Das Wasser am Hals - Paul D. Bartsch - E-Book

Das Wasser am Hals E-Book

Paul D. Bartsch

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Beschreibung

Karl-Georg Ammer, Mittdreißiger, promovierter Literatur-wissenschaftler und Lektor eines renommierten DDR-Verlages, ist nicht unbedingt ein Kämpfer vor dem Herrn. Doch mit diesem Gegner nimmt er es spielend auf: einem unverlangt beim Verlag eingegangenen Manuskript, für dessen beschlossene Ablehnung es Gründe und Argumente zu finden gilt. Und da sitzt er, Karl, ja zweifellos am längeren Hebel. Also schärft er das Schwert seiner Schreibmaschine, um den ihm unbequem erscheinenden Text durch ein geschliffenes Gutachten aus seiner heilen Welt zu schaffen. Heile Welt? Ja, merkt er denn nichts, dieser Karl, so allein dort draußen im Haus in den Auenwiesen, wo der laue Lenz den Schnee des letzten Jahres rasant zum Schmelzen bringt? Ahnt er nichts von dem, was sich da zeitgleich in der Wohnung der Schwiegereltern ereignet, weiß er nichts über die Vorgänge im fernen Erholungsheim für überarbeitete Pädagogen, erinnert er sich nicht an die Hinterlassenschaft seines mysteriösen Onkels, eines gewissen Wilhelm Georg Haderer? Und sieht er nicht das verzweifelte Bemühen der Soldaten mit dem roten Stern am durchweichten Deich des nahen Flusses?! Der Erzähler - so allwissend wie hilflos - schaut Karl über die Schulter und ins bange Herz und verknüpft all diese Fäden im selbstironischen Bewusstsein für die kleine Tragik des Helden angesichts ringsum steigender Fluten in diesem Frühling des Jahres '89. Paul D. Bartsch, Jahrgang 1954, zeichnet voller Ironie ein literarisches Duell mit bemerkenswertem Tiefgang.

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Trägheitist - zumindest unter den uns bekannten Bedingungen - ein Naturgesetz. Sie beschreibt das Bestreben von Dingen der unbelebten Natur, auf ihrem Zustand zu beharren. Ach, könnten wir sie doch auch zur Erklärung der menschlichen Psyche und damit der Gesellschaft und ihrer mitunter so merkwürdigen Entwicklungen und Stillstände nutzen. Nein, wir wollen nicht belehren. Wir wollen nur ermuntern.

Wilhelm Georg Haderer, aus einem vergessenen Manuskript, um 1925

Trägheit, die: Bequemlichkeit. Indolenz. Lethargie. Phlegma. Schläfrigkeit.

in/do/lent[auch: ...änt; lat.]: 1. geistig träge u. gleichgültig; keine Gemütsbewegung erkennen lassend.

DUDEN, Das Synonymwörterbuch

Die meisten Menschen sind eher einer gewaltsamen Anstrengung als zäher Ausdauer fähig, um zu ihrem Ziel zu gelangen: Trägheit oder Unbeständigkeit bringt sie um die Frucht der besten Ansätze.

La Bruyère: Vom Menschen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Das Trägheitsgesetz ist das erste Axiom in der Mechanik NEWTONS. Es lautet: Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.

Peter Berger: Philosophische Grundgedanken zur Struktur der Physik, Stuttgart, o.J.

In seiner Kindheit war Karl-Georg Ammer lange Zeit davon ausgegangen, dass der Wechsel der Tage, der Wochen, Monate und damit auch der Jahreszeiten daran gebunden sei, dass er morgens in der Küche das nunmehr veraltete gestrige Datumsblatt vom Wandkalender abriss. Seine Mutter, die zu einem der ersten gründlich ausgebildeten Jahrgänge von Nachkriegslehrern gehörte, hatte ihm frühzeitig diese Aufgabe übertragen, da sie annahm, es würde sein Verständnis für Zahlen verbessern. Dem kleinen Karl-Georg aber schien dadurch eine Macht verliehen, die Kinder normalerweise nicht besitzen: Er war Herr über die Zeit geworden. Erst wenn das alte Kalenderblatt in den Papierkorb gefallen war, so sagte er sich, konnte etwas Neues beginnen.

Die für so eine folgenreiche Aufgabe nötige und zudem durch sie geförderte Zuverlässigkeit, so glaubt Karl-Georg heute, ist ihm als Wesenszug in all den folgenden Jahren erhalten geblieben. Was die Tragweite seiner Handlungen angeht, hat sich allerdings zunehmende Ernüchterung eingestellt.

Dieser Winter zum Beispiel – es ist Karl-Georgs zweiunddreißigster - geht ganz ohne sein Dazutun und dennoch pünktlich zu Ende. Der Abreißkalender in der Ammerschen Küche trägt an diesem frühen Sonntagmorgen zwar noch das Blatt des Vortages, doch darunter – zudem in sonntäglichem Rot gehalten – lugt schon das Datum des heutigen Frühlingsbeginns hervor. Und die Wetter scheren sich ohnehin nicht um Abreißkalender. Über dem Äquator steht die Sonne heute senkrecht, wie man weiß; im mittleren Europa entspricht der Einfallswinkel ihrer Strahlen damit genau den Werten des späten Septembers. Doch die Erde zerrt ihren Gürtel aus warmen Luftmassen gerade erst wieder über ihre ausladenden Hüften hinauf, und jene eigentümliche Trägheit, mit der auch die für das Klima verantwortlichen Luftmassen dem ekliptischen Taumel der Weltkugel hinterherhinken, bedingt ein der Jahreszeit durchaus angemessenes Wetter: Kein Altweibersommer also, sondern eben der Lenz.

Auch anderswo erfüllt die Witterung durchaus, was zu erwarten ist. In Pretoria faltet man die Sonnenschirme auf zunehmend unterbelegten Terrassen zusammen und sieht dem, was kommt, mit gemischten Gefühlen entgegen. In Bagdad wie im Libanon vergehen die täglichen Leichen in der Hitze. Und bei Murmansk erträgt der Dauerfrostboden die Ketten gepanzerter Fahrzeuge wie stets bei dauerhaftem Frost.

Im Allgemeinen scheint also diese Welt noch immer in der Ordnung, an die sich Karl-Georg gewöhnt hat über die Jahrzehnte. Selbst das in seiner Heftigkeit überraschend einsetzende Tauwetter, das der seit Wochen auf dem mitteldeutschen Bergland lastenden Schneedecke nun zu Leibe rückt, passt zu diesen Erfahrungen. Die DDR-Medien berichten von allen Fronten weiterhin im bewährten Stil. Lediglich die Gegner von Wirtschaft und Verkehr haben über Nacht ihren Aggregatzustand geändert: Aus beißendem Frost und gewaltigen Schneemassen sind steigende Wasserpegel und bodenloser Morast geworden. Womit einiges über den Zustand des Landes gesagt wäre, auf das jenes Tauwetter losbricht.

Seltener zu hören und zu lesen ist dagegen von den schwangeren Knospen der Kastanien, vom neuartigen Gesang der Vögel, der wie gewaschen an diesem Morgen aufblitzt, oder gar vom erdig-frischen Geruch, der durch das erstmals seit langem wieder die ganze Nacht offenstehende Fenster ins Schlafzimmer jenes Hauses dringt, das da - noch fast in Sichtweite der Stadt, aber doch abgeschieden und still - in den Auenwiesen der Flussniederung steht.

In den Ehebetten des dortigen Schlafzimmers liegt Karl-Georg allein mit sich und somit jeder anderen Möglichkeit brach. Derzeit nimmt er ohnehin weder die Dinge des großen Weltgangs noch das Näherliegende wahr und ist unbewusst damit beschäftigt, sich aus den verworrenen Träumen heraus ins Erwachen zu retten. Ob diese Träume etwas mit der rosafarbenen Mappe zu tun haben, die auf dem Nachtschrank gleich neben Karls hin und her rollendem Kopf ruht? Wir können es nur vermuten, da wir im Dämmerlicht das Titelblatt entziffern: DAS WASSER AM HALS steht dort in Majuskeln, und darunter Ein Protokoll und der Name der Verfasserin, neben den sie – ungewöhnlich genug – ihre Berufsbezeichnung gesetzt hat: Automateneinrichterin.

Doch nutzen wir die Gelegenheit, bevor Dr. Karl-Georg Ammer sich an diesem vorletzten Sonntagmorgen des heftig lenzenden Märzen seiner selbst bewusst wird, um uns von dem Menschen, der hinter Namen und Titel steckt, ein erstes Bild zu machen. Es ist ja immer von Vorteil, über seinen Gegenüber mehr zu wissen als umgekehrt – wir alle kennen doch das geflügelte Wort, nach dem Wissen Macht bedeutet. Kleidet euch also beruhigt in das hier ausgebreitete Wissen, das ihr über Dr. Karl-Georg Ammer erlangen werdet, und glaubt nicht den Märchen, wo die Prinzen in den für sie von bösen Zauberern bereitgelegten Hemden elendiglich verbrennen müssen.

Zunächst wollen wir im Sinne effektiven Erzählens einige Kürzel anbieten, die diesen polygraphisch doch recht umfänglichen Menschen handhabbarer werden lassen. Da wäre zunächst Karl; kurz und knapp. Er selber kokettiert mitunter damit und nennt es ohne tiefere Absicht schlicht und deutsch. Karl wird so von seiner Frau gerufen, die allerdings das „r“ kaum mitspricht, demgegenüber das „a“ dehnt, so dass lautsprachlich eher ein Kaaahl entsteht, was den Gemeinten unangenehm berührt, da sich sein Haupthaar zunehmend lichtet. Dennoch werden wir, und nicht nur aus sprachökonomischen Gründen, diesen Teilvornamen weitgehend übernehmen. Wir bitten nur, auf erwähnte Nuancierung zu achten, wenn wir ihn seiner Frau in den Mund legen. Es klingt dann irgendwie norddeutsch, obwohl die Familie seiner Frau seit Generationen südlich des Harzes heimisch ist.

Eine weitere Möglichkeit böte der zweite Bestandteil seines Vornamens an, Georg, abgewandelt zu Schorsch oder Schorschi. Wir hätten es dann mit der noch immer gebräuchlichen Betitelung durch seine Mutter zu tun, auf die wir bei dringlicher Notwendigkeit auch gern zurückgreifen wollen.

Bliebe noch die Zusammenfügung aus akademischem Grad und dem Nachnamen des Betreffenden, die über die gewissermaßen offizielle Bezeichnung der Person hinaus weiterführende Assoziationen ermöglicht, denen wir - da Karl immer noch vor sich hin dämmert - getrost folgen können.

Wenn Karl also zu Beginn eines neuen Studienjahres seinen Namen an die Tafel des Hörsaals schrieb, bedurfte es wirklich keiner besonderen Geistesleistung seitens der Studenten, aus Dr. Ammer jenes Drammer zu bilden, das Karl in seinen Jahren an der Universität begleitet hat. In letzter Zeit hätte er sich diese Vorstellung sogar sparen können, denn solche einprägsamen Namen pflanzen sich auch ohne eigenes Zutun durch die Studentengenerationen fort. Aber Karl als korrektem und auch höflichem Menschen war dieses Ritual ein Bedürfnis, und wenn er die Kreide zurück aufs Pult gelegt hatte und sich, die Fingerspitzen durchs Taschentuch ziehend, wieder dem Auditorium zuwandte, genoss er den spürbaren Aha-Effekt. Diesen führte er geradlinig auf seine Popularität zurück, was bis zu einem gewissen Grade sogar stimmte, denn Karl, vom Alter her den Studenten noch ziemlich nahe, hatte stets einen flüssigen, unverkrampften Vorlesungsstil gepflegt. Allerdings war nicht nur unter seinen Kollegen längst bekannt, das Karls Fähigkeiten eher im übersichtlichen Referieren gesicherter Erkenntnisse lagen als etwa in der Eröffnung neuer Sichtweisen oder gar der Konstruktion eigener Denkgebäude. So weckte Karl bei seinen Studenten stets ein gemäßigtes Interesse, ohne dass dieses sich zu fruchtbarem Disput gesteigert hätte, wie es zu Zeiten der Frühaufklärung doch gerade an dieser Universität gang und gäbe gewesen war.

Karl selbst wusste sowohl um die derartige Bewertung seiner Fähigkeiten als auch um jene sinnfällige Benamsung, ohne dass ihn dies weiter belastet hätte. Überdies fühlte er sich bei dem durchs Sektionsgeflüster geisternden Drammer an eine Episode seiner eigenen Studentenzeit erinnert, die den späteren Wortführern selbstredend unbekannt gewesen sein wird: Karl hatte sich seinerzeit entschlossen, in einer frisch ins Leben gerufenen Amateur-Jazz-Gruppe des Studentenklubs mitzuwirken; zunächst aus Interesse für die Pianistin, die im Studienjahr über ihm Musikwissenschaft studierte. Doch obwohl bald abzusehen war, dass diese den singenden Banjospieler - einen nebenher mit seiner Promotion beschäftigten Forschungsstudenten südosteuropäischer Herkunft - deutlich favorisierte, blieb Karl dabei, ohne sich jemals zuvor in Theorie oder Praxis mit Musikausübung befasst zu haben. Glücklicherweise konnten Kontrabass, Saxophon und Flügelhorn durch im Umgang mit diesen Instrumenten kundige Bewerber besetzt werden, so dass Karl sich das bereitstehende, aus einer Haushaltsauflösung stammende Waschbrett griff, die dem Nähkästchen besagter Pianistin entnommenen Fingerhüte überstülpte und ein immerhin bemerkenswertes Gefühl für Takt und Rhythmus des angestrebten fröhlichen Dixieland offenbarte. Und da Karl nach einem halben Jahr Probenkellerpraxis diverse Teile eines gebrauchten Schlagzeugs günstig erwerben konnte, wäre es aus heutiger Sicht nicht verfehlt, ihn mit dem längst über das Musikeridiom hinaus verständlichen Begriff eines Drummers zu etikettieren.

So also schließt sich der Kreis, und wir können es Karl wohl nachsehen, dass er durch diesen lautmalerischen Gleichklang gern an die Zeit seiner sichtbarsten künstlerischen Kreativität erinnert wird, auch wenn diese nicht sehr lange andauerte. Einige Bandmitglieder nutzten nämlich die Musik als Absprungmöglichkeit vom nach dem Studium drohenden Lehrerdasein, und der Rest fand keine geeignete Ergänzung. Zudem begann nun für Karl das ihn ebenfalls vor dem Schuldienst bewahrende Forschungsstudium, das sein Recht mit diversen zeitintensiven Pflichten einforderte.

Immerhin schlug dieses Drammer in Karl also stets einen etwas wehmütigen Bluesakkord an, der in seinem Innern von verrauchten Kellern, herbem Biergeschmack und unkonventionell miteinander umgehenden jungen Menschen beiderlei Geschlechts sang. So wäre es ihm nie eingefallen, gegen dieses ihn und seinen akademischen Grad eigentlich unzulässig verkrüppelnde Kürzel einzuschreiten. Vielmehr neigte er den Kopf dann durchaus verstehend leicht zur Seite, wohinter die Studenten eine bemerkenswerte Toleranz zu erkennen glaubten.

Doch nun rächt sich, dass wir uns haben weit fortführen lassen: Karl steht bereits am offenen Schlafzimmerfenster, saugt die hereinströmende morgendliche Kühle auf und staunt in diesen Luftzug hinein, in sein feuchtes, geschmacksreiches Aroma. Er hört die Vögel anders singen als vor Tagen (sangen sie denn da überhaupt?). Sein Blick tastet sich über die noch nebelgrauen Auenwiesen, auf denen zwischen schmutzigen Schneeresten das Schmelzwasser steht, wie Karl mehr ahnt als sieht. Über der Stadt, deren Silhouette den östlichen Horizont einnimmt, verlaufen die gelben und rötlichen Andeutungen des Sonnenaufgangs zu einem flammenden Aquarell, das ganz unterschiedliche Deutungen zuließe: entweder bedrohlicher Abglanz ferneren Geschehens über den geduckten Häusern zu sein oder der hoffnungsvolle Beginn eines wirklich neuen Tages. Karl, der sich in der Sicherheit seines Heims mal wieder als Herr über die Zeit empfindet, entscheidet sich ohne weiteres Nachdenken für letzteres. Er ist allein zu Hause, er hat diesen Tag ganz für sich, und er gedenkt ihn gut zu nutzen, ehe er am späten Nachmittag seine Frau und die beiden Jungen vom Bahnhof abholen und seine Gedanken und Verrichtungen zwangsläufig wieder in vorgezeichnete Bahnen zurückbeordern muss.

Reichen wir hier rasch und nur in wenigen Sätzen nach, dass es Karl am gestrigen Abend nicht besonders schwergefallen ist, den Schwiegereltern seine verfrühte Abreise plausibel zu machen. Sie haben Respekt vor dem akademischen Titel ihres Schwiegersohnes und seiner damit zusammenhängenden Verantwortung, die hin und wieder auch vor einem Wochenende nicht Halt macht. Sicher, ursprünglich war vorgesehen, dieses gemeinsam bei den lieben Anverwandten in jener verschlafenen nordthüringischen Kleinstadt zu verbringen, deren ganzes Selbstbewusstsein sich auf ein paar Tausend in der Nähe abgeschlachteter Bauernkrieger stützt. Denen werde ja nun endlich ein passendes Denkmal gesetzt, hatte Karls Schwiegervater noch gestern Abend mit Blick vom Balkon auf die Baustelle am Schlachtberg geäußert. Worauf Karl trocken bemerkte, das einzig akzeptable Denkmal für die früh Gefallenen könne dieser Staat werden, an dem man im vierzigsten Jahre baue, und kein noch so gigantisches Kunstwerk im Turm aus Elfenbein oder sonst was ... (diese kleine Meinungsverschiedenheit sei nur deshalb erwähnt, weil sie den möglicherweise entstandenen Eindruck relativiert, Karls Gesichtskreis sei durchweg auf das Naheliegende beschränkt!).

Frau und Kinder den beglückten Alten lassend, war Karl also gleich nach dem Abendbrot zurückgefahren. Trotz des unsicheren Straßenzustandes hatte er diese zwei Stunden einsamer Fahrt genossen und im Autoradio mit Interesse eine ihm aus ferner Jugend geläufige und noch immer existierende Wertungssendung für nationale Popmusik verfolgt. Nicht unwesentlich für das sich dabei herausbildende Wohlgefühl ist die Tatsache gewesen, dass Karl die meisten Interpreten und Musikgruppen noch gut kannte, die sich da um die begehrten Spitzenplätze rangelten, obwohl doch inzwischen ein gutes Jahrzehnt vergangen war. Wenn, so schlussfolgerte Karl, seinen Generationsidolen noch immer die Präsenz auf einem so sensiblen, von Modeströmungen und Geschmacksveränderungen abhängigen Gebiet wie der Popmusik möglich sei, müsse er selbst sich keinesfalls zum alten Eisen rechnen, und das tat ihm gut, gerade jetzt!

2

Warum kann ich den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen?! Besagen nicht die Erfahrungen jeglicher Zivilisation, dass es kaum Aussicht auf Erfolg hat, sich dem zu widersetzen? Gewiß. Nur bin ich geschlagen mit einer Hellsicht, die mich dazu verurteilt, aus einer quasi allwissenden Überschau heraus den Fortgang der Dinge zu erkennen, ihre künftigen Bahnen, Kollisionen und Katastrophen. Um mich davon zu befreien, muß ich den Dingen auf den Grund gehen.

Wilhelm Georg Haderer, aus einem Manuskript, 1922

Auf dem Weg ins Bad wirft Karl die rosafarbene Mappe vom Korridor aus schwungvoll auf den Schreibtisch im Arbeitszimmer. Sie klappt auf, und einige wohl als Lesezeichen zwischen den Seiten steckende Merkzettel flattern dabei heraus. Karl registriert es knurrend und schlurft weiter. Wir erhaschen einen Blick auf die zufällig aufgeschlagene Seite und sind erstaunt: Ein Achtzeiler!

Auf ’ner Insel leben,

wer hat das noch nie geträumt?

Rings vom Meer umgeben,

das am weißen Ufer schäumt.

Doch ich schür’ das Feuer

und ich hoff’, du kannst es sehn.

Insel – Ungeheuer,

lass uns übers Wasser gehn.

Hat Karl plötzlich Zugang zur Lyrik gefunden? Oder finden müssen? Nun, für Karl hat sich einiges verändert in jüngster Zeit, und da wir im Haus auf den Auenwiesen derzeit nichts verpassen, können wir etwas ausholen.

Die durch Herrn Dr. Ammer vor Halbjahresfrist erstmals geäußerte Absicht, seine Tätigkeit an der Universität zu beenden und ein Angebot des städtischen Verlages für Gegenwartsliteratur auf eine Lektoratsstelle anzunehmen, hat seine Frau damals mit einem kaum merklichen Lächeln quittiert, dem die lakonische Bemerkung folgte, sie könne dann ja wieder als Kindergärtnerin arbeiten gehen. Bisher wurde dies nämlich – neben der Betreuung der eigenen Jungs – durch die ihr zufallende Aufgabe verhindert, Karl und seine Forschungstätigkeit gegenüber möglichen störenden Einflüssen abzuschirmen. Karl war sich einstens ganz sicher gewesen, dieses Schutzes zu bedürfen, und er hatte es verstanden, seine Ansicht wortreich zu begründen. Da ihn die Wissenschaft jedoch – wie bereits angedeutet – nicht im erhofften Maße an ihrem Busen nährte, können wir davon ausgehen, dass Karl das Angebot des Verlages nicht ungelegen kam.

Sein Vorgesetzter an der Sektion, Professor Steinfeld, hatte Karl allerdings ungläubig und um Fassung bemüht angesehen, als der ihm seine Absicht mitteilte und dies im Tonfall eines gefassten Entschlusses tat, nicht etwa als freundliche Bitte um Beratung durch den Älteren, Erfahreneren (was dem Professor aufgrund ihres bisherigen Verhältnisses zueinander wohl einleuchtender gewesen wäre).

Auf die gepresste Frage nach den Gründen sprach Karl scheinbar unbefangen von seinem ja bekannten Interesse gerade an neuester Literatur (sein Dissertationsthema; wir kommen gleich darauf zurück). Er erwähnte die reizvolle Aussicht, in deren Entstehungsprozess einbezogen zu werden, erzählte von einem guten Bekannten, der auch im Verlag arbeite, und hob die Vorzüge einer Tätigkeit hervor, deren unmittelbares Ergebnis man richtig in die Hand nehmen und einer erwartungsvollen Öffentlichkeit präsentieren könne.

Ob Karl denn nicht klar sei, dass für ein gutes Buch stets der Autor gelobt, für ein schlechtes jedoch der Lektor gescholten werde, wandte Steinfeld ein. Karl ließ sich nicht irritieren. Er beziehe das vielbeschworene Leseland DDR eben nicht nur auf jene Handvoll Fachleute, die die spärlich publizierten Arbeitsergebnisse des Dr. phil. Karl-Georg Ammer bisher zur Kenntnis genommen hatten. Und außerdem - so schloss er wohlüberlegt - sei eine neue Herausforderung doch gut im ständigen Kampf gegen die eigene Trägheit, die auch auf einer wissenschaftlichen Assistentenstelle drohe.

Dies alles sagte Karl scheinbar leichthin, und wenn es auch der Wahrheit entsprach, so doch, wie fast jede bedachte Äußerung, nur der halben. Karl erwähnte nicht die bittere Enttäuschung, auch im dritten Überprüfungsverfahren wieder nicht als Reisekader der Universität bestätigt worden zu sein, was zum einen seinen Wirkungs- und Wahrnehmungskreis beträchtlich erweitert und ihn zum anderen vielleicht mit dem unsichtbaren Netz versöhnt hätte, in dessen Maschen er wiederum hängen geblieben war. Auch sprach Karl nicht von seiner zunehmenden Skepsis gegenüber der eigenen Forschungstätigkeit und nicht von der stillen Befürchtung, dass deren Zweck vor allem die intellektuelle Selbstbefriedigung sei. Und schließlich führte Karl auch keine privaten Gründe ins Feld, obgleich er diese durchaus nicht erfinden müsste. Seit er nämlich vor zwei Jahren einen mehrwöchigen dienstlichen Aufenthalt in einem ansonsten von gut fünfhundert Studentinnen bevölkerten Ausbildungslager für Zivilverteidigung dazu missbraucht hatte, mit gleich zwei Vertreterinnen dieser geballten Weiblichkeit eine ziemlich besoffene Nacht zu durchvögeln, empfand seine Frau gegenüber der Universität und den weit reichenden Verpflichtungen ihrer Mitarbeiter eine durchaus berechtigte Skepsis, wenn diese auch nur selten in unschönen Entladungen kulminierte. Karl hatte die Wesensveränderung, die seine Frau nach seiner Rückkehr aus dem Felde an ihm bemerkt haben wollte, damals sofort mit jener wilden Nacht in Zusammenhang gebracht und diesen Bezug auch reuevoll offengelegt. Allerdings war da nur von einem weiblichen Pendant die Rede gewesen sowie von der dominierenden Rolle des Alkohols, der schließlich seine Gegenwehr für einen schwachen Moment habe erlahmen lassen. Karl wies seine Frau sogar bei Gelegenheit von ferne auf ein schwarzhaariges Wesen hin, dessen Namen er längst vergessen oder eigentlich nie gekannt haben wollte. Was Karl nicht weiß: Beim Anblick der dunklen Locken im Stadtbild wechselt seine Frau (rotblond, sommersprossig und obendrein im Hinblick auf die sogenannten weiblichen Reize offenkundig benachteiligt) seitdem ohne Hast die Straßenseite, um – und das dürfte überraschen! – mit erhobenem Kopf recht dicht an deren Trägerin vorübergehen zu können. Wer erklärt uns die weibliche Psyche?!

Von Scheidung jedenfalls ist nie die Rede gewesen zwischen den Ammers, und wir dürfen Karl glauben, dass hinter diesem Vorfall nicht etwa die bewusste Absicht steckte, aus der Trägheit als unlebbar erkannter Strukturen auszubrechen. Wir formulieren dies deshalb mit einer gewissen Süffisanz, weil Karl kurz zuvor seine Dissertation verteidigt hatte, welche Die formalästhetische Funktion des Ausbruchs aus Partnerbeziehungen in der Gegenwartsliteratur zu ergründen suchte, was die ganze kleine Affäre in unseren Augen zu einem hübschen Bonmot aufwertet. Andererseits soll nicht verschwiegen werden, dass Karl durchaus angenehme Erinnerungen an jene Nacht bewahrt, ist er doch selbst in seiner eigenen Studentenzeit selten so freizügig zugange gewesen wie damals zwischen Zapfenstreich und Wecken. Und da das Gesetz der Dinge, die bestrebt sind, auf ihrem Zustand eintönig zu beharren, auch vor einer Ehe nicht haltmacht, verklärt er sich die Erinnerung mitunter gar ein wenig. Aber all das ist Karls Problem, und vielleicht ist es auch gar keins. Jedenfalls ging es Steinfeld nichts an, und da Karl die vierteljährliche Kündigungsfrist zum Semesterende einhielt, ergab sich kein Anlass für weitere Überredungsversuche.

Zudem war ja zu vermuten, dass man sich nicht ganz aus den Augen geriet. Natürlicherweise bestehen zwischen einem Verlag für Gegenwartsliteratur und einer literaturwissenschaftlichen Universitätssektion vielfältige Kontakte, zumal wenn es sich hierbei um bedeutende Kulturinseln einer nur mittelgroßen Industriestadt handelt. Karl setzte lediglich von der einen Insel zur anderen über, und die neuen Gestade waren gar nicht so neu, da beide Inseln ja letztlich vom Wasser desselben Gesellschaftsmeeres umspült werden und die Brandungswellen, von den mitunter heftigen West- und Ostböen getrieben, gleichmäßig an beide Ufer schlagen. Zudem boten verständigungsbereite Leuchtfeuer einen zwar nicht ungetrübten, doch immerhin möglichen Signalaustausch. So war sich Karl also sicher, auch künftig im selben Boot zu sitzen, wobei der Wechsel von der Insel- zur Boot-Metapher nicht unbedingt für seinen stimmigen Umgang mit poetischen Bildern spricht. Seinem Realitätssinn zugutehalten wollen wir jedoch, dass Karl dieses tosende Meer in seltenen Momenten durchaus als Sturm im Wasserglas begreift, was ihn dann auf eigentümlich heitere Weise betrübt.

3

Newtons erstes Grundgesetz der Mechanik besagt, dass jeder Körper so lange auf seinem Zustand beharrt, wie diesem keine anderen Kräfte entgegenwirken. Niemand wird das bestreiten, da es ja nur die Materie betrifft. Und kein Mensch, kein Geist, keine Gesellschaft wird sich diesen physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen glauben. Doch: Welche Naivität! – wie es zu zeigen gilt...

Wilhelm Georg Haderer, aus einem Manuskript um 1925

Ende Januar hat Karl an der Uni seinen letzten gehabt. In den Wochen zuvor gab es wenig zu tun. Der Unterricht war ausgelaufen; Prüfungen lagen am Ende dieses Semesters nicht an.

Bevor es dann mit dem Verlag ernst wurde, ließ sich noch ein mehrtägiger Familienaufenthalt im Vogtland einschieben. Karls Mutter hat dort nach ihrem stimmbandbedingten Ausscheiden aus der Schule ein Ferienheim der Volksbildung übernommen. Trotz der vermutlich großen Zahl erholungsbedürftiger Pädagogen kann sie ihren Lieben regelmäßig ein Plätzchen sichern, mitunter sogar in der Saison. Karl hat sich allerdings bis heute nicht recht mit dem in vielerlei Hinsicht beschwerlichen, auch unübersichtlichen Bergland anfreunden können. Geboren und aufgewachsen ist er im südlichen Mecklenburg, dort, wo es freien Blicks in die Altmark übergeht; sein Domizil in den Auenwiesen der Saale ist seiner Kindheit also durchaus nahe.

Inzwischen ist Karl schon gut vier Wochen im Lektorat, hat seine erste Gehaltszahlung skeptisch und schweigend zum bisherigen Standard in Beziehung gesetzt (obgleich nichts überraschend kam!) und sich dankbar an die Absicht seiner Frau erinnert, durch die Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit künftig die Familienkasse zu subventionieren. Auch das ist nun geklärt: Ab April kann sie im Kindergarten, in dem auch die beiden Söhne (dreieinhalb und fünf) untergekommen sind, anfangen. Dieser befindet sich unweit des Verlages, und so werden sie gemeinsam mit dem Auto fahren und die doch beträchtliche Entfernung ihrer Arbeitsplätze vom Haus in den Auenwiesen relativ ökonomisch bewältigen können. Die Übernahme besagten Grundstücks durch die Ammers hat sich erst im vorigen Frühjahr vollzogen von einer ins Altersheim übergesiedelten und Karl bis dahin fast unbekannten Großtante namens Wilhelmine Haderer, und es geschah kurzfristig und überraschend, wenn auch nicht unwillkommen.

Während Karl, flüchtig gewaschen und gekämmt sowie mit einem alten Trainingsanzug bekleidet, in der von einem Heizlüfter durchwärmten Küche sitzt und zum Frühstück ein letztes Stück Zuckerkuchen genießt, das ihm die Schwiegermutter gestern fürsorglich eingepackt hat, wollen wir kurz umreißen, was er inzwischen zu den örtlichen Gegebenheiten in Erfahrung hat bringen können. Das kleine Wohnhaus steht demnach auf dem Gelände einer ehemaligen Wassermühle, deren Gebäudereste heute als Nebengelass gelten, und ist vor dem ersten großen Krieg durch die Nachkommen der Wassermüller oder zumindest doch in deren Auftrag gebaut worden. Die erwähnte Großtante hat dann den letzten Spross dieser Mühlendynastie geheiratet. Dieser Wilhelm Georg Haderer galt als Spinner und Sonderling, der sich nach einigen nicht beendeten Studien selbst wohl sehr allgemein als Forscher bezeichnete. Als Philosoph des Alltags gar! Eine brotlose Profession, nur möglich auf dem allerdings schwindenden Polster des Familienvermögens. Eine bräunliche Fotografie zeigt ihn mit Nivelliergerät und Messlatte gummibestiefelt in den Auenwiesen herumstaksend, eine andere nur mit Knickerbocker und Strohhut bekleidet eine Botanisiertrommel füllend. Auf einer dritten bearbeitet er hemdsärmelig auf der provisorischen Veranda des Hauses eine riesige Triumph-Adler-Schreibmaschine. Außer diesen Bildern, die schlicht gerahmt in verschiedenen Räumen des Hauses zu finden sind, erinnern etliche Aktenordner mit nie veröffentlichten Manuskripten an den 1955 unter ungeklärten Umständen Verstorbenen. Er verschwand plötzlich im Mai jenes Jahres, und erst Anfang September zog man seine arg mitgenommene Leiche aus der nahen Saale. Er sei aber doch ein guter Schwimmer gewesen, hatte Tante Wilhelmine Karl gegenüber immer wieder versichert!

Der alten Dame war es in den langen Jahren ihrer einsamen und zurückgezogenen Existenz – die Ehe ist kinderlos geblieben – freilich nicht mehr gelungen, das Grundstück wie auch das Haus selbst in der besten Ordnung zu erhalten. Bestimmte Bereiche der Umgebung machten bei der Besichtigung, die nun gerade ein Jahr zurückliegt, einen ausgesprochen desolaten Eindruck, doch die Substanz ist gut, hatte die kleine gebückte Person mit ihrer merkwürdig tiefen Stimme mehrfach und glaubhaft versichert. Und Karl hat es nicht bereut, sich überzeugen zu lassen. Insgesamt ist es ihm und den Seinen in relativ kurzer Zeit und ohne großen Aufwand gelungen, in diesen x-mal vier Wänden heimisch zu werden. Die vielleicht sentimentale Bitte der Tante, jene fotografischen und verschriftlichten Erinnerungen an Wilhelm Georg wenigstens noch zu ihren Lebzeiten an den angestammten Orten zu belassen, stört dabei kaum.