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Neun Personen aus ganz Amerika erhalten einen Brief ohne Absender: eine Liste mit neun Namen, inklusive dem eigenen. Mehr nicht. Die Empfänger kennen einander nicht, sind sich nie begegnet. Wohnort, Beruf, Alter – nichts scheint sie zu verbinden. So verschieden wie ihre Leben sind ihre Reaktionen. Caroline, Englischprofessorin aus Michigan, fühlt sich an eine Todesliste wie aus einem Krimi erinnert, Arthur, Krankenpfleger aus Massachusetts, hält den Brief für falsch adressierte Werbung, Ethan, Singer-Songwriter aus Texas, wird von der Liste zu einem Song inspiriert. Und dann sterben sie, einer nach dem anderen. Der pensionierte Barbesitzer Frank ertrinkt am Strand einer Kleinstadt in Maine, der Familienvater Matthew wird in Massachusetts beim Joggen erschossen, Arthur stirbt im Schlaf an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Auch der Name von FBI-Agentin Jessica Winslow steht auf der Liste. Zusammen mit Detective Sam Hamilton versucht sie fieberhaft, das geheimnisvolle Muster zu erkennen – und so den perfiden, tödlichen Plan zu durchkreuzen.
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Seitenzahl: 360
Peter Swanson
Neun Leben
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Fred Kinzel
Oktopus
Für John Merrill Swanson
Gebrochene, Leidgeprüfte,
ohne ein Licht im Dunkel,
dreiundachtzig,
früher oder später,
Gerechte
recht viel, denn fünfunddreißig,
sollte es die Mühe des Verstehens kosten,
drei,
Bemitleidenswerte
neunundneunzig,
Sterbliche
hundert auf hundert.
Eine Zahl, die sich vorerst nicht ändert.
Wisława Szymborska,
»Beitrag zur Statistik«
MATTHEWBEAUMONT – von seinem komplizierten Familienleben gestresster Vater aus einer Wohnsiedlung in Dartford, Massachusetts
JAYCOATES – aufstrebender Schauspieler in Los Angeles, Kalifornien
ETHANDART – Singer-Songwriter aus Austin, Texas
CAROLINEGEDDES – Englischprofessorin an der University of Michigan, lebt mit zwei Katzen in Ann Arbor
FRANKHOPKINS – alteingesessener Bewohner von Kennewick Maine, Besitzer des Windward Resorts
ALISONHORNE – lebt zurzeit von der Großzügigkeit eines verheirateten Mannes in New York City
ARTHURKRUSE – Onkologie-Krankenpfleger aus Northampton, Massachusetts, der um seinen Ehemann trauert
JACKRADEBAUGH – frisch geschiedener Geschäftsmann im Ruhestand, der zurück in das Haus in West Hartford, Connecticut gezogen ist, in dem er aufwuchs
JESSICAWINSLOW – FBI-Agentin in der Außenstelle Albany, New York
Matthew Beaumont
Jay Coates
Ethan Dart
Caroline Geddes
Frank Hopkins
Alison Horne
Arthur Kruse
Jack Radebaugh
Jessica Winslow
Mittwoch, 14. September, 17:13 Uhr
Jonathan Grant besuchte sie immer mittwochabends, es sei denn, er sagte vorab Bescheid, dass er es nicht schaffen werde. Seine Frau hatte mittwochs einen stehenden »Mädels-Abend« – gelegentlich in der City, aber meist in New Jersey – also verließ Jonathan das Büro vor fünf und war spätestens um halb sechs in Alisons Zwei-Zimmer-Wohnung in Gramercy Park.
Alison Horne war bereit, als der Portier ihr Bescheid gab, dass Jonathan auf dem Weg sei.
Sie empfing ihn an der Tür, und er überreichte ihr eine Flasche Sancerre, ein Halstuch von Bulgari, das sie wahrscheinlich nie tragen würde, und die Post des Tages, die er sich vom Portier hatte geben lassen. Sie begann, die Post durchzusehen, aber er hielt sie davon ab und führte sie zum Schlafzimmer. Sie trug einen weißen Satinmorgenrock – er mochte es, so begrüßt zu werden – und schlüpfte in ihr Bett, während er sich auszog. Er sah großartig aus für einen Mann Anfang siebzig, volles Haar, sehr gepflegt, aber die Muskeln an Brust und Armen schon ein wenig schlaff. Er schlüpfte neben ihr ins Bett, bereits erregt und mit der rotfleckigen Haut im Gesicht und am Hals, die verriet, dass er unmittelbar nach Verlassen des Büros eine erektionsfördernde Pille genommen hatte. Manchmal nahm er sie erst nach seiner Ankunft, und in diesem Fall tranken sie zuerst die Flasche Wein, während die Tablette ihre Wirkung entfaltete.
Hinterher, während Jonathan döste, duschte Alison zum zweiten Mal an diesem Tag, dann kleidete sie sich an, als würden sie später essen gehen, wenngleich das noch nicht bestätigt war. Sie öffnete den Wein und schenkte sich ein Glas ein, dann sah sie ihre Post durch. Zwei Kataloge, eine American-Express-Rechnung und ein Kuvert ohne Absender. Sie öffnete es, da sie neugierig war, zog ein einzelnes gefaltetes Blatt Papier heraus und blickte auf eine Liste mit Namen.
Matthew Beaumont
Jay Coates
Ethan Dart
Caroline Geddes
Frank Hopkins
Alison Horne
Arthur Kruse
Jack Radebaugh
Jessica Winslow
Sie runzelte die Stirn und strich das Blatt Papier auf dem Kaffeetisch glatt. Sie würde es Jonathan zeigen. Ein Schauder überlief sie, und sie schüttelte sich. Es hatte etwas unbestimmt Bedrohliches, eine Liste mit Namen ohne weitere Erklärung zu erhalten. Ihr kam der Gedanke, es könnte sehr gut etwas mit Jonathan zu tun haben, der gerade in ihrem Schlafzimmer döste. Obwohl sie relativ wenig über ihn wusste, wenn man bedachte, wie viel Zeit sie miteinander verbrachten, so wusste sie doch, dass er sehr viel Geld hatte. Und Leute, die Geld haben, haben in der Regel Feinde, und das führte sie zu der Frage, ob er irgendwelche Namen auf der Liste kannte, abgesehen von ihrem eigenen.
Er kam vollständig bekleidet aus dem Bad, ließ sich ein Glas Wein geben und sah sich dann das Blatt Papier an, das ihm Alison hinhielt. »Kannst du was damit anfangen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Was ist das?«
»Ich habe es eben mit der Post bekommen.«
»War das alles?«
»Ja. Merkwürdig, oder?«
»Ja, merkwürdig.«
Er gab Alison die Liste zurück. »Gehen wir essen?«, fragte sie.
»Das würde ich gern, aber ich bin für heute Abend schon mit ein paar Hedgefonds-Typen verabredet, und das kann ich nicht absagen. Tut mir leid, Al.«
Sie zuckte mit den Achseln. Zu Beginn ihrer Beziehung vor eineinhalb Jahren hatte sie immer ein Theater gemacht, wenn er sie verlassen musste. Sie hatte es hauptsächlich seinetwegen getan, bis ihr klar geworden war, dass er solche Versicherungen nicht brauchte. Es ging ihm um den Sex und um ihre Gesellschaft, und ihr ging es um das Geld und wohl auch um den Sex, nahm sie an. Bevor er ging, gab er ihr eine Visakarte und sagte, das sei ein Geschenk zu ihrem Jubiläum, falls ihr das Halstuch nicht gefalle.
»Wie viel ist drauf?«, fragte sie. Auch das war etwas, was sie zu Beginn ihres Zusammenseins niemals gefragt hätte.
»Lass dich überraschen. Aber versuch nicht, ein Auto damit zu kaufen.«
Nachdem er gegangen war, rief Alison ihren besten Freund Doug an und fragte ihn, ob er Lust hätte, mit ihr zu Abend zu essen. Auf ihre Rechnung.
Donnerstag, 15. September, 10:05 Uhr
Es war das interessanteste Kuvert, das Arthur Kruse nach seiner Rückkehr von der Physiotherapie an diesem Morgen in der Post vorfand.
Er öffnete es, ohne etwas Bemerkenswertes zu erwarten, und entdeckte zu seiner Überraschung eine kurze Liste mit Namen, darunter sein eigener. Er kannte niemanden von den anderen Leuten auf der Liste.
Es blieben noch drei Stunden Zeit, ehe Arthur zu seiner Schicht als Pfleger in der onkologischen Abteilung des Cooley Dickinson Hospital in Northampton erwartet wurde. Er hatte gerade mit der Lektüre von A World Lit Only by Fire von William Manchester begonnen. Nachdem er im Sommer Der ferne Spiegel gelesen hatte, hatte er festgestellt, dass er das Mittelalter nicht verlassen wollte. Etwas an dem damaligen Leben, das unaufhörliche Leid, die Suche nach Gott, diente wie nichts anderes als Balsam für Arthurs Seelenzustand seit dem Autounfall vor fast einem Jahr, der das Leben seines Ehemanns Richard und ihres Cockerspaniels Misty sowie einen Großteil der Funktionsfähigkeit von Arthurs linkem Bein gefordert hatte. Er konnte nicht glauben, dass es schon ein Jahr her war. Joan, Arthurs Seelsorgerin – und seine engste Freundin –, hatte gesagt, es werde wenigstens zwei Jahre dauern, bis er etwas wie Normalität, Glück, eine Rückkehr zu seinem alten Leben empfinden würde, aber Arthur war sich nicht so sicher. Das vergangene Jahr fühlte sich an, als würde es sich von nun an einfach endlos wiederholen. Nichts half. Obwohl, das stimmte nicht ganz. Geschichte des Mittelalters half. Er ließ sich vorsichtig in seinem Lesesessel nieder und blätterte zu der Stelle, wo er in Manchesters Buch – das nicht annährend so gut wie Tuchmans war – aufgehört hatte. Er las zwei Seiten, dann döste er weg und wachte eine Stunde, bevor er im Krankenhaus sein musste, wieder auf.
Sein Bein war nach einem Mittagsschlaf immer am schlimmsten, und er humpelte auf dem Weg in die Küche, um Wasser für eine Tasse Tee aufzusetzen. Während er darauf wartete, dass es kochte, schaute er aus dem Fenster über der Spüle und erhaschte einen Blick auf den Fuchs, den er Reynard getauft hatte und der am Rand des Grundstücks entlangstreifte. Er bewegte sich schnell, und kurz bevor er zwischen den Bäumen verschwand, wandte er den Kopf, und Arthur glaubte, etwas – eine kleine Ratte vielleicht – in seinem Maul zu erkennen. Unerklärlicherweise machte es Arthur für einen Moment glücklich. Als er Reynard das letzte Mal gesehen hatte, war er besorgt gewesen, wie mager und zerzaust er aussah.
Der Himmel war bewölkt, und die Weide unten am Bach zeigte eine erst gelbliche Färbung. Er trank den Tee an seinem Computer und dachte an die Liste, die er mit der Post erhalten hatte. Was hatte sie zu bedeuten? Ein sonderbarer automatischer Postversand, ein Computer, der irgendwo in der Mitte des Landes Mist baute und wahllos Namen verschickte? Es war eine Möglichkeit. Seit Richards Tod war er dazu übergegangen, kleinere Geldsummen an eine Vielzahl von wohltätigen Organisationen zu spenden, womit er sicherstellte, dass sein Name auf ungefähr hundert Mailinglisten stand, wahrscheinlich mit dem Vermerk »leicht zu überzeugen«. Das war in Ordnung. Es gab Schlimmeres, und Post zu bekommen war tatsächlich etwas, worauf er sich freute. Er war eins dieser Kinder gewesen, die Kataloge bestellten, einfach um sie zu erhalten, bis sein Vater dahintergekommen war und dem Ganzen ein Ende gemacht hatte.
Er trank seinen Tee aus, schrieb Joan eine E-Mail, dass er sich um den Blumenschmuck für den Sonntagsgottesdienst kümmern könne, und machte sich fertig, zur Arbeit zu fahren.
Donnerstag, 15. September, 11:00 Uhr
Ethan Dart hörte die Post durch den Schlitz in seiner Wohnungstür fallen. Er entdeckte das geheimnisvoll aussehende Kuvert sofort und öffnete es auf der Stelle, da er hoffte, es könnte eine Rückmeldung von einer Agentur sein. Er hatte kürzlich eine Phase beispielloser Produktivität gehabt und seine Demotapes an rund ein Dutzend Agenten verschickt, die Songwriter vertraten. Er wusste, es war ein Schuss ins Blaue, dachte aber, es könnte nicht schaden. Der Inhalt des Kuverts (das in New York abgestempelt war, und das war vielversprechend) bestand lediglich aus einem einzelnen Blatt Papier und einer Liste mit Namen, neun insgesamt, darunter sein eigener. Er fragte sich, ob sie ihm versehentlich zugeschickt worden war, möglicherweise, weil er es auf eine Art Shortlist von Interpreten geschafft hatte, die vertreten werden sollten.
Ethan ging mit der Liste plus seiner Kaffeetasse ins Schlafzimmer zurück und fuhr seinen Laptop hoch. Er gab den ersten Namen der Liste – Matthew Beaumont – zusammen mit »Songwriter« ein, um die Ergebnisse einzugrenzen. Nichts tauchte auf, zumindest nichts, was darauf schließen ließ, dass Matthew Beaumont ebenfalls ein Songwriter war, der eine Agentur suchte. Er probierte einige andere Namen, aber verlor bald das Interesse. Es war eindeutig keine Liste weiterer Songwriter oder Künstler. Es brachte ihn jedoch auf die Idee zu einem Song, mit einem Refrain von der Art wie: »Ich will der letzte Mann auf deiner Liste sein.« Er griff nach einem Stift, drehte das Blatt Papier um und fing an, den Text für einen Countrysong niederzuschreiben. Sein war ein großartiges Reimwort – so viele Möglichkeiten – und ein beschissenes zugleich, weil diese Möglichkeiten alle viel zu erwartbar waren. Fein, dein, Sonnenschein. Trotzdem schrieb er drei Strophen und hörte sogar schon Grundzüge der Melodie im Kopf. Er holte sich eine neue Tasse Kaffee und seine Gitarre, und nachdem er die erste Pfeife Gras des Tages geraucht hatte, begann er, sie auszuarbeiten.
Er dachte erst am Abend wieder an die Namensliste, als er an der Bar im Casino el Camino in der 6th Street in Austin hockte und nach einem originellen Gesprächsbeitrag für Hannah Scharfenberg suchte, die seit einer Stunde neben ihm saß.
»Ich habe heute eine Liste mit der Post bekommen. Acht Namen, die ich nicht kannte, plus meiner.«
»Was soll das heißen?«
Ethan trank einen schaumreichen Schluck von seiner frisch geöffneten Flasche Lone Star. »Genau das, was ich gesagt habe. Ich habe ein an mich adressiertes Kuvert bekommen. Es enthielt eine Liste mit neun getippten Namen in alphabetischer Reihenfolge. Und einer davon war meiner.«
»Getippt? Mit Schreibmaschine?«
»Nein, ich meine, nicht handgeschrieben. Sie waren ausgedruckt. Von einem Computer.«
»Seltsam.«
»Finde ich auch. Das Gute daran war, dass ich einen Song daraus gemacht habe. ›Der letzte Mann auf deiner Liste.‹ Hab das ganze Ding in ungefähr einer Stunde geschrieben. So eine Art Eric-Church-Geschichte.«
Hannah, eine Apothekerin und glühender Longhorns-Fan, war nicht allzu interessiert an Ethans Hoffnungen und Träumen von einer Songwriter-Karriere, und er sah, wie ihr Blick bei der Erwähnung seines Songs glasig wurde. Er spendierte ihr und sich einen Bourbon und überredete sie dann dazu, sie nach Hause begleiten zu dürfen. Ashley, ihre Mitbewohnerin, besuchte gerade ihre Eltern in Dallas, deshalb bat Hannah ihn herein. Sie rauchten etwas, dann schauten sie die Hälfte der Royal Tenenbaums, bevor sie auf der Futon-Couch vögelten.
»Wir müssen damit aufhören«, sagte Hannah, als sie mit nichts als einem ihrer alten Softball-Trikots bekleidet aus dem Bad kam.
»Warum?«
»Weil du mit Ashley zusammen bist. Und ich wohne mit ihr zusammen.«
»Unsere Beziehung ist nicht exklusiv, zumindest sagt sie das immer.«
»Nein, aber sie ist meine Mitbewohnerin, und wenn sie es herausfindet, wird das Leben hier sehr unschön werden.«
»Ich glaube, ich mag dich lieber als sie.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Für mich schon.«
»Dinge, die für dich wichtig sind, sind es für niemanden sonst, verlass dich drauf. Das musst du erst noch lernen.«
Er überredete Hannah, ihn bei sich schlafen zu lassen. Das war, nachdem er ein Käseomelette für sie beide gemacht hatte, das sie an dem Resopal-Tisch in der Küche aßen. In Hannahs Bett, das im Grunde eine Matratze auf dem Boden war, alberten sie noch ein wenig herum, bis Hannah sagte, dass die Ambien zu wirken begann und sie schlafen musste. Sie drehte sich von ihm weg und zog die Beine an, und Ethan, die Hand noch auf ihrer Hüfte, dachte über seinen Tag nach und fragte sich, ob womöglich etwas dran war, wenn Hannah sagte, dass die Dinge, die für ihn wichtig waren, für niemanden sonst wichtig waren. Es würde vieles in seinem Leben erklären.
Bevor er schließlich selbst einschlief, dachte er wieder an die Liste, die er mit der Post bekommen hatte. Er sagte sich sieben der Namen auf – er hatte ein nahezu fotografisches Gedächtnis –, konnte sich aber nicht an den letzten erinnern, wahrscheinlich, weil er kaum einen Blick darauf geworfen hatte. Dann sagte er sich den Text für den neuen Song auf, kam zu dem Schluss, dass er völlig beschissen war, und schlief ein.
Donnerstag, 15. September, 13:44 Uhr
Der Name, an den sich Ethan Dart nicht erinnern konnte, war der von Jessica Winslow. Am Donnerstag erhielt sie die Namensliste in einem Kuvert, das an Special Agent Winslow, FBI-Außenstelle Albany, adressiert war. In der rechten oberen Ecke des Kuverts klebte eine Forever-Briefmarke, und der Poststempel zeigte an, dass der Brief aus New York City kam, wo er zwei Tage zuvor aufgegeben worden war.
Es war ungewöhnlich, dass sie Post im Büro bekam, schon gar nicht etwas so Kryptisches. Nur eine Liste mit Namen. Sie hielt den Brief reflexartig am äußersten Rand und legte ihn vorsichtig auf den Schreibtisch. Dann rief sie ihren unmittelbaren Vorgesetzten Aaron Berlin an und bat ihn, in ihrem Büro vorbeizuschauen.
»Kennst du die anderen Namen?«, fragte er fünf Minuten später und spähte über Jessicas Schulter auf den Brief.
Obwohl sie die Namen auf der Liste mehrmals gelesen hatte, las sie sie lautlos ein weiteres Mal.
»Arthur Kruse ist der einzige Name, der mir bekannt vorkommt, aber nur, weil mein Dad gelegentlich einen Freund namens Art Kruse erwähnt hat, oder vielleicht bilde ich es mir nur ein. Ich habe allerdings immer angenommen, dass der Nachname Cruise geschrieben wird, wie Tom Cruise.«
»Du hast ihn nie getroffen?«
»Nein, mein Dad hat nur von ihm gesprochen. Immer wenn von einem Haus am See die Rede war, oder davon, an einem See zu wohnen, sagte mein Dad etwas wie: ›In meiner Collegezeit habe ich einen Sommer in Art Kruses Haus am See verbracht.‹ Wir haben ihn damit aufgezogen, und vermutlich erinnere ich mich deshalb daran.«
»Es ist ein ungewöhnlicher Name.«
»Was? Kruse? Eigentlich nicht. Nicht, wenn man Deutscher ist. Ich habe ihn bereits bei Google eingegeben und einige Arthur Kruses gefunden, aber es waren alles Deutsche. Deutsche aus Deutschland.«
»Hm.«
Jessica schwenkte in ihrem Sessel herum und sah zu Aaron hoch. Sie hatte ihn noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen und bemerkte, wie viele dunkle Haare er in seinen Nasenlöchern hatte.
»Was denkst du?«, sagte sie.
Er zuckte mit den Achseln. »Lass es analysieren, wenn du willst. Könnte nichts sein. Könnte eine Computerpanne irgendwo sein, bei der Junkmails ausgespuckt wurden.«
»Möglich.«
Nachdem Aaron gegangen war, steckte sie das Kuvert und den Brief in getrennte Plastikbeutel und legte sie in ihren Postausgang. Dann widmete sie sich wieder dem Studium der Akte zum Mordprozess gegen William Brundy, bei dem sie in der kommenden Woche aussagen sollte. Sie wartete immer noch auf eine Nachricht der Staatsanwaltschaft, dass die Sache geregelt war, bevor sie vor Gericht ging, aber inzwischen sah es so aus, als würde das nicht passieren. William Brundy war ein Streifenpolizist, der seine Ex-Frau getötet hatte, indem er einen Einbruch in ihr Split-Level-Haus vortäuschte. Blutanalysen und Tatortfotos waren an ihr Büro weitergeleitet worden, und Jessica hatte die Ermittlung geleitet. Es machte ihr nicht besonders viel aus, vor Gericht auszusagen, aber Brundys Strafverteidiger war ein Arschloch namens Elliot Skenderian, der es immer irgendwie fertigbrachte, Jessica auf die Palme zu bringen. Hätte sie ein Dartboard besessen, würde sie ein Bild von Skenderians Gesicht darauf kleben.
Bevor sie das Büro um kurz nach fünf verließ, warf sie noch einmal einen Blick auf die mysteriöse Namensliste und tippte sie in die Notiz-App ihres Smartphones ab. Vielleicht würde sie heute Abend ein paar Folgen Good Wife schauen und dabei noch ein wenig googeln. Wenn es eine Verbindung zwischen ihr und diesen Leuten gab, würde sie sie finden. Das Internet gab seine Geheimnisse nur zu gern preis.
Sie war nicht überrascht, Aaron Berlin nach der Arbeit im Club Room zu sehen, was sie allerdings überraschte, war, dass er nicht allein war. Er saß an einem Tisch mit Roger Johnson, dem extrovertierten leitenden Special Agent. Roger sah sie die Bar betreten und forderte sie auf, sich zu ihnen zu setzen.
»Ich werde bei Anthony an der Bar zu Abend essen, aber vielen Dank trotzdem.«
Anthony der Barkeeper, hatte bereits ein Glas Pinot Noir für sie eingeschenkt, als sie auf dem gepolsterten Lederhocker Platz nahm. Sie überlegte kurz, ob es einen schlechten Eindruck machte, dass sie ihre Kollegen mied, um allein an der Theke zu essen, aber sie tat es mit einem Achselzucken ab. Johnson wechselte demnächst zur Außenstelle in Schenectady, und Berlin, nun, der konnte sie mal.
Sie trank langsam ihren Wein und löste das Kreuzworträtsel der Times, wobei ihr Anthony half, wenn er gerade nichts zu tun hatte. Sie bat um ein zweites Glas, dazu eine halbe Portion Penne alla puttanesca und einen Salat. Als sie mit dem Kreuzworträtsel fertig war – und nur bei einer Lösung unsicher –, steckte sie die gefaltete Zeitung in ihre Handtasche, zahlte und wandte sich zum Gehen.
»Bitte zwei Belvederes, Anthony. On the rocks.« Aaron nahm auf dem Hocker neben ihr Platz.
»Äh, nein danke, Anthony. Ich wollte gerade gehen.« Jessica schaute über Aarons Schulter und sah Roger zum Ausgang streben.
»Einen Drink, Jess. Bitte.«
Sie stimmte zu, und überraschenderweise stellte er mehrere Fragen darüber, wie es ihr in letzter Zeit ergangen war, ehe er auf sein Lieblingsthema kam: ihre Affäre, und warum sie zu Ende war.
»Du bist verheiratet.«
»Mehr oder weniger. Nicht wirklich. Meine Frau hat Affären. Ich weiß es.«
»Darum geht es aber nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob ich mir eine Beziehung wünsche, aber wenn, dann mit jemandem eher in meinem Alter, mit jemandem, der ungebunden ist und keine Kinder hat, mit dem ich nicht arbeite und der kein Narzisst ist …«
»Ich traue dem Kerl jetzt schon nicht über den Weg.«
Jessica lächelte, auch wenn seine Versuche, witzig zu sein, zu den Dingen gehörten, die sie inzwischen nicht mehr mochte an ihm. Als sie sich miteinander eingelassen hatten, war es zunächst sehr intensiv gewesen. Aaron war eigentlich ein Idiot – das hatte sie immer gewusst –, aber er nahm seine Arbeit ernst, er besaß Einfühlungsvermögen, und zu Beginn hatte es eine Woche gegeben, in der sie dachte, sie könnten sich ineinander verlieben. Sie nippte mit leicht tauben Lippen an ihrem Wodka und wusste, sie hatte einen Fehler gemacht, als sie einem weiteren Drink zustimmte. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Glaubst du wirklich nicht, dass an dieser Liste, die ich mit der Post bekommen habe, etwas merkwürdig ist?«
Aaron signalisierte Anthony nur mit den Augen, dass er gern noch zwei Drinks hätte. »Was? Diese Namensliste? Die beunruhigt dich?«
»Sie beunruhigt mich nicht. Sie interessiert mich nur. Es ist ungewöhnlich.«
»Ja, gut. Wenn du willst, kann ich Rick in der Datenbank nach Querverweisen suchen lassen. Vielleicht gibt es eine Verbindung. Vielleicht habt ihr alle drei kostenlose Tage in einem Timesharing-Appartement in Fort Myers gewonnen.«
»Vielleicht hast du recht. Nur eine Panne bei irgendeinem Massenversand.«
Zwei neue Wodkas trafen ein, und Jessica beäugte das Glas. Sie wusste, der Unterschied, ob sie es trank oder nicht trank, war der Unterschied zwischen einer ungestörten Nacht oder dass Aaron in ihrem Bett landete.
Sie rutschte vom Hocker und schlüpfte in ihre Jacke. »Tut mir leid, Aaron. Ich muss heute früh ins Bett.«
Er machte einen Schmollmund, sagte aber: »Okay. Lunch demnächst?«
»Sicher.«
Anthony blickte zu Jessica, und sie glaubte, eine Spur von Zustimmung in seinen Augen zu sehen. Auch wenn er es nie gesagt hatte, war Anthony kein großer Fan von Aaron. »Sie gehen schon so früh?«, fragte der Barkeeper mit einem durchtriebenen Lächeln.
»Ja, Anthony. Danke noch mal, und sagen Sie Maria, dass die Penne köstlich waren.«
Anthony griff nach dem überzähligen Wodka auf der Theke, aber Aaron hielt ihn zurück. »Schon in Ordnung, wir behalten ihn.« Er goss Jessicas Drink in seinen, während sie ihren Schal um den Hals schlang. Sie drehte sich um und ging, bevor sie es sich anders überlegte. Sie musste wirklich früh zu Bett.
Donnerstag, 15. September, 14:00 Uhr
Donnerstags hatte Caroline Geddes Sprechstunde, zwei Stunden, die sie inzwischen als ruhige Zeit zum Schreiben einkalkulierte, da nur wenige Studierende bei ihr vorbeikamen. Diesen Donnerstag war es nur eine Studentin, Elaine Cheong, die unangekündigt hereinschaute, während zwei Studenten, die einen Termin vereinbart hatten, nicht erschienen. Caroline unterrichtete bereits lange genug – zwölf Jahre inzwischen –, um zu verstehen, wie E-Mail die Schüler-Lehrer-Beziehung verändert hatte. Heutzutage taten die Studierenden alles, um sämtliche Aufgaben per E-Mail zu erledigen, oder über das Wiki, das sie für einige größere Kurse eingerichtet hatte. Sie schickten ihre verspäteten Arbeiten, ihre Ausreden und selbst ihre zum Aufpolieren der Note gedachten Komplimente per E-Mail. Einer ihrer Studenten vom letzten Jahr hatte sie möglicherweise sogar angemacht, auch wenn sie sich trotz zwanzig Jahren Textanalyse immer noch nicht sicher war, was er gemeint hatte mit: Ich wünschte, Sie wären meine Betreuungslehrerin, wenn Sie wissen, was ich meine. jk. Sie hatte einen halben Tag gebraucht, um dahinterzukommen, dass jk für »just kidding« stand.
Elaine erklärte Caroline mit Tränen in den Augen, dass sie wegen eines Problems mit einem defekten Wecker zu spät zum Kurs gekommen war und deshalb den unangekündigten Test verpasst hatte. »Es ist nicht fair, dass ich es nicht gutmachen kann«, sagte sie zum zweiten Mal.
»Der Test wird nur einen winzigen Teil Ihrer Abschlussnote ausmachen.«
»Ich brauche eine Eins in diesem Kurs.«
»Wissen Sie was, Elaine – ich lasse Sie jetzt sofort einen neuen Test machen.«
Caroline riss einen Zettel aus einem ihrer Notizhefte und schrieb rasch drei neue Fragen über eins der Gedichte von Wordsworth nieder, das sie an diesem Vormittag im Seminar zwar nicht besprochen hatten, das sie ihnen jedoch zum Lesen aufgegeben hatte. Caroline schob den Zettel zu ihrer Studentin hinüber und teilte ihr mit, dass sie zehn Minuten Zeit hatte.
»Das ist nicht derselbe Test«, sagte Elaine, und zwei ausgeprägte Falten erschienen auf ihrer ansonsten makellosen Stirn.
»Nein, es ist ein neuer.«
Caroline zog ein Buch hervor und tat, als würde sie lesen, während sie beobachtete, wie das Mädchen sich so heftig auf die Unterlippe biss, dass kleine Abdrücke von Zähnen darin zurückblieben. »Ich wusste nicht, dass wir Daten auswendig lernen sollten.«
»Geben Sie einfach Ihr Bestes, und Sie werden zumindest nicht mit null Punkten abschneiden.«
Elaine beugte sich über das Papier und schrieb einige Antworten nieder, und kurz bevor Caroline verkünden wollte, dass die Zeit um sei, schob sie das Blatt über den Tisch. »Ich finde immer noch, dass es unfair ist«, sagte sie, aber so leise, dass Caroline es kaum hören konnte.
»Wir sehen uns nächste Woche im Seminar«, sagte Caroline, und Elaine verließ verärgert ihr Büro, das Smartphone bereits in der Hand. Caroline stellte sich vor, dass sie jemandem eine Nachricht schrieb, was für ein Miststück ihre Englisch-Professorin war. Es spielte keine Rolle; von ihren beiden Bürostunden blieben noch zwanzig Minuten. Sie schaute in ihre E-Mails, und es gab nichts Dringliches zu beantworten, deshalb öffnete sie die E-Mail, die sie zwei Wochen zuvor von David Latour bekommen hatte, dem Professor von der McGill University, den Caroline kennengelernt hatte, als sie im Sommer bei einer Konferenz in Toronto ihren Vortrag über Joanna Baillie gehalten hatte.
Er hatte geschrieben, um zu sagen, wie sehr er ihre Unterhaltung genossen hatte, aber auch, um ein Gedicht zu teilen, von dem er dachte, es würde ihr gefallen. Es war von Louis MacNeice und hieß »Wölfe«. Die erste Zeile lautete »Ich will nicht mehr nachdenklich sein«, und sie hatte sich in Carolines Kopf festgesetzt, seit sie das Gedicht gelesen hatte. Sie las es jetzt wieder und hätte David beinahe geschrieben, um ihm noch einmal zu sagen, wie sehr sie es liebte, aber sie hielt sich zurück. Es genügte, dass sie ihm ein Mal geschrieben hatte, und es genügte, dass sie ihn vielleicht irgendwann in der Zukunft wiedersehen würde und es ihm persönlich sagen konnte.
Nach dem Ende ihrer Bürostunden überquerte sie den Campus, um zum Parkplatz ihres Prius’ zu gelangen, dann fuhr sie zu ihrem Cottage im Water-Hill-Viertel von Ann Arbor. Sie hatte Fable, ihren abenteuerlustigen Kater, den ganzen Tag draußen gelassen und war erleichtert, ihn auf der Eingangsveranda auf sie warten zu sehen. Erleichtert auch, weil er keinen Vogel gefangen, getötet und auf ihrer Fußmatte abgelegt hatte. Er folgte ihr ins Haus, legte seine grauen Ohren zurück und sauste zur Futterschale in der Küche. Estrella, ihre scheue orangefarbene Tigerkatze, sprang auf den Esszimmertisch, um sie zu begrüßen. Caroline blätterte die Post durch, die sie bekommen hatte, und zog ein weißes Kuvert heraus, mit einem Adressaufkleber, auf den ihre Adresse im Schrifttyp Courier gedruckt war. In der rechten oberen Ecke war eine einzelne Forever-Briefmarke mit der amerikanischen Flagge. Es gab keine Absenderadresse.
Etwas an dem Kuvert wirkte persönlich, obwohl es nichts im Entferntesten Persönliches an sich hatte. Sie legte die Aufwandsteuer-Rechnung und die Bettelbriefe von sämtlichen Tierhilfsorganisationen beiseite, die sie bekommen hatte – Pet Smart hatte ihre Adresse eindeutig an eine Art Postvertrieb verkauft – und schlitzte das Kuvert mit ihrem nicht lackierten Daumennagel auf.
Darin war ein einzelnes Blatt Papier, ein Computerausdruck in Courier wie der Adressaufkleber.
Matthew Beaumont
Jay Coates
Ethan Dart
Caroline Geddes
Frank Hopkins
Alison Horne
Arthur Kruse
Jack Radebaugh
Jessica Winslow
Caroline schaute in den Umschlag, ob er noch etwas enthielt, aber da war nichts. Nur das einzelne Blatt Papier mit der Liste von Namen, die ihr alle unbekannt waren, außer ihrem eigenen natürlich.
Estrella versuchte, ihre Wange am Rand des Papiers zu reiben, und Fable miaute laut aus der Küche, weil er auf Futter wartete. Ein schrecklicher Gedanke ging Caroline durch den Kopf: Es ist eine Todesliste. Jemand hat uns zum Sterben bestimmt. Sie dachte es automatisch, so wie sie jedes Mal, wenn das Telefon läutete, automatisch dachte, man würde sie von einer unaussprechlichen Tragödie unterrichten. Sie las die Liste noch einmal, dann lachte sie innerlich über ihren morbiden Gedanken. Wenn es eine Liste lebender Menschen war, dann waren sie selbstverständlich früher oder später alle zum Sterben bestimmt. Es war auf jeden Fall unheimlich und erinnerte sie an dieses Buch von Muriel Spark, Memento Mori. Natürlich las sie zu viel hinein in eine Liste, die wahrscheinlich keinerlei Bedeutung hatte. Aber genau das war ihr Lebensinhalt, ihre Profession – sie las etwas in alles hinein.
»Ich will nicht mehr nachdenklich sein«, rezitierte sie für sich, »voll Neid auf alles Unbedachte, und es doch verschmähen.« Es war etwas dran an MacNeices Worten, auch wenn er wahrscheinlich von der politischen Lage in Deutschland kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gesprochen hatte und nicht über eine Neigung zu übermäßigem Analysieren. Aber in ihrem Leben, wenn auch nicht unbedingt in ihrem Unterricht, ließ sie Spielraum für persönliche Interpretationen literarischer Werke. Wie lautete die nächste Zeile des Gedichts? War es »Ich will kein tragischer, kein philosophischer Refrain sein«? Dann kam noch etwas und noch etwas und schließlich: »Und möge das Meer uns danach überspülen.« Vielleicht würde sie heute Abend das ganze Gedicht auswendig lernen. Es war die eine gute Sache, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte: Gedichte auswendig zu lernen und aufzusagen.
Caroline kraulte Estrella unter dem Kinn und spürte ihr Schnurren als Vibration in den Fingerspitzen. Dann ging sie in die Küche, um Fable zu füttern.
Donnerstag, 15. September, 12:33 Uhr
Er sah die Liste kurz durch, dachte sich nicht viel dabei und warf sie in den Papierkorb in der Küche. Jay Coates hatte ein Vorsprechen für einen Werbespot später am Tag bekommen und war einigermaßen optimistisch, was seine Aussichten anging. Es war ein Clip für Instant-Reis, und er würde den elitären Koch spielen, der sich von dem beschissenen Fertigprodukt überzeugen ließ. Sein Termin war um drei Uhr nachmittags in Burbank, damit blieben ihm noch zwei Stunden, ehe er in den BMW steigen und losfahren musste.
Obwohl er unmittelbar nach dem Aufstehen kurz laufen gewesen war, holte er die Rudermaschine hervor und trainierte eine volle Stunde darauf, während er sich nebenbei endlich die Folge von Navy CIS ansah, in der seine Freundin Madison mitspielte. Die Folge war seit Wochen auf seinem DVR, und Madison hatte gefragt, ob er sie schon angesehen hatte, weil sie auf Feedback hoffte. Feedback. Lieber Himmel. Es war Navy CIS. Sie hatte zwei Szenen und insgesamt drei Zeilen Dialog. Sie spielte eine Personal Trainerin in einem Fitnessstudio, und der Regisseur hatte sichergestellt, dass ihre Titten – wahrscheinlich hielt er sie für echt – in beiden Szenen prominent ins Bild gerückt wurden. Nachdem Jay die ganze Folge gesehen hatte, stellte er erleichtert fest, dass es a) eine beschissene Rolle war, und dass Madison sie b) beschissen spielte. Der wahre Grund, warum er es hinausgezögert hatte, ihren großen Durchbruch anzusehen, war die Angst, sie könnte es geschafft haben und Anschlussrollen bekommen, und damit konnte er im Moment nicht umgehen.
Nachdem er den Wagen auf einem der Gästeparkplätze vor dem eingeschossigen Bürogebäude abgestellt hatte, in dem Buchman Creative untergebracht war, zog sich Jay rasch zwei Lines von dem Koks rein, das er für genau diese Gelegenheit aufgespart hatte, dann ging er bei gut dreißig Grad Hitze über den klebrigen Asphalt und hoffte, er würde nicht vor seinem Treffen zu schwitzen anfangen. Er wurde von der käsigen Empfangsangestellten, die irgendeinen Midwest-Akzent hatte, sofort durchgewunken, lehnte das Angebot einer Flasche Mineralwasser ab und bat stattdessen um ein Glas Leitungswasser. Madison hatte den Kunstgriff mit dem Leitungswasser vorgeschlagen – es ließ einen bodenständig erscheinen, hatte sie gesagt. Er betete seinen Text vor den beiden Werbeautoren herunter, schmierige Typen, die möglicherweise jünger waren als er, wenngleich er sich nicht hundertprozentig sicher war, plus Amy Buchman, der Chefin der Agentur, die vorbeischaute, weil sie sich fünf Minuten hatte freischaufeln können. Als Jay ging, bemerkte er Dan Sweden im Wartezimmer. Beide taten, als hätten sie sich nicht gesehen.
Sein Manager rief eine Stunde später an, um zu sagen, sie hätten abgelehnt, aber Amy sei beeindruckt, und falls sich wieder einmal etwas ergab etc. blabla. Der Anruf kam, als er gerade durch den Brentwood Country Mart ging und überlegte, bei James Perse ein Paar neue Wanderschuhe zu kaufen. Stattdessen holte er sich bei Barney’s Burgers Zwiebelringe, setzte sich an einen Tisch und begann, innerlich kochend, nach einer guten Kandidatin Ausschau zu halten. Es dauerte zwanzig Minuten, aber als er gerade seine Fritten aufaß, sah er sie. Sie war perfekt: Ende zwanzig, Yogahose, nicht ganz so hübsch, wie man ihr einredete und mutterseelenallein. Er folgte ihr. Er wusste genau, wie er unbemerkt blieb, aber er behielt sie immer in seinem peripheren Gesichtsfeld. Er folgte ihr in eine Filiale von Christian Louboutin, wo sie vorgab, sich ein Paar Schuhe leisten zu können, und fragte die Frau an der Kasse, ob Tracy noch hier arbeitete. Sie schaute verwirrt drein und fragte schließlich: »Meinen Sie Theresa?«
»Ach ja, richtig«, sagte Jay.
»Sie arbeitet an den Wochenenden.«
»Danke«, sagte Jay und verließ den Laden gleichzeitig mit der Blondine.
Er folgte ihr zum Parkplatz, wo sie in einen silberblauen Honda Civic stieg, den ihr wahrscheinlich ihr Vater zum fünfundzwanzigsten Geburtstag gekauft hatte. »Es ist ein sehr zuverlässiges Auto«, hatte er zweifellos gesagt, und dann hatte sie ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt und mit ihrer Kleinmädchenstimme gesagt, wie sehr sie ihren Daddy liebte.
Nachdem sie in ihren Wagen gestiegen und sofort losgefahren war, trabte Jay zu seinem BMW, und es gelang ihm, sie auf dem San Vicente Boulevard wiederzufinden, wo sie in Richtung Osten fuhr. Er folgte ihr bis nach Koreatown und prägte sich ihr Kennzeichen ein. Sie parkte vor einem zweistöckigen Stuckgebäude und betrat es durch die Glastür, mit Hilfe eines Schlüssels, der sich an derselben Kette befand wie ihr Wagenschlüssel. Hier wohnte sie. Jay fuhr in die Ladenzeile auf der anderen Straßenseite, parkte so, dass er das Gebäude im Auge behalten konnte, und zündete sich eine der beiden Parliament-Zigaretten an, die er sich pro Tag gestattete. Er ging mit seinem Handy auf Instagram, gab #brentwoodcountrymart ein, ohne ernsthaft mit einem Treffer zu rechnen, war aber auch nicht völlig überrascht, als das jüngste Bild, eine Nahaufnahme von einem zu einem Herz verwirbelten Schaum auf einem Milchkaffee, von einer abbybritell gepostet worden war. Ihre Bilder, hauptsächlich Selfies, bestätigten, dass es die Blondine war, die er verfolgt hatte. Sie nannte sich Schauspielerin, Autorin und Tai-Chi-Lehrerin.
Und schwupp gehörte sie ihm. Ihr Name. Ihre privaten Fotos. Er wusste, wo sie wohnte, welchen Wagen sie fuhr. Und Jay wusste mit absoluter Sicherheit, dass er sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden ermorden konnte, ohne je erwischt zu werden. Es gab null Verbindung zwischen Jay Coates aus West Hollywood und Abby Britell aus Koreatown. Er sah die Schlagzeilen bereits vor sich. Ein hübsches weißes Mädchen, in Hollywood ermordet. Die Medien würden voll sein damit. Er fing zu phantasieren an, wie es sich weiterentwickeln würde, aber dann bremste er sich. Dafür war später Zeit, und im Augenblick genügte für einen heißen Adrenalinstoß allein die Tatsache, dass er herausgefunden hatte, wie sie hieß und wo sie wohnte. Er verließ den Parkplatz und fuhr in Richtung seiner Wohnung. Er dachte, er würde sich während der ganzen Fahrt gut fühlen, aber so war es nicht. Es war viel zu einfach gewesen, diese Frau zu verfolgen, und vielleicht musste er das Spiel wirklich auf eine höhere Ebene befördern und einer dieser hochnäsigen Schlampen tatsächlich etwas antun. Und sehen, wie er sich dann fühlte.
Nachdem er an diesem Abend hundert Liegestütze gemacht und seine Gesichtspflege absolviert hatte, rief er Madison an, um ihr zu sagen, dass er Navy CIS gesehen hatte.
»Ah, endlich. Und?«
»Es war sehr, sehr gut. Deine Titten …«
»Ich weiß, sie haben phantastisch ausgesehen. Und ist es nicht unglaublich, dass ich drei Zeilen Text hatte?«
»Genau genommen zwei.«
»Ja, gut. Du hast recht.«
»Aber es war alles toll. Es ist eine solide Referenz, Mads, du solltest dich freuen.«
»Ja, danke, Jay.«
Er erzählte ihr nichts von seinem Vorsprechen, aber bevor sie auflegten, sagte er: »Und, Himmel, gute Make-up-Crew bei Navy CIS, was?«
»Wie meinst du das?«
»Du hast dir doch Sorgen gemacht, weißt du noch? Du hattest diesen Ausschlag. Man konnte ihn kaum sehen. Ich meine, ich konnte ihn sehen, aber nur, weil ich darauf geachtet habe. Das Make-up hat wirklich alles verdeckt.«
»Ja«, sagte Madison. »Das haben sie gut gemacht.«
Jay hörte, wie sich die Unsicherheit in ihre Stimme schlich, und er beendete das Gespräch rasch und kroch unter die Decke. Er fragte sich, wie es wäre, wenn er den Mut aufbrächte, Abby Britell oder eine andere Möchtegern wie sie zu besuchen und die Dinge, von denen er träumte, tatsächlich zu tun. Ihr ernsthaft zu zeigen, wer der Boss war. Er langte nach unten und gestattete sich, die Hand um seinen Schwanz zu legen, der jetzt hart wie ein Stück Baustahl war, erlaubte sich aber nicht mehr, als ihn zu berühren. Er dachte noch etwas an Abby Britell, aber dann dachte er an Amy Buchman (»Amy hat dankend abgelehnt, Jay, aber sie war wirklich beeindruckt«) und wie gern er sie fesseln und an einem echten Stück Baustahl würgen lassen würde. Es war dieser Gedanke, der ihn schließlich so weit beruhigte, dass er einschlafen konnte.
Donnerstag, 15. September, 17:15 Uhr
Auf der Fahrt von seiner Arbeit nach Hause – vierzig Minuten Einsamkeit, die viel zu schnell vergingen – sagte sich Matthew Beaumont die Fakten seines Lebens auf. Es war eine tägliche Übung, ein Weg, sich an das zu erinnern, was gut war, und sich in Erinnerung zu rufen, woran noch gearbeitet werden musste.
Heute sagte er sich, dass Emma, seine älteste Tochter, eine hübsche Siebtklässlerin war, die anfing, deutliche Zeichen von Unsicherheit und Angst zu zeigen, genau wie ihre Mutter. Aber sie war so zwanghaft brav, so darauf bedacht, es allen Leuten recht zu machen, dass man sie im Chaos ihres täglichen Lebens leicht vergessen konnte. Beachte sie, sagte er sich, sorge dafür, dass sie weiß, dass am Ende alles gut wird. Alex, der demnächst acht wurde, hatte endlich und offiziell die Diagnose erhalten, nicht nur ADHS, sondern auch eine oppositionelle Verhaltensstörung zu haben, was einige der Verhaltensauffälligkeiten erklärte. Nicht alle, wie Nancy hartnäckig beteuerte. Dennoch war die Diagnose der richtige erste Schritt und würde dem Schulsystem helfen, seinen Bildungsweg zu planen. Joshua, seinem jüngsten, ging es gut bis auf die ständigen Nebenhöhleninfektionen. Er würde noch ein Gespräch über alternative Medizin mit Nancy führen müssen, die ihn einfach immer weiter mit Antibiotika zuschütten wollte. Heute Abend war wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt, aber am Wochenende vielleicht, je nach ihrer Stimmung.
Er bog in den Trail Ridge Way, die lange, spärlich besiedelte Straße, die in einer Sackgasse mit drei brandneuen Villen endete, jede in einem betont anderen Stil. Seine war die im italienischen Stil, zumindest von außen, wenngleich innen eindeutig palladianisch, wenn das das richtige Wort war. Der Gedanke an das Haus brachte ihn wieder zu Nancy. Ging es ihr in letzter Zeit besser oder schlechter? Er konnte es nicht einmal mehr sagen, allerdings hatten sich ihre zwanghaften Gedanken in den letzten Wochen mehr um Alex und die neuesten Tests zur Bestimmung seiner Störung gedreht und weniger um Matthews »Affäre« mit seiner neuen Chefassistentin. Sie lag natürlich falsch mit der Affäre; abgesehen davon, dass er sich gelegentlich eine kleine Phantasie, meist über Ellen Matthiessen, die Leiterin der Rechtsabteilung, erlaubte, war Matthew die ganzen fünfzehn Jahre seiner Ehe treu gewesen. Es stimmte, dass er im Juli mit seinem Team etwas trinken gewesen war und er am Ende Jada Washington zu ihrer Wohnung im South End begleitet hatte, ehe er zur Back Bay zurückgekehrt war, um seinen Wagen zu holen, aber Jada, die an diesem Abend hauptsächlich darüber gesprochen hatte, wie besessen sie von der Buchreihe Chroniken der Unterwelt war, hatte ihn mehr an seine eigene Tochter erinnert als an ein potenzielles Objekt der Begierde. Sein Fehler war gewesen, dass er Nancy von dem Abend erzählt und geglaubt hatte, es würde sie amüsieren, dass seine »Chefassistentin« so viel mit ihrer zwölfjährigen Tochter gemeinsam hatte. Sie war nicht amüsiert gewesen. Sie hatte ihn die ganze Nacht wachgehalten und der Untreue bezichtigt. Er hatte sie überzeugen können, dass nichts passiert war, und sie dann den Rest des Sommers zu überzeugen versucht, dass er auch nicht gewollt hatte, dass etwas passierte. Aber inzwischen hatte sie seit über einer Woche nichts mehr zu dem Thema gesagt, und vielleicht, nur vielleicht, war es überstanden.
Er fuhr seinen Lexus in die Garage, die vier Autos Platz bot, und blieb noch kurz sitzen, um seinem Foo-Fighters-Mix zu lauschen, ehe er durch den Verbindungsgang zur Küche ging, wo Nancy an der Insel lehnte und ein Blatt Papier in die Höhe hielt, damit er es beim Hereinkommen sofort sah.
»Was ist los?«, fragte er.
»Sag du es mir«, antwortete sie.
Er näherte sich zögerlich, und genau in diesem Moment kam Alex in die Küche gerast, in seinem Ninja-Outfit samt Plastik-Samuraischwert, das er sich bereits für Halloween ausgesucht hatte. Matthew wehrte Alex’ wiederholte Attacken ab und nahm Nancy das Blatt aus der Hand. Es war eine Liste mit rund einem halben Dutzend Namen, darunter sein eigener. Keiner der anderen Namen auf der Liste war ihm bekannt.
»Was ist das?«, fragte er seine Frau, dann drehte er sich zu seinem Sohn um. »Alex! Das reicht!«
»Ich weiß nicht, was es ist. Es war heute in der Post für dich, und ich hätte es sicher nicht sehen sollen und wünschte, ich hätte es nicht gesehen, aber da ich es nun einmal gesehen habe, wüsste ich gern, worum es geht. Eine Art Code?«
»Ich habe keine Ahnung. Alex, das reicht! Such Joshie und schau, ob er spielen will. Wieso machst du dieses Gesicht, Nancy? Was soll das heißen, eine Art Code?«
»Nun, ich verstehe nicht, was es ist, das ist alles.«
»Ich verstehe es auch nicht. Es ist wahrscheinlich nichts, nur irgendein Irrtum. Was stand auf dem Kuvert?«
Nancy drehte sich um und nahm das Kuvert von dem Poststapel auf der Granitarbeitsfläche. Emma kam in die Küche und umarmte Matthew, während Alex aus der Küche raste, um seinen jüngeren Bruder zu suchen, der sich wahrscheinlich versteckte; Joshua war nämlich der einzige Sechsjährige im Land, der nicht gern Kämpfen spielte.
»Es steht nichts drauf. Das hat mich misstrauisch gemacht.«
Emma nahm ihrem Vater das Blatt Papier aus der Hand und las es.
»Ehrlich, Nance, ich habe keine Ahnung.«
»Es gibt eine Abby Horne in meiner Schule, aber ich glaube nicht, dass es eine Alison Horne gibt«, sagte Emma.
»Egal«, sagte Nancy und schenkte sich ein Glas Wein ein. »Es sah einfach verdächtig aus. Ich habe zu viel hineingelesen.«
»Was dachtest du denn, was es ist, Mom?« Der Ton in Emmas Stimme grenzte an Verachtung. Matthew hatte bemerkt, dass Emma mit zunehmendem Alter immer kritischer ihrer Mutter gegenüber wurde, als würde sie allmählich einige der unberechenbareren Seiten von Nancys Persönlichkeit erkennen. Es war kein tröstlicher Gedanke.
Joshua kam weinend in die Küche, eine rosa Schwiele auf der Wange. Matthew machte sich auf die Suche nach Alex. Das Samuraischwert war ein großer Fehler gewesen.
Freitag, 16. September, 7:00 Uhr
Anfang September war mit Abstand die beste Zeit des Jahres. Es war noch Sommer, der normalerweise kalte Atlantik hatte seine wärmste Temperatur erreicht, und die Touristen, zumindest die mit Gören, waren ein für alle Mal weg. Der Sandstrand, der sich vom Windward Resort zur steinernen Mole erstreckte, war praktisch menschenleer (eine einsame Gestalt kauerte nahe den Gezeitentümpeln), als Frank Hopkins eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang seinen Morgenspaziergang machte. Der Himmel hatte die ungesunde Farbe von Fischeintopf, und Nebel hing über dem Sand. Frank trug Shorts und Bootsschuhe, aber er hatte einen alten Baumwollpullover über sein Polohemd gezogen. Wenn er sich nicht irrte, war es morgens in letzter Zeit immer ein wenig kühl gewesen. Oder vielleicht wurden seine Knochen kalt. Ich werd alt, und mir wird kalt, reimte er für sich, dann blieb er einen Moment für einen Hustenanfall stehen.