8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Ein verschneites Weingut im Elsass. Ein silbernes Medaillon. Ein bewegendes Geheimnis.
Katja liebt ihren Beruf als Goldschmiedin über alles und soll später einmal das traditionelle Schmuckgeschäft der Familie übernehmen. Sie erlernt in Brasilien die Kunst des Edelsteinschleifens, als der überraschende Tod des geliebten Vaters sie vorzeitig in ihre Heimatstadt zurückholt. Dort muss sie mit ihrer Stiefmutter Julia in der Vorweihnachtszeit um den Erhalt des Geschäfts kämpfen und sich auch noch um die demente Großmutter kümmern. Kurz vor Weihnachten erreicht sie die ungewöhnliche Nachricht des französischen Winzers Nicolas. Es geht um ein besonderes Schmuckstück, das Katja ins Elsass und zu einem dramatischen Geheimnis führt …
Angelika Schwarzhubers bezaubernde Weihnachtsromane bei Blanvalet:
1. Der Weihnachtswald
2. Das Weihnachtswunder
3. Das Weihnachtslied
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 394
Buch
Katja liebt ihren Beruf als Goldschmiedin über alles und soll später einmal das traditionelle Schmuckgeschäft der Familie übernehmen. Sie erlernt in Brasilien die Kunst des Edelsteinschleifens, als der überraschende Tod des geliebten Vaters sie vorzeitig zurückholt in ihre Heimatstadt. Dort muss sie mit ihrer Stiefmutter Julia in der Vorweihnachtszeit um den Erhalt des Geschäftes kämpfen und sich auch noch um die demente Großmutter kümmern. Kurz vor Weihnachten erreicht sie die ungewöhnliche Nachricht des französischen Winzers Nicolas. Es geht um ein geheimnisvolles Schmuckstück, das Katja ins Elsass führt …
Autorin
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch erfolgreich als Drehbuchautorin für Kino und TV, zum Beispiel für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Ihr Roman »Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück« wurde für die ARD verfilmt. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:
Liebesschmarrn und ErdbeerbluesHochzeitsstrudel und ZwetschgenglückServus heißt vergiss mich nicht Der WeihnachtswaldBarfuß im SommerregenDas WeihnachtswunderDas WeihnachtsliedZiemlich hitzige ZeitenZiemlich turbulente Zeiten
Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet
Angelika Schwarzhuber
Das Weihnachtsherz
Roman
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2021 by Blanvalet Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Redaktion: Alexandra Baisch
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Happy Moments; Aleksandar Grozdanovski; 8cobalt88; Subbotina Anna; Romolo Tavani; Guschenkova) und Simon Robben/Pexels.comLH ∙ Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24918-2V001
www.blanvalet.de
Für Gretl Es ist ein Geschenk, eine beste Freundin wie dich zu haben!
Es war Ende Oktober, und eine wärmende Sonne tauchte die niederbayerische Landschaft in ein herrlich goldenes Licht. Fast hätte man vergessen können, wie schrecklich die Zeiten waren. Doch nur fast.
Marianne fuhr auf dem klapprigen Fahrrad ihres Vaters den holperigen Feldweg entlang. Das siebzehnjährige Mädchen kam vom Bauernhof ihrer Tante zurück in ihren kleinen Heimatort Osterhofen. Berta hatte sie mit Lebensmitteln versorgt. Ein paar Kartoffeln, Wasserrüben, Birnen, ein Stück Speck und Butter, die Berta nachts heimlich mit dem Butterfass zubereitete, das Mariannes Vater Martin ihr unter der Hand hatte zukommen lassen.
Marianne hatte das kostbare Bündel unter ihrem Mantel verborgen. Durch die Wärme und von der Anstrengung der Fahrt schwitzte sie inzwischen ordentlich, und sie hatte Sorge, dass die Butter, die zwar vorsorglich in ein nasses Tuch und dann in Pergament eingeschlagen war, schmelzen könnte. Als sie an einem kleinen Bach unter schattigen Bäumen vorbeikam, legte sie eine kurze Rast ein. Sie lehnte das Rad gegen eine Weide und stieg eine kleine Böschung hinab. Dort nahm sie ihren Mantel und den schweren Stoffbeutel ab und verwahrte zur Sicherheit alles hinter einem Busch.
Danach zog sie auch das Kopftuch herunter, unter dem sie ihr langes blondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug. Das klare Wasser war eiskalt, und es war eine Wohltat, ihre Unterarme und den Nacken zu kühlen.
Als sie aufsah, entdeckte Marianne wilden Baldrian, der neben dem Bach wuchs. Und so nutzte sie die Gelegenheit, um Wurzeln der Heilpflanze auszugraben, die sie dem Apotheker bringen würde. Dafür bekäme sie wiederum Medizin gegen die Rückenschmerzen, die ihren Vater so sehr plagten.
Sie schüttelte soeben die Erde von einer Handvoll Wurzeln ab, als sie schräg hinter sich ein Geräusch hörte. Als sie sich umdrehte, stand nur wenige Schritte entfernt ein junger Mann in einfachen Arbeitskleidern. Erschrocken ließ sie die Wurzeln fallen, stand auf und wollte davonlaufen.
»Ich wollte dich nicht erschrecken! Hab keine Angst!«, sagte er mit französischem Akzent und hob beschwichtigend die Hände. »Ich tu dir nichts! Wirklich.«
Sie blieb stehen.
»Und wie soll ich wissen, dass du nicht lügst?«, fragte Marianne misstrauisch und wunderte sich selbst, woher sie den Mut nahm. Nur allzu oft hörte man grausame Geschichten von Frauen und jungen Mädchen, denen Gewalt angetan wurde.
Der Fremde legte den Kopf etwas zur Seite, und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht, das seine dunkelblauen Augen funkeln ließ. Mit einem Mal sah er sehr viel jünger aus, kaum älter als sie selbst.
»Das kannst du natürlich nicht wissen«, sagte er. »Aber vielleicht kann ich es dir beweisen.«
»Ach ja? Und wie?«, fragte sie.
»Nun. Zunächst, indem ich mich ganz hochoffiziell vorstelle.«
Während er sprach, zog er seine Mütze ab, unter der dichte dunkle Locken zum Vorschein kamen, und deutete eine leichte Verbeugung an.
»Mein Name ist Bernard Beaulieu.«
»Aha, Bernard Beaulieu heißt du also.«
»Genau.«
Er wirkte so offen und freundlich, dass Marianne sich tatsächlich etwas entspannte.
»Jetzt musst du mir aber auch deinen Namen verraten«, forderte er sie auf.
»Muss ich das?«
»Unbedingt.«
Marianne tat so, als müsse sie kurz nachdenken, dann nickte sie.
»Na gut. Also, mein Name ist Marianne.«
Ihr Vorname musste reichen. Auch wenn er tatsächlich harmlos wirkte, wollte sie nicht allzu leichtsinnig sein.
»Freut mich sehr, Marianne«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie wollte schon danach greifen, um sie zu schütteln, zog ihre Hand dann jedoch wieder zurück.
»Ich habe Wurzeln ausgegraben …«, erklärte sie ein wenig verlegen und schaute auf ihre dreckigen Finger.
»Wie schade aber auch, dass es hier nirgends eine Gelegenheit gibt, sich die Hände zu waschen«, zog er sie auf und zwinkerte ihr zu.
Marianne lachte.
»Ja. Wirklich sehr schade«, stieg sie auf seinen Scherz ein, während sie zum Bach ging und ihre Hände ins Wasser tauchte. Als sie sauber waren, trocknete Marianne sie am Stoff ihres hellgrauen Rockes ab.
»Neuer Versuch«, sagte er, und diesmal schüttelten sie sich die Hände.
»Bist du ein Kriegsgefangener?«, fragte sie freimütig. Wie überall im ganzen Land wurden auch hier in der Gegend Gefangene als Hilfskräfte zur Arbeit auf den umliegenden Bauernhöfen oder in den Betrieben und Werkstätten eingesetzt, weil die eigenen Männer fehlten.
»Ja!«, bestätigte er, ohne dass sein Lächeln sich veränderte. »Stört dich das, Marianne?«, wollte er wissen. Auch er war sehr direkt, was Marianne gefiel.
»Nein«, antwortete sie und schüttelte den Kopf.
Es gab natürlich Leute, die es als schändlich ansahen, wenn man in irgendeiner Weise Umgang mit den ausländischen Kriegsgefangenen pflegte, die sie für ihre ärgsten Feinde hielten. Doch andere, darunter auch Marianne, sahen das anders.
Ihr einziger Bruder Joseph war in Russland in Gefangenschaft geraten. Anfangs hatte er noch Briefe geschrieben. Doch schon seit mehreren Monaten hatten sie nichts mehr von ihm gehört. In Russland war er ein Kriegsgefangener, so wie dieser junge Franzose, der vor ihr stand, hier einer war, und sicher sorgte seine Familie sich genauso sehr um ihn, so wie sie sich um Joseph sorgte. Marianne hoffte inständig, dass die Menschen dort ihren Bruder freundlich behandelten und er bald wieder gesund nach Hause kam.
»Es macht dir doch was aus«, sagte Bernard. Offenbar hatte er ihren Blick bemerkt, der sich bei dem Gedanken an Joseph verändert hatte.
»Nein. Wirklich nicht«, bekräftigte sie und bemühte sich um ein Lächeln. »Warum auch? Kein Mensch kann sich aussuchen, wo er geboren wird und für welches Land er deswegen als Soldat kämpfen muss«, sagte sie.
Überrascht sah Bernard sie an.
»So habe ich das noch nie betrachtet«, gab er zu.
»Woher kommst du denn?«, fragte sie.
»Aus dem Elsass.«
»Ah, deswegen sprichst du so gut deutsch?«
»Oui.«
»Bernard!«
Erschrocken drehten sich beide zur Böschung, über die ein Mann mit einer grimmigen Miene herunterkam. Er ließ einen französischen Wortschwall über Bernard ergehen. Dem Tonfall nach zu schließen machte er ihm offensichtlich Vorwürfe.
Bernard antwortete ihm beschwichtigend in seiner Muttersprache. Dann wandte er sich Marianne zu.
»Darf ich dir vorstellen? Mein Bruder Louis … und das … das ist Marianne.«
»Guten Tag, Louis«, grüßte sie höflich.
Louis nickte ihr nur knapp zu. Er schien einige Jahre älter zu sein als sein Bruder und überragte Bernard um einen halben Kopf. Er war ebenfalls attraktiv, schien jedoch eine etwas grobschlächtigere Ausgabe seines Bruders zu sein. Mit ebenso dunklen Locken und tiefliegenden, fast schwarzen Augen.
»Du hast gesagt, du willst machen nur kurze Pause! Zurück jetzt auf der Feld«, fuhr er Bernard nun ungeduldig auf Deutsch an. Sein Akzent war viel stärker als der seines Bruders und die Grammatik ziemlich fehlerhaft. So, als ob er eigentlich keine Lust hatte, sich auf Deutsch zu unterhalten. Vielleicht war er auch einfach nur deutlich weniger sprachbegabt als sein Bruder.
»Schon gut, Louis«, beschwichtigte Bernard ihn. »Ich komme ja schon.«
»Ich grabe noch ein paar Baldrianwurzeln aus, dann muss ich auch nach Hause«, erklärte Marianne ungefragt, um die unangenehme Situation zu überspielen.
Sie ließ sich absichtlich Zeit, ehe sie aufbrach. Wäre nur Bernard hier gewesen, hätte sie ihre Lebensmittel einfach hinter dem Busch hervorgeholt, aber sein Bruder war ihr nicht geheuer. Die Blicke, die er ihr zuwarf, schienen ihr alles andere als wohlwollend. Seitdem er aufgetaucht war, schien Ärger in der Luft zu liegen.
Bernard richtete noch ein paar Worte auf Französisch an seinen Bruder.
»In Ordnung. Aber wenn du kommst nicht gleich, dann ich dir verpasse Tracht Prügel«, drohte Louis auf Deutsch, vermutlich, damit auch Marianne ihn verstand. Dann ging er die kleine Böschung hinauf und verschwand.
»Normalerweise ist er nicht so unhöflich«, entschuldigte Bernard sich für seinen Bruder. »Es ist nur so, dass er …« Bernard sprach nicht weiter.
Marianne ahnte, was das Unausgesprochene bedeutete.
»Verstehe«, sagte sie nur. Er musste nicht erst sagen, dass Louis offenbar kein sonderlicher Anhänger der Deutschen war, die ihn gefangen hielten, das war ihr auch so klar.
»Danke … Ich muss jetzt wirklich los. Auf Wiedersehen, Marianne«, sagte Bernard und reichte ihr wieder die Hand. Dabei hielt er sie ein klein wenig länger fest, als der Anstand es normalerweise gestattet hätte. Sie spürte, wie ihr unvermittelt ganz heiß wurde und ihr Puls sich beschleunigte.
»Pass gut auf dich auf!«, mahnte er sie.
»Danke. Das mache ich.«
»Es war schön, dich kennenzulernen, ich hoffe, wir begegnen uns bald wieder.«
Seine Worte bescherten ihr ein eigenartiges Kribbeln im Bauch. Auch sie hoffte, dass dies nicht ihre einzige Begegnung bleiben würde, doch das wollte sie nicht laut aussprechen.
»Wiedersehen, Bernard«, sagte sie deswegen nur.
Mit ein paar Schritten war er oben auf der Böschung und winkte ihr noch einmal zu.
Kaum war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, bedauerte sie es, dass er sie nicht hartnäckiger nach ihrem Familiennamen gefragt hatte. Und noch mehr ärgerte sie sich darüber, dass sie ihm diesen nicht selbst verraten hatte. Doch jetzt war es zu spät. Nun konnte nur der Zufall dafür sorgen, dass sie sich irgendwann einmal wiederbegegnen würden.
»Bernard Beaulieu«, flüsterte sie, und es fühlte sich an, als ob sie etwas Verbotenes tun würde, seinen Namen auszusprechen.
»Bernard Beaulieu«, wiederholte sie und lächelte. »Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen!«
Katja war spät dran. Sie eilte über das steil ansteigende Kopfsteinpflaster an den bunten Häusern der historischen Altstadt Pelourinho entlang in Richtung des kleinen Cafés, in dem sie verabredet war. Vermutlich wartete ihr Kunde bereits auf sie. Dabei war es nicht ihre Schuld, dass sie sich verspätete. Der Aufzug im Gebäude, in dem sie arbeitete, hatte zwischen dem vierten und fünften Stockwerk den Geist aufgegeben. Schon das zweite Mal in diesem Monat. Gut, dass sie nicht an Klaustrophobie litt, trotzdem war ihr mulmig zumute gewesen. Fast eine halbe Stunde lang hatte sie warten müssen, bis der Hausmeister den klapprigen Fahrstuhl wieder zum Laufen gebracht und sie befreit hatte.
Glücklicherweise war sie früh dran gewesen, weil sie sich vor dem Treffen eigentlich noch zu Hause hatte duschen und umziehen wollen. Doch auch wenn das hellblau bemalte Stadthaus, in dem sie sich zusammen mit ihrem Freund Luca eine kleine Wohnung teilte, in der Nähe des Cafés lag, würde sie es auf keinen Fall mehr schaffen, noch schnell in das hübsche Kleid zu schlüpfen, das sie schon am Morgen bereitgelegt hatte. Egal. Es ging ja schließlich nicht um sie.
Zwei Jugendliche kamen ihr mit auffällig bemalten Trommeln entgegen. Sicher waren sie unterwegs zu einer der zahlreichen Musikschulen Salvadors, die ihre Schüler nicht nur für die Auftritte im weltbekannten Karneval unterrichteten, sondern sich auch für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus einsetzten. In den Armen dieser kulturellen Einrichtungen wurden auch die zahlreichen Straßenkinder der Stadt aufgefangen. Große Aufmerksamkeit erhielten beispielsweise Olodum und seine Trommler durch Michael Jacksons Video They don’t care about us, das teilweise in den Straßen und Gassen am Pelourinho in Salvador de Bahia gedreht worden war.
Die Teenager warfen Katja bewundernde Blicke zu, und einer pfiff ihr sogar frech hinterher, was sie nicht weiter beachtete. Mit ihren hüftlangen sandblonden Haaren, die sie – außer bei der Arbeit – meist offen trug, und den strahlenden türkisblauen Augen war die 28-Jährige es gewohnt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In den drei Jahren, die sie nun schon in Brasilien lebte, war es bisher jedoch höchstens bei anzüglichen Blicken oder billigen Anmachsprüchen geblieben. Womöglich lag das an ihrer unerschrockenen Haltung, die auch ohne Worte klar und deutlich zu verstehen gab, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte. Und das war auch gut so, denn der Inhalt ihrer Tasche war fast zehntausend Euro wert.
Im Geiste dankte sie ihrem Vater, der sie schon als Achtjährige zum Jiu-Jitsu-Unterricht geschickt und ihr eingetrichtert hatte, wie wichtig die Kunst der Selbstverteidigung vor allem für Frauen war.
»Wenn du dich gut zu wehren weißt, sieht man dir das an. Und das wird dich schützen«, hatte er gesagt und bisher damit auch recht behalten.
Vor dem Café blieb sie stehen und fuhr sich rasch durch die Haare. In der Hosentasche ihrer Jeans spürte sie das Vibrieren des Handys. Sicher Luca. Jetzt hatte sie allerdings keine Zeit mehr, um mit ihm zu sprechen.
Als sie eintrat, entdeckte sie Alfredo Barbosa sofort, der an einem Tisch links hinten in der Ecke saß und ihr zuwinkte. Wie meistens war am frühen Nachmittag nicht viel los in dem Café. Deswegen hatte er den Treffpunkt auch vorgeschlagen.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätete habe, Senhor Barbosa«, entschuldigte Katja sich, während sie sich die Hände schüttelten. »Aber ich bin im Aufzug festgesteckt.«
Ihr Portugiesisch war inzwischen passabel genug, um eine normale Konversation zu führen.
»Oh, das klingt nicht gut, Katja«, sagte der Anwalt mit den grau melierten dichten Haaren mitfühlend. Katja schätzte ihn auf Ende fünfzig.
»Ach, das kommt leider öfter mal vor. Einmal musste ich zwei Stunden warten, bevor man mich rausholte«, meinte sie und nahm am Tisch Platz.
»Nie im Leben würde ich ein zweites Mal in diesen Aufzug steigen«, sagte er kopfschüttelnd.
»Zukünftig nehme ich nur noch die Treppe. Das ist auch besser für die Figur.«
»Nicht, dass Sie es nötig hätten«, meinte er charmant, doch es lag nichts Anzügliches in seinen Worten.
Alfredo Barbosa bestellte Kaffee und Wasser für Katja und für sich selbst ein weiteres Glas Rotwein. Nachdem die Bedienung die Getränke serviert hatte, wandten die beiden sich dem Geschäftlichen zu.
»Jetzt bin ich aber sehr gespannt«, meinte der Anwalt neugierig.
Katja holte eine längliche Samtschachtel aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm.
Während er sie öffnete, beobachtete sie ihn gespannt. Das breite Lächeln, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, machte die Frage unnötig, ob ihm gefiel, was er sah.
»Ganz zauberhaft. Einfach wunderschön«, murmelte er und holte das filigrane Goldarmband mit den fünf blütenförmig angeordneten Smaragden vorsichtig heraus. »Sie sind wirklich sehr talentiert, Katja«, sagte er und nickte ihr anerkennend zu.
Katja spürte, wie sie leicht errötete. Und das nicht nur wegen des Lobes für das handgefertigte Schmuckstück, das sie selbst designt hatte. Alfredo Barbosa war auch in seinem Alter noch ein ungewöhnlich attraktiver Mann, der es verstand, Frauen den Kopf zu verdrehen.
»Vielen Dank, Senhor Barbosa. Ich freue mich sehr, dass es Ihnen gefällt.«
»Die Steine sind perfekt geschliffen!«
»Sie sind auch von sehr guter Qualität«, erklärte Katja.
Alfredo Barbosa nickte zustimmend.
Katjas Chef, Carlos Pehira, hatte die Smaragde über einen Händler in Kolumbien gekauft und Katja damit überrascht, dass er sie die Steine zum ersten Mal für einen so wichtigen Kunden selbst hatte schleifen lassen.
Genau deswegen war die junge Goldschmiedin vor drei Jahren hierher nach Brasilien gekommen. Um die Kunst des Edelsteinschleifens von den Besten zu lernen. Und Carlos Pehira war einer der Besten. Unter seinem gestrengen Blick hatte sie die Edelsteine in eine facettenreiche Tropfenform gebracht, die perfekt zum Design des Armbands passte.
»Liana wird begeistert sein. Der zarte Schmuck wird wunderbar an ihr aussehen«, schwärmte Alfredo Barbosa.
Liana war nicht seine Frau, sondern seine langjährige Geliebte, wie Katja in der Zwischenzeit erfahren hatte. Der Anwalt erwartete absolute Diskretion. Das war für sie selbstverständlich. Was ihre Kunden privat für ein Leben führten, ging sie schließlich nichts an, egal, wie sie darüber dachte.
Wieder spürte sie das Vibrieren ihres Handys. Wie sie Luca kannte, würde er es von jetzt an in immer kürzeren Abständen so lange versuchen, bis sie seinen Anruf endlich annahm. Und mit jedem erfolglosen Versuch würde seine Laune sich verschlechtern. Katja seufzte innerlich. Hätte sie das Handy vorhin doch nur ganz ausgeschaltet! Lucas Eifersucht machte ihr in der letzten Zeit mehr und mehr zu schaffen. Seit sie vor einem Dreivierteljahr zu dem attraktiven Medizinstudenten in die Wohnung gezogen war, hatte er sich leider zu seinem Nachteil verändert. Und inzwischen gestand sie sich ein, dass es womöglich ein Fehler gewesen war und sie besser weiter zusammen mit ihrer Freundin Lotte in der WG geblieben wäre.
»… als Weihnachtsgeschenk den passenden Ring dazu«, riss Alfredo Barbosa sie aus ihren Gedanken.
»Ebenfalls mit Smaragden?«, fragte sie aufs Geratewohl, da sie den Anfang des Satzes nicht mitbekommen hatte.
»Der Ring soll nur einen einzigen Stein haben, der außergewöhnlich sein muss. So außergewöhnlich, wie Liana für mich ist. Es soll das schönste Weihnachtsgeschenk werden, das sie je bekommen hat«, erklärte er, und Katja entdeckte in seinen Augen etwas, das über eine Schwärmerei für seine heimliche Geliebte weit hinausging. Offenbar war Liana die Frau, der sein Herz gehörte.
»Ich habe Senhor Pehira bereits Bescheid gesagt, damit er sich bei den Händlern umhört, was momentan angeboten wird«, fuhr er fort, und Katja nickte.
Sie verspürte prickelnde Vorfreude auf den neuen Auftrag. Hoffentlich würde sie auch dieses Schmuckstück allein entwerfen und anfertigen dürfen. Bei ihrem Chef wusste man allerdings nie so genau, woran man war.
»Gibt es ein Preislimit?«, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf.
»Kein Limit«, sagte der Anwalt, der aus einer alteingesessenen Familie Salvadors stammte. Geld spielte für ihn keine Rolle.
»Meine Frau zeigt kein sonderliches Interesse an Schmuck, geschweige denn an mir oder dem, was mich ausmacht«, erklärte er plötzlich ungefragt mit gesenkter Stimme.
»Sie können sich meiner Diskretion sicher sein und müssen mir nicht erklären …«, begann Katja, doch er sprach unbeirrt weiter.
»Sie sollen nur verstehen, Katja. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als öffentlich zu Liana und zu unserer Liebe zu stehen, doch das ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Noch nicht. Bis es so weit ist, muss unsere Beziehung geheim bleiben.«
Er holte ein Kuvert aus der Anzugtasche und schob es diskret über den Tisch. Fragend sah sie ihn an.
»Ich möchte mir Ihr Schweigen nicht erkaufen, Katja, denn ich vertraue Ihnen.« Er lächelte. »Aber ich weiß, dass Carlos Pehira sehr knauserig ist. Bestimmt ist er das auch bei den Löhnen seiner Angestellten«, sagte er. »Sehen Sie das also einfach nur als einen kleinen vorzeitigen Weihnachts-Bonus. Davon muss der alte Geizkragen auch gar nichts wissen.«
»Aber … das ist wirklich nicht nötig«, murmelte sie verlegen.
»Vieles auf dieser Welt ist nicht nötig, Katja. Na und? Von einer Sekunde auf die andere kann alles zu Ende sein.« Er verdeutlichte es mit einem Fingerschnippen. »Gönnen Sie sich etwas Schönes und genießen Sie auch mal das Unnötige«, riet er zwinkernd und bedeutete der Bedienung, dass er zahlen wolle.
»Das werde ich machen. Vielen Dank, Senhor Barbosa«, sagte sie und steckte das Kuvert in ihre Handtasche.
Zwanzig Minuten später betrat sie ihre Wohnung. Es war dunkel, und die Luft war stickig. Die Fensterläden waren geschlossen, um die Hitze des Tages auszusperren. Katja legte ihre Tasche ab und öffnete eines der Fenster eine Handbreit, in dem Versuch, etwas frische Luft hereinzulassen.
Bevor sie wieder zurück in die Goldschmiedewerkstatt ging, wollte sie kurz duschen und sich umziehen. Sie holte ihr Handy aus der Jeans. Sechsmal hatte Luca versucht, sie zu erreichen. Normalerweise hätte sie ihn sofort nach dem Verlassen des Cafés zurückgerufen oder ihm zumindest eine Nachricht geschickt. Doch heute verspürte sie eine Art von Trotz. Er hatte gewusst, dass sie ein Treffen mit einem Kunden hatte und seine Anrufe nicht annehmen konnte. Doch das war ihm offensichtlich egal gewesen. Je mehr sie sich auf seinen Kontrollwahn einließ, desto mehr vereinnahmte er sie. Und das tat ihrer Beziehung nicht gut. Spontan griff sie nach dem Handy und drückte auf eine Kurzwahlnummer.
»Hey, du störst mich beim Relaxen am Strand!«, meldete sich eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung, die von sanftem Meeresrauschen untermalt wurde.
»Du bist echt der faulste Mensch, den ich kenne, Lotte«, feixte Katja schmunzelnd. Dabei war ihre beste Freundin alles andere als faul.
Kurz nach ihrer gemeinsamen Ankunft in Brasilien hatte Lotte ihre ganzen Ersparnisse und jede Menge Herzblut in eine Strandbar am Santo Antonio Beach gesteckt, die inzwischen vor allem bei Urlaubern ziemlich beliebt war. Doch auch Einheimische gehörten zu Lottes Stammgästen, die sich selbst als rothaarige Wuchtbrumme bezeichnete und die Menschen mit ihrer unbeschwerten Energie und dem schelmischen Blick aus strahlend hellgrünen Augen bezauberte.
Nicht weit entfernt von der Bar lag die Wohnung, in der Katja und Lotte anfangs gewohnt hatten. Inzwischen vermisste sie diese unbeschwerte Zeit sehr.
»Neidisch?«, fragte Lotte.
»Und wie!« Katja seufzte.
»Was ist denn los?« Lotte erkannte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
»Eigentlich wäre es ein Tag, um zu feiern. Mein Kunde ist total zufrieden mit dem Schmuckstück. Aber, da ist …«, sie schluckte. »Ach, weißt du, mir wäre nach einem Caipirinha und dem Ratschlag meiner besten Freundin.«
»Hört sich mal wieder nach Luca-Stress an.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Hm«, bestätigte Katja knapp.
»Komm heute Abend vorbei. Ich kann hier sowieso ein wenig Hilfe brauchen, und danach reden wir. Okay?«
»Ja. Gern. Danke, Lotte … bis später!«
»Bis dann … Ach, Blondie?«
»Du sollst mich doch nicht Blondie nennen«, beschwerte Katja sich halbherzig. Den Spitznamen hatte Lotte ihr bei ihrer ersten Begegnung verpasst und neckte sie immer wieder gern damit.
»Das wirst du mir nie austreiben können.« Lotte lachte auf. »Sag mal, kannst du mir bitte ein großes Stück Bolo Souza Leão mitbringen?«, fragte sie dann.
Katja lächelte. Bolo Souza Leão, auch König der Kuchen genannt, war eine in Brasilien äußerst beliebte Süßspeise, die von der Konsistenz her eher einem Pudding ähnelte. Lotte liebte diesen Kuchen. Überhaupt war sie der brasilianischen Küche verfallen, die hier in Salvador de Bahia stark von afrikanischen Einflüssen geprägt war.
»Klar. Bringe ich mit«, versprach Katja.
Als sie auflegte, fühlte sie sich viel besser. Die Aussicht auf einen Abend in der Strandbar und ein ausführliches Gespräch mit Lotte munterte sie auf.
Katja genoss eine lauwarme Dusche, die Staub und Schweiß wegspülte, und wickelte sich danach in ein flauschiges Handtuch. Als sie aus dem Badezimmer kam, stand Luca vor ihr.
»Luca?«, rief sie erschrocken. Was machte er denn um diese Uhrzeit hier? Er müsste doch in der Klinik sein.
»Warum hast du mich nicht zurückgerufen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«, sagte er vorwurfsvoll.
Katja fühlte sich unbehaglich unter seinem Blick. Doch sie ging gleich in die Offensive.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mit einem Kunden verabredet bin. Da kann ich eben keine Privatgespräche führen!«
»Mit einem Kunden? Ach ja?«
Aufgebracht hielt er ihr den Umschlag von Barbosa unter die Nase.
»Was für ein Kunde ist das denn, der dir ein Kuvert mit tausend Real in die Tasche steckt?«, fragte er.
Umgerechnet waren das etwa zweihundertzwanzig Euro.
»Wie kommst du dazu, in meiner Tasche zu wühlen?«, fuhr sie ihn an.
»Wolltest du mir das etwa verheimlichen?«, konterte er scharf mit einer Gegenfrage.
Seine dunklen Augen blitzten. Die Züge in dem attraktiven Gesicht, in das sie sich vor fast zwei Jahren verliebt hatte, wirkten hart.
»Verheimlichen?« Sie lachte kurz auf. »Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, selbst ins Kuvert zu sehen, geschweige denn, dir davon zu erzählen … Wenn du es genau wissen willst, es war ein Bonus des Kunden, der mit meiner Arbeit sehr zufrieden war.«
»Und wieso musstest du dich mit dem in einem Café treffen? Warum kommt der nicht in das Schmuckgeschäft oder in die Goldschmiedewerkstatt? So wie jeder andere Kunde auch? Kannst du mir das mal erklären?«
»Das hatte eben seine Gründe«, antwortete sie ausweichend. Die erwartete Diskretion würde sie wegen Luca sicher nicht brechen.
»Gründe?« Er lachte bitter. »Diese Gründe würde ich aber echt gern kennen!«
»Sag mal, willst du mir etwa unterstellen …«, sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, »… dass ich mich prostituiert habe für das Geld?« Sie sprach ganz direkt an, was er sich vermutlich in seinem Kopf zusammenspann. »Wenn du wirklich so was von mir denkst, dann …«
Offenbar erkannte er in diesem Moment, dass er zu weit gegangen war. Sein Blick veränderte sich schlagartig, und er wirkte betroffen.
»Nein … Katja, so habe ich das nicht gemeint. Echt nicht! Ich glaube, du missverstehst das, weil du meine Sprache noch immer nicht so gut sprichst.«
»Ich versteh dich gut genug«, warf sie ein.
Er griff nach ihrer Hand, wollte sie an sich ziehen. Doch sie zog sie zurück.
»Katja, du musst mich bitte verstehen, ich … du hast dich nicht gemeldet, und ich wusste nicht …«
»Was wusstest du nicht?«
»Na ja, ob du dich vielleicht mit einem anderen Mann triffst«, gab er zu.
Es war ihm also nicht darum gegangen, ob ihr womöglich etwas passiert sein könnte. Hier ging es nur um fehlendes Vertrauen und vor allem um seine Eifersucht!
»Ich habe mich mit einem anderen Mann getroffen. Aber rein beruflich, Luca!«
»Wäre es anders, würde ich das nicht ertragen«, sagte er.
Das war der Moment, in dem Katja schmerzlich klarwurde, dass ihre Beziehung auf der Kippe stand. Sie war ihm immer treu gewesen, aber sie wollte ihm das nicht tagtäglich beweisen müssen.
»Nicht ertragen?«, wiederholte sie. »Weißt du überhaupt noch, was du sagst?«
»Wir gehören doch zusammen, Katja!«, betonte er und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn.
»Dass wir ein Paar sind, bedeutet nicht, dass du mich in eine Glaskugel einsperren und jeden meiner Schritte kontrollieren kannst, Luca«, stellte sie klar.
Sein Blick verdüsterte sich.
»Warum machst du es mir nur so schwer?«, fragte er inständig. »Ich liebe dich doch. Ich tue alles für dich. Aber du kannst dich nicht so verhalten, Katja. Du musst mich schon auch …«
»Ich muss gar nichts, Luca!«, unterbrach sie ihn.
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Und sie war froh darüber.
»Ja, hallo?«
»Hallo Katja«, hörte sie eine vertraute Stimme.
»Papa!«, rief sie überrascht.
Es war schon eine Weile her, seit sie das letzte Mal telefoniert hatten. Genauer gesagt, an seinem Geburtstag Anfang September.
»Wie geht es dir denn, mein Mädchen?«, wollte ihr Vater wissen.
»Gut. Und dir?«
Sie bemerkte, wie sehr Luca sich darüber ärgerte, dass sie ans Telefon gegangen war und damit ihr Gespräch unterbrochen hatte. Er stand mit verschränkten Armen neben ihr und machte keinerlei Anstalten, sie allein zu lassen. Natürlich nicht. Er wollte ja über jeden Aspekt ihres Lebens Bescheid wissen.
»Ach, wie sollte es mir schon gehen?«, fragte ihr Vater Karl leichthin und lachte ein wenig zu laut. »Deine kleine Schwester hält mich ständig auf Trab.«
»Halbschwester!«, korrigierte Katja ihn sofort. Sie hatten noch nicht einmal eine Minute miteinander gesprochen, und schon musste er Ella erwähnen.
»Katja, bitte hör zu. Ich will, dass du wieder zurückkommst«, drängte ihr Vater.
Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Noch immer war sie aufgewühlt wegen der Auseinandersetzung mit Luca, und jetzt begann schon die nächste Diskussion.
»Vielleicht klappt es ja mit einem Besuch bei euch gleich nach Weihnachten«, sagte Katja bemüht ruhig, obwohl sie genau wusste, dass ihr Vater das nicht gemeint hatte.
»Nicht nur zu Besuch!«, sagte ihr Vater prompt. »Ich möchte dich wieder ganz hier haben.«
»Ich werde irgendwann wieder zurückkommen. Aber sicherlich noch nicht jetzt«, stellte sie unmissverständlich klar. »Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut und …«
»Katja, bitte. Du musst …«
»Ich muss gar nichts!«, sagte sie innerhalb einer Minute zum zweiten Mal. Sie hatte genug für heute, sie wollte sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu tun und zu lassen hatte. Weder von Luca noch von ihrem Vater.
»Bitte. Liebes. Ich brauche dich hier im Geschäft.« Ihr Vater blieb hartnäckig.
»Wozu? Du hast Julia und Ella. Da brauchst du ganz bestimmt nicht auch noch mich. Tut mir leid, Vater«, sie benutzte bewusst die Anrede, die er überhaupt nicht mochte, »aber ich muss jetzt wieder zur Arbeit. Mach’s gut und bis bald.«
Sie legte auf, ohne dass er sich von ihr verabschieden konnte.
»Was wollte dein Vater?«, fragte Luca sofort.
»Nichts«, antwortete sie genervt. In diesem Moment schoss ihr für eine Sekunde der Gedanke durch den Kopf, ob sie nicht tatsächlich wieder nach Bayern zurückgehen sollte, nur um einen Vorwand zu haben, Luca auf einfachem Weg loszuwerden. Gleich darauf schalt sie sich dafür. Sie war kein Mensch, der sich klammheimlich aus dem Staub machte, wenn es schwierig wurde.
»Will er, dass du wieder zurückgehst?«, hakte er nach, offenbar ohne zu bemerken, wie sehr er ihr inzwischen auf die Nerven ging. Unter seinem fragenden Blicken zuckte sie lapidar mit den Schultern und verschwand im Schlafzimmer.
Er folgte ihr.
»Katja?«
»Ich hab jetzt keine Zeit mehr, Luca. Bin schon viel zu spät dran.« Sie löste das Handtuch, hängte es über einen Stuhl und schlüpfte rasch in frische Kleidung.
»Na gut. Lass uns später reden, ja? Wir machen uns einen schönen Abend.«
»Okay«, sagte sie schnell, auch wenn sie sich bereits mit Lotte verabredet hatte. Nach der Arbeit würde sie ihm eine Nachricht schicken und ihm sagen, dass sie ihren gemeinsamen Abend verschieben müssten, weil sie bei Lotte war. Sicher wäre er darüber nicht sonderlich begeistert, aber für heute hatte sie genug davon, über jeden ihrer Schritte Rechenschaft abzulegen und seine Erlaubnis einzuholen. Sie brauchte erst wieder einen klaren Kopf, um über alles nachzudenken.
Als sie angezogen war, griff Luca nach ihrer Hand, und diesmal entzog sie sich ihm nicht, obwohl es ihr schwerfiel.
»Es tut mir wirklich leid, mein zauberhafter Engel. Ich liebe dich so sehr, dass ich manchmal viel zu impulsiv bin. Aber ich meine das doch nicht böse. Ich will nur mit dir glücklich sein, Katja. Du bist die wundervollste Frau, die ich je kennengelernt habe, und du weißt, wie viel du mir bedeutest.«
In der Vergangenheit hatte er sie mit solchen und ähnlichen Beteuerungen immer wieder um den Finger gewickelt. Heute ließen sie Katja kalt. Doch nicht nur das. Seine Worte stießen sie regelrecht ab. Was war das auch für eine Liebe, die dem anderen die Luft zum Atmen nahm? Es hatte keinen Sinn mehr. Luca würde sich nicht ändern. Und sie würde sich nicht für Luca ändern. Eine Trennung war wohl unvermeidlich, wie sie sich nun endlich eingestand. Allerdings würde sie nicht jetzt sofort mit ihm Schluss machen, so zwischen Tür und Angel, auch wenn alles in ihr danach drängte, es schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Sie musste einen ruhigen Moment dafür finden, ihm klarmachen, dass es vorbei war, und am besten schon alles vorbereitet haben, um danach aus der Wohnung auszuziehen, in der Luca vorher schon gewohnt hatte. Gut, dass sie nicht sonderlich viele Sachen hatte. Alles, was ihr wichtig war, würde vermutlich in zwei große Koffer passen.
»Katja!«, riss er sie aus den Gedanken.
»Ich muss jetzt wirklich los zur Arbeit, Luca«, sagte sie entschieden.
»Und ich zurück in die Klinik. Sicher werde ich Ärger bekommen.« Der Vorwurf, dass er diesen Ärger hauptsächlich ihretwegen bekäme, lag unausgesprochen in der Luft. Doch sie ging gar nicht darauf ein.
»Adeus, Luca.«
»Adeus meu amor! Bis später!«
Einem Abschiedskuss ausweichend, schnappte sie ihre Handtasche und verließ die Wohnung.
Carlos Pehira nickte nur, als Katja ihm eine Stunde später erzählte, wie zufrieden Alfredo Barbosa mit dem Armband gewesen war.
»Davon bin ich ausgegangen, sonst hätte ich dich nicht damit zu ihm geschickt. Und jetzt mach dich an die Arbeit. Es gibt viel zu tun«, forderte er sie auf.
»Natürlich, Chef.«
Auf dem Weg zu ihrer Werkbank drehte sie sich noch mal zu ihm um.
»Senhor Pehira?«
»Ja?«, kam es ungeduldig.
»Darf ich auch diesen Smaragd-Ring allein anfertigen? Ich habe schon Ideen, wie ich ihn in eine …«
»Nein!«, unterbrach er sie.
Nein?
»Aber, Senhor Pehira … wieso denn nicht? Bei den Smaragden am Armband habe ich doch schon bewiesen, dass ich es kann.«
»Diese Steine waren klein. Und damit auch das Risiko, sollte etwas schiefgehen. Ich gebe zu, du hast es ganz ordentlich gemacht. Aber ein Smaragd, wie Alfredo Barbosa ihn jetzt als Solitär im Ring möchte, ist zu kostbar, um ihn von einer Anfängerin schleifen zu lassen. Man muss beherzt vorgehen, darf keine Sekunde unsicher sein, damit man das besondere Strahlen aus dem Rohsmaragd herausholt und kein Gewicht unnötig verliert. Diese Routine hast du noch nicht, Mädchen.«
»Aber …«
»Kein Aber. Für das bevorstehende Weihnachtsgeschäft brauchen wir eine größere Auswahl an günstigen Ringen und Armkettchen – das ist neben den Reparaturen genug Arbeit, du wirst in der nächsten Zeit sehr beschäftigt sein.«
Damit drehte er sich um und verließ die Werkstatt.
Enttäuscht sah Katja ihm hinterher. Natürlich konnte sie seine Bedenken ein wenig nachvollziehen. Es ging um sehr viel Geld. Trotzdem. Sie hatte in der Zeit, die sie hier war, schon so viel von ihm gelernt und traute es sich zu. Sie musste ihn einfach überzeugen. Bis er einen passenden Rohsmaragd gefunden hatte, würde sie sich weiter beweisen, auch wenn seine deutlichen Worte ihr keine allzu große Hoffnung auf einen Sinneswandel machten.
Katja seufzte. Der Tag hatte so gut begonnen, doch inzwischen würde sie ihn am liebsten sofort abhaken. Die angespannte Situation mit Luca, die für sie inzwischen nur noch in einer Trennung münden konnte, lag ihr schwer im Magen. Dazu das Telefonat mit ihrem Vater, der nicht akzeptieren wollte, dass sie nicht in ihre alte bayerische Heimat zurückkehren würde. Zumindest nicht in den nächsten Jahren.
Sie konnte es kaum mehr erwarten, zu Lotte zu kommen. Doch zuerst musste sie noch eine Reihe gerissener Goldkettchen reparieren und Ohrringe reinigen. Arbeiten, die sie in der Werkstatt ihres Vaters schon als Teenager hatte machen dürfen. Als sie an diese Zeit zurückdachte, spürte sie plötzlich ein trauriges Sehnen. Damals waren sie und ihr Vater ein perfektes Team gewesen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter, die ausgerechnet beim Yoga an einem geplatzten Aneurysma gestorben war, als Katja noch keine zehn Jahre alt gewesen war, war er, zusammen mit ihrer Großmutter Maria, die ebenfalls Goldschmiedin war, zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden.
Nie wäre Katja etwas anderes in den Sinn gekommen, als das Handwerk von ihrem Vater und der Großmutter zu erlernen und das traditionelle Familiengeschäft später weiter auszubauen und irgendwann zu übernehmen. Doch kaum hatte sie ihre Ausbildung abgeschlossen, zwang ein komplizierter Oberschenkelbruch nach einem Fahrradunfall ihre Großmutter zu einer längeren Auszeit. Maria hatte sich in den letzten Jahren hauptsächlich um den Verkauf und die Verwaltungsarbeit gekümmert und ihrem Sohn und der Enkelin die Werkstatt überlassen. Da sie inzwischen ohnehin im Rentenalter war, beschloss sie, sich durch diese erzwungene Auszeit ganz aus dem Geschäft zurückzuziehen und den nächsten Generationen den Laden zu überlassen. Eine ihrer letzten Amtshandlungen war es gewesen, eine Mitarbeiterin einzustellen, die ihre Aufgaben übernehmen sollte. Und so war Julia in ihrer aller Leben getreten.
Innerhalb weniger Wochen hatte Karl sich hoffnungslos in die zehn Jahre jüngere Frau verliebt, die so völlig anders war als Katjas Mutter Barbara. Obwohl es ihr damals nicht ganz leichtgefallen war, hatte Katja zunächst versucht, Julia als Freundin ihres Vaters zu akzeptieren. Doch in der Konstellation zu dritt im Geschäft kam es immer öfter zu Spannungen zwischen Katja und Julia, die – jede auf ihre Art – um Karls Aufmerksamkeit buhlten.
Sie waren noch kein halbes Jahr zusammen, da eröffneten sie Katja ausgerechnet an ihrem 19. Geburtstag, dass Julia schwanger sei und sie bald heiraten würden. Die Wohnung über dem Laden war nicht groß genug für alle, weshalb Julia Katja nahegelegt hatte, sich rechtzeitig eine eigene Bleibe zu suchen.
Karl hatte versucht, alles als coolen Start für Katja in die Eigenständigkeit zu verkaufen. Was es eigentlich auch gewesen wäre, doch da Katja von den Ereignissen gewissermaßen überrollt worden war, fühlte es sich für sie an wie ein Rauswurf. Als wollte ihr Vater seine alte Familie mit einer neuen ersetzen. Selbst Maria war begeistert gewesen, dass ihr einziger Sohn noch einmal eine Ehe eingehen wollte und erneut Vater wurde. Somit hatte es auch von ihrer Oma keine Rückendeckung gegeben.
An jenem Tag war Katja zum Grab ihrer Mutter gefahren und hatte lange Zwiesprache mit ihr gehalten. Sie fühlte sich zerrissen. Einerseits gönnte sie ihrem Vater das neue Glück, gleichzeitig kam sie sich so einsam vor wie nie zuvor. Schließlich hatte sie eine Entscheidung getroffen.
»Ich werde nach München gehen und mir dort einen Job suchen«, hatte sie später am Abend zu ihm gesagt und insgeheim gehofft, ihr Vater würde ihr das Vorhaben ausreden wollen, sie bitten zu bleiben. Doch er hatte lächelnd genickt und sogar erleichtert gewirkt.
»Das ist ein guter Plan, Katja. Deine Oma und ich haben dir ja schon alles beigebracht. Jetzt wird es Zeit, dass du dich handwerklich bei anderen Goldschmieden weiterentwickelst und inspirieren lässt, bevor du irgendwann unser Geschäft übernimmst. Ich kann dir Kontakte zu Kollegen vermitteln«, schlug er vor.
Doch Katja hatte das abgelehnt. Sie wollte sich allein darum kümmern. Schon zwei Monate später trat sie ihre neue Stelle an. Allerdings nicht in München, da sie dort nichts Passendes gefunden hatte, sondern in der Werkstatt eines bekannten Hamburger Goldschmiedes am anderen Ende der Republik.
Katja war so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie fast ihren Feierabend übersehen hätte, wenn ihr Chef sie nicht angesprochen und nach Hause geschickt hätte. Sie beendete noch die Reparatur einer Schließe goldener Creolen, bevor sie ihren Arbeitsplatz aufräumte, ihre Tasche nahm und die Werkstatt verließ. Um womöglich nicht erneut im Fahrstuhl stecken zu bleiben, nahm sie dieses Mal die Treppe nach unten.
Dein früheres Zimmer bewohnt jetzt meine neue Bedienung«, sagte Lotte bedauernd. »Aber bis du was anderes gefunden hast, kannst du auf jeden Fall bei mir schlafen. Mein Bett ist ja groß genug.«
»Danke, Lotte.«
»Hey, das ist doch überhaupt keine Frage.«
Sie prosteten sich mit ihren Gläsern zu, und Katja nahm einen ordentlichen Schluck Caipirinha, den Lotte mit einem Extraschuss Cachaça gemixt hatte. Vor zehn Minuten hatten sie die Strandbar geschlossen, und jetzt saßen sie nebeneinander auf einer Decke im kühlen Sand am Meer. Das Licht des Dreiviertelmondes spiegelte sich sanft glitzernd in den leise rauschenden dunklen Wellen. Lotte hatte zwei Einweckgläser mit Kerzen aufgestellt, die normalerweise die Tische auf der Terrasse der Bar zierten.
»Und danke, dass du es nicht sagst«, sagte Katja nach einer Weile.
»Du meinst: Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass Luca nicht der Richtige für dich ist?«
Katja musste lachen.
»Genau das meinte ich.«
»Tja. In diesem Fall hätte ich lieber nicht recht gehabt, Blondie. Ehrlich!«
Katja ignorierte den ungeliebten Spitznamen und lehnte sich an die Schulter ihrer Freundin.
»Ich hätte nie gedacht, dass er sich so verändern würde«, gestand sie traurig. »Luca schien so offen und lebensfroh, als wir uns kennenlernten. Genau das, was ich damals brauchte. Ich verstehe nicht, warum er jetzt so anders ist. Sag, Lotte, denkst du, es liegt vielleicht irgendwie an mir, dass er …«
»Oh nein! Komm mir bloß nicht damit, dir das Büßerhemd anzuziehen, Katja«, unterbrach Lotte sie streng und rückte ein Stück von ihr ab, um ihr in die Augen zu sehen. »Es liegt nicht an dir. Verstanden? Luca mag auch seine guten Seiten haben, aber er vereinnahmt dich immer mehr, und sein Kontrollwahn ist wirklich nicht mehr normal. Letztlich vertraut er dir einfach nicht.«
»Vielleicht weil seine letzte Freundin ihn betrogen hat?«, warf Katja ein.
»Trotzdem. Das ist doch keine Basis für eine Beziehung. Und dieses Telefonat vorhin mit ihm …«
Lotte sprach nicht weiter, aber das musste sie auch nicht. Als Luca die Nachricht gelesen hatte, dass Katja den Abend bei Lotte verbringen und auch dort übernachten würde, war er stinksauer gewesen. Er hatte von ihr verlangt, sofort nach Hause zu kommen, und ihr am Handy eine solche Szene gemacht, dass sie einfach aufgelegt hatte. Als er gleich darauf wieder angerufen hatte, hatte Lotte ihr das Handy aus der Hand genommen und sich gemeldet.
»Hallo?«
»Bist du das, Lotte? Ich will mit Katja reden! Sofort!«
Er hatte so laut gesprochen, dass Katja das Gespräch auch ohne Lautsprecher mithören konnte.
»Hallo Luca«, hatte Lotte sehr ruhig gesagt, ohne sich von ihm provozieren zu lassen. »Katja hilft mir ein wenig in der Bar aus. Das ist doch kein Problem für dich?«
»Sie sollte bei mir sein! Wir wollten den Abend heute gemeinsam verbringen.«
»Pläne können sich auch mal kurzfristig ändern, Luca. Und damit sie nicht allein so spät unterwegs sein muss, schläft sie auch gleich bei mir.«
»Das braucht sie nicht. Ich komme und hole sie ab«, hatte er bestimmend gesagt.
»Nein. Das ist nicht nötig. Denn Katja möchte hier schlafen. Und darüber brauchen wir jetzt nicht weiter zu diskutieren. Katja weiß selbst am besten, was sie will und was nicht. Und du hast das zu akzeptieren.«
»Misch du dich da bloß nicht ein, Lotte!«, hatte er sie grob angefahren. »Wenn ich meine Freundin abholen möchte, dann tu ich das!«
Katja hatte Lotte angesehen, dass diese langsam die Geduld verlor.
»Jetzt hör mir mal gut zu, Luca. Du kannst natürlich herkommen und Katja eine Szene machen. Ob das einer Beziehung guttut, wage ich zu bezweifeln. Aber versuche es nur und blamiere dich vor allen Leuten hier und vor deiner Freundin, wenn du meinst. Ich würde mir das an deiner Stelle allerdings zweimal überlegen!«
Luca hatte ein derbes Schimpfwort gezischt und dann das Gespräch abgebrochen.
»Du hast ja recht, Lotte«, sagte Katja und nippte wieder an ihrem Drink. »Er benimmt sich einfach unmöglich, und es wird immer schlimmer. Ich muss morgen mit ihm reden. Es hat keinen Sinn mehr, es länger hinauszuschieben.« Auch wenn das Ende einer Beziehung immer traurig war, so fühlte Katja sich doch hauptsächlich erleichtert, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben. Ein gewaltiger Druck löste sich von ihrer Brust, und sie hatte das Gefühl, nach längerer Zeit zum ersten Mal wieder richtig durchatmen zu können.
»Ich komme mit zu dir, wenn du deine Sachen holst. Und wenn du möchtest, dann bleib ich auch mit dabei, wenn du ihm sagst, dass Schluss ist«, bot Lotte an.
»Danke!« Katja griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie kurz. »Aber das Gespräch führe ich besser allein mit ihm. Das bin ich ihm schuldig.«
Lotte zuckte mit den Schultern.
»Wie du meinst, aber ich werde in der Nähe bleiben. Man weiß ja nie …«
»Ach, wenn ich dich nicht hätte …«, murmelte Katja.
Lotte und sie hatten sich durch einen verrückten Zufall vor neun Jahren in Hamburg kennengelernt. Katja war zu einem Bewerbungsgespräch in einer der angesagtesten Goldschmieden, die auf hochpreisige Einzelanfertigungen spezialisiert war, unterwegs gewesen. Während sie auf dem Handy die Wegbeschreibung las, hatte sie einen frischen Hundehaufen übersehen, in den sie mit ihren schicken hellen Pumps hineingetreten war. Sie hatte versucht, den gröbsten Dreck an der Kante des Bürgersteiges abzukratzen.
»Verdammte Scheiße!«, hatte sie geschimpft und in ihrer Handtasche vergeblich nach Papiertaschentüchern gesucht.
»Das trifft es im wahrsten Sinne des Wortes, Blondie«, hatte sie jemanden amüsiert sagen hören. Verärgert hatte sie sich umgedreht und in die funkelnden grünen Augen einer jungen üppig gebauten Frau geschaut, deren rote Lockenmähne über die Schultern fiel.
»Entschuldige, war nicht böse gemeint … Hier!« Sie hatte Katja ein Päckchen Taschentücher gereicht. »Um den Gestank loszukriegen, musst du den Schuh am besten sofort abwaschen.«
»Das schaffe ich nicht mehr. Ich muss in genau neun Minuten bei einem Vorstellungsgespräch sein und brauche noch mindestens fünf Minuten, bis ich da bin … Aber mit stinkenden Schuhen kann ich mir das vermutlich gleich abschminken. Verdammter Mist.«
»Du kommst aus Bayern, oder?«, hatte die Rothaarige mit einem amüsierten Lächeln gefragt.
»Ist wohl nicht zu überhören«, hatte Katja erwidert.
»Nein. Aber ich mag den Dialekt … Was hast du denn für eine Schuhgröße?«
»39, warum?«
Statt einer Antwort war die freundliche junge Frau schon aus einem ihrer schwarzen Ballerinas geschlüpft.
»Ich hab 40, aber die müssten gehen, und die Farbe passt auch einigermaßen zu deiner Bluse«, hatte sie gesagt, und Katja hatte sie nur baff angeschaut. »Jetzt mach schon, dann schaffst du es noch rechtzeitig zu deinem Bewerbungsgespräch.«
»Aber … aber wie soll ich sie dir denn zurückgeben?«
»Ich arbeite in der Kneipe gleich dort drüben«, hatte sie erklärt und zur anderen Straßenseite gedeutet. »Komm einfach vorbei, wenn du fertig bist, und frag nach Lotte. Na, mach schon!«
»Danke, Lotte. Ich bin Katja.«
»Viel Glück, Katja.«
Eilig hatten sie die Schuhe getauscht, und während Lotte barfuß mit den dreckigen Pumps zur Kneipe marschierte, um sie dort zu waschen, schaffte Katja es gerade noch, pünktlich zum Vorstellungsgespräch zu kommen.
Später an diesem Tag hatten sie und Lotte die Schuhe zurückgetauscht und auf die Zusage für die Stelle in der Goldschmiede angestoßen.
»Wo ich hier günstig eine Wohnung kriege, weißt du nicht zufällig?«, hatte Katja gefragt, als Lotte ihre Schicht beendet und sie gemeinsam die Kneipe verlassen hatten.
»Günstig?« Sie lachte auf. »Kannst du vergessen. Ich bin selbst schon länger auf der Suche. Ich möchte endlich bei meinen Eltern ausziehen, finde aber nichts, das ich mir leisten kann.«
Die jungen Frauen hatten sich angesehen und plötzlich denselben Gedanken gehabt.
»Wie wäre es denn mit einer WG?«, hatte Katja ihn ausgesprochen. »Dann könnten wir uns die Kosten teilen.«
Lotte hatte grinsend genickt.
»Keine Ahnung warum, aber mit dir könnte ich mir eine WG vorstellen, auch wenn ich dich erst seit heute kenne«, hatte sie gesagt.
»Dito.«
Das war der Beginn einer wundervollen Freundschaft gewesen.
»Möchtest du noch Nachschub?«, riss Lotte sie aus ihren Gedanken. Erstaunt stellte Katja fest, dass sie den Caipirinha schon ausgetrunken hatte. Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich morgen einen klaren Kopf habe«, sagte sie.
»Kann nicht schaden«, stimmte Lotte ihr zu.
»Was tut sich eigentlich momentan bei dir in Sachen Männer?«, fragte Katja, um ein wenig von ihren eigenen Problemen abzulenken.
»Gute Frage«, meinte Lotte und lachte kurz auf. »Irgendwie hat es schon länger keiner mehr geschafft, die Schmetterlinge in meinem Bauch fliegen zu lassen«, gab sie zu.
»Am Angebot mangelt es aber nicht«, sagte Katja, die am Abend in der Bar wieder einmal festgestellt hatte, dass zahlreiche Männer nur zu gern nähere Bekanntschaft mit Lotte gemacht hätten.
»Auf mehr als ein wenig flirten hab ich momentan keinen Bock.«