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Der junge Bergwerksingenieur Leif Langdon hat auf einer Expedition nach Zentralasien erlebt, daß ihn das aussterbende Volk der hellen Uiguren, wikingerartiger Krieger, für die Reinkarnation eines uralten Helden ihres Stammes hält – des unbesiegbaren Dwayanu. Für sie ruft er den furchtbaren Krakengott Khalk'ru und flieht entsetzt, als er seine Tat begreift. Aber wer Khalk'ru gerufen hat, der muß auch seinem Ruf folgen – und Monate später ruft der Gott Leif, im äußersten Alaska, in einem Tal, das unter einer ewigen Fata Morgana verborgen liegt. Mit der Herrin der weißen Wölfe und dem gewaltigen Schmied Tibur kämpft Leif um die Macht und um das Leben der schönen Evalie, die zum Opfer für Khalk'ru bestimmt ist. Aber der heißeste Kampf tobt in ihm selbst, als Dwayanu, der grausame Krieger der Vorzeit, Macht über seine Seele zu gewinnen beginnt … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 430
Abraham Merritt
Das Volk der Fata Morgana
Roman
Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger
FISCHER Digital
Bibliothek der phantastischen Abenteuer Herausgegeben von V. C. Harksen
Leif Langdon/Dwayanu
ein junger amerikanischer Bergbauingenieur, von den hellen Uiguren der Wüste Gobi und dem Volk der Fata Morgana als der wiedergeborene Sagenheld Dwayanu begrüßt
Jim Two Eagles/Tsantawu Evalie
sein Freund, ein Cherokee-Indianer ein liebliches junges Mädchen, das unter dem Kleinen Volk des verborgenen Tals lebt
Lur
eine schöne, machtgierige und wilde Zauberin, Herrin der weißen Wölfe, vom Volke der Ayjir
Tibur der Schmied
ein Held und Anführer der Ayjir, Lurs Liebhaber und Leifs Todfeind
Dara
Truppenführerin der Amazonen, tapfer und loyal, Leifs gute Freundin
Yodin
der grausame Oberpriester des Gottes Khalk’ru
Khalk’ru
der entsetzliche Krakengott der Ur-Uiguren und des Volkes der Fata Morgana – ein seelenfressendes außerirdisches Ungeheuer
Ich hob den Kopf, wartete und lauschte, nicht nur mit den Ohren, sondern mit jeder Pore meiner Haut, auf die Wiederkehr des Geräuschs, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber da war nur Stille, vollkommene Stille. Kein Rauschen in den Ästen der Fichten, die rings um das Lager standen. Kein Rascheln von hastig fliehenden Füßchen im Unterholz. Durch die Lücken zwischen den Zweigen glitzerte schwach das Sternenlicht in der kurzen Spanne zwischen Sonnenuntergang und -aufgang, die in Alaska die dämmerartige Frühsommernacht ausmacht.
Eine plötzliche Bö neigte die Fichtenwipfel und brachte das Geräusch mit sich: Es klang wie Hammerschläge auf den Amboß.
Ich schlüpfte aus meinem Schlafsack und schlich um die ausglimmenden Scheite unseres Lagerfeuers zu Jim. Seine Stimme ließ mich anhalten.
»Ist schon gut, Leif, ich höre es auch.«
Der Wind seufzte noch einmal und erstarb, und mit ihm verging auch der dröhnende Nachhall des Amboßschlags. Ehe wir ein Wort miteinander reden konnten, frischte der Wind erneut auf und trug wieder den Nachhall des Hammerschlags mit sich. Diesmal nur schwach und weit entfernt. Und kurz darauf ebbte die Brise plötzlich ab, und mit ihr das Geräusch.
»Ein Amboß, Leif!«
»Still!«
Ein stärkerer Windstoß fuhr durch die Fichten, und wurde von einem fernen Gesang begleitet: Männer- und Frauenstimmen, die ein sonderbares Lied in Moll sangen. Der Gesang endete mit einem klagenden, archaischen und dissonanten Akkord.
Dem folgte ein langer Trommelwirbel, der sich zu einem raschen Crescendo steigerte und dann abrupt endete. Danach war nur noch matt ein lärmendes Durcheinander zu hören.
Ein tiefes, alles verschlingendes Rumpeln, wie kilometerweit entfernter Donner, glättete den Aufruhr. Und in ihm schwangen Trotz und Herausforderung mit.
Wir warteten gespannt. Die Fichten standen ruhig und gerade da. Der Wind kehrte nicht wieder.
»Sonderbare Geräusche, was, Jim?« Ich bemühte mich, so gelassen wie möglich zu klingen.
Er setzte sich auf. Im sterbenden Feuer loderte kurz und hell ein Stock. Der Flammenschein hob Jims Züge gegen die Dunkelheit ab – ein schmales, braunes Adlerprofil. Er sah mich nicht an.
»Jeder federntragende Vorvater der letzten zwanzig Jahrhunderte ist erwacht und ruft! Besser, du nennst mich jetzt Tsantawu, Leif. Tsi’Tsa’lagi, ich bin ein Tscherokese! Und nun wieder ein reinrassiger Indianer!«
Er lächelte, sah mich aber immer noch nicht an, und ich war froh darüber.
»Das Geräusch von einem Amboß«, sagte ich. »Von einem wirklich riesigen Amboß. Und Hunderte von Menschen haben gesungen … Wie ist das in solcher Wildnis möglich? … Es klang überhaupt nicht nach Indianern …«
»Das waren auch keine Indianertrommeln.« Er hockte sich ans Feuer und starrte in die Glut. »Als sie ertönten, war es mir, als würde jemand mit Eiszapfen ein Pizzicato auf meinem Rücken spielen.«
»Mir haben diese Trommeln auch ganz schön zugesetzt!« Ich hatte ruhig klingen wollen, aber er sah scharf zu mir hoch. Jetzt verdeckte ich die Augen und starrte auf die glimmenden Scheite. »Sie haben mich an etwas erinnert, das ich früher einmal gehört habe … und zu sehen glaubte … in der Mongolei. Auch der Gesang paßte dazu. Verdammt, Jim, warum siehst du mich so an?«
Ich warf einen Zweig ins Feuer. Als das Holz aufflammte, konnte ich nicht anders, als das Gesicht abwenden und in den Schatten sehen. Dann war ich soweit, Jim anzublicken.
»War wohl kein sehr angenehmer Ort, was, Leif?« fragte er leise.
Ich sagte nichts. Jim stand auf und ging zu unserem Gepäck. Er kehrte mit dem Wassersack zurück und goß das Feuer aus. Dann trat er Erde auf die zischende Holzkohle. Falls er bemerkt haben sollte, wie ich zusammenzuckte, als die Schatten über uns hereinbrachen, so ließ er sich nichts anmerken.
»Der Wind kam von Norden«, sagte er. »Also stammten auch die Geräusche aus dieser Richtung. Wer auch immer dafür verantwortlich gewesen ist, er muß dort stecken. Da das wohl klar sein dürfte, erhebt sich die Frage, in welche Richtung wir morgen weitermarschieren?«
»Nach Norden«, sagte ich.
Meine Kehle schnürte sich zu, als ich das sagte.
Jim lachte. Er ließ sich auf seine Decke fallen und rollte sich darin ein. Ich lehnte mich gegen den Stamm einer Fichte und starrte gedankenvoll nach Norden.
»Die Ahnen sind erwacht und geben keine Ruhe, Leif. Was ich von ihnen höre, verheißt viel Leid … wenn wir nach Norden gehen … ›Schlechte Medizin!‹ sagen die Ahnen … ›Schlechte Medizin‹ für dich, Tsantawu! Du gelangst nach Usunhu’yi, ins Verdüsternde Land, Tsantawu! … Nach Tsusgina’i, ins Geisterland! Hüte dich! Wende dich ab vom Norden, Tsantawu!«
»Geh endlich schlafen, du abergläubische Rothaut!«
»Bitte, dann eben nicht, ich wollte es dir ja nur gesagt haben.«
Aber schon kurz darauf flüsterte er:
»›Und die, die es wissen, prophezeien Krieg.‹ Nein, was meine Vorfahren verkünden, ist noch viel schlimmer als Krieg, Leif.«
»Jetzt reicht’s mir aber, halt endlich den Mund!«
Er lachte noch einmal trocken, danach war Stille.
Ich lehnte immer noch am Baumstamm. Die Geräusche, oder besser die gräßlichen Erinnerungen, die sie geweckt hatten, hatten mich mehr aufgewühlt, als ich bereit war zuzugeben, auch mir selbst gegenüber. Das Ding, das ich bereits seit zwei Jahren in einem Lederbeutel um den Hals trug, schien sich geregt zu haben und war kalt wie Eis geworden. Ich fragte mich, wieviel Jim bereits von dem ahnte, was ich so sorgfältig für mich behalten wollte …
Warum hatte er das Feuer ausgemacht? Weil er sah, welche Angst ich hatte? Um mich zu zwingen, mich meiner Furcht zu stellen und sie zu besiegen? … Oder hatte ihm sein indianischer Instinkt geraten, Schutz in der Dunkelheit zu suchen? … Wie er eingestanden hatte, hatten der Gesang und das Trommeln genauso an seinen Nerven gezerrt wie an meinen …
Angst! Natürlich war es Angst gewesen, die meine Handflächen feucht gemacht hatte, die mir die Kehle zugeschnürt hatte und die mein Herz dazu gebracht hatte, rasende Wirbel zu schlagen.
Wie Trommelwirbel.
Aber nicht wie die Trommeln, deren Schlagen der Nordwind an unser Ohr getragen hatte. Wirbel wie die Kadenz von rennenden Füßen; Füße von Männern und Frauen, von Jungen, Mädchen und kleinen Kindern, die immer rascher an der Wand einer Hohlwelt hinaufliefen, um, ohne nachzudenken, in einen Schlund zu springen … ins Nichts einzutauchen … sich im Fall aufzulösen … vom absoluten Nichts verschlungen zu werden …
Wie der verfluchte Trommelwirbel, den ich vor zwei Jahren in dem geheimen Tempel in der Oase in der Wüste Gobi gehört hatte!
Weder damals noch jetzt war es Furcht oder Angst allein gewesen. Natürlich war Furcht darunter, aber auch Trotz … der sich aufbäumende Trotz des Lebens gegen seine Negation … aufbegehrender, unbändiger Lebenszorn … die verzweifelte Revolte des Ertrinkenden gegen das tödliche Wasser … die letzte Wut der Kerzenflamme gegen das über ihr schwebende Löschhütchen …
Gütiger Gott! War wirklich so wenig Anlaß zur Hoffnung? Wenn das, was ich für wahr hielt, auch wahr war, dann konnte ich mich gleich geschlagen geben.
Aber da war Jim. Wie sollte ich ihn aus allem heraushalten?
In meinem Herzen hatte ich nie über seine halb unterbewußten Wahrnehmungen gelacht, was auch immer hinter dem stecken mochte, was er die Stimmen seiner Ahnen nannte. Als er von Usunhi’yi, dem Verfinsterten Land, gesprochen hatte, war es, als strichen Eisfinger meinen Rücken hoch. Hatte nicht auch der alte Priester der Uighuren vom Schattenland gesprochen? Und jetzt kam es mir so vor, als würden seine Worte in meinem Kopf widerhallen.
Ich sah zu Jim hinüber. Er war mir verwandter als meine leiblichen Brüder. Plötzlich mußte ich lachen, denn sie hatten mir nie besonders nahegestanden. Bis auf meine sanfte und warmherzige nordländische Mutter war ich für alle in unserem altehrwürdigen Haus immer nur ein Fremder gewesen: der jüngste Sohn, kein Nesthäkchen, sondern ein unerwünschter Eindringling – ein Wechselbalg. Dabei konnte mir doch kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß ich als Ebenbild der gelbhaarigen, blauäugigen und sehr muskulösen Wikinger-Vorfahren meiner Mutter auf die Welt kam. Nein, ich war überhaupt kein Langdon. Die männlichen Langdons waren dunkelhaarig und schmal, hatten dünne Lippen und ein düsteres Gemüt und waren offenbar allesamt schon seit vielen Generationen aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie blickten auf mich, den Wechselbalg, herab, sogar die Familienportraits schienen mich halb höhnisch und halb feindselig anzusehen. Und besonders deutlich wurde mir diese Haltung, wenn ich bemerkte, wie mein Vater und meine vier Brüder, jeder von ihnen ein durch und durch echter Langdon, ungehalten reagierten, wenn ich mich, aufgrund meiner Statur, etwas unbeholfen an ihrem Tisch niederließ.
Ich war in meiner Jugend oft unglücklich, aber auf der anderen Seite liebte mich meine Mutter nach jeder schlechten Behandlung nur noch mehr. Ich fragte mich wieder und wieder, wie sie sich an einen so düsteren und egozentrischen Mann wie meinen Vater hatte binden können, wo doch das Blut der Nordleute so stark durch ihre Adern strömte. Sie hatte mir den Namen Leif gegeben. Ein Vorname, der sich überhaupt nicht mit Langdon vereinbaren ließ; genauso unvereinbar wie ich mit dem Rest meiner Familie.
Jim und ich hatten am selben Tag im Dartmouth College in New Hampshire angefangen. Ich erinnere mich heute noch sehr gut an unsere erste Begegnung: ein großer, braunhäutiger Junge mit einem Adlergesicht und unergründlichen schwarzen Augen. Ein reinrassiger Tscherokese aus dem Stamm, der auch schon den großen Häuptling Sequoyah hervorgebracht hatte. Ein Stamm, aus dem viele Jahrhunderte hindurch weise Männer und tapfere und listige Krieger hervorgegangen waren.
Im Collegeregister war er als James T. Eagles eingetragen, aber bei seinem Volk hieß er Two Eagles, und seine Mutter hatte ihn Tsantawu genannt. Schon bei unserer ersten Begegnung hatten wir eine Seelenverwandtschaft verspürt. Nach den uralten Riten seines Volks hatten wir Blutsbrüderschaft geschlossen, und er hatte mir einen Geheimnamen verliehen, der nur uns bekannt war: Degataga – der, der einem anderen so nahesteht, daß die beiden eins sind.
Meine größte Begabung, abgesehen von meiner Körperkraft, ist mein Talent für Sprachen. Bald schon sprach ich Tscherokesisch, als sei ich in diesem Volk geboren worden.
Die Jahre im College waren die glücklichsten und schönsten, die ich bis dahin je erlebt hatte. In unserem letzten Jahr dort trat Amerika in den Weltkrieg ein. Zusammen verließen Jim und ich das College, machten gemeinsam die militärische Grundausbildung und fuhren auf demselben Truppentransporter nach Frankreich.
Während ich so dasaß, in der träge vorankriechenden Dämmerung von Alaska, durcheilten meine Gedanken die weiteren Ereignisse der Vergangenheit … der Tod meiner Mutter am Tag des Waffenstillstands … meine Rückkehr nach New York in ein offen feindseliges Haus … Das Signal an Jim, wieder bei seinem Stamm zu leben … die Beendigung meiner Ausbildung zum Bergwerksingenieur … meine Reisen durch Asien … meine zweite Rückkehr nach Amerika und meine Suche nach Jim … unsere Expedition durch Alaska, die wir mehr der Gemeinsamkeit und des Friedens in der Wildnis wegen durchführten, als um des Goldes willen, das wir angeblich suchten.
Ein langer Weg seit dem großen Krieg … und erst in den letzten zwei Monaten war ich wieder richtig glücklich gewesen. Der Weg hatte uns von Nome über die bebenden Tundras zum Koyokuk geführt. Und endlich zu diesem kleinen Lager mitten unter den Fichten, irgendwo zwischen den Oberläufen des Koyokuk und des Chandalars im Vorgebirge des noch weitgehend unerforschten Endicott-Höhenzugs.
Eine lange Reise … und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß hier erst die wahre Reise meines Lebens ihren Anfang nahm.
Ein Strahl der aufgehenden Sonne drang durch die Wipfel. Jim erhob sich von seinen Decken, sah zu mir herüber und grinste.
»Nach dem Konzert hast du wohl nicht mehr allzu viel Schlaf mitbekommen, was?«
»Was hast du deinen Vorvätern geantwortet? Sie scheinen dich ja nicht mehr sehr lange wach gehalten zu haben.«
»Na, die haben sich recht bald wieder beruhigt«, sagte er etwas gelassen. Sein Gesicht und seine Augen waren ausdruckslos. Er bemühte sich, seine Gedanken vor mir zu verbergen. Die Vorväter hatten also doch keine Ruhe gegeben. Die ganze Nacht hindurch hatte er wach gelegen, während ich glaubte, er schliefe fest. Ich änderte rasch meine Pläne. Wir würden nach Süden weiterziehen, wie wir es ursprünglich vorgehabt hatten. Bis zum Polarkreis würden wir zusammen ziehen, und dort würde mir schon eine Ausrede einfallen, alleine weiterzuwandern.
»Wir gehen nicht nach Norden«, sagte ich. »Ich habe es mir anders überlegt.«
»So, und warum?«
»Ich erzähle es dir nach dem Frühstück«, sagte ich, denn mir sind noch nie sehr schnell Lügen eingefallen. »Mach ein Feuer, Jim, ich gehe zum Fluß und hole Wasser.«
»Degataga!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Nur in Augenblicken, in denen wir uns besonders nahe waren, oder in Momenten großer Gefahr rief er mich bei meinem Geheimnamen.
»Degataga, du gehst nach Norden! Du gehst dorthin, und wenn ich vor dir herlaufen muß, damit du mir folgst …« Unvermittelt sprach er auf Tscherokesisch weiter …»Nur so kann dein Geist gerettet werden, Degataga. Marschieren wir zusammen, als Blutsbrüder? Oder willst du mir hinterher kriechen, wie ein zu oft getretener Hund seinem Herrn?«
Das Blut stieg mir in den Kopf, und meine Hand fuhr nach ihm aus. Aber er trat schnell einen Schritt zurück und lachte.
»So gefällst du mir schon besser, Leif.«
Mein Zorn verging ebenso rasch, wie er gekommen war, und meine Hand senkte sich.
»Also gut, Tsantawu. Wir gehen … nach Norden. Aber es war nicht wegen mir, daß ich dir sagte, ich hätte es mir anders überlegt.«
»Das weiß ich, verdammt noch mal.«
Er schichtete Holz für das Feuer zusammen. Ich ging zum Fluß. Wir tranken starken schwarzen Tee und aßen die Reste des am Tag zuvor geschossenen kleinen braunen Kranichs, den man hier Alaskatruthahn nennt. Als wir das Frühstück beendet hatten, begann ich zu erzählen.
Vor drei Jahren begann ich meine Geschichte, gelangte ich mit der Fairchild-Expedition in die Mongolei. Zu meinem Aufgabenbereich gehörte zum einen die Suche nach Bodenschätzen für bestimmte britische Interessengruppen und zum anderen ethnographische und archäologische Forschungen für das Britische Museum und die Universität von Pennsylvanien.
Ich bekam nie eine Gelegenheit, meine Ausbildung zum Bergwerksingenieur unter Beweis zu stellen. Von Anfang an sah man mich in der Expedition nur als Goodwill-Repräsentanten, als Lager-Unterhalter und als Mittelsmann zwischen uns und den Eingeborenenstämmen an. Meine Größe, mein blondes Haar, meine blauen Augen, meine erstaunliche Körperkraft und meine Fähigkeit, Sprachen rasch zu erlernen, faszinierten die anderen Expeditionsteilnehmer immer wieder aufs neue. Aber auch die Eingeborenen: Tataren, Mongolen, Buriaten oder Kirgisen sahen staunend zu, wenn ich Hufeisen auseinanderbog, Eisenstangen verdrehte und das vorführte, was mein Vater verächtlich Zirkustricks genannt hatte.
Nun, das war ich dann wohl auch für alle, ein Einmann-Zirkus. Und was noch viel wichtiger war für mich, sie mochten mich. Der alte Fairchild pflegte stets zu lachen, wenn ich mich bei ihm beschwerte, daß mir für meine Arbeit keine Zeit bliebe. Dann sagte er, ich sei mehr wert als ein Dutzend Bergwerksingenieure, daß ich für die Expedition so etwas wie eine Rückversicherung sei und daß sie, solange ich sie unterhielt, keine Schwierigkeiten haben würde. Und so friedlich und ungestört verhielt es sich auch. Nie zuvor hatte ich eine Expedition miterlebt, in der man seine Sachen unbeaufsichtigt herumliegen lassen konnte und nach der Rückkehr alles unbehelligt vorfand. Außerdem brauchten wir weder Häuptlinge zu bestechen noch unser Lager zu befestigen.
Innerhalb kürzester Zeit hatte ich ein halbes Dutzend Dialekte erlernt und konnte mich mit den Stämmen in ihrer eigenen Sprache unterhalten und sogar Späße mit ihnen machen. Das machte einen gewaltigen Eindruck auf sie. Hin und wieder kam eine mongolische Delegation zu uns und brachte einige Ringer mit – riesige Burschen mit Brustkästen wie ein Faß –, die gegen mich antreten sollten. Ich lernte ihre Kampftechniken und brachte ihnen unsere bei. Wir maßen uns im Ponyheben, und einige meiner mandschurischen Freunde unterwiesen mich in der Kunst mit zwei Breitschwertern – in jeder Hand eines – zu kämpfen.
Fairchild hatte ursprünglich vorgehabt, ein Jahr in dieser Gegend zu bleiben. Aber die Tage vergingen so reibungslos und angenehm, daß er beschloß, unseren Aufenthalt zu verlängern. Meine Vorführungen, erklärte er mir in seiner leicht ironischen Art, seien unzweifelhaft von andauerndem Erfolg. Nie wieder würde die Forschung eine solche Gelegenheit in dieser Region erhalten, außer mir würde es eines Tages in den Sinn kommen, mich hier als Herrscher niederzulassen. Er ahnte natürlich nicht, wie nahe er mit seinen Worten an eine Prophezeiung herankam.
Im Frühsommer des folgenden Jahres verlegten wir unser Lager etwa hundertfünfzig Kilometer nach Norden. Hier war das Land der Uiguren. Ein sonderbares Volk, diese Uiguren. Sie sagen von sich selbst, sie seien die Nachfahren einer großen Rasse, die einst über die Gobi herrschte, als dort noch keine Wüste, sondern ein fruchtbares Paradies mit breiten Flüssen, vielen Seen und bevölkerungsreichen Städten war. Und tatsächlich unterschieden sie sich von allen anderen Stämmen. Die Nachbarn brachten sie zwar liebend gern um, wann immer ihnen das möglich war, aber sie hatten dennoch auch Angst vor den Uiguren. Oder besser, vor den Zauberkünsten ihrer Priester.
Nur sehr selten waren im alten Lager Uiguren aufgetaucht. Und bei diesen Gelegenheiten hatten sie stets auf Distanz geachtet. Das neue Lager stand kaum eine Woche, da ritten zwanzig Uiguren in unser Lager ein. Ich saß gerade im Schatten meines Zelts. Sie stiegen ab und kamen direkt auf mich zu. Niemand sonst schien sie auch nur im geringsten zu interessieren. Wenige Meter vor mir blieben sie stehen. Drei von ihnen kamen noch näher und betrachteten mich aufmerksam. Ihre Augen waren von einem eigentümlichen Blaugrau. Und die von dem Mann, der ihr Anführer zu sein schien, strahlten eine außerordentliche Kälte aus. Mir fiel auf, daß die Uiguren größer und kräftiger waren als die anderen Bewohner dieser Region.
Da ich des Uigurischen nicht mächtig war, begrüßte ich sie höflich in Kirgisisch. Sie gaben keine Antwort, sondern studierten mich weiterhin eindringlich. Endlich unterhielten sie sich untereinander und nickten sich zu, so als wären sie zu einer Entscheidung gelangt. Der Anführer wandte sich an mich. Als ich aufstand, bemerkte ich, daß ihm nur wenige Zentimeter an meinen ein Meter neunzig fehlten. Ich erklärte ihm, wiederum in Kirgisisch, daß ich seine Sprache nicht verstand. Er gab seinen Männern einen Befehl. Sie umstellten mein Zelt wie Wachtposten und hielten in der einen Hand einen Speer und in der anderen ihr gefährliches Langschwert.
Solches Verhalten ärgerte mich nun doch, aber bevor ich protestieren konnte, sprach der Anführer in Kirgisisch zu mir. Er versicherte mir mit unerwarteter Hochachtung, daß ihr Besuch in vollkommen friedfertiger Absicht erfolge. Sie wünschten allerdings bei ihrer Kontaktaufnahme nicht von einem meiner Gefährten gestört zu werden. Dann bat er mich, ihm meine Hände zu zeigen. Er und seine beiden Begleiter beugten sich über meine Handflächen, untersuchten sie auf das genaueste und zeigten hier auf einen Schnittpunkt zweier Linien und dort auf ein besonderes Merkmal. Als die Inspektion beendet war, berührte der Anführer seine Stirn mit meiner Rechten.
Und zu meinem absoluten Erstaunen fing er ohne weitere Erklärung an, mir eine sehr gründliche Unterrichtsstunde in Uigurisch zu geben. Als Verständigungsmittel wählte er das Kirgisische. Er wirkte nicht im mindesten überrascht von meiner raschen Auffassungsgabe. Tatsächlich hatte ich die sonderbare Vorstellung, er habe es auch gar nicht anders erwartet. Überhaupt verhielt er sich bei seinem Unterricht nicht wie jemand, der mir eine neue Sprache beibringen wollte, sondern schien mir eine vergessene ins Gedächtnis zurückholen zu wollen. Nach gut sechzig Minuten war die Lektion beendet. Dann berührte er wieder seine Stirn mit meiner Hand und gab dem Ring der Wachtposten einen Befehl. Die Männer begaben sich zu ihren Pferden und galoppierten davon.
Der ganze Vorfall hatte etwas Beunruhigendes an sich gehabt. Am meisten aber störte mich das vage Gefühl, mein Lehrer habe, wenn ich sein Verhalten richtig gedeutet hatte, mir wirklich eine Sprache ins Gedächtnis wiedergeholt, die seit irgendwann in meinem Unterbewußtsein schlummerte. Hinzu kam, daß ich nie zuvor eine Sprache so flott und mit solcher Leichtigkeit erlernt hatte wie das Uigurische.
Die anderen Mitglieder der Expedition hatten den Vorfall natürlich verblüfft und besorgt verfolgt. Ich ging sofort zu ihnen und versuchte, die Angelegenheit zu klären. Unser Ethnologe war der berühmte Professor David Barr aus Oxford. Fairchild hielt das Ganze für einen Scherz, aber der Professor war zutiefst beunruhigt. Er erklärte, die Uiguren gingen davon aus, daß ihre Vorfahren eine helle Rasse mit blonden Haaren und blauen Augen gewesen seien, die Männer von großer Statur und außerordentlicher Kraft hervorgebracht hätte. Männer wie mich. Einige der wenigen bislang entdeckten, uralten Wandgemälde der Uiguren zeigten exakt diesen Menschentyp, was für die Authentizität dieser Legende sprach. Aber falls die Uiguren der Gegenwart wirklich die Nachfahren dieser Rasse waren, dann mußte das alte Blut bis an den Punkt der Auslöschung vermischt und verdünnt worden sein.
Ich fragte den Professor, was das denn mit mir zu tun hätte, und er antwortete recht überzeugend, daß meine Besucher mich wohl für einen reinrassigen Abkömmling ihrer Vorfahren hielten. Zumindest könne er keine plausiblere Erklärung finden. Er war auch der Ansicht, daß ihr Studium meiner Handflächen und ihre offensichtliche Freude über das, was sie dort entdeckt hatten, gar keinen anderen Schluß zuließen.
Der alte Fairchild fragte ihn daraufhin sarkastisch, ob er uns zu überzeugten Anhängern der Handlesekunst machen wollte. Barr entgegnete kühl, daß er Naturwissenschaftler sei. Und als solcher sei ihm bekannt, daß gewisse physische Ähnlichkeiten mittels Erbfaktoren über viele Generationen weitergetragen werden könnten. Bestimmte Eigentümlichkeiten in den Linien von Handflächen könnten sich durchaus über mehrere Jahrhunderte halten. Am ehesten tauchten sie bei Fällen von Atavismus auf, wie ich ihn unzweifelhaft repräsentierte.
Zu diesem Zeitpunkt war ich schon ein wenig verwirrt. Aber Barr hatte noch einige Punkte auf Lager, die mich erst recht schwindlig machten. Mittlerweile war der Professor so richtig in Fahrt gekommen und erklärte, daß die Uiguren möglicherweise mit ihrer – von ihm angenommenen – Meinung über mich recht hatten. Ich war ein Rückfall in die frühmittelalterlichen Nordmänner. Das stand fest. Nach seinen Worten war ziemlich sicher, daß die Asen und die alten nordischen Göttinnen und Götter – Odin, Thor, Frigga, Freya, Loki und all die anderen – einst reale Personen gewesen seien. Ohne Frage waren sie die Führer in einer langen und gefahrvollen Völkerwanderung. Nach ihrem Tod hatte man sie zu Göttern erhoben, wie so viele ähnlich bedeutende Heldinnen und Helden von anderen Völkern und Rassen auch. Die Ethnologen waren sich einig, daß die Ur-Wikinger wie andere arische Völker aus Asien nach Nordeuropa gelangt waren. Ihre Wanderschaft muß irgendwann zwischen 5000 und 1000 v.Chr. stattgefunden haben. Und es gab keinen stichhaltigen wissenschaftlichen Grund, mit dem ausgeschlossen werden konnte, daß sie aus einer Region kamen, die man heute Gobi nennt, oder daß sie nicht die blonde Rasse gewesen waren, die die heutigen Uiguren als ihre Ahnen verehrte.
Niemand wüßte genau, fuhr er fort, wann die Gobi sich in eine Wüste verwandelt habe noch was die Ursache gewesen sein könnte. Teile der Gobi und vor allem die kleine Gobi könnten durchaus bis noch vor zweitausend Jahren fruchtbares Land gewesen sein. Wann immer die Verwandlung stattgefunden hätte, was immer die Ursachen dafür gewesen sein mochten und ob die Verwüstung langsam oder von einem Tag auf den anderen vonstatten gegangen sei, eine solche Umwälzung sei ein perfekter Grund für die von Odin und den anderen Asen geführte Völkerwanderung, die ihr Ende in der Besiedlung der skandinavischen Halbinsel gefunden hatte. Ich sei ein Atavismus auf die Rasse, deren Nachfahrin meine Mutter war. Nicht auszuschließen sei, daß ich als Atavismus auch andere Merkmale der Ur-Uiguren trug, falls es sich bei ihnen tatsächlich um die ersten Wikinger handelte.
Nach so viel Theorie sahen die praktischen Folgen so aus, daß ich auf dem besten Wege war, mir eine Menge Unannehmlichkeiten einzuheimsen, wie jeder andere Teilnehmer an unserer Expedition auch. Barr riet eindringlich, ins alte Lager zurückzukehren, wo wir uns unter freundlichen Stämmen bewegen könnten. Zum Schluß führte er noch an, daß seit unserer Ankunft im Land der Uiguren noch kein einziger Mongole, Tatare oder anderer Reiter aus einem der Stämme, mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte, in unser Lager gekommen sei. Barr setzte sich hin und sah Fairchild böse an. Der Professor schloß mit der Bemerkung, dies sei wohl kaum der Rat eines Chiromantikers gewesen, sondern der eines zu rationalem Denken fähigen Wissenschaftlers.
Selbstverständlich entschuldigte sich Fairchild jetzt bei Barr, entschied sich aber gegen eine sofortige Rückkehr ins alte Lager. Wir könnten noch ein paar Tage länger hierbleiben und sehen, wie sich die Sache weiterentwickle. Barr meinte dazu verdrießlich, daß Fairchild als Prophet wahrscheinlich eine totale Niete sei, aber andererseits sei nicht auszuschließen, daß man uns ständig beobachtete und einen Abzug unsererseits gewaltsam zu verhindern wisse. Von daher könnten wir durchaus noch etwas hierbleiben.
In jener Nacht hörten wir Trommelschlag. In variierenden Intervallen verfolgte uns die Musik bis in das Morgengrauen. Anscheinend berichteten sie anderen, viel weiter entfernten Trommeln und beantworteten ihnen Fragen.
Am nächsten Tag erschien zur gleichen Stunde wieder der Reitertrupp. Der Anführer kam ohne Umschweife auf mich zu und ignorierte, wie schon zuvor, die anderen im Lager. Seine Begrüßung hatte fast so etwas wie Demut an sich. Wir begaben uns zusammen in mein Zelt. Wieder bildete sich die Wachtposten-Kette, und dann begann meine zweite Unterrichtsstunde. Diesmal dauerte sie zwei Stunden, wenn nicht noch länger. Von da an erlebten wir Tag für Tag, drei Wochen lang, die gleiche Vorstellung; ohne auflockernden Plausch, ohne Austausch von normalen Höflichkeiten, ohne Erklärungen. Der Uigurentrupp kam nur zu einem einzigen Zweck in unser Lager: mir ihre Sprache beizubringen. Und dieser Aufgabe widmeten sie sich mit bewundernswerter Hingabe. Meine Neugierde wurde unerträglich, und ich konnte das Ende des Unterrichts kaum abwarten, um endlich zu erfahren, was hinter der Sache steckte. Deshalb sträubte ich mich nicht und gab mich so willig dem Sprachkurs hin, wie sie meinen Unterricht forcierten. Aber auch das schienen sie nicht anders von mir erwartet zu haben. Nach drei Wochen konnte ich in Uigurisch genausogut eine Unterhaltung führen wie in Englisch.
Barrs Unruhe war bald nicht mehr zu übersehen. »Sie bereiten dich auf etwas vor!« erklärte er mir. »Ich würde fünf Jahre meines Lebens dafür hergeben, wenn ich in deinen Schuhen stecken könnte. Aber im Grunde genommen gefällt mir die ganze Sache überhaupt nicht. Ich habe Angst um dich, sehr große Angst sogar!«
In einer Nacht am Ende der dritten Woche wurden die Trommeln wieder bis in den frühen Morgen geschlagen. Am nächsten Tag kamen meine Lehrmeister nicht, auch am folgenden Tag nicht und ebenfalls am dritten nicht. Aber wir entdeckten, daß rings um das Lager Uiguren Posten standen und uns beobachteten. Alle Expeditionsteilnehmer hatten Angst, und eine vernünftige Arbeit war nicht mehr möglich.
Am Nachmittag des vierten Tages sahen wir eine Staubwolke, die von Norden her rasch auf uns zutrieb. Bald darauf hörten wir die Trommeln der Uiguren. Dann schälten sich aus der Staubwolke mindestens zweihundert, wenn nicht sogar dreihundert Reiter. Ihre Speerspitzen glitzerten im Sonnenlicht. Viele von ihnen trugen moderne Gewehre. Sie zogen einen weiten Halbkreis vor dem Lager. Der Anführer mit den kalten Augen, der mir den Sprachunterricht gegeben hatte, stieg von seinem Pferd und kam mit einem prächtigen schwarzen Hengst an der Leine näher. Ein großes und starkes Pferd, das ganz anders war als die struppigen kleinen Tiere, auf denen die Uiguren ritten. Der Hengst sah ganz so aus, als könnte er mein Gewicht ohne Mühe tragen.
Der Anführer kniete vor mir nieder und reichte mir die Zügel des Hengstes. Ich nahm sie, eher automatisch. Das Pferd sah mich an, beschnüffelte mich und legte dann sein Maul auf meine Schulter. Das war das Signal für die Uiguren, ihre Speere zu schwenken und ein Wort zu rufen, das ich nicht verstand. Schließlich stiegen sie ab und warteten.
Der Anführer erhob sich. Er zog einen kleinen und uralten Jade-Würfel aus seiner Tunika. Wieder fiel er auf die Knie und reichte mir den Würfel. Er schien solide zu sein, aber als ich auf ihn drückte, sprang ein Deckel auf. Im Innern des Würfels lag ein Ring. Ein schweres Stück aus Gold, dick und weit. In ihm war ein gelber, durchsichtiger Stein von etwa vier Zentimetern Durchmesser eingelassen. Und in diesem Stein war ein stilisierter schwarzer Oktopus.
Seine Tentakel streckten sich fächerartig vom Körper aus und wirkten so, als wollten sie durch die Oberfläche des Steins stoßen. Als ich genauer hinsah, konnte ich sogar an den oberen Tentakelenden Saugnäpfe ausmachen. Der Rumpf war nicht so klar herausgearbeitet, sondern schien aus der Tiefe zu kommen. Der schwarze Oktopus war nicht aus dem Juwel geschnitten worden. Er steckte in dem Stein.
Ich stellte in mir ein sonderbares Gefühlsgemisch fest; einerseits Ekel, andererseits eigentümliche Vertrautheit. Wie die Täuschung, die uns unsere Gedanken hin und wieder spielen und die unter dem Namen Déjà vu bekannt ist, jenes sonderbare Gefühl, etwas früher schon einmal gesehen oder erlebt zu haben. Ohne darüber nachzudenken, streifte ich mir den Ring über den Daumen, und er saß perfekt. Ich hielt ihn hoch, um zu sehen, wie sich das Sonnenlicht in dem Stein brach. Augenblicklich warfen sich alle Uiguren auf den Bauch und blieben so liegen.
Der Anführer sprach mich an. Halb unterbewußt hatte ich mitbekommen, daß er mich seit dem Moment, in dem ich den Jade-Würfel genommen hatte, intensiv beobachtete. Ich glaubte nun Ehrfurcht in seinen Augen zu sehen.
»Euer Pferd ist bereit …« Auch er gebrauchte das Wort, das vorher die anderen Reiter gerufen hatten. »Zeigt mir, was Ihr mitzunehmen wünscht, und meine Männer tragen es für Euch.«
»Wohin gehen wir, und für wie lange?« wollte ich wissen.
»Zu einem heiligen Mann Eures Volkes«, antwortete er. »Und wie lange Ihr dort bleiben werdet, kann nur er Euch sagen.«
Ich war einen Moment lang irritiert, wie selbstverständlich er davon ausging, daß ich mitkam. Außerdem war mir überhaupt nicht klar, warum er von seinem Volk als »Eurem« gesprochen hatte.
»Warum kommt der heilige Mann nicht zu mir?« fragte ich.
»Er ist uralt«, sagte er, »und die weite Reise wäre viel zu mühselig für ihn.«
Ich sah auf die Reiter, die immer noch neben ihren Pferden standen. Wenn ich mich weigern sollte mitzugehen, würden sie ohne Zweifel das Lager verwüsten und alle darin umbringen; vor allem, sobald meine Kameraden sich vor mich stellen würden, was sie ohne zu zögern tun würden. Außerdem brannte die Neugierde unlöschbar in mir.
»Ich muß erst mit meinen Gefährten sprechen, bevor ich mitkommen kann«, sagte ich.
»Wenn es dem Dwayanu gefällt«, diesmal bekam ich das fremde Wort mit, »dann mag er seinen Hunden Lebewohl sagen.«
Kurz blitzte so etwas wie Verachtung in seinen Augen auf, als sein Blick über den alten Fairchild und die anderen fuhr.
Mir gefielen seine Worte immer weniger, ganz zu schweigen von seinem Verhalten.
»Warte hier auf mich«, erklärte ich ihm kurz angebunden und ging zu Fairchild. Ich zog ihn in sein Zelt. Barr und die anderen Wissenschaftler folgten uns. Ich erklärte ihnen die Lage. Barr nahm meine Hand und untersuchte den Ring. Leise pfiff er durch die Zähne.
»Weißt du, was das ist?« fragte er mich. »Der Krake … das superintelligente, bösartige und mythische Seeungeheuer der alten Wikinger. Sieh nur, er hat nicht nur acht, sondern zwölf Tentakel. Auf allen Darstellungen hat er nie weniger als zehn. Dieser Krake symbolisiert das Prinzip der unversöhnlichen Feindschaft allem Leben gegenüber. Damit ist nicht direkt der Tod gemeint, sondern eher die völlige Auslöschung. Der Krake … hier in der Mongolei!«
»Hören Sie, Chef«, erklärte ich Fairchild, »es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie mir helfen können, falls ich überhaupt Hilfe benötige. Sie gehen sofort ins alte Lager zurück und nehmen Kontakt mit den Mongolen auf, vor allem mit dem Häuptling, aus dessen Stamm die Ringer waren. Überreden sie ihn oder bezahlen sie ihn dafür, so viele Krieger wie möglich ins neue Lager zu führen. Irgendwann kehre ich zurück, aber vielleicht bin ich dann auf der Flucht. Sie alle schweben in großer Gefahr. Möglicherweise nicht in diesem Augenblick, aber die Dinge können sich so entwickeln, daß die Uiguren es für geboten halten, das Lager zu überfallen. Ich weiß, wovon ich rede, Chef. Ich bitte Sie nicht nur mir zuliebe, sondern auch um Ihretwillen.«
»Aber sie beobachten doch das Lager …« wandte er ein.
»Nicht mehr, sobald sie mit mir abgezogen sind. Zumindest die nächste Zeit nicht mehr. Jeder von ihnen wird in meinem Gefolge sein wollen.« Ich klang so bestimmt, daß an meinen Worten kein Zweifel entstehen konnte, und Barr nickte zustimmend.
»Der König kehrt heim in sein Reich!« sagte er. »Und alle seine treuen Untertanen reisen mit ihm. Leif ist in großer Gefahr, solange er mit diesen Leuten zusammen ist. Gott im Himmel, Leif, wenn ich nur wüßte, wie ich dir helfen kann! Der Krake! Uralte Legenden aus der Südsee erzählen vom Großen Oktopus, der irgendwo schläft und wartet, bis seine Zeit gekommen ist, die Welt und alles Leben auf ihr zu vernichten. Und in einigen Kilometern Höhe findet sich in den Anden ein Abbild des Schwarzen Kraken! Wikinger … Südsee-Insulaner … Andenindianer … und jetzt auch hier!«
»Bitte, geben Sie mir Ihr Wort drauf«, sagte ich zu Fairchild.»Mein Leben könnte davon abhängen.«
»Sie gehen zu lassen käme mir vor, als würden wir Sie im Stich lassen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Chef, diese Kriegerschar macht Sie und alle anderen binnen einer Minute nieder. Gehen Sie zurück zu den Mongolen. Und fragen Sie auch die Tataren, sie hassen die Uiguren. Ich komme schon zurück, machen Sie sich darum keine Sorgen. Aber ich fürchte, dann ist die ganze Meute, größer noch als die draußen, hinter mir her. Wenn ich wieder hier bin, möchte ich ganz gern hinter einem gut verteidigten Wall in Deckung gehen können.«
»Wir gehen zurück«, sagte er.
Ich verließ sein Zelt und ging in meins. Der Anführer der Uiguren folgte mir. Ich nahm mein Gewehr und eine Pistole, schob eine Zahnbürste und mein Rasierzeug in eine Tasche und war bereit zu gehen.
»Sonst nichts?« fragte er überrascht.
»Falls noch etwas fehlt, komme ich eben zurück und hole es mir«, antwortete ich.
»Nicht, sobald Ihr Euch erinnert habt«, sagte er rätselhaft.
Seite an Seite gingen wir zu dem schwarzen Hengst. Ich setzte mich auf seinen Rücken.
Die Reiter schlossen hinter uns auf. Ihre Speere bildeten eine undurchdringliche Barriere zwischen mir und dem Lager. Wir galoppierten nach Süden.
Der Rappe lief in einem steten, federnden Galopp und trug mein Gewicht ohne Mühe. Etwa eine Stunde vor Einbruch der Nacht hatten wir den Rand der Wüste überquert. Zu unserer Rechten ragte ein niedriger Höhenzug aus roten Sandsteinhügeln empor. Kurz vor uns erstreckte sich ein Engpaß. Wir ritten hinein und bahnten uns einen Weg hindurch. Nach etwa einer halben Stunde kamen wir auf einem felsübersäten Gelände heraus, durch das sich die Reste einer ehemaligen Straße wandeln. Sie führte dann schnurgerade nach Nordosten zu einer weiteren, höheren Sandstein-Höhenkette in etwa acht Kilometern Entfernung. Wir erreichten sie, als es dunkel wurde, und hier brachte auch mein Führer sein Pferd zum Stehen und erklärte mir, daß wir hier bis zum Morgen lagern würden. Gut zwanzig Reiter blieben bei uns, der Rest ritt weiter.
Die Uiguren warteten und sahen mich unverhüllt erwartungsvoll an. Ich fragte mich, was ich ihrer Meinung nach jetzt tun sollte. Dann fiel mir auf, wie sehr der Hengst geschwitzt hatte. Ich rief nach einem Tuch, um ihn abzureiben, und nach Wasser und Futter für ihn. Offensichtlich hatten die Uiguren genau darauf gewartet. Der Anführer selbst brachte mir Tücher, Hafer und Wasser, während seine Männer miteinander flüsterten. Nachdem ich den Hengst abgerieben hatte, fütterte ich ihn. Dann verlangte ich Decken für ihn, denn die Nächte in dieser Gegend sind kalt. Als ich damit fertig war, war das Abendessen zubereitet. Ich saß neben dem Anführer am Feuer und war sehr hungrig; und wie immer, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, aß ich mehr als reichlich. Während des Mahls stellte ich ein paar Fragen, aber man beantwortete sie mir so ausweichend und mit solch offensichtlichem Widerwillen, daß ich es bald aufgab. Nach dem Abendessen war ich müde und sagte das auch. Man reichte mir Decken, und ich ging zum Rappen. Ich breitete neben ihm die Decken aus, legte mich darauf und rollte mich ein.
Der Hengst senkte den Kopf, stieß mich sanft mit den Nüstern an, blies mir lange seinen warmen Atem auf den Nacken und legte sich dann vorsichtig neben mich. Ich drehte mich, bis ich meinen Kopf auf seinen Nacken legen konnte. Die Uiguren flüsterten erregt, als sie das entdeckten. Ich schlief ein.
Im Morgengrauen weckte man mich. Das Frühstück war schon fertig. Wir ritten auf der uralten Straße weiter. Sie verlief am Fuße der Hügel am ausgetrockneten Bett eines ehemals mächtigen Stroms entlang. Lange Zeit schützte uns der Höhenzug vor der Sonne. Als ihre Strahlen dann plötzlich direkt auf uns einfielen, machten wir im Schatten einiger gewaltiger Felsen Rast. Am späten Nachmittag waren wir wieder unterwegs. Kurz vor dem Sonnenuntergang gelangten wir auf einer früher imposanten Brücke über das Flußbett. Wir ritten durch einen weiteren Engpaß, durch den sich vor langer Zeit der Strom gewunden hatte, und erreichten sein Ende bei Einbruch der Dunkelheit.
Zu beiden Seiten am Ende der Schlucht erhoben sich steinerne Forts, die von Dutzenden von Uiguren bemannt waren. Sie fingen an zu rufen, als wir näherkamen, und erneut hörte ich das Wort »Dwayanu«, wieder und wieder.
Die schweren Tore des Forts zur Rechten schwangen auf. Wir ritten durch einen Gang unter dem dicken Wall und gelangten in einen breiten Innenhof. Ein weiteres Tor schwang auf, und wir hatten das Fort hinter uns gebracht.
Vor meinen Augen breitete sich eine Oase aus, die zu allen Seiten von den Bergen eingegrenzt wurde. Einst hatte hier eine mittelgroße Stadt gestanden, von deren Existenz überall noch Ruinen kündeten. Wo ehedem der Strom verlaufen war, floß jetzt nur noch ein Bächlein, das nicht weit von mir im Sand versickerte. Rechts von diesem Wasser fanden sich Bäume und Vegetation; links davon war nur Ödnis. Die Straße führte durch die Oase in die Öde. Sie endete knapp zwei Kilometer weiter vor einer riesigen viereckigen Öffnung in der Felswand. Die Öffnung wirkte wie eine Tür in den Berg oder wie der Eingang zu einer gigantischen ägyptischen Grabkammer …
Wir ritten direkt in den fruchtbaren Teil der Oase. Erst jetzt entdeckte ich, daß hier Hunderte uralter Steingebäude standen, und an einigen waren auch deutliche Restaurierungsbemühungen zu erkennen. Dennoch jagte mir ihr ungeheures Alter Schauder über den Rücken. Zwischen den Bäumen waren Zelte aufgeschlagen. Und aus Zelten und Häusern strömten Uiguren, Männer, Frauen und Kinder. Allein die Anzahl der anwesenden Krieger mußte tausend betragen. Anders als die Soldaten in den Forts wurde ich hier beim Vorbeireiten nur mit ehrfurchtsvollem Schweigen empfangen.
Wir hielten vor einem zusammengeflickten Trümmerhaufen, der vielleicht einmal ein Palast gewesen war; vor fünftausend Jahren oder vor der doppelten Zeitspanne. Möglicherweise auch ein Tempel. Eine Reihe stämmiger, viereckiger Säulen verlief an seinen Seiten. Noch schwerere Säulen erhoben sich am Eingang. Hier stiegen wir ab. Der Rappe und das Pferd meines Führers wurden uns von der Eskorte abgenommen. Der Uigure verbeugte sich tief an der Schwelle und bedeutete mir, einzutreten.
Ich gelangte in einen breiten Gang, der von Fackeln aus einem harzhaltigen Holz beleuchtet wurde. Entlang den Wänden standen in einer langen Reihe Speerträger. Mein Führer marschierte neben mir. Der Gang führte in einen riesigen Raum mit einer sehr hohen Decke – so breit und weitläufig, daß die Fackeln an den Wänden das Zentrum kaum zu erhellen vermochten. Am anderen Ende des Raums stand ein niedriges Podest, und auf dem erhob sich ein Tisch, an dem einige Männer mit Kapuzen saßen.
Als ich auf sie zuschritt, spürte ich die gespannten Blicke der Kapuzenträger auf mir. Ich zählte dreizehn von ihnen; sechs an jeder Seite des Tisches und einer in einem größeren Stuhl an seinem Ende. Hohe Kohlenpfannen aus Metall standen vor ihnen, und darin verbrannte eine Substanz, die ein ruhiges und helles weißes Licht verbreitete. Als ich ziemlich nahe herangekommen war, blieb ich stehen. Mein Führer sprach kein Wort, genausowenig wie die Männer am Tisch.
Plötzlich schimmerte das weiße Licht auf dem Ring an meinem Daumen.
Der Kapuzenmann am Tischende erhob sich und hielt sich mit zitternden Händen, die wie verdorrte Klauen wirkten, an der Kante fest. Ich hörte, wie er leise und raschelnd »Dwayanu« flüsterte.
Die Kapuze glitt zurück. Vor mir war ein uraltes Gesicht mit Augen, die fast so blau leuchteten wie meine. Sie strahlten aufgeregtes Staunen und begierige Hoffnung aus. Das ließ mich nicht ungerührt, denn das war der Blick eines Mannes, der schon seit langem alle Hoffnung hatte fahrenlassen und jetzt plötzlich die Rettung vor Augen hat.
Jetzt erhoben sich auch die anderen und schlugen die Kapuze zurück. Sie alle waren alte Männer, aber lange nicht so bejahrt wie der dreizehnte. Ihre blaugrauen Augen musterten mich. Dann erhob der Hohepriester, denn für den hielt ich ihn und der schien er tatsächlich zu sein, erneut seine Stimme:
»Man hat mir davon berichtet, aber ich wagte nicht, daran zu glauben. Möchtet Ihr nicht zu mir heraufkommen?«
Ich sprang auf das Podest und ging auf ihn zu. Er kam mit seinem alten Gesicht dem meinen ganz nahe und besah sich meine Augen. Er berührte mein Haar. Dann schob er eine Hand in mein Hemd und legte es auf mein Herz.
»Laßt mich Eure Hände sehen«, sagte er.
Ich legte sie mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. Der Hohepriester untersuchte sie mit der gleichen Gründlichkeit wie vorher der Anführer. Die zwölf anderen drängten sich um uns und folgten mit ihren Blicken seinen Fingern, die immer wieder an einer Stelle verhielten. Der Alte nahm seine goldene Kette vom Hals und zog an ihr ein langes und flaches Jade-Kästchen aus seinem Umhang. Er öffnete es, und darin lag ein gelber Stein, der viel größer war als der an meinem Ring, ansonsten aber eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit aufwies. Ein schwarzer Oktopus – die Krake – schob sich in ihm aus der Tiefe! Daneben fanden sich in dem Kästchen eine schmale Phiole aus Jade und ein kleines, lanzettenartiges Jademesser. Der Priester nahm meine Rechte und hielt das Gelenk über den gelben Stein. Er sah mich und die anderen mit einem Ausdruck von Seelenqual an.
»Der letzte Test«, flüsterte er. »Das Blut!«
Er ritzte mit dem Messer eine Ader an meinem Handgelenk. Blut trat hervor und sickerte Tropfen für Tropfen auf den Stein. Erst jetzt sah ich, daß er leicht konkav war. Die Blutstropfen bildeten einen dünnen Film vom Boden bis zum Rand des Steins. Der Hohepriester öffnete das Fläschchen und hielt es mit einer ungeheuren Willensanstrengung gerade über den Stein. Ein Tropfen einer farblosen Flüssigkeit fiel heraus und vermischte sich mit meinem Blut.
Absolute Stille erfüllte jetzt den Raum. Der Alte und seine Mitpriester starrten auf den Stein und schienen dabei den Atem anzuhalten. Ich warf einen Seitenblick auf meinen Führer. Ein fanatisches Feuer war in seinen Augen, und er sah mich durchdringend an.
Der Hohepriester rief mit dünner Stimme etwas aus, was die anderen Priester wiederholten. Ich sah auf den Stein. Der rosafarbene Film veränderte seine Tönung. Ein sonderbares Funkeln ging davon aus. Dann war die Flüssigkeit hell und leuchtend grün.
»Dwayanu!« keuchte der Alte und sank in seinen Stuhl. Seine Hände zitterten, als er sie vors Gesicht hielt. Die anderen sahen mich mit großen Augen an, starrten auf den Stein und dann wieder auf mich, so als wären sie gerade eines Wunders teilhaftig geworden. Ich suchte nach meinem Führer. Er lag unterhalb des Podests auf dem Gesicht.
Der Hohepriester nahm die Hände vom Gesicht. Er kam mir verändert und um Jahre jünger geworden vor. In seinen Augen waren nicht mehr Hoffnungslosigkeit und Agonie, sondern brennende Ungeduld. Er erhob sich von seinem Stuhl und setzte mich hinein.
»Dwayanu«, sagte er, »woran erinnert Ihr Euch?«
Ich schüttelte verdutzt den Kopf. Genauso hatte der Anführer der Uiguren im Lager auch gefragt.
»Woran sollte ich mich erinnern?« fragte ich.
Er wandte sich von mir ab und suchte fragend in den Gesichtern der anderen. So als hätte er ihnen per Geisteskraft etwas mitgeteilt, sahen sie einander an und nickten. Der Alte schloß das Jade-Kästchen und versenkte es wieder unter seinem Umhang. Er nahm meine Hand, drehte den Stein am Ring, bis er an der Innenfläche meines Daumens war, und drückte dann meine Hand zu einer Faust zusammen.
»Erinnert Ihr Euch«, sein Flüstern war kaum noch zu vernehmen, »an Khalk’ru?«
Wieder erfüllte vollkommenes Schweigen die Halle, und diesmal war es fast körperlich zu spüren. Ich saß am Tisch und dachte nach.
Der Name brachte irgend etwas in mir zum Klingen, verbunden mit dem irritierenden Gefühl, daß ich eigentlich mehr wissen müßte; wenn ich nur intensiv genug überlegte, würde es mir schon wieder einfallen. Die Erinnerung saß direkt jenseits der Schwelle zum Bewußtsein. Dann war da noch das Gefühl, daß etwas Grauenhaftes mit diesem Namen verbunden war. Etwas, an dem besser nicht gerührt wurde. Ich fühlte erste Anzeichen von Wogen des Ekels in mir, verbunden mit einem scharfen Widerwillen.
»Nein«, antwortete ich schließlich.
Die anderen atmeten lautstark ein. Der Alte trat hinter mich und legte mir seine Hände über die Augen.
»Erinnerst du dich … an das?«
Mein Bewußtsein schien zu verschwimmen, und dann sah ich so deutlich ein Bild vor mir, als würde ich mit offenen Augen sehen. Ich galoppierte durch die Oase direkt auf die große Öffnung im Berg zu. Nur jetzt war es keine Oase mehr, sondern eine blühende Stadt mit üppigen Parks und Gärten, durch die sich ein klarer und sprudelnder Fluß wand. Die Höhenzüge zeigten nicht nackten roten Sandstein, sondern waren grün vor Bäumen und allen Arten von Pflanzen. Ich war nicht allein, andere bildeten eine Art Gefolge; Männer und Frauen, blond und groß wie ich. Jetzt hatte ich den Eingang fast erreicht. Mächtige, vierkantige Steinsäulen flankierten ihn … Nun war ich vom Pferd gestiegen … ein starker schwarzer Hengst … Ich trat ein …
Ich wollte nicht eintreten. Sobald ich den Eingang hinter mir gelassen hätte, würde ich mich erinnern … an Khalk’ru! Ich schob mich zurück … stand wieder vor dem Gebäude … hielt die Hände vor die Augen … Aber es waren nicht meine, und ich versuchte, sie zur Seite zu zerren … die Hände des alten Priesters.
Ich sprang vom Stuhl und bebte vor Zorn. Als ich ihn ansah, drückte sein Gesicht Güte aus, und seine Stimme klang sanft.
»Bald werdet Ihr Euch an mehr erinnern«, sagte er.
Ich gab keine Antwort, weil ich darum kämpfte, meinen unerklärlichen Zorn zurückzudämmen. Offensichtlich hatte der Alte versucht, mich zu hypnotisieren. Ich hatte das gesehen, von dem er wollte, daß ich es sah. Nicht ohne Grund hatten sich die Priester der Uiguren ihren Ruf als mächtige Zauberer erworben. Doch das war nicht die eigentliche Ursache für meinen Zorn, für den ich alle Kraft aufbieten mußte, um nicht wie ein Wilder um mich zu schlagen. Nein, irgend etwas war an diesem Namen, an Khalk’ru. Etwas, das hinter der Öffnung im Berg war, durch die der Alte mich hatte zwingen wollen.
»Habt Ihr Hunger?« Der abrupte Themenwechsel zu etwas Praktischerem ließ mich meine Fassung wiedergewinnen. Ich lachte laut und erklärte dem Hohepriester, daß ich tatsächlich großen Hunger hätte. Und müde würde ich langsam auch. Ich fürchtete, eine so bedeutende Person, wie ich sie anscheinend hier war, müßte mit den Priestern speisen. Aber zu meiner großen Erleichterung vertraute er mich wieder der Obhut meines Führers an. Der Uigure folgte mir wie ein Sklave aus der Halle hinaus. Seine Augen sahen mich an wie die eines Hundes, und er wartete wie ein Diener neben mir, während ich aß. Ich sagte ihm, ich würde lieber in einem Zelt statt in einem der Steinhäuser schlafen. Bei diesen Worten blitzten seine Augen auf, und zum erstenmal reagierte er darauf nicht mit einer unterwürfigen Bestätigung.
»Immer noch ein echter Krieger!« brummte er anerkennend. Er veranlaßte, daß für mich ein Zelt aufgestellt wurde. Bevor ich mich zum Schlafen hinlegte, warf ich vorsichtig einen Blick durch die Zeltklappe. Der Uigure hockte ein paar Meter weiter auf dem Boden, und rings um das Zelt hatte eine Doppelreihe Speerträger Posten bezogen. Sie standen Schulter an Schulter.
Früh am nächsten Morgen holte mich eine Delegation niedrigerer Priester ab. Wir begaben uns wieder in das Gebäude, doch diesmal in einen kleineren Raum, der nicht möbliert war. Dort erwarteten mich der Alte und der Rest seiner Mitpriester. Ich hatte mich darauf vorbereitet, viele Fragen beantworten zu müssen, aber er stellte mir keine einzige. Offensichtlich war er überhaupt nicht neugierig auf meine Geschichte; wo ich hergekommen war, was mich in die Mongolei gebracht hatte und so weiter. Anscheinend reichte es den Uiguren aus, mich als den überprüft zu haben, den sie voller Hoffnung erwartet hatten, wen auch immer sie meinen mochten. Weiterhin hatte ich den sehr starken Eindruck, daß sie ganz begierig darauf waren, ihren Plan weiterzuverfolgen, der mit meinem Sprachunterricht begonnen hatte. Der Hohepriester kam ohne Umschweife auf den Punkt.
»Dwayanu«, sagte er, »wir möchten Euch ein bestimmtes Ritual ins Gedächtnis zurückrufen. Hört sorgfältig zu, seht genau hin, behaltet genauestens jede Modulationsverschiebung und merkt Euch jede einzelne Geste.«
»Zu welchem Zweck?« wollte ich wissen.
»Damit Ihr lernt …« fing er an, unterbrach sich dann aber abrupt. »Nein, ich will es Euch jetzt sagen. Damit das Land, das jetzt Wüste ist, wieder fruchtbar wird. Damit das Volk der Uiguren seine einstige Größe wiedererlangt. Damit der uralte Frevel an Khalk’ru gesühnt wird, aus dem diese Wüste entstand!«
»Was habe denn ich, ein Fremder, mit alledem zu tun?« fragte ich.
»Wir, zu denen Ihr gekommen seid«, antwortete er, »haben nicht genug vom alten Blut in uns, um all dies bewirken zu können. Und Ihr seid kein Fremder, sondern Dwayanu – der Erlöser. Ihr seid vom reinen Blut. Und daher könnt nur Ihr, Dwayanu, den Fluch von uns nehmen.«
Ich dachte, wie erfreut Barr über diese Erklärung sein müßte und wie er damit über Fairchild triumphieren könnte. Ich nickte dem alten Priester zu und erklärte ihm, daß ich bereit sei. Er nahm mir den Ring vom Daumen und sich die Kette mit dem Jade-Anhänger vom Hals. Dann sagte er, ich sollte mich entkleiden. Während ich diesem Wunsch nachkam, befreite er sich von seinen Gewändern, und die anderen taten es ihm nach. Ein Priester trug unsere Sachen fort und kehrte danach rasch zurück. Ich sah auf die verwelkten Leiber der alten Männer, die splitternackt um mich herum standen, hatte plötzlich aber keine Lust mehr, über diesen Anblick zu lachen. Etwas Unheilvolles lag über dieser Prozedur. Die Unterweisung begann.