Nebenleute und die Heiden in den Hütten.
Die Heiden rannten davon.
Wulfhardts Männer verfolgten sie bis tief in den Wald, beinahe bis zum Kloster Heidenheim, und schleiften sie zurück auf die Lichtung.
Wulfhardt musterte die Heiden. Zwar drohte er in seiner Rolle als Bischof oft den Ungläubigen mit Teufel und Hölle, doch im Grunde hatte er nichts gegen ihre Zeichendeutungen und Totenbeschwörungen einzuwenden, denn dadurch, dass Vater nur halbherzig gegen die Rituale der Vorfahren, die auch unter den Getauften noch vollzogen wurden, vorgegangen war, hatte er viele Möglichkeiten kennengelernt, den Willen der Götter zu erkunden und zu beeinflussen. Wie viel mehr Nutzen brachte ihm das im Gegensatz zum schwachen, gekreuzigten Christengott! So prüfte er stets selbst, ob göttliche Zeichen seine Vorhaben guthießen. So hatte er einen hellen Feuerstrahl am Himmel blitzen gesehen, gerade als er den Plan zum Überfall auf den Grafenhof geschmiedet hatte. Sofort hatte er die Botschaft der Götter erfasst: Er sollte Feuer über den Grafenhof bringen.
Nein, er verdammte nicht die Riten der Heiden. Vielmehr missfiel ihm, dass sie sich seiner bischöflichen Macht entziehen wollten.
Die meisten der beinahe zwanzig Heiden blickten furchtsam auf die grimmigen Männer, Mütter hielten schützend die Arme um ihre Kinder. Ein Mann jedoch verschränkte die Arme vor der Brust und glotzte Wulfhardt trotzig an. Auf diesen Mann schritt Wulfhardt zu und drückte ihm die Klinge an den Hals. „Gestehe! Wer von euch hat meinen Bruder ermordet?“
Der Mann rührte sich nicht, nur den Kopf wendete er leicht, sodass die dunklen Augen unter den buschigen Brauen Wulfhardt erfassten. „Niemand.“
„Pah! Warum seid ihr davongerannt, wenn ihr nichts zu befürchten habt, he? Ihr habt euch an meinem Bruder gerächt! Weil ihr auf sein Geheiß jeden Sonntag in der Kapelle das Kreuz anbeten musstet! Aber eure heidnischen Götter, die wollt ihr weiter ehren. Gibst du zu, dass ihr ihnen opfert?“
Der Mann ließ einige verräterische Augenblicke verstreichen, dann sagte er: „Nein.“
Die Ungerührtheit des Mannes überraschte Wulfhardt und steigerte das Verlangen, ihn zu demütigen. So, wie er früher gedemütigt worden war. „So seid ihr Heiden: mordet und lügt. Ihr seid mit dem Bösen im Bunde.“
Ein Mädchen löste sich aus den Armen der Mutter, rannte zum Mann und klammerte sich an sein Bein. Schwarze, zerzauste Haare fielen auf die Schultern herab, mit dreckigen Fingern bohrte es in der Nase.
Wulfhardt packte das Mädchen und zerrte es zu sich. Der Mann stürzte vor, um es seinem Griff zu entreißen, doch Wulfhardt hielt ihm die Klinge vor das Gesicht. Bald waren seine Männer zur Stelle und drehten dem Mann die Arme auf den Rücken.
Wulfhardt packte das Mädchen am Haarschopf und ritzte einen Kratzer in ihren Hals. „Nun, du kennst die Frage: Wer hat meinen Bruder ermordet?“
„Niemand, Herr, ich schwöre es. Mit dem Mord haben wir nichts zu tun.“
Wulfhardt holte mit dem Schwert aus. Der Mann schrie auf, die Klinge sauste auf das Mädchen nieder, mit einem Streich schnitt er den Haarschopf ab.
Kreischend rannte das Mädchen weg, doch Wulfhardt bekam es zu fassen.
Der Mann fiel mit den Knien in den Dreck und faltete die Hände. „Bitte, Herr, glaubt mir doch …“
„Du hast die Wahl!“, donnerte Wulfhardt. „Entweder du deutest auf den Mann, der meinen Bruder ermordete, oder der nächste Schwertstreich trifft den Hals!“
Ein Rotkehlchen trällerte einsam über die Lichtung. Wulfhardt hob den Schwertarm, der Heide hob flehend die Hände. Da mischte sich plötzlich seltsames Gemurmel in das Trällern: Eine Prozession verschleierter Frauen erreichte die Lichtung. Acht Nonnen hielten die Handflächen zum Gebet aneinandergepresst. Die vorangehende Nonne murmelte etwas; ihre Worte klangen wie die lateinischen Formeln, die er während der Messen sprechen musste, ohne sie zu verstehen. Die folgenden Nonnen murmelten die Worte nach. Bange fragte sich Wulfhardt, ob sie mit diesen Worten Mächte anriefen, die er nicht kannte. Eine der Frauen − die kleinste − trug keinen Schleier, sondern ein Kopftuch, an dessen unterem Rand Locken hervorspitzten. Sie sah auf den ersten Blick aus wie ein Kind. Doch auf den zweiten Blick ließen die Locken eine Wildheit erahnen, die nicht mit dem züchtigen Kopftuch harmonierte, ebenso wenig wie die sinnlich geschwungenen Lippen. Wulfhardt starrte sie an. Die Wangenknochen überzog eine feine Röte, wahrscheinlich war sie Hals über Kopf durch den Wald gehetzt.
Wer hatte sie gerufen?
Noch immer Gebete murmelnd, schaute die Nonne auf und bemerkte seinen Blick. Hastig wandte er die Augen von ihr ab. Zusammen mit den anderen Nonnen blieb sie drei Schritte vor ihm stehen, nur die vorderste kam zu ihm heran. Ihr Köpfchen verschwand beinahe unter dem Schleier, und der Umhang fiel an ihr hinab wie an einer Vogelscheuche; an ihrem Gürtel hingen viele kleine Amphoren. Sie bekreuzigte sich und trat zwischen ihn und das Mädchen ohne Haarschopf. Sie sprach fast im Flüsterton in seiner Sprache, aber mit fremdem Einschlag: „Ich, Walburga, Äbtissin des Klosters von Heidenheim, entbiete Euch meinen Gruß, edler Bischof Wulfhardt. Ich komme eiligen Schrittes, um Euch vor einem entsetzlichen Fehler zu bewahren. Ich war oft zu Gast bei den guten Menschen, die hier jahraus, jahrein die Felder pflügen, und habe ihnen das Evangelium Jesu Christi verkündet. Sie sind friedfertig, bald werden sie die heilige Taufe empfangen. Wahrlich, das Samenkorn, welches ich unter diesen arbeitsamen Menschen aussäte, fiel auf gutes Land und wird hundertfach Frucht bringen.“
Wulfhardt gewahrte, wie lächerlich die Situation war: Ein paar Nonnen wollten ihn aufhalten! Er deutete mit dem Schwert auf die Dorfbewohner. „Der Mörder meines lieben Bruders versteckt sich unter diesen Heiden! Sie haben den Machtsitz meiner Familie überfallen, mitten in Friedenszeiten!“ Die Stimme kippte, so stark schien es ihn zu schmerzen. Als er sich gesammelt hatte, rief er: „Und nun verschwindet, damit die Schwerter für Gerechtigkeit sorgen!“
Walburga bekreuzigte sich. „Eure aufrichtige Trauer rührt mein Herz, edler Bischof Wulfhardt. Möge Gott, der Herr, Euch dies dereinst vergelten. Indessen trübt der Schmerz Euer Urteil. Ich bitte Euch, lasst ab von diesen unschuldigen Geschöpfen Gottes und handelt, wie die Schrift es uns lehrt: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Wulfhardt tat die Bemerkung mit einem Schwertstreich durch die Luft ab. „Ihr glaubt, Ihr kennt die Heiden, weil Ihr sie ein Mal besucht habt. Aber die Heiden sind falsch und tückisch.“ Er deutete zum Himmel. „Mein Bruder ist mein Zeuge! Was wisst Ihr schon. Ihr seid über das Meer gesegelt, dort drüben auf eurer Insel mögt Ihr Euch auskennen. Jedoch von der Gegend hier habt Ihr keine Ahnung. Die Ungläubigen muss man bekämpfen, sie kennen nur die Sprache des Schwerts! Diese Schänder sollen gefesselt und der ewigen Verdammnis unterworfen sein, in der untersten Hölle sollen sie schmoren und mit dem Teufel und allen Gottlosen leiden!“
Die Nonne mit dem Kopftuch trat neben Walburga. Am Akzent merkte Wulfhardt, dass sie auch von dieser Insel im Norden kam. „Der heilige Paulus war ungläubig, bevor Jesus ihn bekehrte, genau wie diese Menschen. Paulus hat Erbarmen gefunden für seine Zeit im Unglauben.“
Das Gerede der Nonne regte ihn auf. Mit ihrer verhüllten Wildheit hatte sie ihn abgelenkt, nur ihretwegen hatte er sich überhaupt in dieses Gespräch verstrickt. Er betastete das Säckchen an seinem Gürtel mit den giftigen Eibennadeln darin, mit denen man Probleme – wie diese Nonne – aus der Welt schaffen konnte. Er richtete das Schwert auf sie. „Ihr wollt mich belehren, dabei kommt ihr von weit her und gehorcht einem Bischof aus einem fremden Land. Aber wir brauchen keinen Bischof aus Rom, der uns reinredet. Ihr preist euch als Missionare, dabei bekehrt ihr nur Christen zu Christen und schützt die Ungläubigen.“
Die Nonne wich nicht vor dem Schwert zurück. „Euer Bruder war anderer Meinung. Er wollte dem Ruf Jesu folgen und sich der einen, römischen Kirche anschließen.“
Wulfhardt merkte, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf die Diskussion einzulassen. Doch nun war es zu spät. Die Männer, die er auf die Lichtung geführt hatte, folgten dem Disput mit in die Hüften gestemmten Händen. Er ging zum Angriff über. „Mit eurem Hexenwerk habt Ihr meinen lieben Bruder geblendet! Aber er hatte sich längst besonnen. Nie hätte er sich dem Bischof von Rom unterworfen!“ Er deutete gen Himmel, wo sich die Wolken verdunkelten. „Dafür rufe ich meinen Bruder zum Zeugen an!“
Walburga öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Nonne mit dem Kopftuch kam ihr zuvor: „Die Nachricht der Gräueltat erfüllte unsere Herzen mit Trauer um all die guten Menschen, die das Schwert der Räuber aus dem Leben gerissen hat. Wir beteten für ihre Seelen, auf dass sie Ruhe finden in Ewigkeit. Doch wer ist es, der für das jähe Ende ihrer Leiber hier auf Erden verantwortlich zeichnet?“ Über ihrer feinen Nase gruben sich tiefe Falten in die Haut. „Könnte es derjenige sein, der aus ihrem Tod den größten Vorteil zieht? Sagt, gedenkt Ihr, die Stellung Eures Bruders als Graf einzunehmen? Gott sei Euch gnädig, Bischof Wulfhardt, denn seid gewiss: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“
Wulfhardt schnappte nach Luft, fassungslos darüber, dass diese Nonne mit dem Kopftuch ihm und seinem Schwert die Stirn bot − mit nichts anderem als Worten! Er zeigte mit der Schwertspitze auf die Nonne und schrie außer sich: „Bleib mir gestohlen mit deinen Weiberfabeln! Ich liebte meinen Bruder! Und nun tretet zurück, bevor der Zorn der Streiter Gottes sich auch gegen euch richtet!“
Sechs Nonnen wichen zurück, nur Walburga und die Nonne mit dem Kopftuch rührten sich nicht. Immer noch pressten sie die Handflächen wie zum Gebet aneinander. Mit durchdringender Stimme hob Walburga an: „Gott hat seine Augen und Ohren überall, er sieht und hört alles! Auch zu dieser Stunde blickt er auf uns herab. Er sieht jede Missetat. Und er wird jeden für seine Missetaten dereinst bestrafen, ebenso wie er diejenigen, die ohne Schuld sind, belohnen wird.“ Sie reckte den Arm nach oben und streckte einen knorrigen Zeigefinger gen Himmel. „Seht Euch vor, edler Wulfhardt, denn bald wird ER seine Stimme erheben!“
Ein Donnerschlag zerriss in diesem Moment die Luft.
Wulfhardt fuhr zusammen. Der Schreck lähmte seine Glieder und Gedanken.
Nur die gemurmelten Gebete der Nonnen durchbrachen die Stille.
Wulfhardt wandte sich an seine Männer. „Streiter Gottes …“ Er merkte, dass die Stimme zitterte, und vergaß, was er sagen wollte. War der Donnerschlag, von Walburga vorhergesagt, nicht ein eindeutiges Zeichen der Götter? Zoll für Zoll dämmerte ihm die bittere Erkenntnis: Die Götter verwarfen seinen Plan, stellten die Heiden unter ihren Schutz.
Platzregen setzte ein. Er wusste, er hatte verloren. Wulfhardt wollte das Schwert in die Scheide stecken, da ging über dem nahen Wald ein weiterer Blitz nieder. Wieder zuckte er zusammen, die Schwertklinge verfehlte die Scheide. Hastig versuchte er es ein zweites Mal − und verfehlte die Scheide erneut. Er spürte alle Blicke auf sich gerichtet, die Ohren brannten vor Scham. Er fühlte sich wie nach all den Demütigungen am Grafenhof. Vor allem die Worte der Nonne mit dem Kopftuch klangen ihm in den Ohren: Richterstuhl Christi … Damit jeder seinen Lohn empfange …. Ohne es zu wollen, starrte er sie an. Sie verwandelte sich vor seinen Augen zu einer fauchenden Riesenkatze, die ihre scharfen Zähne zeigte. Er selbst kam sich vor wie ein Mäuschen, das vor ihr davonlief, aber das Mauseloch nicht fand.
Immer noch starrte Wulfhardt sie an. Jetzt befeuchtete er die Lippen, während sich die von hervortretenden Adern überzogenen Hände um den Schwertgriff krallten. Er wandte sich ab, Michal atmete auf. Jetzt glückte es ihm, das Schwert zurück in den Gürtel zu stecken. Er schlich mit seinen Männern im Regen davon, nur mit den Ballen auftretend, wie ein Hund, der fürchtete, einen Bären aufzuschrecken.
Dieser Mann strahlte eine Finsternis aus, die sie erschaudern ließ: der schwarze Schnurrbart, dessen Enden nach unten zeigten, die Mähne aus schwarzen Locken, von denen einige in die Stirn hingen sowie der schwarze Mantel, auf dem, an einer Halskette befestigt, ein silbernes Kreuz prangte. Sonst erfüllte sie der Anblick eines Kreuzes mit Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, der für sie gestorben war. Doch dort, an der Brust dieses Mannes, kam es ihr vor wie eine Verhöhnung Gottes. Hatte Jesus nicht die Kinder Gottes gespeist? Wulfhardt dagegen hatte sie morden wollen wie König Herodes. Sie hatte einen Sieg gegen den Teufel errungen!, triumphierte Michal innerlich. Wäre sie nicht standhaft geblieben, wären all die guten Menschen hier Opfer des Schwertes geworden. Sie dankte Gott, dass Wido, ein junger Bursche von der Lichtung, den Häschern des Teufels entflohen war und sie, die Mägde Gottes, zu Hilfe gerufen hatte.
Michal fing den Blick von Aebbe auf, ihrer zwanzig Jahre alten Freundin. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst, die kornblumenblauen Augen weit aufgerissen.
Schon in ihrer angelsächsischen Heimat, dem Königreich Wessex, war Michal zusammen mit der zwei Jahre älteren Aebbe in der Klosterschule zu Wimborne auf den heiligen Kriegsdienst vorbereitet worden, wenngleich Aebbe oft, im Gegensatz zu Michal, der Eifer gefehlt hatte, dem Pfad der Tugenden zu folgen, den die heiligen Schwestern ihr gewiesen hatten. Michal mutmaßte, dass sich dieser Gegensatz durch ihre Elternhäuser begründete: Aebbe war das siebte Kind eines Gutsbesitzers, noch als Säugling hatten die Eltern sie in das Kloster gegeben und hatten ihr sodann keine elterliche Liebe mehr angedeihen lassen. Michal hingegen hatte zeitlebens mit ihrer Mutter und mit Walburga zwei herausragende Fürsprecherinnen Gottes an ihrer Seite gehabt, die sie, so lange sie denken konnte, auf die klösterliche Zucht vorbereitet hatten.
So schien es kein Wunder, dass Aebbe und sie in der Klosterschule getrennte Wege gegangen waren. Dies hatte sich jedoch bei ihrer Fahrt über das Meer, das die Südküste ihrer angelsächsischen Heimat von der Nordküste des fränkischen Königreiches trennte, geändert: Sie waren in einen tosenden Sturm geraten. Während die Wellen über die Reling geflutet waren und das Schiff hin und her geworfen hatten, hatten sie gemeinsam gebetet, bis der Sturm sich gelegt hatte.
Diese Erfahrung hatte zwischen ihnen das Band der Freundschaft geflochten. Seither steckten sie, wenn sich eine Gelegenheit ergab − was selten genug der Fall war −, die Köpfe zusammen und redeten.
Zusammen hatten sie nach der Überfahrt das Kloster Tauberbischofsheim erreicht, wo Walburga sie erwartet hatte, gemeinsam mit den anderen Nonnen, von denen die meisten bereits zwölf Jahre zuvor mit Walburga nach Franken gesegelt waren.
Doch sie sollten nicht lange in Tauberbischofsheim verweilen, denn nach drei Wochen hatte sie die Nachricht erreicht, dass Wynnebald, der Abt zu Heidenheim und Walburgas Bruder, bald zu seinem seligen Lebensende gelangen werde. Und so waren sie nach Heidenheim gelangt, wo Walburga das Erbe ihres Bruders angetreten hatte.
Die Heiden von der Lichtung warfen sich Walburga zu Füßen und dankten ihr, jedoch wehrte die Äbtissin ihre Danksagungen ab mit dem Hinweis, die Rettung sei nicht ihrem Verdienst zuzuschreiben, sondern allein der Liebe Gottes. Sie wandte sich zum Heimweg bei prasselndem Regen. Der Wind frischte mehr und mehr auf, er zerrte an Walburgas Umhang, sodass Michal fürchtete, diese schilfdünne Frau könnte davongeweht werden wie ein Laubblatt im Wind, doch stoisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, den Kopf geneigt, den Blick gesenkt, die Flächen ihrer Hände aneinandergelegt. Die Nonnen folgten ihr wie Küken einer Glucke, immer in die Abdrücke tretend, welche die hölzernen Sohlen von Walburgas Schuhen im durchweichten Waldboden hinterlassen hatten. Nur zurzeit der Sext hielten sie inne für ein Gebet, nach dem der Himmel die Schleusen schloss.
Auf einer Anhöhe traten sie aus dem tropfenden Wald, unter ihnen umgaben Heidenheims Häuser die Kirche, wo sie den Herrn sieben Mal am Tag und ein Mal in der Nacht priesen. Wynnebald, eifriger Knecht Christi, erster Abt von Heidenheim, Bruder Walburgas, hatte die Kirche aus Steinen einer verfallenen Römervilla errichtet. Im Süden trennte die Kirche ein kleiner Platz, auf dem jeden Montag Markt gehalten wurde, vom zweiten Steingebäude Heidenheims: dem Meierhof, der noch vor Wynnebalds segensreichem Wirken in Heidenheim erbaut worden war. Jetzt war der Markt verwaist bis auf zwei Frauen, die, vom Wynnebaldsbrunnen hinter der Kirche kommend, mit je zwei Wassereimern über den vom Regen durchweichten Platz stapften und tratschten. Da öffnete sich das hölzerne, oben in einem Halbkreis auslaufende Kirchenportal, und die Mönche traten nach Abschluss der Sext heraus. Goumerad, der Priester und Prior des Männerkonvents, drehte den Kopf in Richtung der Nonnen, die anderen Mönche bemerkten dessen Kopfbewegung und sahen ebenfalls zu ihnen herauf. Doch hastig, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, wandten sie sich ab und gingen ihrer Wege zu den Häusern des Mönchsklosters, die sich nördlich der Kirche um den schlammigen Klosterhof gruppierten. Die Mönche durften nach der Sext lesen oder ruhen, und so schlenderten einige ins Refektorium, um zu lesen, die meisten allerdings in das Dormitorium, um zu dösen, wiederum andere ins Necessarium, um Wasser zu lassen.
Nebenan gingen die Bediensteten des Klosters in den Wirtschaftsgebäuden ihrem Tagwerk nach: Ein Fuhrwerk lud am Stadel Heu ab, eine Magd stapfte aus dem Kuhstall, in jeder Hand eine Milchkanne. Der Fuhrknecht lehnte sich gegen den Wagen, folgte der Magd mit den Blicken und rief ihr etwas nach, woraufhin diese den Kopf in den Nacken warf und lachte. Törichtes Gelächter, dachte Michal, froh um die Nonnenklausur, die, wie Walburga stets betonte, ihren Sinn weglenkte von weltlichen Sorgen und Geschäften, hin zu einer Lebensform, die den göttlichen Anordnungen entsprach.
Die Nonnen wanderten die Anhöhe hinunter zu einer Brücke, die sie über den Gießbach führte, in dem weiter oben das oberschlächtige Mühlrad plätscherte. Hier hatten die Nonnen ihren Kräutergarten angelegt. Im Frühjahr blühte und duftete und summte es von all den Bienen, die den süßen Saft des Nektars schlürften und an den Beinen und am ganzen Körper zu den Bienenkörben trugen. Jetzt hingegen, im September, schwirrte nur eine einzige Biene über verblühte Pflanzen von Huflattich, Enzian, Holunder und Mohn.
Auf Latein trug Walburga den Nonnen Arbeit auf. Sogleich besetzte Amalberga die Klosterpforte, Fideswide und Aebbe webten im Genitium, Truthgeba und Hilda ernteten Spinat und Sellerie, und Eadburga goss eine Kerze für die Kirche. Michal wollte sich in die Schreibstube begeben, aber Walburga hielt sie zurück. „Einen Moment, Hugeburc!“
Michal erschrak. Mit ihrem Geburtsnamen Hugeburc redete Walburga sie vornehmlich an, wenn sie ihr Verhalten rügen wollte. Sonst nannte auch Walburga sie nach ihrem Rufnamen Michal, den Schwester Eadburga ihr einst gegeben hatte, nach der jüngsten Tochter von König Saul, war doch auch Hugeburc die jüngste und kleinste der Nonnen in Heidenheim.
Walburga hob den rechten Zeigefinger. „Im sechsten Kapitel der Klosterregel verfügt der heilige Benedikt: Ich sprach, ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stellte eine Wache vor meinen Mund, ich verstummte, demütigte mich und schwieg sogar vom Guten. Du dagegen hast auf der Lichtung deine Zunge nicht gehütet. Statt dich in Demut zu üben, schwatztest du, als niemand dich fragte.“
„Ich schwatzte doch nicht!“, rief Michal aus. „Ich wollte jenen Menschen helfen! Wie unser Herr Jesus! Er hütete seine Zunge nicht, als er auf jenen Berg stieg und verkündete, dass unser Licht leuchten soll vor den Menschen. Wie soll denn unser Licht leuchten vor jenen Menschen auf der Lichtung, wenn wir schweigen in jenem Augenblick, da sie unserer Worte dringender bedürfen denn je?“
Auf Walburgas Stirn kündigte sich ein Gewitter an. „Meine liebe Nichte, dich zeichnet vor allen anderen Schwestern eine hervorragende Begabung im Schreiben und überhaupt in den geistigen Werken aus. Doch du zählst erst achtzehn Jahre, was viel zu jung ist, um die in der Schrift verborgene Wahrheit zu erfassen. Vielmehr sollst du die Regeln des heiligen Benedikts beachten. Allein dies ebnet dir den Weg zum Schleier. Eine dieser Regeln heißt: Stelle eine Wache vor den Mund! Wer diese Regel missachtet, ist des Schleiers unwürdig. Dies gilt für dich als meine Nichte ebenso wie für alle anderen.“
Michal wollte etwas entgegnen, brachte aber kein Wort heraus. Die Verleihung des Schleiers erwartete sie in Bälde, dies war ihr innigster Wunsch seit den Tagen in der Klosterschule zu Wimborne, wo die bewundernswerten gottgeweihten Jungfrauen ihr den Weg zum tugendhaften Leben gewiesen hatten.
Walburga sagte: „Du schweigst heute und am morgigen Tag. Öffne Ohr und Herz für die Stimme Gottes!“
Vom Gießbach her rief eine Stimme: „Verehrungswürdige Walburga!“ Es war der Mann, den Wulfhardt auf der Lichtung mit dem Schwert bedroht hatte, an der Hand hielt er das Mädchen ohne Haarschopf, hinter ihm standen die Bewohner der Lichtung.
Während Walburga sich zum Gießbach begab, damit sie die Wünsche der Heiden erfahren konnte, ohne dass diese den Bereich der Nonnenklausur betraten, stapfte Michal mit geballten Fäusten zum Nonnenkloster. Wenn sie die in der Schrift verborgene Wahrheit nicht verstand, warum erklärte Walburga sie ihr dann nicht? Was für ein Unrecht, für diese mutige Tat gemaßregelt zu werden! Immerhin hatte sie einen Sieg gegen den Teufel errungen! Michal erschrak. Sie blieb stehen. Sie war zu stolz gewesen. Sie hatte sich selbst anstatt Gott gelobt, der ihr die Kraft für diesen Sieg verliehen hatte. Sie bekreuzigte sich und schickte ein stilles Gebet zum Himmel. „Vergib mir, Herr. Ich drängte mich selbst in den Vordergrund.“
Mit demütig gesenktem Kopf betrat Michal das Nonnenkloster, das − im Gegensatz zum Komplex der Mönche − nur aus einem Gebäude bestand, schließlich zählten sie nur acht Mägde Christi gegenüber zwanzig Mönchen. Dennoch neidete sie den Mönchen nicht ihre düsteren Häuser, sah das Pfostenhaus der Nonnen doch freundlicher aus: Zwar wurde es durch dunkle Holzpfosten aus Baumrinde getragen, die Räume zwischen diesem Gerüst waren dagegen mit hellen Blockbohlen aufgefüllt. Im Haus war der Boden ausgelegt mit den weißen Fliesen der Römervilla, die einstmals an diesem Ort gestanden hatte, die Räume wurden durch Holzbretterwände voneinander getrennt.
Michal ging nach dem Eingang durch den Vorraum, in dem Walburga die Besucher empfing, und gelangte in das Refektorium, wo sie stehen blieb, um einen freundlichen Anblick zu genießen: Die Katzenmutter, die sie Mieze riefen, lag auf der Seite, und fünf kleine Kätzchen nuckelten an ihren Zitzen. Mieze hatte ein braunes, von schwarzen Streifen durchzogenes Fell, das sich auf zwei ihrer Kätzchen übertragen hatte, die drei anderen trugen rötliches Fell. Michal riss sich von Mieze und ihrem Wurf los, durchquerte das Dormitorium und öffnete die Tür zum hintersten Raum des Nonnenklosters: der Schreibstube. Sie zog einige Manuskripte aus dem Schrank und legte sie auf das Schreibpult direkt unter dem Fenster, durch das Sonnenstrahlen schienen und kühle Luft zog.
Das erste Manuskript stammte aus Lucca im fernen Italien, zu dem Wynnebald auf seinen Pilgerreisen Kontakte geknüpft hatte. Seine Nachfolgerin Walburga hatte die Manuskripte ungeordnet vorgefunden, deshalb sollte Michal ein Register anlegen, in dem sie alle Schriftstücke verzeichnete. Und so studierte sie Tag für Tag die schwarzen Pfade der Blätter, immer mehr lernend über Gottes unerschöpfliches Wirken in der Welt. Jetzt nahm sie das Manuskript aus Lucca, das gerade vor ihr lag, und legte es auf ihre Knie. Es enthielt die Psalmen 66 und 50, die sie zu Beginn der Laudes sangen. Sie trug es in das Register ein, ebenso wie die folgenden Manuskripte, den Federkiel über das Pergament aus der Haut von Schafen führend, nur unterbrochen vom Eintunken in das Tintenhorn, das zu ihrer Rechten stand. Ab und an quietschte der Federkiel, doch nie griff sie zum Radiermesser, dafür nach jedem Absatz zum Holzlineal, um die nächsten Zeilen zu ziehen.
Eben nahm Michal ein weiteres Manuskript in das Register auf, als zur Non gerufen wurde. Sie legte den Federkiel zur Seite und zog mit ihren Schwestern zur Kirche. Vor dem Portal angekommen, kam ihnen Walburga von der Rückseite der Kirche entgegen, wo der Wynnebaldsbrunnen stand, so genannt, weil Wynnebald dort die Einwohner von Heidenheim getauft hatte. Ihr folgten, tropfnass, die Heiden, begleitet von misstrauischen Blicken der Mönche. Die Nonnen warteten auf Walburga, sodann folgten sie ihr durch das Portal. Ehrfurcht ergriff Michal, als sie das Holzkreuz über dem Altar erspähte. Sie bekreuzigte sich und bat den Herrn um Vergebung. Nicht für die Worte, die sie auf der Lichtung gesprochen hatte, sondern für ihren Stolz, der sie Gott hatte vergessen lassen.
Mea culpa, mea culpa!
Michal schritt durch das Langhaus auf das Holzkreuz zu. Sie und die anderen Nonnen blieben vor der Holzschranke stehen, hinter der sich das Langhaus zum Quadrat des Altarraums hin öffnete. Die Mönche trotteten an ihnen vorbei, die Blicke auf den Altar gerichtet, schlüpften unter der Schranke durch und betraten das Allerheiligste. Dort, rund um den Altar, waren noch weiße Fliesen der Römervilla zu erkennen, wohingegen die Nonnen auf Lehmboden standen. Prior Goumerads Halbglatze löste sich aus den Reihen der Mönche, seine Augen wurden von weit hervorspringenden Augenbrauenbogen beschattet. Fehlerfrei und mit verdrießlichem Gesichtsausdruck führte er durch Vers, Hymnus, Psalmen, Lesung, Versikel und Kyrie eleison.
Nach der Non, vor der Mahlzeit, fasste Walburga im Kreis der Nonnen zusammen, was inzwischen mit den Heiden geschehen war: Bis auf eine alte Frau hatten alle Heiden die Lichtung verlassen, sodann hatten sie gebeten, mit der Taufe in die Gemeinschaft Jesu aufgenommen zu werden und sich in Heidenheim niederlassen zu dürfen, da sie sich auf der Lichtung nicht sicher fühlten.
Daraufhin hatte Walburga Goumerad ersucht, die Heiden zu taufen. Dieser hatte jedoch Bedenken geäußert: Sie könnten Blut an den Händen haben, fernerhin bestehe der Verdacht, sie wollten die heilige Taufe nur empfangen, um sich in Heidenheim einzunisten, obgleich sie heimlich im Heidentum verharrten. Es sei deshalb nicht geraten, das heilige Sakrament der Taufe vorschnell zu spenden, vielmehr müsse die Sache von allen Seiten geprüft werden, folglich werde er sich morgen zum Grafenhof begeben. Dort werde er die Meinung des Grafen einholen.
Nachdem Walburga den Heiden diese betrübliche Nachricht überbracht hatte, hatten diese nachdrücklich ihren Beistand verlangt. Daher war sie mit ihnen zum Wynnebaldsbrunnen gepilgert und hatte mit ihnen gebetet. Daraufhin waren sie, vom Gebet ergriffen, einer nach dem anderen ins Wasser getaucht, trotz Walburgas Einwand, nur ein Priester könne sie taufen. Alsdann hatte sie die Heiden in den Wirtschaftsgebäuden des Klosters untergebracht.
Nach der Mahlzeit unterdrückte Michal nur mit Mühe einen Seufzer, während sie sich in die Schreibstube begab. Sie hätte sich gerne mit Aebbe unterhalten, doch die Regel des heiligen Benedikts verlangte Schweigen. Sie war fest entschlossen, die Regel zu befolgen, um zu dem Ziel zu gelangen, das sie von Kindesbeinen an sehnsuchtsvoll erstrebte: den Schleier der heiligen Jungfrau. Dennoch: Etwas in ihr wehrte sich gegen diese Regel, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. Und tief in ihrem Innern zweifelte sie zum ersten Mal, ob Gott sie für das Leben im Kloster erschaffen hatte. Sie erschrak ob dieser Erkenntnis, verbissen widmete sie sich ihrer Arbeit. Sie schrieb, unterbrochen von der Vesper, bis zur Komplet.
Nach der Komplet entzündete Goumerad wie jeden Abend eine Kerze am Altar und trug sie, vor den Nonnen einherschreitend, bis zum Nonnenkloster, wo er sie Walburga übergab. Das Licht erhellte die Nacht im Dormitorium.
Am nächsten Morgen betete und arbeitete Michal wie immer, aber als Goumerad nach den Laudes den Wanderstab zur Hand nahm und Richtung Grafenhof zog, konnte sie sich nicht mehr auf die Manuskripte aus Lucca konzentrieren. Gewiss, Goumerad war ein ehrwürdiger Mann, ausgezeichnet durch sein priesterliches Gewand, weit überlegen einer schwachen und gebrechlichen Frau, die sich nicht auf das Vorrecht weiser Einsicht stützen konnte, dennoch zweifelte sie, ob er dem Einfluss Wulfhardts, der zweifellos mit dem Teufel im Bunde war, widerstehen konnte. Vielleicht rührten ihre Zweifel daher, dass er die Messe zwar stets fehlerfrei, aber ohne jene Hingabe zelebrierte, die sie aus Walburgas Gebeten vernahm.
Goumerads Platz war bei den Laudes am Morgen nach seiner Abreise immer noch verwaist. Sollte seine lange Unterredung mit Wulfhardt nur um die Heiden von der Lichtung kreisen? Michal glaubte es nicht. Was bereden sie wohl so lange?, grübelte sie während des Morgenlobs. Voll böser Ahnungen verließ sie die Kirche, doch kaum war sie ins Refektorium getreten, flatterten alle Sorgen davon: Ihre Mädchen hatten die Stühle schon herausgetragen und den Tisch, an dem Michal für gewöhnlich mit ihren Schwestern speiste, an die Seite gerückt. Jedoch saßen die Mädchen nicht brav auf dem freigewordenen Platz und warteten auf den Unterricht, sondern tobten herum. Sie spielten so etwas wie Fangen, obwohl Michal nicht erkannte, wer vor wem davonrannte. Vielleicht hüpften sie auch nur in völligem Durcheinander hin und her.
Vor drei Monaten hatte Walburga den Unterricht für die Mädchen des Dorfes eingeführt, wogegen Goumerad umgehend gewettert hatte, weil das Weib, zumal in jungen Jahren, zu wenig Verstand für eine Unterweisung in geistigen Dingen besitze und dies mithin nicht von Gott gewollt sein könne. Seit sie das gehört hatte, unterrichtete Michal die Mädchen mit noch mehr Vergnügen.
Michal hatte den Kinderlärm in den letzten beiden Wochen, als die Mädchen bei der Ernte hatten helfen müssen, vermisst, erst recht an den letzten beiden schweigsamen Tagen. Jetzt genoss sie die ausgelassenen Kinder umso mehr − und bedauerte gleichzeitig, dass dieser Spaß ihr in der Kindheit verwehrt geblieben war: Damals, in ihrer Heimat jenseits des Meeres im Norden, in der Klosterschule zu Wimborne, hatte niemand gewagt, weiter herumzuspringen, wenn eine Lehrerin den Raum betreten hatte. Nur am Hof ihrer Eltern hatte sie in den wenigen freien Stunden nach Schule und Gebet mit den Kindern der Knechte und Mägde gespielt. Es hatten sich auch Knaben unter ihren Spielkameraden befunden, doch kurz nach ihrem elften Geburtstag hatte Mutter alle Knaben vom Hof geschickt, um, wie sie sagte, sie vor schädlichem Einfluss zu schützen.
Schweren Herzens beschloss Michal, das Durcheinander zu beenden. Sie klatschte in die Hände. „Ruhe, Kinder!“
Niemand hörte sie, nur eine Kohlmeise, die auf dem Fensterrahmen herumgesprungen war, flatterte davon. Sie schritt zum Pult, wo während der Mahlzeiten die Vorleserin stand, und knallte mit der Faust auf das Pult − ohne Erfolg. Also griff sie zur schrecklichsten Drohung: „Ich schicke euch alle in die Schule der Mönche, wenn ihr nicht sofort eure Wachstafeln nehmt und euch auf die Fliesen setzt!“
Die Mädchen blieben dort, wo sie gerade herumsprangen, wie festgewurzelt stehen. Wahrscheinlich dachten sie an ihre Brüder, die oft mit schmerzenden Hinterbacken aus dem Unterricht kamen. Begleitet von einem enttäuschten Murmeln nahmen die 24 Schülerinnen Wachstafeln und Griffel zur Hand und drängten sich auf den weißen Fliesen der alten Römervilla zusammen.
Michal lächelte, trat hinter dem Pult hervor und begann mit einer Rechenaufgabe. „Die Bäuerin melkt die Kühe Elsa und Frida. Elsa gibt zwei Kannen Milch, Frida drei.“ Sie nickte einer Schülerin in der ersten Reihe zu. „Clara, was denkst du: Wie viele Kannen Milch hat die Bäuerin?“
„Vier!“, antwortete das rotwangige Mädchen mit dem Blondschopf.
Michal setzte sich im Schneidersitz vor Clara auf die Fliesen und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. „Wie viele Brüder hast du, Clara?“
Das Mädchen runzelte die Stirn, wahrscheinlich ahnte sie, dass ihre Antwort falsch war. Trotzig antwortete sie: „Vier!“
„Und wen von ihnen magst du am meisten?“
„Den Michel!“
„Und was ist mit den anderen?“
Clara ballte die kleinen Hände zu Fäusten. „Die sind blöd!“
„Du streitest dich mit ihnen?“
„Ja. Weil sie blöd sind!“
„Und wenn du dich mit ihnen streitest, was würdest du da am liebsten mit ihnen tun?“
„Ich hau ihnen Ohrfeigen rein!“ Sie holte mit dem rechten Arm aus, als stünden ihre Brüder vor ihr.
Michal schaffte es, ernst zu bleiben. „Das wären wie viele Ohrfeigen?“
Clara überlegte kurz mit zur Decke gewandtem Blick, dann hielt sie zwei Finger hoch und rief: „Drei!“
„Ah! Das sind so viele Ohrfeigen wie die Kannen Milch, die von der Kuh Frida gefüllt werden, richtig?“
„Glaub schon.“