Das Wässernachmännle - Michael Ludwig Winter - E-Book

Das Wässernachmännle E-Book

Michael Ludwig Winter

0,0

Beschreibung

Ludwig Flücke, ein junger Wanderer aus dem Rheinland, macht sich im Jahre 1822 auf, um die fränkischen Lande der nachnapoleonischen Zeit zu erwandern. Sein Vorhaben: Er möchte über Land und Leute, Schicksal und Werdegang der Franken ein Buch veröffentlichen, und will damit auf das Los dieses Stammes, der nun eher unfreiwillig dem Königreich Bayern zugeschlagen wurde, aufmerksam machen. Auf seiner Reise sammelt Flücke Ideen und Geschichten, ohne zu ahnen, daß er bald selbst Teil einer solchen Geschichte werden wird. Im mainfränkischen Wülflingen trifft er nämlich auf jene Sage, die ihn gefangennehmen und nicht mehr loslassen wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 183

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



meiner Familie gewidmet

,,Der geschichtliche, vor allem aber der heimatliche Bezug entschließt im Leser Aufmerksamkeit und Interesse. Wahrer Kern und erdichtetes Rankenwerk der Sage ermöglichen neben einer Erweiterung des heimatkundlichen Blickfeldes auch eine Aktivierung der gestaltenden Phantasie. Die Sagen lassen uns einen Blick in die Geschichte und in das Seelenleben des Volkes tun. Sie bieten einen Einblick in sein Fühlen und Denken und verraten uns etwas von seinen geheimsten Ängsten, Träumen, Hoffnungen und Vorstellungen. In ihnen erleben wir seine Furcht vor übernatürlichen Kräften und erfahren, wie sich durch die von ängstlichen Spannungen erregte Phantasie die Einsamkeit in Feld, Wald, Haus, Hof und Dunkelheit mit Gestalten und Wesen bevölkert, die sich dem Guten hilfreich erweisen, den Bösen, Spötter, Ungläubigen und Gesetzesübertreter aber grausam bestrafen. Wir erfahren aus der Sage, wie tief im ländlich-bäuerlichen Leben der Gerechtigkeitssinn verwurzelt ist, der den Frevler schon hier auf Erden schrecklich bestraft. Sagen sind ein Teil unserer Heimat; sie tradieren altes Kulturgut und sind somit Erbe unserer Vorfahren, das es zu bewahren gilt. Sie zeigen heidnisch-germanisches und christliches Glaubensgut, heimatgeschichtliche Ereignisse, Rechtsnormen und Rechtsbräuche, ländliches Brauchtum und altes Vorstellungs- und Gedankengut auf.”

(Unterfränkische Heimat – Beilage zum Amtlichen Schulanzeiger, Nr. 12. ,,Sagen aus Unterfranken”. Juli 1985)

Inhaltsverzeichnis

1. KAPITEL: Familie Leithold

2. KAPITEL: Der Wanderer vom Rhein

3. KAPITEL: Die Gastwirtstochter

4. KAPITEL: Ein Abend in der Gaststube

5. KAPITEL: Hermann Ensinger

6. KAPITEL: Eine märchenhafte Waldesnacht

7. KAPITEL: Der Schäfer und die Britin

8. KAPITEL: Kutschfahrt nach Theres

9. KAPITEL: In der Kammer des Klosterbruders

10. KAPITEL: Haßfurt

11. KAPITEL: ,,Das Stadtarchiv” oder ,,Wo einst Robert Pilgram waltete”

12. KAPITEL: Die Einladung

13. KAPITEL: Wendelin muss helfen!

14. KAPITEL: Ein unvergesslicher Abend

15. KAPITEL: Eine beunruhigende Neuheit

16. KAPITEL: Ausflüge

17. KAPITEL: Die Kutsche

18. KAPITEL: Wolkenbruch über Wülflingen

19. KAPITEL: Vom stillen Bächlein zum reißenden Strom

20. KAPITEL: Abschied

21. KAPITEL: ,,Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt”

1. KAPITEL

Familie Leithold

In weitem Bogen flog die Tür auf und die beiden Kinder stürmten aufgeregt ins Haus, wo sie sich, völlig außer Atem, in der Wohnstube einfanden. Die Eltern, die suppeschlürfend am Esstisch saßen, waren bis aufs Mark erschrocken und blickten entgeistert auf den hereingepolterten Nachwuchs. Zornig erhob sich schließlich der Vater und begann mit hochrotem Kopf zu schimpfen:

,,Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Wisst ihr eigentlich wie spät es ist? Schaut mal nach draußen, es ist bereits stockdunkel. Was meint ihr, wie besorgt eure Mutter und ich waren... Und nun kommt ihr ins Haus gestürmt, als wäre der Leibhaftige hinter euch her.”

Schnaufend standen die Brüder inmitten des Raumes und wagten kaum, dem aufgebrachten Vater ins Gesicht zu sehen. Der Ältere von ihnen fasste sich jedoch ein Herz und begann sich zögernd zu rechtfertigen:

,,Vater, es tut uns so leid. Aber bitte höre uns an. Es gibt nämlich einen Grund für unsere Verspätung.”

,,Ich hoffe für euch, daß eure Ausrede gut ist!”

Das zornende Familienoberhaupt legte seinen Löffel aus der Hand und trat vor die beiden Jungs, wo es, die Fäuste in seine Hüften stemmend, erwartend in ängstliche Mienen sah.

,,Wir... wir haben unten im Grund gespielt und nicht auf die Zeit geachtet. Und als wir...” Das sprechende Kind hielt zögernd inne und warf seinem Bruder einen verstohlenen Blick zu. ,,Und als wir uns auf den Heimweg machten, fanden wir das hier am Bach.”

Der Bub griff in seine Westentasche und zog eine faustgroße Kugel hervor, die rundum mit Brillanten besetzt war. Zwischen den einzelnen Steinchen umschlang ein glänzendes Gitter aus Gold das Schmuckstück, so fein gearbeitet, daß es nur aus der Hand eines Meisters stammen konnte. Erst stand der Vater sprachlos vor seinem Ältesten, der ihm mit ausgestreckten Arm die Kugel hinhielt. Dann aber geriet er erneut in Rage, riss ihm den vermeintlichen Fund aus der Rechten und geiferte wie wild:

,,Was um alles in der Welt habt ihr Strauchdiebe denn jetzt schon wieder angestellt? Woher habt ihr das? Sprecht!”

,,Aber wir schwören es, Vater. Es war genau so, wie ich gesagt habe.”

Nun fiel auch der jüngere Bruder in die Tirade mit ein:

,,Wir haben das wirklich unten am Bach gefunden. Da war...”

Der Ältere stieß ihm den Ellbogen in die Seite, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ihr Vater sah diese Aktion nicht, denn eben drehte er sich um und hielt seiner Frau, die aufhorchend am Tisch saß, wortlos die Kugel hin.

Diese sah ihrem Gatten tief und lange in die wütend dreinblickenden Augen. Ja, ihr Blick verriet alles, der Hausherr kannte ihn gut genug. Er bedeutete nämlich, daß man doch bitte gütig und vernünftig walten, also von einer argen Strafe absehen sollte. Auch diesmal zog es wieder. Der Vater wandte sich erneut seinen Kindern zu und sprach:

,,Also schön, ich glaube euch. Aber es hilft nichts, Bestrafung muss sein, ihr wärt ohnehin zu spät heimgekommen. Heute geht ihr ohne Abendessen ins Bett, macht euch fertig. - Und das hier.” Er hob das kostbare Schmuckstück hoch. ,,Das hier gebe ich morgen in der Stadt ab. Ich fahre in aller Frühe los nach Haßfurt und melde den Fund. Und ihr kommt mit und bestätigt eure Geschichte!”

Die karge Kartoffelsuppe, vor der der Vater wieder Platz nahm, um sie in leicht gebückter Haltung auszulöffeln, war inzwischen kalt geworden. Noch immer sah die Ehefrau milde lächelnd zu ihm hin, er aber gab, den Löffel in Mundhöhe haltend, einen lauten Stoßseufzer von sich. Er aß, und mit hochgezogenen Augenbrauen führte er das Essgerät erneut zum Teller.

2. KAPITEL

Der Wanderer vom Rhein

,,Nach Wülflingen ist es nicht mehr weit. Wenn Sie diesen Weg folgen, gelangen Sie zu einem Brückchen. Überqueren Sie es, so werden Sie bald eine Linkskurve erreichen. Nach dieser kommen ein paar Weiher und danach sehen Sie schon die ersten Häuser des Ortes.”

Die beiden Holzfäller standen mit ihrer Langsäge an einer stolzen Linde und blickten einen kleinen Hang vor sich hinab, zu dessen Füßen sich ein breiter Waldweg entlangzog. Auf dem Weg grüßte dankend mit erhobener Hand ein blonder Wanderer den zwei Waldarbeitern, wünschte ihnen einen schönen Tag und machte sich langsam wieder von dannen.

Durch die Blätter des Waldes drang blinkend ein lustiges Sonnenspiel. Der Wanderer genoss die kitzelnde Wärme, die der Mittsommer auf sein Gesicht zauberte. Er fing mit Augen und Geist ein, was Mutter Natur ihm zum Geschenk darbrachte. Die Wiese des Talgrundes, vom rauschenden Walde umrahmt, lachte ihm mit ihrem saftigen Grün entgegen.

,,Zu schade”, dachte er sich. ,,Wie gerne würde ich mich jetzt dort ins hohe Gras legen, sinnieren und den Herrgott einen guten Mann sein lassen.”

Wohlwissend aber, daß er noch ein Stück seines Weges vor sich hatte und der Tag bereits sehr vorangeschritten war, lief er weiter gen Wülflingen, laut seiner Karte die nächste Ortschaft. Lediglich an der kleinen Brücke wollte er eine kurze Rast machen. Er hängte seinen Tornister ans morsche Holzgeländer, besah sich das Bächlein und schöpfte mit beiden Händen das kühle Wasser, mit dem er sich das braungebrannte Gesicht wusch.

,,Erquickend... und äußerst wohlschmeckend.”

Man merkte dem Wandersmann an, daß es ihm eine Wohltat war, als er genussvoll das Wasser aus seinen Handflächen schlürfte. Die Müdigkeit schien ihm doch tiefer in den Knochen zu sitzen, als er wahrhaben wollte, denn er erwischte sich schon bald dabei, wie er eine Weile am Rande des Baches saß und aufs klare Wasser starrte.

,,Wie ruhig und idyllisch es hier ist.”

Noch während er diese Worte sagte, erschrak er über seinen Schlendrian, hastete auf, warf sich seine Tasche um und wanderte mit doppelt schnellem Schritte weiter, auf den Lippen ein fröhliches Pfeifen.

Der Tag neigte sich langsam seinem Abend entgegen, was für den jungen Burschen aber noch lange kein Grund war, sich die Gegend um ihn herum nicht genauestens zu betrachten. Nun war er schon so lange unterwegs und gar mancher Baum, manches Gebäude fand als Zeichnung und Studie Eingang in seinem Notizbüchlein. Die großartigsten Schilderungen über Natur und Leute hielt er darin fest. Das knorrigste Wurzelwerk entging nicht seinem wachen Auge. Und ja, auch wenn er es gerade etwas eiliger hatte, so nahm er sich doch noch die Zeit dazu, die Libelle zu studieren, die am Weiher auf einem Schilfblatt ruhte.

Schon bald sah er wirklich die ersten Häuser am Waldesende auftauchen. Er ließ die letzten Bäume hinter sich und trat in einen lieblichen Ort, der im Dämmerlicht der untergehenden Sonne den Wanderer willkommen hieß. Die Gärten gaben den allerherrlichsten Blumenduft preis, Bienen und Schmetterlinge labten sich glücklich an ihrem Betthupferl. In einem dieser Gärten wurde der Bursche eines besonders schönen Denkmals gewahr. Auf einer schmalen Bodenplatte ruhte ein klotzartiger Aufbau, flankiert von zwei halbrunden Säulen. Als Abschluss endete das Mal oben in einem Gesims, das aus einem schön gestalteten Profil bestand. Dieses zog sich um die drei Sichtseiten des Steins. Auf der Vorderseite las der Wanderer einen Sinnspruch, den er sich gleich in sein Büchlein notierte: ,,Blumen sind das Lächeln der Erde”.

Während er noch so am Zaun stand und das Denkmal inmitten der bunten Blütenpracht begutachtete, brach er sich eine Kornblume und heftete sie sich ans Revers.

Noch als er sich zum Weitergehen anschickte, konnte er kaum seinen Blick von diesem Gärtlein abwenden.

Es war schon dunkel, als er endlich vor jenem Haus stand, das ihm von Passanten empfohlen wurde. Die Fenster waren spärlich beleuchtet und einzelne Stimmen waren aus der Stube zu vernehmen. Über Tür und Fenstern war die Aufschrift ,,Zum goldenen Schwan” angebracht. Vor dem Gasthaus war auch wieder der Bach zu finden, der ihn schon in den letzten Stunden stetig begleitete und den Weg wies. An dieser Stelle war der Lauf schön eingefasst und um einiges breiter als teilweise noch im Walde. Noch vor der Tür konnte der müde Wandersgeselle laut und deutlich die Stimmen der Gäste darin vernehmen, doch kaum öffnete er sie und trat ein, verstummte alles. Wie man eben einen ,,Auswärtigen” beäugt, ließen die älteren Männer an den ersten Tischen den neuen Gast nicht aus den Augen, als er mit einem ,,Guten Abend” an ihnen vorbeilief und Kurs auf die Theke nahm, wo er den Gastwirt ausmachte. In gebeugter Haltung saßen die Alten vor ihrem Bierkrug, warfen Bemerkungen zu diesem Fremden in die Runde, manch einer paffte gar an seiner Pfeife, aber niemand wendete seinen Blick von ihm ab. Selbst das Schafkopfspiel am Stammtisch pausierte für einen Augenblick.

,,Guten Abend auch Ihnen, lieber Gastwirt. Ich komme von weither und suche Unterkunft und Bewirtung. Wo und wen ich in den letzten Tagen auch fragte, überall nannte man Ihr Haus und sagte, bei Herrn Parler komme man sicher unter. Erlauben Sie mir mich vorzustellen.

Meine Name ist Ludwig Flücke. Ich stamme vom schönen Rhein und habe es mir zum Ziel gesetzt, ganz Franken zu bereisen.”

Der Gastwirt blickte ertwas verdutzt um sich, als suche er in den Gesichtern der Alten Rat und Antwort. Besah man ihn so, bemerkte man gleich, daß ihn diese Situation unvorbereitet traf. Dieser Herr mittleren Alters sah nicht so aus, als wäre er fremden Gästen gegenüber nicht aufgetan. Eher wirkte er so, als hätte er lange keine mehr gesehen. Schließlich fasste sich der Gastwirt Parler aber schnell, sah dem Fremden vom Rhein in die Augen und antwortete:

,,Ich heiße Sie herzlich in meinem Hause willkommen, lieber Herr Flücke. Selbstverständlich habe ich ein Zimmer für Sie frei. Nehmen Sie doch bitte hier Platz und stärken Sie sich, Sie haben heute sicher eine gute Strecke Weges zurückgelegt. Ich lasse Ihnen gleich etwas kommen und werde dafür Sorge tragen, daß, solange Sie speisen, Ihr Zimmer hergerichtet werden wird.”

An seinem etwas verschmitzten Lächeln war sichtlich zu erkennen, daß Gastwirt Parler stolz auf seine Rede war – er hatte es also nicht verlernt. Auch schien sie so etwas wie ein Bannspruch gewesen zu sein, denn kaum endete er den letzten Satz und wies mit der Hand dem Gast einen Sitzplatz, setzte auch urplötzlich das Gespräch der umliegenden Tische wieder ein. Ludwig, der Wanderer vom Rheinland, nahm seinen ledernen Ranzen vom Rücken und setzte ihn behutsam, wie einen guten Kameraden, auf einen Stuhl. Dann sank er mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer auf den Platz daneben nieder.

Er blickte sich in der verrauchten, aber gemütlichen Wirtsstube um. Die Raumgestaltung war einfach und karg, nichts Besonderes. Und doch machte gerade dies die urige Eigentümlichkeit dieses dörflichen Umfeldes aus. Wäre er nicht so müde gewesen, hätte er sicher sein Büchlein hervorgeholt und die Räumlichkeit in all ihrer rustikalen Erscheinung skizziert. Aber, so wurde er sich schnell gewahr, es war dies ja nicht der einzige Abend, an dem er hier verkehren würde. Er hatte kaum noch die Eindrücke des vergangenen Tages verarbeitet, als er schon wieder Pläne für den kommenden schmied. Der Talgrund musste es wieder sein. Ja, er wollte sich unbedingt noch einmal dorthin begeben, am Bächlein sitzen, dem Spechte lauschen und zeichnen, schreiben und philosophieren.

Während er also in Gedanken schon wieder im nächsten Tag weilte, bemerkte er fast nicht, wie hinter der Theke die Küchentür aufging und eine junge Frau heraustrat, die in der einen Hand einen Teller mit dem dampfenden Mahl und in der anderen einen vollen Krug kühlen Bieres hielt. Sie steuerte den Tisch Ludwigs an, stellte beides vor ihm ab, und mit einem sagenhaften Augenaufschlag und dem lieblichen Wunsch ,,Lassen Sie sichs schmecken” war sie auch schon wieder verschwunden.

Der rheinländer Bursche sah dieser Schönheit vom Lande noch einen Augenblick hinterher, doch dann wanderte sein hungriger Blick zum Teller vor sich. Dieser malte ein köstliches Bild, wie es Ludwig selbst in seinem Büchlein wohl niemals zustande brächte: Zwei herrlich große Kartoffelklöße, ein Stück Schweinefleisch mit knuspriger Schwarte und dazu einen halben Berg an Kraut. Noch immer hallte das süße ,,Lassen Sie sichs schmecken” in seinem Ohr, und unter diesem Motto konnte das Festmahl beginnen. Während er so dasaß, in den Stuhl zurückgelehnt, Messer und Gabel aufrecht haltend, kaute und schlemmte, betrachtete er das wenige Inventar des Raumes noch einmal genauer. Über der Theke standen auf einem Querbalken allerhand Bocksbeutel und andere Flaschen. Der dunkle Holzbalken selbst war mit reichlicher Kunstfertigkeit bearbeitet. An Schnitzereien zeigte er Trauben, Weinlaub und zwei buntbemalte Wappen: Eines davon war weiß und rot geviertelt und ein goldener Hase prangte darauf. Das andere Wappen zeigte im unteren Feld drei weiße Zacken und im oberen einen roten Grund. Zwischen all der Zierde wurde mit einem lustigen Spruch des Frankens liebsten Getränk ein Loblied gesungen: ,,Alter Wein und junge Weiber sind die besten Zeitvertreiber”. Nun ja, Wein hatte er gerade nicht zur Hand, dafür aber erfrischenden Gerstensaft. So nahm er also den Krug, prostete dem Sprüchlein zu und nahm einen kräftigen Schluck.

Nach einer Weile kam auch wieder der Gastwirt zurück und nahm an Ludwigs Tisch Platz.

,,Na, da hat Elisabeth Ihnen aber etwas Feines kredenzt. Wie schmeckt Ihnen das Schäufele? Ich habe derweil Anweisung gegeben, Ihnen das Zimmer im obersten Stock herzurichten und mich davon überzeugt, daß alles gehandhabt wird. In einer halben Stunde können Sie es beziehen.”

Der Wirt kratzte sich etwas verlegen hinterm Ohr, sah seinen Gast lächelnd an und sprach weiter:

,,Ich möchte nicht aufdringlich sein und frage auch nicht gerne, aber Ihre Anwesenheit hat mich doch etwas neugierig gemacht, zumal Sie ja von weither kommen.

Was verschlägt Sie zu uns? Sie sehen ja nicht gerade wie ein Handwerker aus, der auf Walz geht.”

Während Ludwig noch einmal den Bierkrug ansetzte und mit lachenden Augen wieder auf den Tisch stellte, erwartete Gastwirt Parler mit erwartungsvollem Blick seine Antwort.

,,Wie ich schon erwähnte, bin ich ein Wanderer vom Rhein, der das schöne Frankenländchen durchstreift. Ich möchte Eindrücke und Ansichten von Land und Leute sammeln, da es mein Vorhaben ist, ein Buch darüber zu schreiben. Ich liebe diesen Landstrich sehr und hoffe, mit meiner Wanderung zu Erkenntnissen zu gelangen, die es mir ermöglichen, meinem Landsmann mit dem Buche ein Bild dessen aufzuzeigen, wie es um Landschaft, Stadtbild und Menschenschlag des fränkischen Landes steht.

Gerade die letzten zwei Jahrzehnte haben das Bild Frankens in den anderen Provinzen stark verwaschen.

Von einem eigenständigen Herzogtum hat man es auf kleine Bezirke eines bayerischen Königreichs herabgedrückt. Im restlichen deutschen Lande liest man nunmehr nur noch vom großen Bayern, Franken selbst ist längst aus den Zeitungen und Köpfen verschwunden. Das möchte ich unter anderem ändern."

Das volle und liebenswürdige Gesicht des Gastwirts wurde nun noch freundlicher, seine großen Augen glänzten und die runden roten Bäckchen erröteten noch mehr. Ludwig hatte ihm sichtlich das Frankenherz erwärmt.

"Herr Parler, Sie können sich glücklich schätzen, ein solch großartiges Haus führen zu dürfen.” Der Gast sah sich im Raume um. ,,Natürlich muss es harte Arbeit sein, doch ich sehe, daß Sie das mit einer liebenswürdigen Hingabe machen. Und ihr Werk trägt ja auch Früchte, denn Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Schon in Aschaffenburg vernahm ich einzelne Stimmen, die Ihr Gasthaus rühmten... Wissen Sie, auch ich könnte mir vorstellen, eines Tages Gastwirt zu werden. Ich würde mein Haus zu einer Herberge machen, in der alle Leute, gleich welcher Schicht, jedoch auch die großen Geister der Zeit Unterkunft finden. Gelehrte würden neben Bildhauer Platz nehmen und sich in reger Unterhaltung austauschen. Stellen Sie sich doch einmal vor, welch großartige Sachen entstehen könnten, wenn sich die Gedanken unterschiedlichster Couleur gegenseitig befruchten würden. Hach, das wäre ein Traum.”

Der Gastwirt schaute dem Wanderer mit einiger Bewunderung an. Dieser, eben noch die wunderbarsten Visionen gesponnen, kehrte aber rasch aus seinem Wolkenschloß und auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Er nahm den letzten Happen zu sich.

,,Und da Sie mich ja auch danach fragten.” Der satte Ludwig wies lachend auf seinen leeren Teller.

,,Dankeschön. Das Schäufele, so nennen Sie es hier wohl, war ausgezeichnet. Noch vor einer halben Stunden war ich sterbensmüde, nun aber bemerke ich, wie wieder sämtliche Lebensgeister zurückkehren.”

Gastwirt Parler fiel in Ludwigs Lachen mit ein und wollte eben einen neuen Satz beginnen, als eine stattliche Frau an den Tisch herantrat, einen Schlüssel ablegte und den Gast darauf hinwies, daß ihm ab sofort sein Zimmer bereitstehe.

,,Nun ja, dann will ich Sie mal nicht weiter belästigen.

Jedenfalls freut es mich sehr, daß Sie unser Haus aufsuchten und uns mit Ihrer Anwesenheit beehren. Ihr Zimmer finden Sie im dritten Stock. Einfach hier zur Gaststube raus und dann links die Treppe hoch. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.”

,,Ich danke Ihnen sehr, Herr Parler. Die Freude ist ganz meinerseits. Auch Ihnen eine gute Nacht.”

Ludwig schnappte sich den Tornister vom Stuhl daneben, nahm den Schlüssel zu sich und polterte die Stiege empor. Die Gaststube hatte sich im Laufe der letzten Stunde schon beträchtlich geleert. Nun schickte der Wirt auch die letzten Gäste nach Hause, schob die Münzen vom Tisch auf seine Handfläche und erlosch die Lichter.

Ein Licht wurde jedoch eben erst entzündet, und das befand sich im obersten Stock. Ludwig drehte das Rädchen der Lampe noch ein wenig weiter auf, um die Flamme anzufüttern.

Der einfache, blanke Holztisch, auf dem die Lampe stand, wurde vom müden Rheinländer kurzerhand zum Schreibtisch umfunktioniert. Er öffnete das Fenster darüber, das auf jener Seite der Straße und des Baches lag, stülpte seinen Rock über den Stuhl, nahm das Büchlein aus der Tasche und legte es unters flackernde Licht. Auf dem blauen Einband des Buches war in geschwungener Schrift zu lesen: ,,Denk- und Merkwürdigkeiten aus fränkischen Gauen -

Reisetagebuch 1822”.

Nun schnürte er seinen Ranzen auf, holte Tintenfass und Papier heraus und nahm damit Platz. Das Blatt blieb lange Zeit unbeschrieben, der Federkiel daneben unberührt, denn Ludwig saß regungslos und geschafft auf dem Stuhl und blickte träumend vor sich durchs offene Fenster in die nächtliche Dunkelheit. Er lauschte dem leisen Plätschern des Baches und ließ den Tag Revue passieren. Er vergegenwärtigte sich all das Gesehene und Erlebte, nahm viele Augenblicke noch einmal mit einem Schmunzeln wahr. Erst ein verirrtes Glühwürmchen, das sich für kurze Zeit am Fenster niedersetzte, riss ihn aus den Träumen und gab ihn den Ruck, die Feder endlich zur Hand zu nehmen. Während die Schwüle der warmen Sommernacht durchs offene Fenster ins Zimmer drang, begann er zu schreiben:

,,Liebster Herr Vater..." -

Es war bereits sehr spät, als im obersten Stock des ,,Goldenen Schwans” das Licht erlosch.

3. KAPITEL

Die Gastwirtstochter

,,Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt...”

Ludwig hatte bereits in aller Frühe das Gasthaus verlassen und fand sich schon bald wieder inmitten des Waldes, an seiner Seite der quirlige Bach, der das Wandern genauso zu lieben schien und rastlos seinen Weg ging - diesmal jedoch in die falsche Richtung, denn Ludwig hatte sich den Talgrund zum Ziel gesetzt und der lag entgegengesetzt des Stromlaufs. Später würde er wieder mit dem Wasser wandern, doch erst wollte er den Tag in den Wiesen und Auen zubringen. Schon bald erreichte er das Brückchen und dann begann sich auch schon mehr und mehr der Wald etwas zu lichten. In einiger Entfernung entdeckte der blonde Rheinländer am Wegesrand ein kleines Flurdenkmal, das ihm gestern in all der Eile anscheinend entgangen war. Die Darstellung war schon äußerst verwittert, ja fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, doch trotzdem entging dem Betrachter nicht, daß es sich um ein Bildnis der Krönung Mariens handelte. Ludwig holte Büchlein und Kohlestift hervor und begann, das Materl exakt aufs Papier wiederzugeben. Selbst die halb zugemooste Inschrift am Sockel wurde nicht vergessen.

Eine zeitlang war Ludwig in sein Studium des Bildstockes so vertieft, daß er alles um sich herum vergaß und sich sogar in die einstige Arbeit des Künstlers hineinversetzte: Er sah den Steinhauer regelrecht vor seinem geistigen Auge, wie er, allein Gott und Maria zur Ehre, in einem Unterstand Knüpfel und Meißel ansetzte und mit jedem Hieb seinem Werk die Form gab. Welcher Anlass, welche Motivation gingen seinem Schaffen voraus? War es gar eine Auftragsarbeit gewesen?