Das Weihnachtsalibi - Peter Swanson - E-Book
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Das Weihnachtsalibi E-Book

Peter Swanson

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Beschreibung

Ashley Smith, Studentin der Kunstgeschichte aus Sacramento, Kalifornien, wollte die Weihnachtstage während ihres Auslandsjahrs in London eigentlich allein verbringen. Erst die kurzfristige Einladung ihrer Kommilitonin Emma Chapman führt sie nach Starvewood Hall, dem Landsitz der Familie in Clevemoor in den Cotswolds. Ashley ist fasziniert von dem festlich geschmückten Herrenhaus, dem Feuer im Kamin, den vielen Gästen, dem guten Essen – und auch von Emmas attraktivem Bruder. Doch gegen Adam ermittelt die örtliche Polizei: Er soll ein Mädchen brutal ermordet haben. Außerdem treibt ein mysteriöser Fremder sein Unwesen in dem Wald zwischen Starvewood Hall und dem örtlichen Pub … Mehr als dreißig Jahre später werden die Ereignisse jener schrecklichen Festtage wieder aufgerollt: Was 1989 in einem kleinen englischen Dorf begann, findet viele Weihnachten später sein grausames Ende in New York.

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Peter Swanson

Das Weihnachtsalibi

Kriminalroman

Sepp Leeb

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Oktopus

Für zwei Tanten –

Pearl Taylor Moynihan,

die Weihnachten nicht mochte,

und für Sue Ellis Swasey,

die es auch nicht besonders mag

»Ich trage die Kette, die ich im Leben geschmiedet habe«, antwortete der Geist.

Charles Dickens, Eine Weihnachtsgeschichte

1

Da ich keine eigene Familie habe, laden michFreunde und Kollegen jedes Jahr an Weihnachten zu sich nach Hause ein. Ich lehne immer ab und gebe als Begründung für meine Absage an, dass ich keinerlei Probleme damit habe, eine Woche lang allein zu sein. Und meistens ist das auch so. Ich lese ein gutes Buch, sehe mir ein paar meiner Lieblingsfilme wieder an. Am ersten Weihnachtsfeiertag brate ich ein Hähnchen und esse es mit Kartoffelbrei und Rosenkohl. Auch meine Katze, Elspeth, bekommt etwas von dem Hähnchen und darf ausnahmsweise auf der Küchentheke sitzen. Am Nachmittag putze ich meistens meine Wohnung oder ordne meine Bücherregale neu. Manchmal, bei gutem Wetter, mache ich einen Spaziergang durch Manhattan und schaue, ob es irgendwo einen Film gibt, der interessant sein könnte.

Ich bin nicht völlig allein. In der Regel finden Howard, der Doorman, und ich Zeit für ein Glas Whisky, und oft schaut eine enge Freundin vorbei, die ebenfalls keine Familie hat. Die letzten zwei Jahre hat sie das allerdings nicht mehr getan.

Dieses Jahr ist der Weihnachtstag im Gefolge eines nassen, graupeligen Nordoststurms gekommen, der an den Fenstern meiner Wohnung rüttelt, weshalb ich nach meinem Brathähnchen den Spaziergang ausfallen lasse und meinen Schlafzimmerschrank in Angriff nehme. Ich habe das Glück, in einer Dreizimmerwohnung zu wohnen, und es ist mir ein wenig peinlich zuzugeben, dass ich das dritte Zimmer in einen begehbaren Kleiderschrank umgewandelt habe. Ich bin im Fundraising tätig und habe manchmal das Gefühl, die Hälfte meines Lebens auf Galadinners und Cocktailpartys zu verbringen. Deshalb brauche ich eine Menge Kleider und Schuhe.

Der Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer ist meine Ersatzrumpelkammer geworden, voller Schachteln mit Erinnerungsstücken aus meinen vergangenen Leben, lauter Krempel, den wegzuwerfen ich nicht übers Herz bringe, auch wenn er vollkommen nutzlos ist. Ich öffne vorsichtig die Tür und erwarte, dass mir eine Lawine aus Fotoalben und Erinnerungsstücken entgegenkommt. Wenn das keine New Yorker Schlagzeile wäre: Einsame, alleinstehende Frau am Weihnachtstag beim Ausmisten eines Schranks erschlagen – Katze überlebt dank der Reste eines Brathähnchens. Aber die Schachteln bleiben lange genug an ihrem Platz, um sie eine nach der anderen aus dem Schrank nehmen und auf den Boden stellen zu können. Mein Ziel ist, etwa ein Viertel von dem ganzen Krempel wegzuwerfen. Den Anfang mache ich mit einer Schachtel, die ich im Lauf meiner ersten Jahre in New York City zu füllen begonnen habe. Ich finde einen Packen Fotos, die eine Silvesterparty im East Village kumentieren (wert, behalten zu werden), und eine DVD-Box mit den Seinfeld-Staffeln eins und zwei, die auf der Stelle in den Müll wandert. Das wird einfacher, als ich gedacht habe.

Bis ich die Lampen in der Wohnung anmachen muss, habe ich fast alle Boxen durchgesehen und zwei kleine Müllsäcke gefüllt. Inzwischen habe ich mir die ältesten Schachteln vorgenommen, darunter eine, die nach Mottenkugeln riecht und die Handtasche meiner Großmutter enthält, und eine andere mit einer Puppe aus meiner Kindheit, die wegzuwerfen ich mich irgendwie sträube. Unter meiner Geburtsurkunde und meinen abgelaufenen Pässen stoße ich auf ein sofort als solches erkennbares Tagebuch mit weißem Moleskineinband und Lesebändchen. Ich nehme es heraus, setze mich, an das Bett gelehnt, auf den Perserteppich und beginne darin zu blättern, bis ich zu einem Eintrag vom Dezember 1989 komme. Vor genau dreißig Jahren. Ich beschließe, ihn zu lesen, auch wenn ich unschlüssig bin, ob ich in der Verfassung bin, mich in dieses schreckliche, dieses mörderische Jahr zurückzubegeben. Außerdem bin ich mir bewusst, dass ich nicht mehr zu lesen aufhören kann, wenn ich einmal begonnen habe.

Am Anfang steht ein berühmtes Zitat, die erste Zeile aus L.P. Hartleys Ein Sommer in Brandham Hall, einem Buch über das Erinnern (geht es nicht in jedem Buch ums Erinnern?). »Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, man macht die Dinge anders dort.« In meinem Fall ist die Vergangenheit tatsächlich ein fremdes Land. Und ja, man macht die Dinge sehr anders dort.

17. Dezember

Emma Chapman, die Kommilitonin, die aussieht wie ich, hat mich über Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen! Ich habe versucht, unbeeindruckt zu tun und fünf Sekunden zu zögern, als müsste ich erst noch überlegen, aber ich glaube nicht, dass ich ihr was vormachen konnte. Deshalb nahm ich ihre Einladung einfach an, und sie schien sich zu freuen. Sie sagte, dass auch ihre Eltern, diese Satansbrut, da sein würden; und ihr Zwillingsbruder, der ganz nett sein soll; außerdem eine Menge Freunde und Cousins. Aber nicht zu viele, meinte sie.

Ich weiß, dass ich dir von Emma erzählt habe, liebes Tagebuch. Kennengelernt hab ich sie in der Orientierungswoche. Trägt Kaschmir und Schmuck, der aussieht, als könnte ich mir so was nie im Leben leisten. Macht einen richtig noblen Eindruck – sagen zumindest andere Studenten. Wenn wir uns unterhalten, sage ich jedes Mal irgendwas Idiotisches, das mir danach endlos durch den Kopf geht, und dann hat sie mir mal erzählt, dass sie auf Stuart Montgomery steht, und ich dachte nicht mehr dran und bandelte mit ihm an und fühlte mich hinterher schrecklich. Mit anderen Worten, ich bin einfach davon ausgegangen, dass sie mich hasst wie die Pest. Sie war zwar immer nett zu mir, aber ich dachte, das wäre einfach die feine englische Art. Aber jetzt, wo sie mich über Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen hat, bin ich vielleicht, wer weiß, ihre beste Freundin. Haha.

Ich hab sie gefragt, wie groß ihr Haus ist, und sie meinte nur, keine Angst, ich bekäme ein Zimmer für mich allein.

Ich hatte so viele Fragen, aber sie hatte mich zwischen zwei Unterrichtsstunden angesprochen, und es war keine Zeit, sie zu stellen. Sie sagte, sie sei entzückt, dass ich zugesagt hatte, und sie wäre morgen Abend im Pub der Verbindung, und dort würde sie mir alles genauer erklären, wenn ich mich dort mit ihr träfe.

Ich bin BEGEISTERT (das richtige Wort wäre vermutlich entzückt), und obwohl ich mich damit abgefunden habe, an Weihnachten allein in London zu sein, und mich zum Teil sogar darauf gefreut habe, bin ich jetzt richtig froh, mit Leuten zusammen zu sein. Nervös aber auch. Wie werden ihre Eltern sein? Ist meine Kleidung hübsch genug? Werden sie erwarten, dass ich auf die Moorhuhnjagd mitkomme? Muss ich Geschenke mitbringen? Aber das werde ich wahrscheinlich alles morgen erfahren.

18. Dezember

Heute war kein guter Tag. Ich bin ziemlich sicher, dass ich meine Prüfung Britische Landschaftsmalerei vermasselt habe. Ich war total blockiert, und als ich hinterher im Lehrbuch nachgesehen habe, habe ich gemerkt, dass ich ein Turner-Gemälde Constable zugeschrieben habe. So viel dazu. Als ich am Nachmittag in meine Wohnung zurückkam, hatte Jody das ganze Frühstücksgeschirr auf dem Tisch stehen gelassen. Ich überlegte, ob ich es in ihr Zimmer bringen sollte, tat es dann aber doch nicht. In zwei Tagen ist sie weg, und ich werde sie nie mehr sehen. Wozu also der Aufstand? Trotzdem hat es mir die Stimmung vermiest.

Dann ging ich in der Erwartung, dort Emma zu treffen, ins Pub und dachte, wenn mich etwas aufheitert, dann das. Ich konnte es kaum erwarten, mehr über unser gemeinsames Weihnachten zu erfahren. Aber ich saß eine Stunde allein an einem Tisch, und sie tauchte nicht auf. Ich wollte gerade gehen, als Tom, der Junge aus Florida, der immer eine Baseballkappe aufhat, hereinkam und wir was miteinander tranken. Ich erzählte ihm, dass ich in den Weihnachtsferien nicht nach Amerika fliege, und als er mich ständig fragte, warum, erzählte ich ihm, vielleicht auch, weil ich schon sechs Ciders intus hatte, dass meine Mutter tot ist und ich nicht weiß, wer mein Vater ist, sodass ich praktisch eine Waise bin. Eigentlich wollte ich ihm das gar nicht erzählen, weil ich dachte, er würde dann voll auf die Mitleidstour machen, und das konnte ich in diesem Moment überhaupt nicht haben, aber wie sich herausstellte, war er nicht sonderlich feinfühlig, was meinen Waisenstatus anging, und sagte nur etwas wie: Hast du denn keine Freunde? Ich erzählte ihm, dass ich natürlich Freunde habe, und dachte dabei an Michelle, die allerdings gerade so verliebt in ihren Freund ist, dass ich kaum mehr was von ihr höre (WAAH!).

Ich ließ mich von Tom nach Hause begleiten, und er kam auf diese Party im September zu sprechen, als wir miteinander rumgemacht haben, und ich habe gesagt, dass ich seitdem deutlich erwachsener geworden bin. Haha, hat er nur gesagt und versucht, mich trotzdem zu küssen, aber mir war, ehrlich gesagt, nicht danach. Ich kann mich noch ziemlich gut erinnern, wie wir miteinander rumgeknutscht haben, und es waren nicht gerade schöne Erinnerungen (zum einen hat er ständig an nem Hals rumgeleckt, und sein Hemd hat gerochen). Ich ging in meine Wohnung hoch, wo ich Jody mit diesem Prof aus ihrem Seminar vögeln hören konnte, und ich trampelte, so laut ich konnte, in die Küche und aß einen Teller übrig gebliebenen Kartoffelbrei. Das Geschirr, das sie auf dem Tisch stehen gelassen hatte, spülte ich zwar nicht, aber ich stellte es zähneknirschend in die Spüle, um es in warmem Wasser einzuweichen. Dann ging ich ins Bett und schrieb dir, liebes Tagebuch.

19. Dezember

Inzwischen ist es hell geworden, und ich liege immer noch im Bett. Heute habe ich nichts anderes zu tun, als das Referat über die Kunst der Weimarer Republik abzugeben, das ich bereits geschrieben habe, und mich dann mit meiner Tutorin Nicola zu treffen. Mir kam schon der Gedanke, dass ich mich auf die Suche nach Emma machen könnte – da ich ziemlich sicher bin, dass sie heute im Somerset House ihre letzte Prüfung hat, könnte ich mich ein bisschen vor dem Eingang rumtreiben und hoffen, ihr über den Weg zu laufen. Aber vielleicht hat sie es sich anders überlegt und will auf einmal nicht mehr, dass ich an Weihnachten zu ihr nach Hause komme, und wenn dem so ist, dann wäre das für uns beide ziemlich unangenehm. Ich habe mich bereits darauf eingestellt, über die Feiertage allein in London zu bleiben, und jetzt muss ich mich eben wieder damit abfinden. Ich werde in alle Museen gehen, in denen ich noch nicht war, und tun, was Studenten in so einer Situation eben tun, und ins Theater gehen. Und wenn es nicht zu kalt ist, werde ich wieder mit dem Laufen beginnen. Michelle hat mir prophezeit, ich würde in London zehn Kilo zunehmen, und ehrlich gesagt, hat sie damit gar nicht so falschgelegen. Weniger Cider, keine Kartoffeln mehr und dafür mehr Sport! Wieder ins Leighton House gehen und diesmal besser aufpassen. Wieder in diesem indischen Restaurant mit den blauen Wänden essen.

Und, wer weiß, schon einen Teil der Aufgaben für das nächste Semester machen. Das wäre super. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass es das Beste ist, wenn ich an Weihnachten allein bin. Es wird mir guttun.

 

Tja, ich bin zurück, und ich bin nur leicht angetrunken, und ich habe den ganzen Abend mit Emma verbracht, und ich werde nicht nur ins Haus ihrer Eltern in den Cotswolds mit ihr fahren!!! Ich werde schon morgen fahren!

Nach dem Treffen mit Nicola, die mir versichert hat, dass ich die Britische Landschaftsmalerei keineswegs vermasselt habe, ging ich direkt ins Dragon, das natürlich gerammelt voll war, weil es der letzte Tag des Semesters war. Debbie und Tom und die andere Amerikanerin, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, waren da, und ich trank was mit ihnen, und dann sah ich Emma an der Bar und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, aber sie drehte sich um und sah mich und kam auf mich zugestürmt, um sich zu entschuldigen, dass sie es gestern Abend nicht mehr geschafft hatte und dass sie erst dann gemerkt hatte, dass sie meine Nummer gar nicht hatte.

Langer Rede kurzer Sinn, sie sagte, es sei bereits alles vorbereitet, dass ich bei ihnen bleiben könnte, aber sie könnte mir keine Mitfahrgelegenheit bieten. Es war ihr, glaube ich, furchtbar peinlich, aber ihr Bruder wollte noch diesen Abend mit ihr nach Hause fahren – er lebt auch in London –, und sie hätte mich gern mitgenommen, aber mein Zimmer war noch nicht fertig, und ihre »Mummy« hatte bestimmt, keine Besucher bis Mittwoch und so weiter und so fort, und ob es mir was ausmachte, den Zug zu nehmen, und sie würde mich am Bahnhof abholen. Ich sagte, ich würde sogar gern mit dem Zug fahren, und sie umarmte mich und ließ sich meine Nummer von mir geben und versprach mir, mich am Morgen anzurufen und mir die Abfahrtszeiten des Zugs und sonst alles durchzugeben. Ich bombardierte sie mit Fragen, was ich anziehen und was ich mitbringen sollte, worauf sie nur lachte und sagte, ich sollte tragen, was ich wollte, und auf keinen Fall irgendwas mitbringen, was auch nicht gerade hilfreich war. Dann legte sie mir die Hand an die Wange und schaute mir tief in die Augen und sagte, wie sehr sie sich freute, dass ich an Weihnachten zu ihnen kam, und da merkte ich, dass auch sie ziemlich betrunken war.

Hoffentlich ruft sie morgen tatsächlich an.

20. Dezember

Ich sitze im Zug nach Clevemoor! Er ist noch nicht losgefahren, weshalb ich noch in der Paddington Station bin, aber ich kann kaum glauben, dass ich Weihnachten tatsächlich auf einem englischen Landsitz verbringen werde! Es hört sich an wie der Beginn eines Liebesromans oder vielleicht auch eines Krimis. Beides ist viel besser, als in London zu bleiben und immer einsamer und deprimierter zu werden.

Am Morgen hat mich Emma angerufen und gesagt, dass sie aus Starvewood Hall anruft, und als ich darauf gesagt habe: Was, euer Haus hat einen Namen!, hat sie nur gelacht und mir erklärt, dass auf dem Land die meisten Häuser einen Namen haben und ich mich davon bloß nicht einschüchtern lassen soll. Sie hatte sich nach den Abfahrtzeiten meiner Züge erkundigt und herausgefunden, dass um 13.35 Uhr einer von Paddington geht, bei dem ich nicht umsteigen muss. Sie sagte, sie würde mich entweder selbst abholen oder ihren Bruder schicken. Ich fragte sie noch mal, was ich mitbringen sollte, und sie sagte, nichts. Trotzdem bin ich heute Morgen zu einem hektischen Einkaufsbummel aufgebrochen, bei dem ich zwei Strumpfhosen, einen weißen Zopfmusterpullover, ein Stirnband, das nicht riecht, als hätte ich es zwei Monate getragen, und etwas Unterwäsche gekauft – man kann ja nie wissen. Dann kaufte ich in einem Body Shop Fußcremes und Körperlotionen für Emma und vielleicht ihre Mutter, aber dann bekam ich wegen ihres Vaters und ihres Bruders Panik und landete in einem Spirituosenladen, wo ich praktisch mein letztes Geld für eine Flasche Scotch, die der Verkäufer als geschenktauglich bezeichnete, und eine Flasche Portwein ausgab, die ein schönes Etikett hatte.

Meine Reisetasche ist eine Tonne schwer, und ich sitze im Zug, der sich inzwischen tatsächlich in Bewegung setzt hat. Sieht man von der U-Bahn ab, bin ich noch nie mit dem Zug gefahren, seit ich in England bin, und ich erwartete eines dieser Abteile mit einer Glastür, in dem alle rauchen. Aber jetzt sitze ich, entgegen der Fahrtrichtung, auf einer zweisitzigen Bank, und der Mann neben mir riecht nach Zwiebelsuppe. Der Stoffbezug der Sitze hat ein verrücktes Blau-und-Gold-Muster. Der Zwiebelsuppenmann ist, seine Schulter an meine gelehnt, eingeschlafen.

Der Zug hat das Londoner Stadtgebiet verlassen. Am Himmel ist zwar kein Blau zu sehen, aber es regnet oder schneit auch nicht, und vor fünf Minuten habe ich am Hang eines Hügels eine Schafherde gesehen. Ich kann kaum glauben, dass das jetzt mein Leben ist. Vor einem Jahr war ich in Kalifornien, wahrscheinlich schon auf dem Sprung, den Bus zu meiner Cousine in Carbondale zu nehmen, voller Selbstmitleid und mit dem Gefühl, dass sich mein Leben nie ändern wird. Aber es hat sich geändert, und jetzt sitze ich in diesem Zug, und Emma hat gesagt, ich sollte mindestens eine Woche bleiben und dass es dort ein schnuckliges Pub gibt, das von ihrem Haus zu Fuß zu erreichen ist, und dass zumindest einer ihrer Cousins halbwegs vorzeigbar ist. Ich fragte sie, was sie dort die ganze Woche lang tun würden, und Emma meinte, sie würden den ganzen Tag lesen oder spazieren gehen. Sie drückte es aber witziger aus, etwa so: Ach, wir faulenzen, werden dick, gehen ans Ende des Gartens und wieder zurück und fangen schon beim Mittagessen zu trinken an.