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Der Zauber von Weihnachten vereint jede Familie!
Singlefrau Emily soll kurz vor den Feiertagen die siebenjährigen Zwillinge Stella und Joshua ins Berchtesgadener Land zu ihrer Mutter zu bringen, die dort einen Kinofilm dreht. Als Valentin in Hamburg seine Kinder an Emily übergibt, ahnt die Personenschützerin, dass es ein schwieriger Auftrag werden wird, denn die Zwillinge wollen nicht ohne ihren Vater Weihnachten feiern. Während sie in den tief verschneiten bayerischen Bergen festsitzen, heckt ausgerechnet Weihnachtsmuffel Emily mit den Kindern ein Komplott aus, die geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen. Dabei holen sie die Erinnerung an ihre eigene Kindheit ein …
Wohlfühllektüre für die schönste Zeit des Jahres – lesen Sie auch die anderen Weihnachtsromane von Angelika Schwarzhuber!
Der Weihnachtswald
Das Weihnachtswunder
Das Weihnachtslied
Das Weihnachtsherz
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Seitenzahl: 351
Buch
Singlefrau Emily soll kurz vor den Feiertagen die siebenjährigen Zwillinge Stella und Joshua ins Berchtesgadener Land zu ihrer Mutter zu bringen, die dort einen Kinofilm dreht. Als Valentin in Hamburg seine Kinder an Emily übergibt, ahnt die Personenschützerin, dass es ein schwieriger Auftrag werden wird, denn die Zwillinge wollen nicht ohne ihren Vater Weihnachten feiern. Während sie in den tief verschneiten bayerischen Bergen festsitzen, heckt ausgerechnet Weihnachtsmuffel Emily mit den Kindern ein Komplott aus, die geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen. Dabei holen sie die Erinnerung an ihre eigene Kindheit ein …
Autorin
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV, unter anderem für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:
Liebesschmarrn und ErdbeerbluesHochzeitsstrudel und ZwetschgenglückServus heißt vergiss mich nichtDer WeihnachtswaldBarfuß im SommerregenDas WeihnachtswunderZiemlich hitzige ZeitenDas WeihnachtsliedZiemlich turbulente ZeitenDas WeihnachtsherzZiemlich runde Zeiten
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Angelika Schwarzhuber
Die Weihnachtsfamilie
Roman
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Alexandra Baisch
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Subbotina Anna, Romolo Tavani, Guschenkova) und stock.adobe.com (auergraphics, seewhatmitchsee, Marek, Stillkost, t.tomsickova, Andrey Volokhatiuk, Tatyana Sidyukova)
LH · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29074-0V002www.blanvalet.de
Für Arno Danke, dass du ein Teil unserer Familie warst.
Es war einmal ein schönster Tag im Jahr
Als die zehnjährige Emily an diesem Morgen erwachte, wurde es draußen gerade hell. Im Bett unter ihr war das leise Schnarchen ihrer drei Jahre älteren Schwester Laura zu hören, mit der sie sich ein Zimmer teilte.
Heute ist Heiligabend, dachte Emily glücklich. Der Tag, auf den sie schon seit Wochen hingefiebert hatte. Der schönste Tag im Jahr ! Endlich!
Sie schlug die Bettdecke zurück, kletterte die Leiter am Etagenbett nach unten, ohne Laura zu wecken, und schlüpfte in die Hausschuhe. Leise verließ sie im Schlafanzug das Kinderzimmer, putzte sich im Bad die Zähne und ging in die Wohnküche am anderen Ende des Flurs.
Ihre Mutter Luise stand mit dem Rücken zur Tür an der Arbeitsfläche und summte vergnügt zur weihnachtlichen Popmusik aus dem Radio.
»Guten Morgen, Mama!«, sagte Emily. Ihre Mutter drehte sich um.
»Guten Morgen, Mäuschen!«, sagte sie mit einem Lächeln, und Emily sah, dass sie gerade Eier für einen Kuchen trennte. »Du bist ja schon früh wach.«
»Ich konnte nicht mehr schlafen … Wo ist denn Papa ?«
»Er muss noch etwas besorgen.«
»Was denn?«
»Sei nicht so neugierig, mein Schatz!«
Emily hakte nicht weiter nach. Sicherlich hatte es etwas mit dem Christkind zu tun, und da würde ihre Mutter natürlich nichts verraten.
»Magst du mir helfen, den Weihnachtskuchen zu backen?«, fragte Luise.
»Au ja!«
Emily nickte begeistert.
Der Weihnachtskuchen war ein besonderer Kuchen, den es nur am 24. Dezember gab. Und zwar am Nachmittag, während die Geschwister zusammen in einem der Kinderzimmer saßen, das sie ab Mittag bis zur Bescherung am Abend nur noch verlassen durften, um auf die Toilette zu gehen. Damit sie dem Christkind nicht versehentlich in die Quere kamen.
»Der Kuchen, der die Wartezeit versüßt« nannte ihr Papa Karl diesen traditionellen Kuchen, den es in seiner Kindheit schon für ihn und seine drei älteren Geschwister gegeben hatte. Das Rezept dafür stammte von seiner bereits verstorbenen Mutter. Dazu gab es heiße Schokolade, die mit weihnachtlichen Gewürzen zubereitet war. Karl gesellte sich bei diesen Gelegenheiten immer für eine Weile zu den Kindern und verputzte mindestens zwei große Kuchenstücke, während Luise irgendetwas Geheimnisvolles in der Wohnung zu tun hatte. Emily freute sich schon sehr auf diese Stunden. Die zogen sich zwar bis zum Abend endlos wie Kaugummi, aber trotzdem hatte sie immer viel Spaß mit ihren Geschwistern. Sie saßen auf einer Decke am Boden und spielten Monopoly. Und wenn sie davon genug hatten, würden sie auf dem alten Fernseher mit eingebautem Videorekorder, den sie vor ein paar Wochen von ihrem Onkel Franz bekommen hatten, Pumuckl-Filme anschauen. Am späten Nachmittag würden sie dann in schönere Sachen schlüpfen, die ihnen ihre Mutter bereits zurechtgelegt hatte. Dann erst durften sie in den Flur und mussten zusammen mit Margot, ihrer Oma mütterlicherseits, die natürlich auch bei der Bescherung dabei war, so lange warten, bis im Wohnzimmer das Glöckchen klingelte.
Emily schlug gerade mit dem Mixer das Eiweiß mit einer kleinen Prise Salz steif, und Luise rieb die Äpfel für den Teig, als der elfjährige Markus in die Küche kam. Er war schon fix und fertig angezogen, und seine noch etwas feuchten Haare zeigten, dass er bereits geduscht hatte.
»Morgen!«, rief er über den Lärm des Mixers.
»Guten Morgen, Markus!«, sagte Luise.
Emily schaltete das Rührgerät aus. Das Eiweiß war so steif geschlagen, dass es glänzte, so wie es auch bei ihrer Mutter immer aussah.
»Wann musst du denn los, Markus?«, fragte Luise ihren Sohn.
»Um halb zehn werde ich abgeholt«, antwortete er.
Der Junge führte am Vormittag mit einigen Mitschülern aus seiner Klasse im Seniorenheim das Krippenspiel auf und spielte Caspar, einen der Heiligen Drei Könige.
»Dann hast du ja noch ein wenig Zeit, bis du losmusst. Sobald der Kuchen im Ofen ist, mach ich uns ein schönes Frühstück«, versprach Luise.
Emily reichte ihrer Mutter die Schüssel mit dem geschlagenen Eiweiß.
»Das hast du toll gemacht, Emily!«
Luise zog die weiße Masse vorsichtig mit einem Schneebesen unter den Teig, gab ihn dann in die Kastenkuchenform und stellte sie in den Ofen.
»Deckt ihr zwei doch schon mal den Tisch«, bat sie die Kinder und spülte inzwischen die Rührschüssel ab.
»Wo ist denn das Brot?«, fragte Emily.
»Im Brotkasten, wo es immer ist!«, sagte Luise.
Was davon noch übrig war, war nicht der Rede wert.
»Ach herrje, ich habe vergessen, vor den Feiertagen noch Brot einzukaufen!«, sagte Luise erschrocken. »Das brauchen wir aber unbedingt. Lauf doch bitte schnell zum Bäcker, Markus.«
Markus schüttelte den Kopf.
»Das geht nicht, Mama. Ich muss noch den Text üben.«
»Den kannst du doch schon im Schlaf«, meinte Emily.
»Sicher ist sicher«, erklärte ihr Bruder, der es immer besonders genau nahm und es hasste, einen Fehler zu machen. Dementsprechend gut waren auch seine Schulnoten.
»Dann geh eben ich zum Bäcker, Mama«, sagte Emily.
»Das ist lieb von dir … Aber hoffentlich nicht im Schlafanzug«, meinte ihre Mutter mit einem Zwinkern.
»Ich ziehe mich ganz schnell an.«
»Mach das. Und wecke schon mal deine Schwester auf.«
Emily nickte und ging in ihr Zimmer, um in ihre Jeans und den roten Lieblingspulli zu schlüpfen, den ihre Oma für sie gestrickt hatte.
»Hey, du Schlafmütze! Aufstehen!«, sagte sie zu Laura, die immer noch im Bett lag. »Es gibt bald Frühstück.«
»Lass mich in Ruhe! Ich hab noch gar keinen Hunger!«, murmelte Laura verschlafen und drehte sich auf die andere Seite.
»Aber es ist doch Weihnachten.«
»Na und?«
»Das Christkind kommt heute! Freust du dich denn gar nicht?«, wollte Emily wissen.
»Babyquatsch. Du glaubst doch nicht immer noch, dass es das Christkind wirklich gibt?«, brummte Laura unter dem Kissen hervor.
»Doch. Das Christkind gibt es wohl, du blöde Kuh!«, empörte sich Emily.
»Selber blöde Kuh. Das ist alles nur eine Erfindung!«
»Und ob es das Christkind gibt!«, beteuerte Luise entschieden, die in der offenen Zimmertür stand und die letzten Worte ihrer Töchter mitbekommen hatte. Doch sie bedauerte die Tatsache, dass sicherlich auch die zehnjährige Emily nicht mehr allzu lange daran glauben würde. Solange es ging, wollte sie ihr diesen besonderen Weihnachtszauber unbedingt bewahren.
»Siehst du, Laura!«, rief Emily.
»Allerdings mag das Christkind ganz bestimmt keine solchen Schimpfwörter hören!«, mahnte Luise.
»Entschuldige, Mama!«, sagte Emily.
»Entschuldigung«, kam es auch von Laura.
Emily ging hinaus in den Flur.
»Hier hast du fünf Mark. Wir brauchen zwei Pfund Mischbrot«, sagte Luise, als Emily in ihre Winterjacke schlüpfte. Sie drückte ihrer Tochter die Münze und eine Stofftasche in die Hand.
»Vielleicht fragst du Oma, ob sie auch noch was vom Bäcker braucht.«
»Mache ich.«
»Und beeil dich, damit wir bald frühstücken können.«
Emily nickte, setzte ihre Mütze auf und ging aus der Wohnung ins Treppenhaus. Eilig sauste sie zwei Stockwerke nach unten und klingelte bei ihrer Oma Margot, die ebenfalls im Mietshaus wohnte.
»Hallo, Omi, brauchst du auch was vom Bäcker?«, fragte die Kleine.
»Guten Morgen, Emily. Das ist aber lieb, dass du fragst. Bring mir doch bitte zwei Brezen mit. Warte, ich gebe dir gleich das Geld.«
Sie öffnete die Schublade einer Kommode im Flur und zog ihre Geldbörse heraus. Dann gab sie ihrer Enkelin zwei Mark.
»Vom Restgeld darfst du dir was kaufen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Oder du fütterst damit dein Sparschwein.«
»Danke, Omi. Kommst du heute Nachmittag auch zu uns, wenn wir den Weihnachtskuchen essen?«
»Da bin ich auf dem Friedhof und zünde am Grab von deinem Opa eine Kerze an. Aber vielleicht kannst du mir ja ein Stück aufheben?«, bat die ehemalige Friseurin.
»Mache ich«, versprach Emily. Sie mochte ihre lustige Großmutter sehr. Wenn ihre Mutter nachmittags arbeitete, kochte Margot und achtete darauf, dass Emily und ihre Geschwister die Hausaufgaben machten. Wobei sie Letzteres nicht immer allzu genau nahm. Viel lieber spielte sie mit den Kindern Mensch ärgere dich nicht und Uno oder erzählte ihnen Geschichten von früher, die vor allem Emily gern hörte.
»Bis gleich«, sagte Emily und sauste die nächsten beiden Stockwerke nach unten ins Parterre. Als sie die Haustür öffnete, wehte ihr ein eiskalter Wind entgegen, der ihr einen Moment den Atem raubte. Sie schnappte nach Luft. Kleine Schneeflocken wirbelten herum, und Emily bemerkte erst jetzt, dass sie vergessen hatte, Handschuhe anzuziehen. Sie steckte die Hände in die Jackentaschen und machte sich eilig auf den Weg. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder heftig geschneit, und überall lagen große Schneehaufen auf den Bürgersteigen und in den kleinen Vorgärten der Mietshäuser.
Die Bäckerei befand sich nur zweihundert Meter entfernt in derselben Straße. Emily kaufte die Sachen ein und machte sich schnell wieder auf den Rückweg.
»Hallo Emily!«, rief Hans-Peter ihr zu, ein Junge, der mit seiner Mutter im selben Haus wie sie wohnte und mit dem sie oft spielte.
»Hallo, Hape«, begrüßte sie ihren Kumpel.
»Wir haben im Hof einen riesigen Schneemann gebaut. Willst du ihn sehen?«
Emily überlegte kurz. Sie sollte sich beeilen, hatte ihre Mutter gesagt. Aber es würde ja nicht lange dauern, kurz einen Blick auf den Schneemann zu werfen.
»Ja!«, sagte sie und folgte Hape in den großen Innenhof. Und tatsächlich stand dort ein Schneemann, der einen Kopf größer war als Emily, allerdings so aussah, als könnte er jeden Moment umkippen und würde sich an dem alten Besen festhalten, den Hape in seine Seite gesteckt hatte.
»Kannst du nicht noch ein wenig bleiben und mit mir spielen?«, bat der Junge, dessen Wangen schon ganz rot vor Kälte waren. »Wir könnten für den Schneemann noch eine Schneefrau und ein paar Schneekinder machen, damit er eine Familie hat.«
Doch Emily schüttelte den Kopf.
»Ich muss leider schnell nach oben. Es gibt gleich Frühstück bei uns.«
»Schade. Kommst du später noch runter zum Spielen?«, fragte er hoffnungsvoll. Als Einzelkind wurde es ihm in der Wohnung oft langweilig.
»Ich glaub nicht. Aber vielleicht geht es morgen«, sagte Emily.
»Na gut … Dann kann ich dir auch zeigen, was ich vom Christkind bekommen habe.«
»Und ich dir.«
Sie lächelten sich zu.
»Mach’s gut.«
»Du auch!«
Emily ging diesmal von der Rückseite her ins Haus, an den Geräteräumen des Hausmeisters vorbei. Plötzlich hörte sie Stimmen und Lachen. Dann war es wieder ruhig. War das eben ihr Papa gewesen?
Sie ging noch mal zurück und öffnete die Tür zum Abstellraum. Zuerst dachte sie, sie würde sich täuschen, doch es war tatsächlich ihr Vater. Die Frau des Hausmeisters hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen, und sie küssten sich. Vor Schreck fiel Emily die Tüte aus der Hand. Erschrocken drehten die beiden sich zu ihr um.
»Emily!«, rief ihr Vater.
Doch da hatte Emily die Tüte schon aufgehoben und rannte mit wild klopfendem Herzen die vier Stockwerke nach oben bis zu ihrer Wohnung. Sie vergaß dabei völlig, die Brezen bei ihrer Oma abzugeben. Als sie an der Wohnungstür klingelte, hörte sie von unten Schritte auf der Treppe. War das ihr Vater?
Kaum hatte ihre Mutter die Tür geöffnet, schlüpfte sie auch schon in den Flur, in dem es bereits köstlich nach dem Kuchen im Backofen duftete.
»Ich muss aufs Klo!«, rief sie außer Atem und drückte ihrer Mutter die Tüte in die Hand, bevor sie rasch ins Badezimmer verschwand.
Schwer atmend setzte Emily sich auf den Badewannenrand und versuchte zu verstehen, was sie eben im Abstellraum gesehen hatte. Sie hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Doch eines war ihr klar. Es konnte nicht richtig sein, dass ihr Papa und diese Frau sich umarmt und geküsst hatten.
»Karl. Du bist auch schon zurück!«, hörte sie ihre Mutter überrascht sagen. »Dann kannst du auch gleich mit uns frühstücken. Emily hat frisches Brot geholt. Wir müssen nur noch Laura aus dem Bett bekommen.«
»Wo ist denn Emily?«, fragte Karl, während er aus seiner Jacke schlüpfte.
»Sie musste dringend aufs Klo … Möchtest du Kaffee oder Tee?«
»Kaffee bitte …«
»Schon fertig. Wir können gleich anfangen. Kommst du?«
»Ja gleich«, sagte Karl und wartete, bis seine Frau in der Küche verschwunden war.
»Emily!«, rief er ein paar Sekunden später und klopfte an der Tür zum Badezimmer. »Wenn du fertig bist, dann komm doch bitte mal zu mir, ja?«
Emily antwortete nicht. Sie fühlte sich total unwohl. Mit einem Mal schien dieser so lang ersehnte und bis jetzt so besondere Tag seinen Glanz verloren zu haben. Nicht nur das, er wirkte plötzlich düster und bedrohlich.
»Emily!« Er klopfte erneut. »Kommst du bitte? Es ist wirklich sehr wichtig!«
Emily seufzte. Ewig konnte sie nicht hier im Bad bleiben, auch wenn sie überhaupt nicht wusste, wie sie sich ihrem Vater gegenüber verhalten sollte.
Sie atmete einmal tief ein und aus, dann drehte sie den Schlüssel um und öffnete die Tür.
»Da bist du ja«, sagte ihr Vater, und sein sonst so ansteckendes Lächeln wirkte plötzlich gar nicht mehr echt. »Magst du mir mal kurz helfen, was vom Keller zu holen?«, fragte er.
Doch Emily war klar, dass er einfach nur ungestört mit ihr sprechen wollte.
»Aber beeilt euch. Markus muss bald los, und wir wollen doch noch alle gemeinsam frühstücken«, rief Luise aus der Küche. »Und weckt endlich Laura auf!«
»Machen wir!«, rief Karl zurück.
Emily wusste nicht, was sie tun sollte. Sie liebte ihren Vater, aber warum hatte er nur diese blöde Hausmeisterin geküsst? Das würde ihrer Mutter ganz bestimmt nicht gefallen. Plötzlich stieg ihr der süßliche Backduft des Weihnachtskuchens besonders in die Nase, und aus dem leichten Unwohlsein wurde schlagartig Übelkeit.
»Jetzt komm schon!«, drängte Karl freundlich, aber bestimmt. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Mir ist so schlecht!«, sagte sie leise.
Karl ging neben ihr in die Hocke.
»Du bist ja wirklich ganz blass«, sagte er besorgt. »Hör mal, Spätzchen, das vorhin …«, nun war seine Stimme ganz leise geworden, »… das war nur ein dummer Spaß, und du musst dir überhaupt keine Gedanken darüber machen. Wirklich nicht. Es ist alles gut. Du kannst das einfach vergessen.«
Eigentlich sollte Emily bei seinen Worten Erleichterung verspüren, doch das tat sie nicht. Sie verstand immer noch nicht, was sie gesehen hatte.
»Aber warum hast du denn die Hausmeisterin geküsst, Papa?«, fragte sie.
»Das war nicht so, wie du …«, begann ihr Vater.
»Du hast wen geküsst?«, unterbrach Luise ihn, und ihre Stimme klang eisig. Weder Karl noch Emily hatten mitbekommen, dass sie wieder in den Flur gekommen war.
Karl stand langsam auf und lächelte bemüht.
»Da hast du etwas völlig falsch verstanden, Luise«, versuchte er, die Sache herunterzuspielen.
»Was kann man denn daran falsch verstehen?«, fuhr seine Frau ihn an.
Bevor er etwas darauf antworten konnte, kam Markus aus der Küche.
»Ich kann den Text!«, rief er freudig, doch niemand beachtete ihn.
Die Tür zum Kinderzimmer der Mädchen öffnete sich.
»Hey, geht’s vielleicht noch lauter?«, maulte die verschlafen wirkende Laura.
Emily sah zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater hin und her und wusste in diesem Moment, dass nichts wieder so sein würde, wie es einmal war.
Ein weihnachtlicher Auftrag
Danke und schöne Feiertage! Und wenn ihr irgendwann mal in Zürich seid, kommt mich unbedingt besuchen«, rief die Sängerin und winkte Emily und ihrem Kollegen Victor ein letztes Mal zu, bevor sie im Privatjet verschwand. Ab jetzt würde die Sicherheit des beliebten Schlagersterns wieder in den Händen anderer liegen.
»Jessi ist echt eine Nette«, bemerkte Victor, als die beiden Personenschützer auf dem Weg zu ihrem Wagen waren, den sie am Flughafenparkplatz in Tinnum abgestellt hatten.
»Finde ich auch«, stimmte Emily ihm zu. »Auch wenn ich mit ihrer Musik nicht sonderlich viel anfangen kann.«
»Das hat man dir aber überhaupt nicht angemerkt, Emilchen«, neckte er sie.
»Du sollst mich nicht so nennen«, schimpfte sie und stupste ihn in die Seite. »Außerdem habe ich zu ihr mit keinem Wort gesagt, dass ich ihre Musik nicht mag.«
»Manchmal drückt das, was man nicht sagt, mehr aus als das, was man sagt«, meinte der über zwei Meter große Victor, dem Emily nur knapp bis zu den Schultern reichte. »Sie hat es dir jedoch offenbar nicht übel genommen.«
»Musik ist eben Geschmackssache. Aber auch wenn mich ihr neues Weihnachtslied vermutlich noch bis Ostern als Ohrwurm verfolgt, war es ein echt schöner Auftrag«, beteuerte Emily und schlug den Kragen ihres dunkelgrauen Parkas nach oben. Der eisige Wind trieb winzige Schneeflocken vor sich her, und Emily war froh, gleich wieder in den Wagen zu kommen.
»Stimmt, das waren vier wirklich lockere Tage hier auf Sylt! Fast ein wenig wie Urlaub.«
Die aus der Schweiz stammende und auch international erfolgreiche Sängerin Jessi war für einen Auftritt als Überraschungsgast zu einer privaten Geburtstagsfeier eines schwerreichen Unternehmers engagiert worden. An den Tagen danach hatte sie zusammen mit ihrer Assistentin die Gelegenheit nutzen und sich noch in Ruhe die Insel anschauen wollen. Victor und Emily waren kurzfristig engagiert worden, weil Jessis festangestellter Bodyguard wegen einer Verletzung ausfiel, und hatten sich dabei weniger als Personenschützer, sondern eher wie gut bezahlte Fremdenführer gefühlt. Zumindest am ersten Tag. Danach war es fast so, als hätten sie mit guten Bekannten Ausflüge zum roten Kliff, nach List, dem nördlichsten Strand Deutschlands, und in die idyllische Kapitänsstadt Keitum gemacht. Die winterliche Insel war zu dieser Jahreszeit nur wenig von Urlaubern besucht, umso schöner war es, die herrliche Landschaft zu genießen. Oder dick eingepackt lange Spaziergänge am Strand zu unternehmen, der auch im Winter einen ganz speziellen Reiz besaß.
Abends saßen sie dann zu viert im gemieteten Strandhaus zusammen, und Victor hatte vorgeschlagen, nicht den Lieferservice zu nutzen, sondern selbst für alle zu kochen. Er liebte es, in der Küche zu stehen und kreative Gerichte zu zaubern. Emily war schon öfter in diesen Genuss gekommen und wusste seine Kochkünste zu schätzen, die auch Jessi und ihre Assistentin begeistert hatten. Zudem war Victor ein hervorragender Unterhalter, dem man gern zuhörte.
»Solche Aufträge wie diesen hätte ich echt gern viel öfter«, sagte Emily.
»Ich auch. Das wäre super. Auch wenn ich nicht verstehen kann, dass sogar eine so harmlose Sängerin wie Jessi überhaupt Personenschutz braucht«, meinte Victor mit einem Kopfschütteln. Doch leider hatte ihr erst vor wenigen Wochen bei einem Spaziergang ein außer Kontrolle geratener Fan aufgelauert und versucht, sie in seinen Wagen zu zerren. Was glücklicherweise hatte verhindert werden können. Abgesehen davon musste sie sich mit Attacken übers Internet herumplagen, die natürlich alle von Fake-Profilen stammten und nur schwer zurückverfolgt werden konnten. Leider konnte man nicht ausschließen, dass einer dieser Trolle irgendwann doch die virtuelle Grenze überschritt und seine Fantasien in die Tat umsetzen würde. Und davor musste die Sängerin geschützt werden.
»Man glaubt gar nicht, wie viele gefährliche oder durchgeknallte Menschen es so gibt und was sie meinen, sich herausnehmen zu können …«, sagte Emily. Als ehemalige Polizistin hatte sie oft genug in die dunklen Abgründe der Gesellschaft geblickt, bis sie vor zwei Jahren bei einem besonders gefährlichen Einsatz von häuslicher Gewalt selbst verletzt worden war. Nach ihrer Genesung hatte man sie auf unbestimmte Zeit an den Schreibtisch versetzt. Nicht lange danach hatte sie den Dienst quittiert. Seither arbeitete sie in einer privaten Hamburger Sicherheitsfirma als Personenschützerin.
Victor nickte nachdenklich.
»Aber die meisten Menschen sind trotzdem gutwillig und bemühen sich zumindest, sich richtig zu verhalten«, sagte er.
Emily lächelte. Victor versuchte immer, alles von der positiven Seite zu sehen, obwohl der ehemalige Basketballprofi und spätere Jiu-Jitsu-Trainer in seinem jetzigen Job im Sicherheitsdienst inzwischen schon einiges miterlebt hatte.
Kurz bevor sie bei ihrem Wagen ankamen, klingelte Emilys Handy. Ihre Mutter! Schon wieder! Am liebsten wäre sie gar nicht rangegangen, aber sie wusste, dass Luise keine Ruhe geben würde, bis sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte. Sie zog einen Handschuh aus und nahm das Gespräch an.
»Hallo, Mama!«
»Hallo, mein Schatz«, begrüßte ihre Mutter sie. »Endlich gehst du mal ran.«
»Ich bin in einem Einsatz«, überzog Emily die Wahrheit um ein paar Minuten.
»Seit zwei Wochen ununterbrochen?«, fragte Luise und versuchte, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
»Jetzt hast du mich ja erreicht. Also, was gibt es?«, fragte sie, obwohl ihr klar war, warum Luise anrief.
»Dein Bruder kommt übermorgen für ein paar Tage nach München und verbringt Heiligabend und den ersten Weihnachtstag bei mir. Markus und ich würden uns sehr freuen, wenn du mit uns zusammen Weihnachten feierst«, sprach Luise genau das aus, was Emily vermutet hatte.
»Und was ist mit Laura?«, fragte Emily, kannte jedoch auch die Antwort darauf.
»Deine Schwester ist natürlich bei deinem Vater«, meinte Luise trocken.
Wie immer!
»Du kommst doch?«
»Tut mir leid, Mama, aber ich muss an den Feiertagen arbeiten«, antwortete sie und fing einen überraschten Blick von Victor auf, der eben mit der Fernbedienung den Wagen aufsperrte. »Aber vielleicht schaffe ich es ja gleich Anfang des neuen Jahres, dass ich euch mal in München besuchen komme!«, sagte sie schnell, weil sie sich jetzt auf keine unnötige Diskussion einlassen wollte.
»Wieso kannst du dir nicht einfach mal an den Feiertagen freinehmen so wie andere auch?«, fragte ihre Mutter enttäuscht. »Sogar Markus schafft es, egal, wie eingespannt er in seiner Kanzlei ist.«
»Das ist eben mein Job! Da gibt es keine Feiertage. Und jetzt muss ich leider aufhören. Ich melde mich bald wieder. Servus, Mama, und schöne Grüße an Markus«, verabschiedete Emily sich und stieg in den Wagen ein.
»Bitte mach ganz schnell die Heizung an«, bat sie ihren Kollegen bibbernd vor Kälte.
Victor warf ihr kurz einen Blick zu, dann startete er den Wagen, schaltete die Heizung an und fuhr los.
»Du musst doch über die Feiertage gar nicht arbeiten«, sagte er schließlich, während sie spürte, wie der Sitz langsam warm wurde.
Emily zuckte mit den Schultern.
»Es ist leichter, ihr zu sagen, dass ich arbeiten muss, als ihr zu erklären, dass ich keine Lust habe, nach München zu fahren«, gab sie zu.
»Aber warum denn nicht?«, fragte Victor, der nicht verstehen konnte, warum die alleinstehende Emily ihre Familie in Bayern nicht besuchen wollte.
»Du kennst sie nicht«, sagte sie seufzend, während ihr langsam wärmer wurde. »Wenn ich Heiligabend mit meiner Mutter und meinem Bruder verbringe, dann sind mein Vater und meine Schwester beleidigt. Und wenn ich bei meinem Vater und meiner Schwester bin, dann ist Mama eingeschnappt. Egal, wie ich es mache, es ist immer verkehrt. Auch als erwachsenes Scheidungskind werden die Probleme an den Feiertagen leider nicht einfacher.«
Ihre beiden älteren Geschwister Laura und Markus hatten sich schon bei der Trennung vor zweiundzwanzig Jahren positioniert, hatten sich auf die Seite des Elternteils gestellt, dem sie sich mehr verbunden fühlten. Für die damals zehnjährige Emily, das jüngste der Geschwister, war das schreckliche Gezerre der Eltern um sie ein Albtraum gewesen. Sie hatte sich weder gegen ihren Vater noch gegen ihre Mutter entscheiden wollen. Schließlich hatte man ihr die Entscheidung abgenommen, und Emily wohnte offiziell bei ihrer Mutter und dem Bruder, während Laura beim Vater aufwuchs. Tatsächlich hatte sie jedoch die meiste Zeit bei ihrer Großmutter Margot verbracht, die praktischerweise ihre Wohnung zwei Stockwerke tiefer im selben Haus hatte. Sobald sie volljährig war und ihre Ausbildung zur Polizeimeisterin begonnen hatte, war Emily in eine WG gezogen.
Victor warf ihr einen verständnisvollen Blick zu.
»Das tut mir echt leid für dich. Aber letztlich ist das nicht nur bei Scheidungsfamilien so. Die meisten Menschen müssen an den Feiertagen Familien-Hopping machen, fahren oft hunderte Kilometer zu Eltern, Schwiegereltern, Großeltern oder den Kindern. Und glaub mir, da gibt es auch oft ziemlich viele Diskussionen, welchen Feiertag man bei den Eltern oder den Schwiegereltern verbringt.«
»Da hast du natürlich recht!«, gab Emily zu. Trotzdem war es noch schwieriger, wenn man sich zwischen den eigenen Eltern entscheiden musste, die sich unversöhnlich zerstritten hatten, wie sie fand.
»Hör mal, wenn du magst, kannst du gern zu uns kommen, Emilchen«, schlug der gutmütige Victor vor. Für ihn war es absolut unvorstellbar, an Weihnachten allein zu sein.
»Danke. Das ist lieb, Victor«, sagte Emily und ließ ihm den ungeliebten Spitznamen diesmal durchgehen. »Aber ich freue mich echt schon darauf, es mir mit Chips und Bier auf dem Sofa gemütlich zu machen und endlich mal in Ruhe Serien in Dauerschleife anzuschauen.«
»Bitte sag so was nicht. Die Vorstellung ist ja total deprimierend. Und es gibt noch nicht einmal Lebkuchen und Glühwein bei dir? Bier und Chips an Heiligabend? Also bitte!«
Er sagte das nur halb im Spaß.
Emily wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie empfand Weihnachten immer als die schlimmste Zeit im Jahr und konnte sie am besten ertragen, wenn sie allein war oder wenn sie arbeitete. In diesem Jahr zeichnete sich über die Feiertage bislang noch kein Auftrag für sie ab.
Eine Weile lang schwiegen beide, während sie zum Verladebahnhof in Westerland unterwegs waren. Von dort aus ging es mit dem Autozug nach Niebüll aufs Festland und anschließend zurück nach Hamburg.
»Hast du vielleicht Lust, unterwegs noch irgendwo gemütlich einen Kaffee zu trinken?«, fragte Emily später, während der Zug über den Hindenburgdamm fuhr und aus dem Radio leise Musik zu hören war.
»Tut mir leid. Lust habe ich natürlich immer, aber mein Jüngster hat heute Abend in der Schule beim Weihnachtskonzert einen Soloauftritt, und wenn ich mich da verspäte, dann …«
Emily sah ihm an, wie leid es ihm tat, dass er keine Zeit hatte, und wollte es ihm nicht schwer machen.
»Schon gut!«, winkte sie deswegen rasch ab. »Da musst du auf alle Fälle pünktlich sein. Den Kaffee trinken wir ein anderes Mal.«
»Auf jeden Fall! Wenn du schon am Heiligabend nicht zu uns kommen möchtest, dann schau doch wenigstens an den Feiertagen irgendwann mal vorbei«, ließ Victor trotzdem nicht locker. Er machte sich tatsächlich ein wenig Sorgen um seine junge Kollegin, die er in sein Herz geschlossen hatte. »Für den zweiten Weihnachtsfeiertag haben die Kinder sich eine Knödelparty gewünscht. Ja, stell dir mal vor, seitdem die Kinder von dir das Wort Knödel kennen, heißen Klöße jetzt auch bei uns nur noch so«, erklärte Victor.
Emily lachte.
»Ich habe echt einen guten Einfluss auf die beiden«, sagte sie mit einem Zwinkern.
»Meistens.« Er lächelte. »Jedenfalls gibt es drei verschiedene Sorten Knödel und mehrere Soßen dazu. Na? Wäre das nichts für dich?«
»Okay, das klingt echt ziemlich verlockend. Ich kann es noch nicht hundertprozentig versprechen, aber vielleicht komme ich tatsächlich«, sagte Emily, weil sie ahnte, dass Victor sonst keine Ruhe geben würde. Dabei war ihr schon jetzt klar, dass die weihnachtliche Knödelparty ohne sie stattfinden würde.
In diesem Moment begann ein neuer Musiktitel im Radio. Emily verdrehte ein wenig übertrieben die Augen, und Victor grinste.
Weil Weihnachten in dir ist hieß die Ballade von Jessi, und Emily hatte das Gefühl, das Stück in den letzten Tagen gefühlt hunderte Male gehört zu haben.
»Das Lied verfolgt mich wirklich«, sagte sie und seufzte ein wenig genervt.
Victor lachte laut und sang dann mit seiner tiefen wohltönenden Stimme den Refrain mit, um Emily ein wenig aufzuziehen.
Emily hätte am liebsten den Sender gewechselt, denn auf Weihnachtsmusik, zu der Victor auch noch fröhlich mitträllerte, hatte sie jetzt überhaupt keine Lust. Aber zum Glück kam in diesem Moment ein Anruf der Sicherheitsfirma, den Victor über die Freisprechanlage annahm.
»Ja, hallo, Susi, was gibt es?«, meldete er sich.
»Hallöchen!«, rief die immer gut gelaunte Susanne, die in der Firma für die Kundenberatung und Terminkoordination zuständig war.
»Hi, Susi!«, sagte auch Emily.
»Na ihr zwei, seid ihr schon auf der Rückfahrt?«, wollte sie wissen.
»Ja … Wir sind jetzt auf dem Autozug.«
»Sehr schön. Und? Ist alles gut gelaufen bei euch mit Jessi?«
»Ja. Absolut reibungslos. Keinerlei Vorkommnisse«, informierte Emily sie.
»Dann dürfen wir bei Bedarf hoffentlich auch in Zukunft wieder für sie arbeiten.«
»Das kann ich mir sehr gut vorstellen!«, beteuerte Victor. »Jessi hat das sogar schon angedeutet. Sie scheint uns beide zu mögen.«
Susi lachte.
»Kein Wunder. Ihr seid ja auch ein Dream-Team.«
»Allerdings. Das sind wir so was von!«, sagte Emily.
»Genau deswegen versuche ich auch, euch so oft wie möglich gemeinsam einzuteilen.«
»Das wissen wir sehr zu schätzen, Susi«, sagte Victor.
»Aber leider geht das nicht immer. Vorhin kam kurzfristig noch ein Auftrag rein, allerdings nur für einen von euch beiden. Und auch nur für einen Tag.«
»Das mache ich!«, erklärte sich Emily sofort bereit, ohne zu wissen, um welchen Job es sich handelte. Sie wusste, dass Victor am nächsten Tag mit seiner Frau mehr oder weniger auf den letzten Drücker die Weihnachtsgeschenke für die Kinder besorgen wollte, und hielt ihm deswegen den Rücken frei. Außerdem war sie froh, wenn sie beschäftigt war, das lenkte sie am besten von den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen ab.
»Wunderbar!«, sagte Susi erfreut. »Ich schicke dir dann gleich eine Mail mit den Details.«
»Danke!«
»Eins kann ich dir jedenfalls jetzt schon verraten, du wirst sehr früh aufstehen müssen.«
Der Weihnachtswunsch
Wir müssen noch eure Schneeanzüge einpacken!«, rief Valentin und wühlte sich durch den riesigen begehbaren Garderobenschrank in der Diele im Erdgeschoss.
»Und eure Schlittschuhe sind übrigens auch nicht da! Wisst ihr vielleicht, wo die sind?«
»Nö … keine Ahnung!«, kam es zweistimmig von oben aus einem der Kinderzimmer, und Valentin seufzte genervt.
»Wieso frag ich überhaupt«, murmelte er.
Als freiberuflich arbeitender und weitgehend alleinerziehender Papa von kürzlich sieben Jahre alt gewordenen Zwillingen war es nicht immer ganz einfach, den Überblick zu behalten. Glücklicherweise hatte der Fotograf seit dem Umzug im Sommer in die gemietete Jugendstilvilla im Hamburger Stadtteil Rahlstedt ein eigenes Fotostudio im Haus und zudem einen großen, abwechslungsreich gestalteten Garten für Außenaufnahmen. Auch wenn er weiterhin für Aufträge gebucht wurde, die es erforderten, zu seinen Kunden zu fahren, so konnte er doch inzwischen viele seiner Shootings in die eigenen vier Wände verlegen. Was ihm sehr gelegen kam und seinen Alltag enorm erleichterte.
Nachdem er den Schrank dreimal von vorn bis hinten durchwühlt hatte, gab er die Suche nach den Schneeanzügen an dieser Stelle auf. Dabei war er sich ganz sicher, dass er sie nach dem Einkauf vor drei Tagen hier verstaut hatte.
Er ging die Treppe nach oben zu den Kindern. Obwohl die Zwillinge jeweils ein eigenes Zimmer hatten, hielten sie sich tagsüber meistens in Joshuas Zimmer auf. Und auch jetzt saßen die beiden sich auf einer Decke am Boden im Schneidersitz gegenüber. Sie wirkten ertappt, als sie ihren Vater in der offenen Tür entdeckten.
»Stella? Joshi? Was heckt ihr denn schon wieder aus?«, fragte Valentin, der seine Kinder gut genug kannte, um zu merken, dass da etwas im Busch war.
»Nichts, Papi!«, erklärte Stella und zuckte mit einem unschuldigen Engelsblick mit den Schultern.
»Gar nichts!«, bestätigte ihr Bruder.
Doch Valentin spürte, dass die Zwillinge irgendwas im Schilde führten.
»Hey, jetzt zeigt doch mal ein wenig mehr Begeisterung. Eure Mama holt euch bald ab, und dann besucht ihr Mamas Cousine Eva und übernachtet dort. Und gleich morgen früh fliegt ihr zusammen nach Bayern und dürft die Ferien in den Bergen verbringen. Das ist doch toll, oder?«, sagte Valentin, auch wenn er selbst über die Situation nicht sonderlich glücklich war. Es fiel ihm schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, seine Kinder an Weihnachten nicht zu sehen, doch da sie ansonsten bei ihm lebten, während ihre Mutter seit Kurzem ihren Hauptwohnsitz wieder in London hatte, gehörte das zu den Vereinbarungen, die seine Ex-Frau Hannah und er nach Beratungen mit den Anwälten getroffen hatten. Glücklicherweise hatte er in den nächsten beiden Tagen noch ein großes Fotoshooting und einen Besprechungstermin für eine Ausstellung und sollte somit ein wenig abgelenkt sein. Und die Feiertage selbst würde er bei seinen Eltern und mit Freunden verbringen. Irgendwie würde er dieses erste Weihnachten ohne seine Kinder schon überstehen.
»Ich will aber, dass du mitkommst und mit uns Weihnachten feierst!«, verlangte Stella, und ihre dunkelbraunen Augen glitzerten verdächtig.
»Ja, genau! Warum kommst du denn nicht einfach mit zu den Bergen?«, wollte nun auch Joshua wissen.
Valentin setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass es nicht so gekünstelt wirkte, wie es sich anfühlte.
»Ich habe es euch doch schon so oft erklärt. Eure Mami und ich sind zwar immer eure Eltern und haben euch sehr lieb, aber wir sind nicht mehr verheiratet. Und deswegen feiert ihr diesmal nur mit Mami Weihnachten.«
Außerdem würde auch ihr neuer Freund Rick dabei sein, den die Kinder schon bei ihrem letzten Besuch in London kennengelernt hatten.
»Aber das ist doof!«, schimpfte Stella.
»Total doof!«
»Wenn ihr nächste Woche wieder zurück seid, dann holen wir Weihnachten ganz einfach nach. Und zwar mit allem, was dazugehört.«
»Das darf man doch gar nicht!«, protestierte Stella mit einem skeptischen Stirnrunzeln.
»Oh doch. Das darf man. Ich habe extra eine Weihnachtsnachricht an das Christkind geschickt und nachgefragt«, erklärte Valentin so überzeugend wie möglich und hoffte, dass die Zwillinge nicht schon zu alt dafür waren, noch daran zu glauben. Zumindest Joshua hatte in der letzten Zeit ein paar kritische Fragen gestellt, nachdem einige Mitschüler die Existenz von Christkind und Weihnachtsmann als Erfindung abgetan hatten. »Die Geschenke werden natürlich, wie für alle Menschen, am Heiligabend schon ausgeliefert und warten hier auf euch.«
»Gibt es auch einen großen Weihnachtsbaum?«, fragte Joshua, der immer alles ganz genau wissen wollte.
»Klar gibt es den … So wie jedes Jahr! Aber jetzt müssen wir langsam mal eure Sachen packen, damit ihr fertig seid, wenn eure Mama kommt … Wo habt ihr denn eure Geschenke für sie? Sind die schon in euren Rucksäcken?«
Stella nickte. Die Kinder hatten extra zusammen mit Valentin einen besonderen Kalender mit Fotos gebastelt und Bilder gemalt.
»Schön, dann hole ich jetzt mal für euch die großen Koffer vom Dachboden.«
Als Valentin das Zimmer verlassen hatte, schob Stella die Schneeanzüge noch tiefer unter Joshuas Bett, wo auch schon die Schlittschuhe versteckt waren. Glücklicherweise hatte ihr Vater sie vorhin nicht entdeckt.
»Wenn Mama kommt, dann musst du sagen, dass dir ganz schlimm schlecht ist und du Bauchschmerzen hast«, flüsterte Stella.
Joshua nickte.
»Und du versteckst ihre Handtasche und ihr Handy.«
»Mache ich. Dann können wir nicht zu Cousine Evi fahren und morgen nicht fliegen, und Mama muss hierbleiben.«
Die Kinder grinsten sich verschwörerisch zu. Sie hatten schon vor Tagen einen Plan ausgeheckt, weil sie unbedingt gemeinsam als Familie Weihnachten feiern wollten.
»Ich hoffe, das klappt auch alles«, sagte Stella, die dennoch ein wenig unsicher war.
»Klar.«
»So, ihr zwei. Jetzt wird aber gepackt«, sagte Valentin, der mit zwei Koffern wieder zurückkam. »Und, Stella, vergiss bloß nicht, Jojo mitzunehmen.«
Jojo war Stellas geliebtes Stofftier, ein kuscheliges, vom vielen Knuddeln schon etwas verschlissenes kleines Schaf mit lustigen Ohren, das sie zur Geburt von ihren Großeltern bekommen hatte. Sie konnte nach wie vor nur einschlafen, wenn Jojo, das Schaf, bei ihr im Bett lag.
Auch Joshua hatte damals von Oma und Opa ein Stofftier bekommen, allerdings hatte er den kleinen Elefanten bereits vor Schulbeginn ganz oben in sein Regal gestellt. Zum Schlafen brauchte er längst kein Kuscheltier mehr.
»Weißt du schon, welche Bücher du mitnehmen möchtest, Joshi?«, fragte Valentin seinen Sohn.
Der Kleine nickte und ging zum Regal, das vollgestopft war mit Büchern, Heften und Wissenschaftszeitschriften für Kinder. Schon mit fünf Jahren hatte Joshua Lesen gelernt, und seither bereitete man ihm die größte Freude, wenn man ihn mit Lesefutter versorgte, egal ob auf Deutsch oder Englisch, da die Kinder von ihren Eltern zweisprachig erzogen wurden.
Zuerst packten sie Joshuas Sachen ein. Als Valentin sich nach einem Paar Socken bückte, das ihm heruntergefallen war, entdeckte er etwas unter dem Bett.
Das darf doch nicht wahr sein!, dachte er und schüttelte den Kopf.
Gleich darauf holte er die Schneeanzüge und die Schlittschuhe hervor.
»Joshi, Stella, ist das euer Ernst?«, fragte er so ruhig wie möglich.
Die Zwillinge zuckten nur mit den Schultern und sagten nichts mehr. Wie immer, wenn sie sich ertappt fühlten.
Valentin durchschaute ihre Absicht natürlich und atmete einmal tief durch. Dann schnappte er sich jeweils ein Kind unter jeden Arm und trug die gleichzeitig protestierenden und lachenden Zwillinge nach unten in die große Küche.
»Puh, ihr werdet echt schon ganz schön schwer«, sagte er ein wenig außer Atem, als er sie abgesetzt hatte. Dann ging er zum Kühlschrank.
»Eiszeit?«, fragte er, und die beiden nickten. Er holte einen großen Becher Schokoladeneis aus dem Gefrierfach und aus der Schublade drei Löffel.
Eiszeit war der Code für eine Aussprache, wenn etwas nicht so gut lief, wie es laufen sollte. Und jetzt war offensichtlich Gesprächsbedarf, auch wenn er vorhin bereits versucht hatte, ihnen die Reise mit ihrer Mutter ins Berchtesgadener Land schmackhaft zu machen.
Sie setzten sich an den Tisch, und Valentin stellte den Becher in die Mitte. Noch war das Eis ziemlich hart gefroren, und es war schwierig, etwas herauszukratzen.
»Wollt ihr denn gar nicht in den Bergen im Schnee spielen und Schneemänner bauen oder mit eurer Mama Schlittschuh laufen?«, fragte er wie nebenbei, während er im Eis stocherte.
»Mama fährt doch sowieso nicht mit uns Schlittschuh, weil sie Angst hat, dass sie sich wehtut!«, bemerkte Stella.
»Denn wenn sie verletzt ist, kann sie nicht mehr schauspielern, und dann kriegt sie Ärger«, fügte Joshua hinzu.
Die Kinder wussten ganz genau, dass Hannah während der Dreharbeiten für einen Spielfilm besonders aufpassen musste, damit nichts passierte, was die Produktion unterbrechen oder gar gefährden würde. Manche Aktivitäten waren ihr sogar vertraglich verboten, um kein Risiko einzugehen.
»Aber sie kann euch zumindest beim Eislaufen zusehen«, meinte Valentin. »Ihr könnt ihr zeigen, wie gut ihr es schon gelernt habt.«
Die Kinder zuckten mit den Schultern.
»Hey, eure Mama freut sich schon sehr auf euch beide. Und es wird bestimmt ein großartiges Weihnachten sein.«
»Aber dann bist du ja ganz allein, Papi!«, sagte Stella traurig.
Er lächelte sie aufmunternd an.
»Ich bin nicht allein, mein Mäuschen. Oma und Opa haben mich eingeladen. Und euer Onkel Lennart wird auch da sein. Um mich braucht ihr euch wirklich keine Gedanken zu machen. Außerdem werden wir an Weihnachten auch mal per Video miteinander sprechen, und wir …«
In diesem Moment klingelte sein Handy.
»Das ist eure Mama. Hoffentlich hat das Flugzeug aus Salzburg keine Verspätung«, sagte er.
»Hallo, Hannah«, begrüßte er seine Ex-Frau.
»Hallo, Valentin.«
»Bist du schon am Flughafen?«
»Nein … und deswegen rufe ich leider an. Wir hatten gestern einen Nachtdreh in der Nähe vom Königssee, und beim genauen Sichten der Muster vorhin hat sich herausgestellt, dass es einen groben Anschlussfehler gibt. Der kann auch im Schnitt nicht korrigiert werden. Deswegen müssen wir die beiden Szenen heute noch mal drehen, bevor die Kamerafrau über die Feiertage nach Hause fliegt. Es tut mir so leid, aber ich kann die Zwillinge nicht selbst abholen … Valentin? Bist du noch dran?«
»Ja«, sagte er und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht er war. Wieder einmal mussten sich alle nach ihrem Terminkalender richten.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie.
»Ich habe morgen den ganzen Tag ein Fotoshooting und kann die Kinder auf keinen Fall …«
»Keine Sorge, ich habe schon eine Lösung«, unterbrach sie ihn. »Ich habe eine Personenschützerin engagiert, die mit den Kindern nach Salzburg fliegen soll. Von dort aus ist es nicht mehr so weit bis nach Berchtesgaden, und ich kann sie abholen. Du müsstest sie allerdings morgen früh zum Flughafen bringen und sie dort dieser Frau übergeben, falls das für dich okay ist.«
»Du hast eine Personenschützerin engagiert?«, fragte Valentin verblüfft. »Ist das nicht etwas übertrieben? Es gibt doch auch einen Betreuungsdienst bei der Airline für Kinder.«
»Das schon, aber irgendwie ist mir wohler, wenn ich weiß, dass jemand ganz speziell nur auf die beiden aufpasst. Und falls ich sie aus irgendeinem Grund doch nicht persönlich am Flughafen abholen kann, könnte sie die Kinder mit dem Taxi von Salzburg nach Berchtesgaden zu uns begleiten. Rick hat mir den Rat gegeben, so macht er das mit seiner Tochter auch.«
»Okay.«
»Ich hoffe, dass niemand die Zwillinge erkennt.«
Seitdem Paparazzi im letzten Urlaub Fotos von ihr und den Kindern geschossen hatten, war sie noch viel vorsichtiger geworden. Es war ihr wichtig, die Zwillinge der Öffentlichkeit fernzuhalten. Stella und Joshua sollten ein möglichst normales Leben führen können.
»Wenn du nicht dabei bist, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand so genau hinsieht und erkennt, dass es unsere Kinder sind«, sagte Valentin.
»Du hast wohl recht.«