Das Virus und der liebe Gott - Joachim Negel - E-Book

Das Virus und der liebe Gott E-Book

Joachim Negel

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Beschreibung

Die Corona-Pandemie ist nicht beendet. Und damit sind auch die Fragen, die dieses epochale Ereignis aufwirft, nicht vom Tisch. Von Anfang an fiel den Kirchen zu dieser Krise wenig ein. Aber auch die Einlassungen von Philosophie und Soziologie waren nur selten erhellend. Dabei bieten biblische, literarische, theologische und philosophische Traditionen eine Fülle von faszinierenden Denkanstößen, wie umzugehen wäre mit der Endlichkeit und Verletzlichkeit menschlichen Lebens. Joachim Negel hebt einige dieser Schätze. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen bieten eine geistlich-intellektuelle »Hausapotheke« für die Herausforderungen, die vor uns liegen.

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Geschrieben in den Monaten September bis Januar im Jahre 2 der Pandemie in Freiburg im Üechtland in strenger Klausur.

Korrekturgelesen in den frühen Märztagen 2022, da die Welt von jetzt auf gleich eine andere wurde.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © antova / GettyImages

Satz: dtp studio eckart | Jörg Eckart

Herstellung: CPI books GmbH, Leck

E-Book Konvertierung: Newgen publishing

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83818-7

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83691-6

ISBN (Print) 978-3-451-39476-8

Das Virus hat ein Gottesprädikat:Es ist allgegenwärtig.

Fulbert Steffensky

Ich gehöre eher zu den strukturell trostlosen Menschen.

Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt.

Thea Dorn

Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß, ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.

Christian Lehnert

Das letzte Wort, das ich im Wörterbuch des Universums für die Menschheit als Ganzes und die Milliarden ihrer Individuen finde, heißt: TOD …

Aber: Ist dieses Wörterbuch vollständig?

Ist es abgeschlossen?

Enthält es in den riesigen Lücken zwischen den bisher entzifferten Vokabeln nicht noch Wörter, die noch nicht entziffert sind?

Fridolin Stier

Wie um alles in der Welt soll es der Mensch auch schaffen, selbst in Ordnung zu bleiben, wenn um ihn herum nichts in Ordnung ist?

Oder ist die Frage bereits falsch eingeleitet,

weil eben nichts in der Welt weiterhilft?

Weil die Kunst, in einer unordentlichen Welt selbst in Ordnung zu bleiben, nur um Himmels oder Gottes Willen zu erlernen ist?

Thea Dorn

Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt,nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.

Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt.

Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt.

Psalm 91

Inhalt

I. Anamnese

oder

Situationsbeschreibung Eine Gemengelage der Stimmungen und Gefühle

Intermezzo und Übergang

Literarische Verarbeitungen von Seuchen- und Epidemieerfahrungen:Alessandro Manzoni (Die Brautleute) – Albert Camus (Die Pest) – Hans Erich Nossack (Bereitschaftsdienst. Bericht über die Epidemie) – Philip Roth (Nemesis) – Giovanni Boccaccio (Il Decamerone) – Gabriel García Márquez (Die Liebe in den Zeiten der Cholera)

II. Diagnose

oder

Erinnerungen an das Grundlegende, Triviale

1.„Das Leben währet siebzig Jahr, und wenn es hoch kömmt, sind es achtzig … “ (Ps 90,10)– oder: Von der Angst vor dem Tod

2.„Und es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufstieg“ (Gen 32,25)– oder: Von der Fremde und Dunkelheit Gottes

3.„Gedenke meiner, o Herr“ (Ps 106,4 / Lk 23,42)– oder: Von der Vergänglichkeit des menschlichen Gedächtnisses

4.„Der Tor spricht in seinem Herzen: ‚Es gibt keinen Gott!‘“ (Ps 14,1)– oder: Von der Fragwürdigkeit des modernen Wissenschaftspositivismus

5.„In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten … “ (1 Sam 3,1b)– oder: Von der Mut- und Einfallslosigkeit der Christen

6.„Seh‘ ich den Himmel, das Werk deiner Finger …“ (Ps 8,4)– oder: Von der ungeheuerlichen Weite und Tiefe des Kosmos und der nicht minder ungeheuerlichen Größe des Menschen darin

7.„Ich habe aus dem Osten einen Adler gerufen … “ (Jes 46,11a)– oder: Von der hilfreichen secunda manus der Fremdprophetie

8.„… wie ein Mann, der sein Gesicht im Spiegel betrachtet, dann weggeht und im selben Moment vergessen hat, wie er aussieht“ (Jak 1,22–24)– oder: Von der Fluidität der Welt, der Wankelmütigkeit des Menschen und dem Nichtvermissen Gottes

9.„Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und bessere Tage zu sehen wünscht?“ (Ps 34,13)– oder: Von der Hoffnung auf den Himmel, um der Erde die Treue zu halten

10.„Stark wie der Tod ist die Liebe … “ (Hld 8,6bc)– oder: Vom Mut zu Risiko und Kontingenz

11.„Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!“ (Koh 12,1)– oder: Vom Hinter-sich-Lassen aller Versuche einer Theodizee

12.„Es ist der Herr!“ (Joh 21,7)– oder: Von der nahen Ferne Gottes

13.„Die ganze Welt könnte die Bücher, die man schreiben müßte, nicht fassen“ (Joh 21,25)– oder: Von der Erzählbarkeit der Trauer und der Auferstehung

Intermezzo und Übergang

„aber antwortet demütig und bescheiden“ (1Petr 3,15f.)– oder: Von der Notwendigkeit und der Schwierigkeit, auf undogmatische Weise Dogmatik zu betreiben

III. Therapeutische Ratschläge in schwierigen Zeiten

oder

Die kleinen Sakramente des Alltags, einzunehmen am Abend und am Morgen

1.Social Distancing –– Nähe und Berührung

2.Ansteckung –– Tapferkeit, Trost, Mitleid

3.Maske –– Erkennen und Verzeihen

4.Lockdown –– Einsamkeit, Stille, Unterbrechung

5.Impfung –– Hoffnung auf Immunität, Gnade und Rechtfertigung, Lachen und Humor

6.Corona –– Schmerz, Ergebung, Gesundung, Heil

7.Intubation –– Seufzen, Bitten, Rühmen, Klagen, Danken, Schweigen, Resignieren

Frage (Elisabeth Bronfen)

Bitte (Hilde Domin)

Anmerkungen

Namenregister

Anamnese

oder

Situationsbeschreibung Eine Gemengelage der Stimmungen und Gefühle

Im Monat März vor zwei Jahren: Eine Verstörung ergreift die Gemüter. Was soeben noch Forderung globalen Wirtschaftens war: Spontaneität, Flexibilität, Steigerung, Wachstum, Vernetzung, offene Grenzen, ist von einer Woche auf die andere verboten. Ein sog. Lockdown wird verhängt, Flugzeuge bleiben am Boden, Städte und Länder werden geschlossen, Kindergärten, Schulen und Universitäten zugesperrt: eine Art globale Fastenzeit (Quarantaine Quadragesima), die sich über alles legt wie ein dumpfer Nebel. Das offene Gesicht und die ausgestreckte Hand gelten plötzlich als gefährlich; man geht sich aus dem Weg, und wo dies nicht möglich ist, trägt man Maske und hält Abstand. Umarmung und Händedruck, einst Zeichen von Freundschaft und Kollegialität, werden ersetzt durch ein Stoßen der Ellbogen oder ein Treten an den Fußknöchel.

Zugleich in den Nachrichten die von Tag zu Tag sich verändernden Prognosen der Virologen und Ökonomen; ihnen kommt das schwierige Amt der neuen Priester und Propheten zu; man erwartet, daß sie Fragen beantworten, Heilsversprechen geben, Sicherheit schenken: Wie lange wird es dauern, bis ein wirksamer Impfstoff gefunden ist? Welche logistischen Probleme sind zu lösen, um in möglichst kurzer Zeit 60, 80, 100 Millionen Menschen zu impfen, am Ende gar drei oder vier Milliarden? Wie lange ist der Lockdown wirtschaftlich durchzuhalten? Wann kippt das System?

Es ist die Stunde von Vater Staat, von dem alles erwartet wird (umfassende Sicherheit, unendliche Milliardenzuschüsse, vollkommene Ablässe der Entschuldung), und dem man zugleich tief mißtraut – eine geradezu klassisch zu nennende ödipale Situation. Laufen da nicht Notstandsverordnungen vorbei an Parlament und Recht?! Sind wir nicht geradewegs dabei, in einen staatlich verordneten Gesundheitspaternalismus zu schlittern?! Und so tauchen sie auf, die Unheilspropheten und Apokalyptiker, die Querdenker, Zweifler, Magier der Entlarvung, die auf ihre Weise versuchen, die verstörende Wirklichkeit in den Griff zu bekommen: Dunkle Mächte müssen hinter dieser Geschichte stecken, China und Amerika, Bill Gates und die Wallstreet, die der Welt mittels Vakzine bio-digitale Chips injizieren wollen. Überhaupt, so schwarz, wie sie uns vorgestellt wird, ist die Pandemie gar nicht. Kann man das Virus denn sehen? Nein, das kann man nicht, man muß dran glauben, aber wir glauben nicht daran, denn wir wissen, was hier gespielt wird: Eine globale Diktatur soll installiert werden!

Oder aber die anderen, die kleinen Blockwarte, die hämischen Maßregler, die Wichtigtuer und Erbsenzähler, die schulmeisterlich auf der Einhaltung noch der fragwürdigsten Hygieneregel beharren: Wehe, jemand übertritt die behördlichen Maßgaben auch nur um ein weniges; der Denunziant, dein Freund und Helfer, ist sofort zur Stelle; die Boulevardzeitungen helfen nach Kräften nach. Wir sind schließlich Staatsbürger und wissen, was man von uns erwartet!

Zusammen mit diesen zweifelhaften Gestalten schließlich die Scharlatane, nicht nur die medizinischen, sondern auch die politischen, esoterischen, religiösen: „We should try disinfectant, it kills the virus within minutes.“ – „Mundkommunion überträgt das Virus nicht, da ist der transsubstantiierte Jesus vor.“ – „Von Impfen ist abzuraten, man kann dem Virus nur traumenergetisch oder vegan beikommen.“

Das Internet, so hilfreich es in dieser Situation auch ist, fungiert zugleich als Aufregungs- und Empörungsbeschleuniger. Die nicht enden wollende Informationsflut schwemmt eben auch unendlich viel Banalität, Dummheit und Lüge in jede Seele, sie überfordert noch den besonnensten Menschen, macht auf Dauer apathisch und dumpf. Wie soll man dem monothematischen Overkill auch standhalten („Corona“ auf allen Kanälen), abgesehen davon, daß man nicht zehn Stunden am Tag auf die Mattscheibe starren kann. Wir sind Wesen aus Fleisch und Blut, wir sind der körperlichen Nähe und Präsenz bedürftig, wir haben einen Leib, wir atmen, wir essen, wir verdauen und schlafen, wir haben Sehnsucht nach Bewegung, nach Liebe, nach Zärtlichkeit und Umarmung. Die Kinder zumal und die Jugendlichen, die alleingelassenen Alten in den Seniorenheimen, die Sterbenden auf den Fluren der überfüllten Krankenhäuser, die Krematorien, in denen sich die Särge stapeln, all die stille Verzweiflung in den Familien, die überforderten Eltern, die in sogenanntem „Home-Schooling“ den Nachwuchs monatelang selber unterrichten müssen, die geheime Gewalt in den Wohnungen, die stille oder auch sehr laute Aggressivität, die sich da plötzlich Raum schafft: Man ist mit sich selber konfrontiert in einer Weise, die einen spüren läßt, wie wenig man das eigene Leben im Griff hat, wie rasch man sich abhandenkommt, wenn die Umstände schwierig werden. Ein leiser, stiller Krieg, der an die Seelen geht und auf Dauer die Nerven zerrüttet.

Und doch ist diese Beschreibung einseitig. Denn da gibt es so vieles, das überrascht, und zwar vom ersten Tag an: Wieviel an Improvisationsfreude, an spontaner Nachbarschaftshilfe, an Tapferkeit, Geduld, Solidarität und Bereitschaft, in die schwierige Situation einzuwilligen, das Beste draus zu machen. Da werden plötzlich ungeahnte Ressourcen mobilisiert: In Mailand und Rom etwa das abendliche Singen auf den Balkonen, um einander aufzumuntern; in Zürich und Bern der spontane Verzicht vieler Vermieter auf die Mieteinnahmen, um den Ladenbesitzern das Überleben zu ermöglichen; Gourmet-Restaurants in Berlin und Hamburg, die ihre Köstlichkeiten tausendfach in die Spitäler liefern, um den Krankenschwestern und Ärzten eine Freude zu machen. Überhaupt der tief empfundene ehrliche Dank gegenüber den vielen ungenannten Menschen, die tagaus tagein das Leben am Laufen halten: Müllmänner, Kassiererinnen, Bäckerinnen, Brief- und Paketträger, das Pflegepersonal in den Krankenhäusern (in Spanien wird es über Wochen abendlich auf den Straßen mit Applaus bedacht). Zu erwähnen wären aber auch die vielen neuen Formen von Nachbarschaftshilfe: Telefonketten sorgen dafür, daß Alte und Hinfällige regelmäßig angerufen werden; Nachbarschaftsgruppen kaufen füreinander ein; vor Haustüren finden sich plötzlich Blumensträuße und buntbemalte Kieselsteine als nachbarschaftlicher Gruß. Und dann jene dichte, weitgespannte Welterfahrungsgemeinschaft nicht nur im Leiden, sondern auch und vor allem im Kampf gegen die Pandemie, man denke nur an die Wissenschaftler, die in einem geschichtlich einzigartigen transnationalen Ruck binnen weniger Monate erste Vakzine entwickeln, um der Pandemie zu begegnen: Wieviel an entsagungsvoller Arbeit, wieviel an kartäuserhafter Askese ist nötig, um über winzigste Details an Erkenntnisse zu gelangen, aus denen dann Hilfe für viele erwachsen kann!

Aber auch diese eindrückliche Seite weltweiter Corona-Solidarität ist noch einmal zu hinterfragen. Haben nicht die Länder der südlichen Hemisphäre unter den Einschränkungen am meisten zu leiden? Brasilien, Indien, die subsaharischen Staaten Afrikas? Hört man noch etwas von den Flüchtlingen aus Syrien und dem Maghreb, die auf den griechischen Inseln schon vor der Corona-Pandemie in Sammellagern unter unsäglichen Lebensumständen ausharren mußten? Ihre Lage hat sich noch einmal verschärft. „Die im Dunkeln sieht man nicht“, schrieb einst Bert Brecht. Wahrlich, die Corona-Sonne hat die Welt in ein fahles Zwielicht getaucht, und mag das Gewölk nach zwei Jahren sich auch gelichtet haben, so wissen wir nicht im mindesten, was uns noch alles erwartet, wissen nicht, ob das verstörende Wetterleuchten womöglich Vorzeichen noch ganz anderer Unwetter ist.

In dieser weltweit einzigartigen Situation, gespeist nicht zuletzt aus der Erfahrung, wie sehr in den vergangenen drei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch der bipolaren Nachkriegsordnung die Welt zum globalen Dorf geworden ist, fällt auf, wie wenig den Kirchen zur Corona-Krise einfällt.1

Natürlich: Auch in vielen Pfarrgemeinden gab und gibt es höchst eindrucksvolle Beispiele von Improvisationsgeschick, Einsatzfreude und gelebter Solidarität. Aber das ist es nicht. Es scheint, daß angesichts der Corona-Krise es den Kirchen, ja den Christen insgesamt, die Sprache verschlagen hat, wo man doch gerade von ihnen, die ihr Leben aus einer Hoffnung schöpfen, die über den Tod hinausgeht, ein starkes Wort erwartet hätte. Während vom kirchlichen Verlautbarungschristentum sonst zu bald jedem Thema eine Stellungnahme zu erwarten ist (Nachrüstungsdebatte, Verantwortung weltweiter Konzerne, Abtreibungsfrage, Atomkraft, Afghanistaneinsatz), geben sich Bischöfe und Theologen im Blick auf eine theologische Deutung der Corona-Krise seltsam wortkarg. Ob das mit der seit vielen Jahrzehnten schwelenden Krise des Gottesglaubens zu tun hat? Natürlich ist es wohlfeil, zu erwarten, man möge zu einem Verhängnis, wie es im Frühjahr 2020 über uns gekommen ist, sofort und restlos einen allseits befriedigenden Kommentar abgeben. Kirchenleute sind da nicht weniger überfordert als Politikerinnen und Journalisten. Überhaupt gilt ja, daß, je mehr uns etwas Unfaßbares auf den Leib rückt, die Worte versiegen. Leid und Not bringen zwar Klage und Jammer hervor, und insofern sind sie beredt – zuletzt aber wollen sie schweigend ausgetragen werden. Gerade das vollmundige Bereden des Unsäglichen ist fehl am Platz. Leid und Mitleid sind niemals geschwätzig.

Und doch fehlt da etwas. Denn auch der eindrucksvollste Aktivismus und die diskreteste Solidarität können nicht verbergen, daß die Frage, was denn die Corona-Pandemie eigentlich mit Gott zu tun habe, kaum gestellt wird. Es ist ja schön, wenn etwa Papst Franziskus in seinem Geleitwort zu „Christsein und die Corona-Krise“, herausgegeben von Kardinal Kasper und George Augustin, schreibt: „Ich bin dankbar für viele Zeichen spontaner Hilfsbereitschaft und heldenhaften Einsatzes von Pflegekräften, Ärzten und Priestern. Wir haben in diesen Wochen die Kraft gespürt, die aus dem Glauben kommt.“2 Zugleich fällt aber auf, daß selbst der Papst in Hinsicht auf eine Überwindung der Pandemie seine Hoffnung weniger auf das Bittgebet setzt oder ein explizites Wunder, als auf die rasche Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs. Ob das merkwürdige Schweigen von Theologie und Lehramt bezüglich der Frage, was Gott mit der Corona-Pandemie zu tun habe, nicht womöglich darin begründet liegt, daß in den letzten Monaten nur noch einmal deutlicher geworden ist, was man sowieso insgeheim weiß: Daß, wenn es hart auf hart kommt, von Gott gar nichts zu erwarten ist, der Mensch vielmehr ganz auf sich allein gestellt ist?3

So scheint mir die gegenwärtige Pandemie-Krise die seit langem schwelende Krise der Gottesfrage auf die Spitze zu treiben: Wer eigentlich soll das sein, jener Gott, „der alles so herrlich regieret“?4 Wenn er „alles regieret“ (und das ist tradierte Glaubensüberzeugung aller biblischen Religion), dann regiert Gott (auf welche Weise auch immer) auch das Corona-Virus. Haben wir dieses Virus also ihm zu verdanken? Wenn ja – inwiefern? Was führt Gott im Schilde? Wenn aber nein – inwiefern „regiert“ er dann „alles so herrlich“? Regiert er wirklich alles so herrlich?

Man merkt, in welche denkerischen Abgründe die Corona-Krise uns führt. Und man versteht gut, daß Lehramt und Theologie nur ungern an diese Fragen rühren. Denn hier steht mit einem Mal alles zur Debatte: die Frage nicht nur nach einem geschichtlich identifizierbaren Wirken Gottes in der Welt, sondern zuletzt überhaupt die Frage nach der Existenz Gottes, wie Schrift und Tradition sie bekennen. Was soll das auch für ein Gott sein, dessen Schöpfungswerk sich unablässig in evolutionären Prozessen vollzieht, weshalb Pest-, Cholera- und Milzbrandbazillen, Corona-, Polio- und Millionen andere Viren, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis, Überschwemmungen, Frost- und Dürreperioden aus der Sicht des Menschen zwar schreckliche Übel sein mögen, aus der Sicht der Evolutionsbiologie hingegen notwendiger Bestandteil einer in ständigen Werde- und Zerfallsprozessen befindlichen Biosphäre?!5

Die Theodizeefrage führt sich hier selber ad absurdum. Denn was uns das Leben ermöglicht: eine evolutiv sich fortschreibende Natur, wird uns über kurz oder lang auch das Leben kosten. Moderne Formen kosmischer Spiritualität, die „Mutter Natur“ bzw. „die Schöpfung“ zur Geberin alles Guten stilisieren, helfen da nicht weiter. Die Natur, so wie wir sie kennen, ist hoch ambivalent, weshalb die alte häretische Frage sich auch nicht so einfach erledigen läßt: Könnte es sein, daß der biblische Schöpfungsbericht von Anfang an den Mund zu voll nimmt, wenn er verkündet, die Schöpfung sei „im Anfang“ „sehr gut“ gewesen? (Gen 1,1.31) Die frühe Kirche wußte sich gegenüber der stringenten Argumentation eines Häretikers wie Marcion, der im Kosmos das Werk eines zweifelhaften Demiurgen erblickte, nicht anders zu helfen, als auf dem Zeugnis der Schriften des Alten Bundes zu beharren6 – mit der fragwürdigen Konsequenz, alles Böse jetzt dem Handeln des Menschen (dieser anderen Seite der Natur) anzulasten. Ob man „verblendeter Freiheitsdrang“ sagt oder „Hochmut“ oder „selbstidolisierendes Sein-Wollen-wie-Gott“: Alle diese Versionen, die in der einen oder anderen Variante auch in den letzten Monaten wieder zu hören waren, als es darum ging, Gründe für die rasche Ausbreitung des Corona-Virus zu finden7, kaschieren nur die alte marcionitische Frage: Wie konnte das Böse aus dem Guten hervorkriechen, wenn es denn wirklich das Gute war?8

Die Sprachlosigkeit der Kirchen angesichts der Corona-Krise hat diese fatalen Probleme einmal mehr offengelegt. Denn wo die Natur in ihrer lebenschaffenden wie lebenvernichtenden Ambivalenz erkannt ist, taugt sie als Epiphaniestätte eines seine Geschöpfe liebenden Schöpfergottes nur bedingt. Wie aber soll man je von Gott reden können ohne die Welt als seinem Erscheinungsraum? Ähnliches gilt für jene Ereignisabfolge, die wir „Geschichte“ nennen. Bei Homer, Herodot und Vergil, ähnlich wie bei den biblischen Propheten und den Geschichtstheologen der christlichen Spätantike und des Hochmittelalters, haben Gott oder die Götter in dem, was die Menschen befällt, ihre Hand im Spiel. Geschichte ist für sie deswegen Heils- bzw. Unheilsgeschichte. Moderne Historiographen hingegen denken Geschichte immanent-kausal. Von Gott keine Spur.9

Und so verlagert sich die Erfahrung Gottes seit der frühen Neuzeit immer mehr in die menschliche Innerlichkeit (dieser anderen Seite der Geschichte): sola fide, sola gratia, solo verbo! Diese Entwicklung hält bis heute an – man denke nur an Karl Rahners Versuch einer Rückführung aller Theologie auf transzendentale Anthropologie. So bestechend dieser Ansatz auch ist, so stößt man auch hier alsbald an die Grenzen des Sagbaren. Wer könnte ernsthaft Begegnungen jener lebendigen Art für sich reklamieren, wie die großen Mystiker dies tun? Wer, wie Rahner, behaupten, er habe „Gott, den Lebendigen“, als „liebenden Einheitspunkt aller Wirklichkeit“ erfahren, als jenes „Herz der Welt“, zu welchem man „Du“ sagen könne, „weil mein Gebet bei ihm ‚ankommt‘“10? Im Zuge der Krise abendländischer Metaphysik ist uns mit dem Glauben an Gott als sapiential-ordinativer Weltvernunft ja in weiten Teilen auch die transzendentale Innerlichkeit des Menschen als Residuum einer unsterblichen Seele abhandengekommen.11 Und so steht man erneut da in seinem kurzen Hemd. Wie soll man noch von Gott reden, wenn Natur und Geschichte entzaubert sind und Mystik allenfalls etwas für eine Handvoll Religionsvirtuosen ist?

In dieser Situation überrascht es nicht, daß Bischöfe und Kirchenpräsidentinnen, kaum daß das Virus entdeckt und die Gefahr seiner pandemischen Verbreitung erkannt war, sich allenthalben beeilten, einer nicht sonderlich interessierten Öffentlichkeit zu versichern, daß Covid19 natürlich „keine Strafe Gottes“ sei. Das Gebot der Stunde sei vielmehr die Einhaltung der allgemeinen Hygieneregeln sowie Solidarität mit den Risikogruppen, den Infizierten und den sie Pflegenden. – Ist das alles, was wir zu sagen haben? Für solche Trivialitäten, die natürlich vernünftig sind und überhaupt nicht in Frage gestellt werden sollen, braucht es kein Christentum. Wenn die Kirchen nur wiederholen, was sowieso common sense ist, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie als „nicht systemrelevant“ eingeschätzt werden. Allen Schwierigkeiten, den Gottesglauben fundamentaltheologisch zu begründen, zum Trotz: Haben wir aus dem Riesenfundus einer zweitausendjährigen Tradition denn nicht mehr zu sagen als das, was „die Welt“ oder „die Gesellschaft“ sich selber sagen kann? Ist uns kein erhellender Außenblick möglich, der noch einmal in ein anderes Licht zu stellen wüßte, was uns da ereilt?

Im Folgenden soll versucht werden, diese Sprachlosigkeit zumindest ein wenig zu unterlaufen, und zwar mit Hilfe einiger biblischer Urgedanken. Jeder von ihnen erinnert uns an unsere Endlichkeit. Erfahrung von Endlichkeit läßt auf unthematische Weise einen Horizont des Unendlichen aufblitzen; gerade deshalb ist uns die Erfahrung unserer Endlichkeit ja so peinlich: Sie erinnert daran, daß wir im Gegensatz zu den Göttern, den immortales, mortales sind, endliche, vergängliche und insofern fragwürdige Wesen:

Eintagswesen! Was ist einer, was einer nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch

heißt es bei Pindar (5. Jhdt. v. Chr.), dem größten der griechischen Kultdichter. Doch dieses Schattenhafte weiß sich immer wieder auch erhellt:

Wenn aber gottgeschenkter Glanz kommt,

ruht helles Licht und freundliches Dasein auf den Menschen.12

Von ganz ähnlichen Doppelbewegungen berichten die biblischen Erzähler. Wie Pindar erinnern sie daran, daß wir aus der Gnade eines Größeren leben, der / das zuzeiten auf unserem Antlitz erscheinen will (vgl. 2 Kor 3,18). Was heißt das genau? Im Sinn einer sapiential-ontologischen Diagnose seien vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zwölf Kerngedanken biblischer Gottesrede / Menschenrede betrachtet (die Zwölf ist eine heilige Zahl), denen im Sinne eines Übergangs zu den sich anschließenden therapeutischen Überlegungen ein dreizehnter Gedanke (die Dreizehn ist eine überaus unheilige Zahl) angefügt sei. Aber wir sind ja nicht nur heilig, sondern wie oft unheilig, und das Heilige muß sich immer wieder gegen das Unheilige, Unerlöste behaupten. Deswegen werden wir überall dort, wo zu fragen ist, wie man die Corona-Pandemie theologisch fassen soll, immer auch die kulturellen Bedingungen reflektieren müssen, unter denen sich ein heutiges Reden von Gott vollzieht. Der christliche Glaube steht ja nie einfach in sich, sondern hat immer elementar mit der Kultur zu tun, mit der er verflochten ist. Ändern sich die lebensweltlichen Kontexte, so auch die Bedingungen der Möglichkeit, religiös zu sein. Nur wo man diese mentalitätsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Veränderungen im Blick hat (Naturalisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung unserer Lebenswelt), wird nachvollziehbar, warum es uns als Angehörigen einer posttraditionalen Gesellschaft so schwerfällt, halbwegs glaubwürdig von Gott zu reden – und zwar nicht nur in Zeiten der Pandemie.

Umgekehrt gilt freilich dasselbe. Die Pandemie legt ja nicht nur die theologische Sprachlosigkeit der Kirchen und damit die Fragwürdigkeiten des von ihnen vertretenen Theismus offen, sondern ebenso die Abgründe einer sich selbst genügenden Postmoderne: Wie soll man mit der Endlichkeit der eigenen Existenz auch umgehen und wie mit dem Tod, auf welchen wir alle zulaufen, wenn es außer diesem Leben nichts gibt und Gott eine Illusion ist? Auf der Suche nach einer Antwort bleibt uns nichts anderes übrig, als die schwierige Kunst des stereophonen Hörens zu pflegen, d. h. sowohl auf die Denkvoraussetzungen unserer Zeit als auch auf die Einsichten einer in Vergessenheit geratenen christlichen Lebenspraxis zu lauschen. Nur dann werden wir – vielleicht – in den Stand gesetzt, aus dem reichen Schatz einer zweitausendjährigen Christentumsgeschichte die eine oder andere Arznei gegen die Malaisen unserer Zeit (etwa unserer Sprachlosigkeit angesichts der Corona-Pandemie) zu destillieren.

Freilich – jedes Antitoxin, unvorsichtig dosiert, kann toxische Wirkungen entfalten. Deshalb gilt im Blick auf die Hausmittel der christlichen Tradition das gleiche wie für die Ratschläge einer nachchristlichen Moderne: Erst wenn solche Arznei durch den Destillierkolben einer kritisch über sich selbst aufgeklärten Lebenspraxis gelaufen ist, mag es Grund zur Hoffnung geben, sie möge auch uns Heutigen bekömmlich sein. Aller Pharmazie, mag sie wissenschaftlich auch noch so ausgereift sein, liegt ja eine Alchemie zugrunde. Alchemie ist eine merkwürdige Mischung aus Wissenschaftspraxis und Wissenschaftstheorie, Lebenswissen und Lebensgefühl. Als solche hat sie weltanschauungskonstituierende Funktion, und insofern ist Alchemie der sozio-intellektuelle und -kulturelle Schmierstoff, welcher einer Gesellschaft allererst ihr Zusammenleben ermöglicht13 – das gilt für die hinter uns liegenden christentümlichen Kulturen Europas in gleicher Weise wie für unsere mehrheitlich agnostische Spätmoderne.14 Wenn etwa die Publizistin Thea Dorn im Rahmen einer von den öffentlichen Fernsehanstalten aus Anlaß der Corona-Pandemie gesendeten Talkshow bekennt: „Ich gehöre eher zu den strukturell trostlosen Menschen. Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt“15, so kann sie mit dieser Aussage bei ihren Mitdiskutanten (einem Virologen, einem Ministerpräsidenten, einem Journalisten, einem Arzt) Zustimmung voraussetzen – alle lächeln etwas merkwürdig verlegen und nicken verhalten. Wenn hingegen Karl Wallner, medienaffiner Zisterzienserpater, im österreichischen Fernsehen von der „Pandemie-Krise als missionarischer Chance“ spricht und sie insofern als einen „Fingerzeig Gottes“ bezeichnet16, so schütteln viele nur den Kopf. Unabhängig davon, ob die von Pater Wallner vorgebrachten Argumente etwas taugen, erscheint schon die bloße Tatsache, daß hier jemand im öffentlichen Raum affirmativ von Gott spricht, als purer Anachronismus. Die von theologischer Seite vorgebrachten Überlegungen lassen sich dem Lebensgefühl vieler Zeitgenossen kaum noch vermitteln. „Der Atheismus“, so Thomas Pröpper schon vor mehr als dreißig Jahren, „ist zum alles beherrschenden Klima geworden und in seiner praktischen Gestalt, von Gottes Handeln sich nichts zu erwarten, auch unter Christen weiter verbreitet, als man wohl eingestehen möchte.“17 Weshalb ist das so? Läßt sich beschreiben, was da passiert ist?

Wenn es einen Ort gibt, wo die menschliche Lebenswirklichkeit in ihren mentalitäts- und soziohistorischen Grundlagen reflektiert und erzählerisch verdichtet wird, so die Gegenwartsliteratur. In ihr komprimiert sich, was Menschen denken und empfinden. Zeitgenössische Literatur ist so etwas wie ein psycho-sozialer Seismograph der herrschenden Stimmungen, Gemütslagen, Themen, Fragen, Hoffnungen und Ängste. Insofern hat sie hohen diagnostischen Wert. Und damit ist nun auch die Abfolge der Argumentationsschritte unserer Überlegungen deutlich: Anamnese – Diagnose – Therapie. Sie orientiert sich ihrerseits an einem literarischen Werk, nämlich an der unter dem Titel „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ 1936 im Atrium-Verlag Zürich erschienenen Gedichtsammlung des gleichnamigen Kinderbuchautoren. (Daß Erich Kästner mit seinem Titel seinerseits an Heinrich Heine anschließt, der einmal die Bibel „die Hausapotheke der Menschheit“ genannt hat, sei am Rande erwähnt.18) Kästner gibt in seiner Gedichtsammlung eine ganze Reihe von therapeutischen Ratschlägen zu den verschiedensten Malaisen sozialer und individueller Art, denen ein Mensch erliegen kann: Trübsinn, Einsamkeit, Hysterie, Depressivität, Aggressivität, Larmoyanz, Konformismus, Narzißmus, Antriebslosigkeit, Selbstmitleid, Fatalismus usw. Seine Ratschläge sind in hohem Maße beherzigenswert, nicht zuletzt in den merkwürdigen Zeiten, in welchen wir uns gegenwärtig befinden.

Ist unsere Kapitelabfolge von Kästners „Lyrischer Hausapotheke“ inspiriert, so folgt, wie sich am entliehenen Untertitel des vorliegenden Buches ablesen läßt, die Argumentationsform unserer Überlegungen dem Werktitel eines anderen Schriftstellers: Friedrich Nietzsche. In seinen vier „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ von 1873–1876 (dreizehn solcher Betrachtungen waren ursprünglich geplant) bürstet Nietzsche das Geläufige, allzu Läufige seiner Zeit gegen den Strich: die hochmütige Bildungsphilisterei; den flachen Optimismus der Gründerjahre; die Hypertrophie einer sich an sich selbst berauschenden Aufklärung; den Tiefsinn der Romantiker, aber auch deren Unfähigkeit, sich von den Erkenntnissen der aufstrebenden Disziplinen Nationalökonomie und Naturwissenschaften beunruhigen zu lassen; freilich auch die sehr vergleichbare Unfähigkeit dieser beiden jungen Wissenschaften, ihre Skepsis gegenüber der Tradition auch auf sich selbst anzuwenden, m.a.W.: ihre Unfähigkeit, gegenüber der eigenen Skepsis ebenso skeptisch zu sein. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen kriegt noch jeder sein Fett ab. – Klingt die Polemik, die Nietzsche seinerzeit praktizierte, in ihrer sprachlichen Gestalt heute auch eher schal, so ist die Argumentationsform seiner Betrachtungen nach wie vor von Interesse: Eine Art Stereophonie, in welcher zu jedem Traditionsargument, das vor dem Hintergrund seiner Zeit einmal als bedenkenswert erscheinen konnte, alsbald ein ihm korrespondierendes Gegenargument präsentiert wird. Und so erhellt im wechselseitigen Widerspruch ein Argument das andere.19

Um eine solche Stereophonie des Aufeinander-Hörens, um eine solche Vielperspektivität des Sehens von weit her ist es uns in den hier vorliegenden Unzeitgemäßen Betrachtungen zu tun.20 Denn die Corona-Pandemie stellt ja nicht nur die von den Theologen häufig bemühte Kompetenz zur Deutung der „Zeichen der Zeit“ in Frage; sie stellt auch und nicht zuletzt den Lebensstil unserer globalisierten Spätmoderne in Frage. Der geistige Horizont, unter welchem man als postideologischer Mensch lebt, pendelt hin und her zwischen Melancholie und Sensibilität, anarchischer Lockerheit, unendlicher Wandlungsfähigkeit und latenter Hysterie. Widerstandsfähigkeit gegen die Zumutungen des Lebens läßt sich so nicht entwickeln.

Und so stellt sich die Frage, was das eigentlich bedeuten mag, wenn ein winziges Virus von jetzt auf gleich unseren ganzen Lebensstil über den Haufen wirft. Ob mit der Pandemie vielleicht nur offenbar geworden ist, was wir insgeheim längst ahnten: Daß so, wie wir in den Jahrzehnten nach 1945, 1968, 1989 in Westeuropa lebten, es einfach nicht weitergeht? Wie lange mag es den hier erreichten Hochstand an spätbürgerlicher Zivilisation, an Reichtum, an humanem Empfinden, sozialer Wohlfahrt und medizinischer Vorsorge noch geben? Geht das nicht alles auf Kosten unserer natürlichen Umwelt? Auf Kosten auch der Armenhäuser dieser Welt, die ganz selbstverständlich das Recht für sich reklamieren, ein angemessenes Stück vom Kuchen abzubekommen, und die, wenn es dieses Stück nicht bei ihnen gibt, sich ungebeten an unsere Tische setzen? (Die sog. Flüchtlingskrise von 2015 ist ja nur der Vorgeschmack dessen, was an globalen Migrationsbewegungen noch auf uns zukommen wird.) – Aber natürlich kann man noch ganz andere Fragen stellen: Wie steht es angesichts der Globalisierung mit der Frage nach dem Verhältnis von Kosmopolitismus und Regionalismus? Es dürfte kein Zufall sein, daß wir in einer Zeit der erstarkenden identitären Bewegungen leben, und dies auf rechter wie linker Seite. Wie steht es mit den Herausforderungen durch die unumkehrbaren Entwicklungen auf den Gebieten der Demographie, der Ökologie, des Weltklimas? Wie mit der Irrealisierung der Welt durch die Neuen Medien? Welche Veränderungen in unserem seelischen Befinden, wenn Wirklichkeit nur noch virtuell existiert? Welche Gefahren für die Regierungsform der Demokratie (man muß nicht erst auf die Präsidentschaft von Donald Trump verweisen)?

Jedenfalls macht sich allenthalben Verstörung breit. Und die Theologie, wo sie nicht schweigt, ergeht sich häufig im Geläufigen, betätigt sich als Schallverstärker dessen, was man sowieso hört. Kann es das sein? – Das kann es nicht sein, und so stellt sich die Frage: Was könnte die Theologie, was könnten die Kirchen, schöpfend aus dem kulturellen Tiefengedächtnis Europas, von dem heute kaum noch jemand etwas weiß, zu einer Erhellung unseres Gegenwartsdenkens beitragen, und zwar jenseits der hektischen Tagesparolen?

Auf diese Frage Antwort zu geben, ist das Anliegen unserer Unzeitgemäßen Betrachtungen. Sie laufen auf das zu, was wir in Anlehnung an Erich Kästner etwas vollmundig unsere „Theologische Hausapotheke“ nennen (dazu weiter unten mehr).

Bevor wir sie jedoch öffnen, sollen als literarisches Intermezzo oder auch als kleines seelenkulinarisches „amuse bouche“ zunächst einige der derzeit vielgelesenen Stimmen aus dem Genre der Pest- und Seuchenliteratur zu Gehör gebracht werden. Denn dort geben sich Dinge zu sehen, die auch und gerade für die theologische Doktorei von höchstem Interesse sind: ein Panoptikum vergangener und gegenwärtiger Mentalitäten in ihren unterschiedlichsten Brechungen, ein Pest- und Epidemiediagnostikum präzisester Art. Ob nach der hier vorlegten ersten, noch eher oberflächlichen Anamnese und nach den im zweiten Teil unserer Betrachtungen angestellten Diagnosen die zuletzt erteilten Therapeutischen Ratschläge dann fruchten werden, oder ob der Befund nicht womöglich längst lauten wird: „austherapiert“21 – das ist die alles entscheidende Frage, die wir uns für das Ende unseres Buches aufheben. Dann wird sich zeigen, ob unsere hier zusammengestellte „Hausapotheke“ in Zeiten wie den gegenwärtigen zu etwas nütze ist oder nicht.

Intermezzound Übergang

Literarische Verarbeitungen von Seuchen- und Epidemieerfahrungen

Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß in den Wochen nach Ausbruch der Pandemie in den Buchhandlungen zehntausendfach Die Pest von Albert Camus nachgefragt wurde und tausendfach Il Decamerone von Boccaccio, ferner Novellen und Romane wie Nemesis von Philip Roth22, Bereitschaftsdienst von Hans Erich Nossack23, Die Liebe in den Zeiten der Cholera von García Márquez24, später dann auch Eine Seuche in der Stadt von Ljudmila Ulitzkaja25, kaum aber Alessandro Manzonis weitausladende Erzählung Die Brautleute (I Promessi Sposi), einer der ganz großen europäischen Pestromane.

Manzonis Roman, ein veritables Epos, 1827 erstmals erschienen, zwischen 1840 bis 1842 gründlich überarbeitet und bis heute immer wieder neu übersetzt26 und verfilmt, erzählt von einer Welt, die es nicht mehr gibt, einer Welt, in der aufgeklärtes Weltwissen, romantisches Freiheitspathos und seelenvoller Gottesglaube relativ problemlos ineins gehen konnten. Protagonisten des Romans sind Lucia und Renzo, ein junges Paar aus einem Dorf bei Lecco südlich des Comer Sees, das kurz vor der Hochzeit steht, jedoch aufgrund der gewalttätigen Zeitläufte immer wieder getrennt wird, nicht zuletzt, weil der lokale Feudalherr Don Rodrigo, ein veritabler Despot, selbst an Lucia Gefallen findet. Auch wenn ganz am Ende des Romans die Fäden sich entwirren und die Liebenden glücklich zueinander finden, hat man es hier gerade nicht mit einem „happy end“ im banalen Sinne zu tun. Was dem Leser auf knapp tausend Seiten geboten wird, ist vielmehr ein Panoptikum widersprüchlichster Figuren, deren Leben immer wieder überschattet ist von Angst und Not und heimgesucht wird von Katastrophen – nicht zuletzt der großen Mailänder Pestepidemie von 1629, geschildert in sieben langen Kapiteln.27 Und doch erscheint dieses höchst zerbrechliche Leben an keiner Stelle als ein auswegloses Gefängnis. Im Gegenteil: „Alles Leiden, verschuldet oder nicht, wird sinnvoll dadurch, daß es begriffen wird als Stimulans, sich dem allgemeinen Sog zur Bestialisierung zu widersetzen.“ Der Willkür der Mächtigen und Reichen und der Dummheit der auf ihren Vorteil bedachten Armen „stellt Manzoni eine auf die spirituelle Potenz des Menschen gegründete Rangordnung gegenüber; in ihr bestimmt sich die Stellung des einzelnen nach dem Maß an innerer Freiheit, das er, im Vertrauen auf die verborgene Präsenz Gottes in der Welt, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber aufbringt.“28 Und so sieht man in diesem Roman eine nirgends versagende Barmherzigkeit am Werk; menschliche Verkehrtheit und Misere bleiben von ihr milde umhüllt, so dramatisch und fürchterlich sich die Verwicklungen im einzelnen auch ausnehmen mögen. Als deren Quintessenz kommen Lucia und Renzo zuletzt überein, „daß Unglück und Nöte zwar häufig kommen, weil man ihnen Grund zum Kommen gegeben hat, aber daß auch die vorsichtigste und unschuldigste Lebensführung nicht genügt, um sie sich fernzuhalten, und daß, wenn sie kommen, ob durch eigene Schuld oder nicht, sie durch das Vertrauen in Gott gemildert und für ein besseres Leben nützlich gemacht werden können.“ Und so endet Manzoni seinen Roman mit den Worten: „Dieser Schluß, obwohl er von einfachen Leuten gezogen worden ist, scheint uns so richtig, daß wir ihn hier ans Ende setzen wollen, gleichsam als Kern der ganzen Geschichte.“29

Manzonis Jahrhundertroman ist nicht nur ein Lobpreis der Liebesfähigkeit des Menschen in Zeiten von Seuche und Krieg, sondern auch ein Erlösungsroman. Rahmender Horizont der in ihm erzählten comédie humaine ist ein christlicher Glaube, der in einer „Mut und Widerstandskraft erfordernden lebenspraktischen Haltung“ gründet, einer durch und durch „unasketischen, heiterweltoffenen Katholizität“30, die es in dieser Form vielleicht nie gegeben hat, die aber als erzählte Welt zahllosen Lesern die Hoffnung auf ein Leben unter der Providenz Gottes ermöglichte.

Freilich – Manzonis Werk scheint heutige Leser kaum mehr zu erreichen (auch päpstliche Empfehlungen helfen da nicht weiter31). Wie sonst wäre zu erklären, daß in den Monaten der Corona-Pandemie nicht dieses Werk, sondern die genannten anderen auf den Toplisten der Buchhandlungen standen? Keine Frage, alle sind sie im Vergleich zu Manzoni von ähnlicher literarischer Qualität. Während jedoch in den Promessi Sposi ein auktorialer Erzähler Vernunft und Glaube, individuelles Freiheitsstreben und politische Verantwortung unter den Auspizien einer fragilen Gesellschaftsordnung und einer bedrohlichen Natur in ein feines Gleichgewicht zu bringen weiß und darin einen göttlichen Horizont aufscheinen läßt, der alles milde überwölbt, stehen in den anderen Werken Seuche und Epidemie als Symbol für die metaphysische Sinnlosigkeit der Welt.

Da ist als erstes Albert Camus‘ großer Pestroman von 1947 zu nennen. Dieses Hohelied der Freundschaft und des solidarischen Kampfes gegen das nie zu besiegende Unheil von Natur und Geschichte ist so bekannt, daß wir uns eine Nacherzählung im Detail schenken können. Der christliche Glaube zeigt sich hier (anders als bei Manzoni) in einer wenig sympathischen Form. Vertreten wird er durch Pater Paneloux, einem Jesuiten, dessen Predigten von einer augustinisch imprägnierten Straftheologie durchdrungen sind. Diese wird in ihrer Rigidität später zwar aufgegeben; aber der Versuch des Paters, das Leiden der Unschuldigen in einem theologischen Gesamtsystem unterzubringen, stößt auf entschiedene Ablehnung durch Dr. Rieux, die Hauptfigur des Romans. Nachdem Rieux und Pater Paneloux dem langen, qualvollen Sterben eines Kindes hilflos hatten zusehen müssen, kommt es zu einem Zwiegespräch zwischen ihnen:

„‚Es gibt Zeiten in dieser Stadt [sagte Rieux], da ich nur mehr meine Empörung spüre.‘ ‚Ich verstehe‘, murmelte Paneloux. ‚Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können.‘ Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war, schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf. ‚Nein, Pater‘, sagte er. ‚Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.‘“32

Eine der religionskritischen Pointen des Romans besteht darin, daß Pater Paneloux, der sich angesichts der Haltlosigkeit seiner Theologie den Sanitätstruppen angeschlossen hat, zuletzt selber an der Pest erkrankt – und so seinerseits von der „Strafe Gottes“ getroffen wird. Rieux kann mit solchen Deutungsmustern nichts anfangen. Sein einziges Ziel ist die Gesundheit der ihm anvertrauten Menschen, „zuallererst ihre Gesundheit“. „Das Heil der Menschen“, von welchem der Pater spricht, ist „ein zu großes Wort“ für ihn. Wo hingegen Arzt und Priester im Kampf gegen Schmerz und Tod zusammenarbeiten, kann selbst der Gott, an den Paneloux glaubt und an den Rieux nicht glaubt, sie nicht scheiden.33

Ein ganz anderer Tonfall beherrscht Hans Erich Nossacks Bericht über die Epidemie [1973]. In dieser überaus bedrückenden dystopischen Erzählung (im Hintergrund steht die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs) geht es nicht um eine der bekannten Seuchen, welche die Menschheit immer wieder heimsuchen; vielmehr handelt es sich um eine tödlich verlaufende und an die Wurzel menschlicher Existenz und menschlichen Selbstverständnisses gehende Suizid-Welle. Weltweit und massenhaft legen Menschen, junge und gesunde zumal, Hand an sich, um unvermittelt, ohne jede Vorwarnung und nachvollziehbare Gründe aus dem Leben zu scheiden. Zu einer nur noch statistisch relevanten Größe anonymisiert, wird der Tod der Einzelnen um seine Einzigartigkeit und seine Würde gebracht. Da alle soziologischen, psychologischen und religiösen Deutungsmuster versagen, lehrt der epidemische Suizid-Horror zuguterletzt nur dieses Eine: „daß einen Millimeter neben der Wirklichkeit das Nichts ist.“34 Wenn die Wirklichkeit keine Illusionen mehr bereithält, so die existential-ontologische Botschaft des Romans, kann nur die „Routine des Daseins“ über die Leere hinwegtäuschen, „das ist die einzige Chance.“35 Nicht nachdenken, weitermachen! Mit dieser ernüchternden Nicht-Perspektive bricht der Bericht ab.

Wiederum Philip Roths Roman Nemesis [2010] handelt von einer im Sommer 1944 in der amerikanischen Stadt Newark ausbrechenden Polio-Epidemie. Seinen Protagonisten, den 23jährigen Eugene Cantor, wegen seiner athletischen Statur von allen nur „Bucky“ genannt, zeichnet er als moderne Hiob-Gestalt. Bucky ist hin und her gerissen zwischen seinem Pflichtgefühl, als Trainer auf einem Sportplatz den angesichts der Epidemie verängstigten Kindern gute Ferientage zu gestalten, und der Sehnsucht nach seiner Freundin Marcia, die in einem Feriencamp außerhalb der Stadt auf ihn wartet. Gepeinigt vom schlechten Gewissen, seine Zöglinge im Stich zu lassen, entscheidet er sich auf Drängen seiner Freundin schließlich für das Ferienlager – und produziert damit ungewollt die Katastrophe. Bucky schleppt das Virus in das Lager ein und steckt eine Reihe von Kindern sowie die Schwester seiner Freundin an. Zwei der Kinder sterben, er selber erkrankt schwer und überlebt nur dank seiner robusten Konstitution, freilich mit irreversiblen Folgen: Für den Rest seines Lebens ist er an den Rollstuhl gefesselt. Bucky, der immer schon eher skeptisch auf die religiösen Riten der jüdischen Gemeinde von Newark blickte36, gibt angesichts seiner Behinderung und angesichts der Schuld, die er auf sich geladen zu haben glaubt37, dem Gott seiner Kindheit den Abschied. In seinen Augen ist Gott ein „großer Verbrecher“, ein „allmächtiger“, dem Menschen „feindselig“ zugewandter „Demiurg“38, eine widerliche „Zweifaltigkeit“ in Gestalt der „Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie“.39 Bucky Cantors Geschichte endet im Selbsthaß und in der Gottesbeschimpfung.

Muß dies das letzte Wort sein? – Mit Arnie Mesnikoff, einem der ehemaligen Zöglinge von Bucky Cantor, führt Philip Roth gegen Ende des Romans eine alternative Sichtweise ein. Auch Arnie war in jenem Sommer 1944 an Polio erkrankt, auch bei ihm hatte das Virus zu Verkrüppelungen geführt. Anders aber als sein ehemaliger Sportlehrer hatte sich Arnie mit der Krankheit arrangiert, hatte studiert, als Architekt für behindertengerechte Bauten Karriere gemacht, geheiratet und eine Familie gegründet. Dreißig Jahre später blickt er versöhnt auf sein Leben zurück. Interessant ist dabei, daß nicht zuletzt die Ablehnung der Gottesidee es dem atheistisch gesonnenen Arnie ermöglicht hat, auf die Suche nach einem Verantwortlichen für seine Erkrankung zu verzichten und eben dadurch zu einem eigenverantwortlichen Leben zu finden:

„Ich glaube, was Mr. Cantor meinte, wenn er das schmähte, was er als Gott bezeichnete, war eigentlich die Macht des Zufalls.“40 „Er konnte nicht akzeptieren, daß die Polioepidemie in Weequahic und Camp Indian Hill eine Tragödie war. Die Tragödie mußte in Schuld verwandelt werden. Es muß eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach einem Grund. […] Daß das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, daß die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, […] die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in einer schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer. So sehr ich auch angesichts der Vielzahl der Schicksalsschläge, die über ihn hereingebrochen sind, mit ihm sympathisiere, muß ich doch sagen, daß das nichts als dumme Hybris ist – nicht die Hybris des Wollens oder Verlangens, sondern die Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs. Wir haben das alles schon einmal gehört und wollen es nicht mehr hören, selbst wenn es von einem durch und durch anständigen Menschen wie Bucky Cantor kommt.“41

Nicht mehr an Gott als den großen Sinnstifter denken zu müssen, vielmehr mit dem Zorn auf ihn und mit der quälenden Frage nach dem „Warum“ auch die verzweifelte Hoffnung auf einen nichtexistierenden transzendenten Trost zu begraben – genau dies kann eine Strategie sein, in allem trostlosen Leid endlich eine gewisse Form von Trost und Ruhe zu finden:

Ich selber möchte nichts als ruhn.

Des großen Gottes großes Tun

ist für mich schlicht Getue.

Ich schweige still, wo alles singt,

und lasse ihn, da Zorn nichts bringt,

nun meinerseits in Ruhe –

so der Frankfurter Lyriker Robert Gernhardt in seinem parodistischen Gedicht „‚Geh aus mein Herz‘ – oder: Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie“, mit welchem er sich von den quälenden Resten seines protestantischen Konfirmandenglaubens verabschiedete.42 Bucky Cantor war zu einer solchen agnostischspirituellen Katharsis nicht in der Lage.

Nemesis von Philip Roth ist vielleicht der radikalste unter den zeitgenössischen Pestromanen. Jegliche Form eines übergeordneten Sinns wird abgelehnt. Gott gibt es nicht, und so ist „Sinn“ etwas, das sich der Mensch ausschließlich selber geben kann. Damit rührt Philip Roth an eine der frühesten literarischen Verarbeitungen der Pestthematik: an den Decamerone Giovanni Boccaccios.43 In diesem literaturgeschichtlich wohl „berühmteste[n] Text über das Wüten einer Seuche“44 entschließen sich zehn Mitglieder der Florentiner Jeunesse dorée, sieben Frauen und drei Männer, achtzehn bis achtundzwanzig Jahre alt, allesamt reich, kultiviert und schön und zum Teil erotisch miteinander verbandelt, im Frühjahr 1348 nach dem Besuch eines Requiems in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella spontan zur Flucht aufs Land, um an einem lieblichen Ort – einer gutsherrlichen Villa in schönster Parklandschaft – die Gefahren der Pest, die in Florenz wütet, hinter sich zu lassen. Man vereinbart, sich an zehn Tagen (decamerone stammt aus dem Griechischen und bedeutet „zehn Tage“) jeweils eine Geschichte zu erzählen, so daß bei zehn Erzählerinnen und Erzählern nach zwei Wochen – Ruhepausen mit eingerechnet – hundert Erzählungen zusammenkommen.45 Danach kehrt die muntere Gesellschaft (obgleich die Seuche noch nicht abgeklungen zu sein scheint) nach Florenz zurück und geht bei der Basilika Santa Maria Novella, wo sie sich zu Beginn der Rahmenerzählung getroffen hatte, wieder auseinander.46

Il Decamerone wird in einem Atemzug mit den Dichtungen Dantes und Petrarcas genannt. Und so ist es nur natürlich, daß er, wie deren Werke, unterschiedlichste Deutungen erfahren hat. Alles beginnt mit einer Einleitung, die an Drastik nichts zu wünschen übrig läßt:

„Seit der gnadenvollen Menschwerdung des Gottessohnes waren bereits tausenddreihundertachtundvierzig Jahre dahingegangen, als über das ehrwürdige Florenz, die erhabenste aller Städte Italiens, die todbringende Pest hereinbrach. Diese – entweder durch die Einwirkung der Gestirne verursacht oder durch den gerechten Zorn Gottes als eine Züchtigung für unser schändliches Treiben über uns Sterbliche verhängt – war schon einige Jahre früher im Morgenland aufgeflammt, wo sie eine unendliche Anzahl von Opfern dahingerafft hatte, um sich dann, ohne Aufenthalt von einem Ort zum andern eilend, gen Westen auf grauenvolle Weise auszubreiten. Doch ob man auch jeglichen Unrat von eigens dazu bestellten Leuten aus der Stadt entfernen ließ, allen Kranken den Eintritt verwehrte und mancherlei Verordnungen zum Schutze der Gesundheit erließ, vermochten doch weder Vorsicht noch die verschiedenartigsten Vorkehrungen der Seuche Einhalt zu gebieten. Ebenso erfolglos erwiesen sich die demütigen Bitten, die nicht einmal, sondern unzählige Male auf feierlichen Prozessionen und bei jeder Gelegenheit von frommen Seelen zum Himmel emporgesandt wurden.“47

Und dann präsentiert Boccaccio eine Beschreibung der Seuche, die lange als authentischer Augenzeugenbericht galt, in Teilen aber einem viel älteren Text geschuldet sein dürfte: der Darstellung der Pest, wie der griechische Historiker Thukydides (* vor 454 v. Chr.) sie in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ bietet.48 Nach einer präzisen Schilderung der Krankheitssymptome (Schwellungen in der Leistengegend und unter den Achseln, die in „schwarze und schwarzblaue Flecke an den Armen, auf den Rippen und an verschiedenen anderen Körperteilen“ übergehen und innerhalb weniger Tage zum Tode führen49) folgt, analog zu Thukydides, eine eher stereotyp gehaltene Darstellung zunächst der Ratlosigkeit der Ärzte, dann der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung aufgrund der rasant zunehmenden Verbreitung der Krankheit sowohl bei Menschen als auch beim Vieh, schließlich des Ausbruchs allgemeiner Panik und, damit einhergehend, des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung: ungenügende Pflege der Infizierten und Sterbenden durch gierige Bedienstete, die sich wie Herren aufspielen; Auflösung noch der engsten Familienbande; das Umsichgreifen einer schamlosen Lebensgier; das würdelose Verscharren der Verstorbenen in Massengräbern ohne Requiem und Gebet; höhnische Respektlosigkeit vor Gott.

Bei aller stereotypen Darstellung der Pest und ihrer Folgen muß freilich eine Bemerkung auffallen. Boccaccio schreibt:

„Die Grausamkeit des Himmels [la crueltà del cielo] – und vielleicht auch die der Menschen – war so groß, daß, wie man annimmt, zwischen März und Juli innerhalb der Stadtmauern von Florenz mehr als 100.000 Menschen aus dem Leben gerissen wurden […], deren Einwohnerzahl, vor diesem Massensterben, wohl niemand so hoch eingeschätzt hätte.“50

Nicht die maßlose Übertreibung der Zahl der Toten51 interessiert uns an diesem Text; es ist vielmehr die Begründung, die auffallen muß. Während sich zu Beginn seiner Schilderung Boccaccio noch unschlüssig zeigt, auf welche Ursache der Pestausbruch zurückzuführen sei („verursacht entweder durch die Einwirkung der Gestirne oder durch den gerechten Zorn Gottes als eine Züchtigung für unser schändliches Treiben“), spricht er nach etwa der Hälfte seiner Einleitung unvermittelt von der Grausamkeit (la crueltà) des Himmels. Man hat verschiedentlich gelten machen wollen, daß es sich bei dieser Formulierung um einen Grenzbegriff hin zur „Blasphemie“52 handle, um eine selbstbewußte Abweichung vom „theologischen Mainstream“53 mittelalterlichen Denkens oder um den Ausdruck eines modernen Agnostizismus avant la lettre.54 Das alles sind anachronistische Interpretationen. Wir wissen nicht, wie Boccaccio seine Rede von der „Grausamkeit des Himmels“ verstanden wissen wollte; dazu steht dieser Ausdruck viel zu isoliert da. Zudem ist die Rede von der Grausamkeit Gottes, von seinem Zorn, von der Verdunklung seines Willens und der ethischen Promiskuität seines Handelns biblisch sehr wohl bezeugt – man denke nur an die entsprechenden Passagen in den Abrahamsüberlieferungen (Gen 18–19; vgl. Gen 6,17), im Buch Hiob (vgl. u. a. Ijob 5,18), an den Psalm 88, an die einschlägigen Stellen beim Propheten Jesaja (Jes 6,1–13; 45,7) sowie an das vielfältig dokumentierte Verstockungshandeln Gottes: „Da verschloß der Herr das Herz des Pharao“, „da verstockte er den Sinn der Kinder Israels“55, „da ließ er seinen Zorn auf Mose fallen und wollte ihn töten“ (vgl. Ex 4,24).56 Biblischer Überzeugung zufolge ist Gott einfach zu groß, als daß er sich unserem Begreifen in jeder Hinsicht faßbar machen ließe (Ijob 38–42). Dasselbe gilt für die theologischen Traditionen jüdischer wie christlicher Provenienz. So wenig es die biblische Klärung des Problems „Gott und das Übel“ gibt, so wenig findet sich irgendwo „‚die‘ Lehre ‚der‘ Kirche über das Übel im Zusammenhang dargelegt“ und ein für alle Mal verbindlich gemacht.57 Es gibt stattdessen unterschiedliche, nicht selten widersprüchliche Erfahrungsaspekte des Übels (malum), die zusammenzuführen im Laufe der Jahrhunderte zu höchst unterschiedlich akzentuierten Antworten geführt hat.58 Christliche Theologie bedeutet seit jeher vor allem dies: „mit der eigenen Gegenwart in die biblischen Texte einzukehren“59, um im Hören auf die Tradition sowohl die persönliche Lebenssituation besser zu verstehen als auch im Spiegel der eigenen Erfahrungen die biblischen Texte und die durch sie inspirierten Lesarten neu zu begreifen.60 Und eben da zeigt sich nun in der Formulierung Boccaccios in der Tat etwas Neues:

Es fällt auf, wie sehr Boccaccio „die Pest als unerbittliche Zerstörungsmacht“ und „unaufhaltsame Naturgewalt“ präsentiert, „nicht als Instrument eines gütigen Gottes.“61 Zugleich legt die Pest die animalische Grundstruktur der menschlichen Seele offen: Die meisten Menschen sind in Zeiten der Gefahr sich selbst der Nächste. Und damit ist nun auch die Leitmotivik der hundert Erzählungen vorgegeben, auch wenn diese immer wieder humorvoll ironisch gebrochen wird: Der Mensch ist triebgesteuert, und mit seiner Moral ist es nicht weit her! Dies wird nicht nur am Zusammenbruch der sozialen Ordnung deutlich, sondern auch und nicht zuletzt an der nüchternen Beschreibung der mangelnden Trostfähigkeit der Religion gerade dort, wo man ihrer am meisten bedarf: „Nirgendwo bei Boccaccio erscheint der christliche Glaube als stärkende Kraft, als sittlicher Widerstand gegen den allgemeinen Verfall oder als selbstlose Hilfe in der Not […]. Das Christentum ist noch präsent als leerlaufender, verwirrter und reduzierter kultischer Betrieb, gelegentlich auch als redensartliche, konventionelle Erklärung der Katastrophe, nicht aber als lebendige Erfahrung oder gar als Motiv ethisch-politischen Wiederaufbaus. Boccaccio läßt [… Tausende von …] Menschen vor unseren Augen leiden, sterben und eilig verscharrt werden, ohne je eine religiöse Wendung zu gebrauchen, etwa daß die Seelen jetzt in Gottes Frieden ruhen […]. Kein tröstender Blick fällt ins Jenseits; kein Wort von einem überirdischen Ausgleich, kein Beispiel eines christlich getrösteten oder gar liebenden Menschen […], kein Hauch von einem Dona eis requiem.“62 Das christliche memento mori ist vielmehr durch ein stoisch-epikureisches „memento bene vivere“ ersetzt; die Aufforderung, im Angesicht des drohenden Todes Vorsorge zu treffen für die Rettung der Seele, durch die Aufforderung, sich um ein gutes Leben zu kümmern heute und hier.

Und damit ist nun auch die mentalitätsgeschichtliche Aktualität dieser bald 650 Jahre alten Novellensammlung am Tag. Was bei Boccaccio im Stil eines ernüchterten Nominalismus daherkommt (Der Wille Gottes bleibt unergründlich! Die Ursache der Seuche mag man herausfinden, ihren Grund kann niemand nennen!), ist in Zeiten der Corona-Pandemie allgegenwärtige Überzeugung geworden: Vom Himmel ist gar nichts zu erwarten! Gott (sollte es ihn geben) schweigt, wir müssen unser Lebensglück selber in die Hand nehmen, müssen Solidarität üben und im übrigen, da jeder Tag der letzte sein kann, den jetzigen Tag so vollständig wie möglich ausschöpfen und genießen.63

Daß eine solche Lebenskunst keineswegs in platte Genußsucht und triebhaften Egoismus ausarten muß, vielmehr einhergehen kann mit der Freude am anderen und der Förderung von dessen Glück, ist im Decamerone in den kommentierenden Gesprächen der Freunde zwischen den Geschichten allenthalben zu spüren. Hier ist neben aller ungezwungenen Heiterkeit immer auch eine Ernsthaftigkeit am Werk, neben der geradezu heidnisch-unschuldigen Freude an der erotischen Liebe und den schicksalsträchtigen Volten der Göttin Fortuna die Sorge, daß es dem anderen doch wohlergehen möge. Die drastische Derbheit, durch die sich nicht wenige der Geschichten auszeichnen, wird durch diese Sorgfalt freundlich überstrahlt, menschliche Schwächen, die spöttisch, ironisch, satirisch aufs Korn genommen werden, augenzwinkernd belächelt und belacht. Und so ist es auch kein Zufall, daß die letzten Novellen, die am Zehnten Tag erzählt werden, jenen gewidmet sind, „die edel oder wahrhaft großmütig in Liebesangelegenheiten oder anderen Dingen verfuhren“.64 Wie zur Relativierung aller vorher gewagten Frivolitäten wird hier das Hohelied der uneigennützigen Liebe gesungen.65 Wenn im Menschen etwas Göttliches wohnt, dann ist es die Fähigkeit zu selbstvergessener Großmut. Und so erweist sich Boccaccios Decamerone, diese commedia umana par excellence, als irdisches Gegenstück zur Divina Commedia Dantes.66 Von himmlischen Dingen habe er nichts zu erzählen gewußt, sagt Boccaccio; für diese fühle er sich nicht zuständig. Aber im Irdischen kenne er sich aus, und wenn sein Werk insbesondere bei seinen Leserinnen67 dazu beigetragen haben sollte, das Leben und dessen Unerträglichkeiten etwas erträglicher zu gestalten, ihm vielleicht sogar ein paar freundlichere Seiten abzugewinnen, so habe sich seine jahrelange Mühe gelohnt. Und so schließt er seinen Decamerone mit einem doppelten Dank: „in Demut Dem, der mich mit seiner Hilfe nach mancherlei Mühen bis an das ersehnte Ziel geleitet hat“ (ein Rest an Gottesfrömmigkeit bleibt); in freundlicher Erinnerung jener, die immer schon seine vorzüglichen Adressatinnen waren: „Ihr meine reizenden Damen“.68

Boccaccios Decamerone hat eine kaum auszuschöpfende Wirkungsgeschichte entfaltet. Dabei ist es nicht allein der ungezwungenen Erzählform geschuldet, daß dieses Werk bis heute seine Leser findet, sondern auch und nicht zuletzt der welttheatralischen Vielstimmigkeit der in ihm versammelten Geschichten und Grotesken, Fabeln und Parabeln. Von Shakespeare über Chaucer, Cervantes und Rabelais bis hin zu Stendhal, Joyce, Grass und García Márquez reicht die Liste derer, die sich von Boccaccio inspirieren ließen. Und so kommen wir zum letzten unserer „Pestromane“: „El amor en los tiempos del cólera“ des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez, zu Deutsch: „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“.

Das spanische Wort „cólera“ ist vieldeutig. Es ist Synonym der gleichnamigen bakteriellen Infektionskrankheit (darauf hebt der Titel der deutschen Übersetzung ab), hat aber auch die Bedeutungen Wut, Galle, Zorn (analog spricht man im Deutschen von einem „cholerischen“ Temperament). Im kolumbianischen Spanisch kann es darüber hinaus Synonym sein für „fervor“: Leidenschaft, Hitze, Liebeswahn. Diese Vieldeutigkeit von körperlichem und seelischem Delirium macht sich der Roman zunutze.

Die Geschichte ist lang und kompliziert und doch rasch erzählt. Ein Telegrafenbursche, Florentino Ariza, achtzehn Jahre alt, verliebt sich unsterblich in die schöne Fermina, ein Schulmädchen aus vornehmem Hause. Er schreibt ihr täglich Liebebriefe, glühende Geständnisse, die auf Dauer ihre Wirkung nicht verfehlen. Ein Gefühlsgebilde entspinnt sich, das aus nichts als Blicken, nächtlichem Geigenspiel und Erfahrungslosigkeit besteht und schließlich in ein wechselseitiges Heiratsversprechen mündet. Als Ferminas Vater die Liaison entdeckt, trennt er die beiden rabiat. Das Mädchen wird zu Verwandten aufs Land geschickt und heiratet später den Arzt Juvenal Urbino, der es von einem Cholera-Anfall geheilt hatte. Mit ihm führt es fünfzig Jahre lang eine leidenschaftslose, auf gegenseitigem Respekt beruhende Vernunftehe. Florentino bleibt unverheiratet und wartet: einundfünfzig Jahre, neun Monate und vier Tage. Um seine Sehnsucht zu übertünchen, führt er ein Leben als gewissensloser Herzensbrecher, hat in den einundfünfzig Jahren, neun Monaten und vier Tagen Affären mit mehr als sechshundert Frauen, doch keine ist seinem Herzen so nah wie Fermina. Und so zögert er nicht, als er die Nachricht vom Tod seines Nebenbuhlers erhält; noch am Abend von dessen Beerdigung erklärt er sich Fermina neu, doch die weist ihn ab: Zu schnell, zu ungestüm, zu taktlos. Florentino läßt sich nicht entmutigen. Sein erneutes, nun behutsameres Werben erstreckt sich über einhundertvierzig unbeantwortet bleibende Briefe, in denen er Fermina Schritt für Schritt über ihre Einsamkeit nach so vielen Ehejahren hinweghilft. Und so willigt Fermina, alt geworden wie Florentino und ähnlich vom Leben gezeichnet wie er, schließlich in eine Freundschaft ein, aus der im Laufe der darauffolgenden zwei Jahre eine Liebe werden wird. Zuguterletzt unternimmt sie mit Florentino, der sich in dem halben Jahrhundert ihrer Trennung vom armen Telegrafenburschen zum reichen Flußreeder emporgearbeitet hat, eine Schiffsreise auf dem Río Magdalena. Auf dieser „Hochzeitsreise“ gelingt es dem Paar, „ohne Umwege zum Kern der Liebe vorzudringen“69