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Ein Heiratsantrag an Heiligabend – was kann es Schöneres geben?
Ein Jahr ist vergangen, seitdem Lotte bei einer Reise mit ihrer besten Freundin Katja den Weinbauern Nicolas kennengelernt hat. Schon bald wurde aus den beiden ein Paar und Lotte liebt ihr neues Leben auf dem Weingut. Die Vorbereitungen für das bevorstehende Weihnachtsfest im verschneiten Elsass laufen auf Hochtouren. Da hört Lotte ungewollt ein Telefonat mit und erfährt, dass Nicolas ihr am Heiligabend einen Verlobungsring schenken und einen Heiratsantrag machen möchte. Nichts wünscht sie sich mehr, doch Lotte hat ein Geheimnis, das eine Hochzeit unmöglich macht.
Wohlfühllektüre für die schönste Zeit des Jahres – lesen Sie auch die anderen Weihnachtsromane von Angelika Schwarzhuber!
Der Weihnachtswald
Das Weihnachtswunder
Das Weihnachtslied
Das Weihnachtsherz
Die Weihnachtsfamilie
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Seitenzahl: 341
Ein Jahr ist vergangen, seitdem Lotte bei einer Reise mit ihrer besten Freundin Katja den Weinbauern Nicolas kennengelernt hat. Schon bald wurde aus den beiden ein Paar, und Lotte liebt ihr neues Leben auf dem Weingut. Die Vorbereitungen für das bevorstehende Weihnachtsfest im verschneiten Elsass laufen auf Hochtouren. Da hört Lotte ungewollt ein Telefonat mit und erfährt, dass Nicolas ihr am Heiligabend einen Verlobungsring schenken und einen Heiratsantrag machen möchte. Nichts wünscht sie sich mehr, doch Lotte hat ein Geheimnis, das eine Hochzeit unmöglich macht.
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV, unter anderem für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Angelika Schwarzhuber
Roman
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Redaktion: Alexandra Baisch
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LH · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29940-8V002
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Für Heide
Es kommt mir vor, als wären wir in eine magische Weihnachtswelt eingetaucht«, murmelte Lotte und griff nach Nicolas’ Hand.
Eingepackt in dicke Wintermäntel, spazierten sie durch das zauberhafte Viertel Petite Venice. Der schmale Kanal der Lauch neben ihnen schlängelte sich durch das malerische, tief verschneite Colmar, vorbei an weihnachtlich geschmückten Fachwerkhäusern, kleinen Cafés, Geschäften und vielen kleinen Buden mit Leckereien und Handwerkskunst. Manche Häuser waren farbig beleuchtet, und über die Fassaden huschten weiße Lichter mit weihnachtlichen Motiven. In den Straßen standen geschmückte Tannenbäume, der Duft von knisterndem Holzfeuer, Glühwein und gebrannten Mandeln lag in der klirrend kalten Luft, und aus Lautsprechern schallte das Lied Petit Papa Noël.
»Es gibt einige sehr schöne Weihnachtsmärkte im Elsass, und hier in Colmar sind es, glaube ich, sogar sechs über die Innenstadt verteilt, aber am liebsten mochte ich immer diesen hier«, verriet Nicolas mit seinem charmanten französischen Akzent.
Und tatsächlich hatte der Stadtteil Klein-Venedig, der Lotte seit ihrem ersten Besuch in Colmar besonders gefiel, sich im Advent vor allem für Kinder in ein wahres Weihnachtsparadies verwandelt. Es gab eine große Krippe, ein Karussell, auf dem die kleinen Besucher mit glücklich strahlenden Augen auf Holzpferden saßen. Bei jeder Runde winkten ihnen die Eltern oder Angehörigen zu. Und in einen riesigen Briefkasten durften die Kinder ihre Post mit Wünschen an den Weihnachtsmann einwerfen.
»Für ein Kind muss das hier geradezu märchenhaft sein. Geballte Weihnachtsidylle, fast wie in Disneyland. Und dann noch der viele Schnee!«, meinte Lotte.
»La magie de Noël. Ich hab das natürlich alles extra für dich so inszeniert, mein Schatz!«, beteuerte Nicolas grinsend und gab ihr einen Kuss auf die kalte Nasenspitze.
»Danke, mein Magier …«
Lotte klappte den Kragen ihres Mantels hoch.
»Ist dir kalt?«, fragte er.
»Es geht schon. Ich hätte einfach nur eine Mütze aufsetzen sollen.«
»Ich möchte nicht, dass du dich womöglich erkältest. Oder dir die Ohren abfrierst. Das müssen wir gleich ändern. Komm.«
Er zog sie etwas weiter bis zu einem der Stände, der unter anderem auch gestrickte Schals, Handschuhe und Mützen anbot.
»Schau mal. Wie gefällt dir die hier?«
Er reichte ihr eine goldgelbe Strickmütze.
»Ganz hübsch«, fand Lotte und setzte sie auf. »Und?«
Nicolas’ Augen strahlten.
»Sie passt herrlich zu deinen roten Locken, Chérie. Und zu deinem türkisfarbenen Mantel!«, schwärmte er.
»Findest du?«
Er nickte.
»Na gut. Dann nehme ich sie.«
Sie griff in ihre Tasche, um die Geldbörse herauszuholen. Doch er schüttelte den Kopf.
»Nichts da. Die Mütze kriegst du von mir geschenkt. Zum Auftakt des Advents.«
Bevor sie protestieren konnte, wandte er sich schon an die Verkäuferin.
Lotte lächelte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben, wie sehr ihr Leben sich innerhalb kurzer Zeit auf den Kopf gestellt hatte.
Noch vor einem Jahr hatte die gebürtige Hamburgerin in Brasilien gelebt und sich darum bemüht, einen Käufer für ihre kleine Strandbar zu finden. Dann war alles sehr schnell gegangen, und eine Woche vor Weihnachten hatte die damals dreißigjährige Powerfrau ihre Zelte in Salvador da Bahia abgebrochen. Ohne einen konkreten Plan für ihre Zukunft war sie zurück nach Deutschland gekommen. Gerade rechtzeitig vor den Weihnachtsfeiertagen hatte sie ihre beste Freundin Katja in deren niederbayerischer Heimat überrascht.
Die beiden Frauen hatten sich vor über zehn Jahren in Hamburg kennengelernt und waren ein paar Jahre später gemeinsam nach Brasilien ausgewandert. Katja, um dort als gelernte Goldschmiedin ihre Fertigkeit des Edelsteinschleifens zu perfektionieren, und Lotte, um sich ihren Traum einer eigenen Bar am herrlichen Strand des Atlantiks zu erfüllen.
Dann war Katjas Vater gestorben, und Katja hatte von einem Tag auf den anderen zurück in ihre alte Heimat nach Bayern gemusst, um das elterliche Schmuckgeschäft weiterzuführen. Doch ohne ihre beste Freundin in der Nähe hatte Lotte sich einsam gefühlt. Außerdem war sie der ewigen Sonne, des Meeresrauschens und wild feiernder Urlauber ohnehin schon seit einer Weile überdrüssig gewesen. Es war längst wieder Zeit für eine Veränderung geworden.
Katja hatte es kaum fassen können, als Lotte kurz vor den Feiertagen mit ihren wenigen Habseligkeiten und einem breiten Grinsen im Gesicht plötzlich vor ihr stand. Gemeinsam mit Katjas zusammengewürfelter Familie waren die Freundinnen einen Tag vor Heiligabend ins Elsass gereist, um auf dem Weingut von Katjas französischer Verwandtschaft das Weihnachtsfest mit einer besonderen Familienzusammenführung zu verbringen.
Dort hatte Lotte den charmanten Weinbauern Nicolas Leclaire kennengelernt. Ein Großcousin von Katja. Oder Urgroßcousin? Die genauen Verwandtschaftsverhältnisse waren für Lotte immer noch etwas verwirrend. Jedenfalls hatte es zwischen den beiden ziemlich schnell gefunkt. Und nachdem sie einige Turbulenzen überstanden hatten, war Lotte vor einem halben Jahr ins Elsass gezogen und lebte inzwischen mit Nicolas zusammen auf dem Weingut Beaulieu.
»Möchtest du noch einen passenden Schal dazu?«, riss Nicolas sie aus ihren Gedanken.
»O nein, die Mütze reicht. Danke dir, Nicolas!« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Aber gern.«
Sie nickten der Verkäuferin noch einmal zu und gingen dann weiter.
»Es ist schön, endlich mal wieder ein paar Stunden nur mit dir zu verbringen«, sagte Nicolas. Es war tatsächlich der erste Tag seit Wochen, an dem die beiden sich von ihrer Arbeit und der Familie hatten loseisen können.
»Und mit Tausenden von Weihnachtsmarktbesuchern«, scherzte Lotte. Colmar lockte in der Adventszeit besonders viele Besucher ins Elsass, auch aus dem benachbarten Deutschland. Sogar aus Übersee kamen Gäste angereist, um in den Genuss des besonderen Weihnachtsflairs zu kommen. Sie nutzten die Gelegenheit, um den Winterurlaub in Europa zu verbringen.
»Möchtest du an einem der Marktstände etwas essen, oder soll ich fragen, ob ich noch einen Tisch bei Jerome für uns bekomme?«
Jerome war ein alter Schulfreund von Nicolas und mit seinem kleinen Hotel mit Restaurant in Colmar auch ein langjähriger Kunde des Weingutes Beaulieu.
»Ich bin gar nicht sehr hungrig. Lass uns eine Kleinigkeit irgendwo auf dem Weihnachtsmarkt essen.«
Als sie sich zehn Minuten später inmitten unzähliger Menschen durch die verwinkelten Gassen schoben, bereute Lotte ihren Vorschlag fast schon ein wenig. Das Gedränge hatte am frühen Abend seinen Höhepunkt erreicht. An den Ständen warteten lange Schlangen.
»Heute ist echt besonders viel los«, meinte Nicolas, doch es schien ihn nicht weiter zu stören. Überhaupt brachte ihn selten etwas aus der Ruhe, was Lotte besonders an ihm schätzte.
»Komm, wir gehen in die Markthalle und essen dort Flammkuchen.«
In der historischen Markthalle schien noch mehr los zu sein als draußen. Doch sie hatten Glück und ergatterten einen kleinen Stehtisch, den Lotte verteidigte, während Nicolas an einem der Stände das Essen holte.
»Hm. Der Flammkuchen ist so lecker!«, schwärmte sie kurz darauf mit vollem Mund, nachdem sie in die knusprige lauwarme Köstlichkeit gebissen hatte. Dazu trank Lotte Glühwein und Nicolas heißen, mit Zimt gewürzten Apfelsaft.
»Stell dir vor, meine Mutter will uns an Weihnachten besuchen kommen«, sagte Nicolas plötzlich.
»Deine Mutter? Ist das denn okay für deinen Vater?«
Nicolas’ Eltern waren seit vielen Jahren geschieden. Seine Mutter Sarah sogar schon zum zweiten Mal. Und vor wenigen Wochen war auch die letzte Beziehung der Anwältin in die Brüche gegangen.
»Vater wird sowieso nur den Heiligabend mit uns verbringen. Die paar Stunden wird er schon überstehen.«
Lotte nickte und nahm einen Schluck Glühwein.
»Ich bin schon gespannt darauf, sie persönlich kennenzulernen«, sagte sie dann. Bisher hatte es noch keine Gelegenheit dafür gegeben, da Sarah in Paris lebte und beruflich immer sehr beschäftigt war.
»Sie kann manchmal ein wenig anstrengend sein und mischt sich gerne überall ein, aber du wirst sicher mit ihr klarkommen.«
Hoffentlich, dachte Lotte, sprach es aber nicht laut aus.
»Sag mal, Chérie, was hältst du denn davon, wenn wir auch deine Eltern an Weihnachten zu uns einladen?«
»Meine Eltern?« Lotte sah ihn perplex an und lachte dann kurz auf.
»Ja. Das wäre doch eine wunderbare Gelegenheit, damit wir uns alle mal kennenlernen.«
Lotte strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und suchte nach den richtigen Worten.
»Weißt du, Nicolas, meine Eltern und Weihnachten – das geht irgendwie überhaupt nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Hm. Wie erkläre ich das am besten? … Also, die beiden finden Weihnachten ganz schrecklich«, sagte Lotte dann ziemlich unumwunden. »Der in ihren Augen völlig unnötige Konsum. Dazu Stress vor und an den Feiertagen, der in vielen Familien ja regelrecht in Streit ausarten kann. Und vor allem der moralische Druck, mitmachen zu müssen. Das ist für die beiden gar nichts.«
»War das schon in deiner Kindheit so?«
Sie nickte.
»Schon immer. Weihnachten wurde bei uns nicht gefeiert. Meistens waren wir in dieser Zeit irgendwo auf Reisen, worüber meine Großeltern besonders enttäuscht waren. Noch dazu, da ich ihr einziges Enkelkind bin.«
Nicolas sah sie fast ein wenig mitleidig an. »Deine Großeltern konnten dich an Weihnachten nicht sehen?«, fragte er ungläubig.
»Grundsätzlich hätten wir uns schon sehen können. Aber das wäre nur möglich gewesen, wenn sie uns auf den Reisen begleitet hätten. Und dann natürlich auch nur ohne jegliches Weihnachtsgedöns. Vor allem Mama war da sehr entschieden.«
»Das ist ja schrecklich!«
Lotte zuckte mit den Schultern.
»Ich hab’s überlebt. Mein erstes richtiges Weihnachten habe ich gefeiert, als ich mit Katja zusammengewohnt habe. Wir hatten sogar einen echten kleinen Weihnachtsbaum. Ehrlich gesagt, gefiel mir das sehr. Seither habe ich fast jedes Weihnachtsfest mit Katja verbracht.«
Sie trank wieder einen Schluck Glühwein, der inzwischen nur mehr lauwarm war.
»Und im letzten Jahr dann auch mit ihrer ganzen Familie – und mit mir!« Nun lächelte Nicolas wieder.
Lotte spürte dieses herrlich warme und gleichzeitig aufregend prickelnde Gefühl, als sie in seine dunklen Augen sah. Und wie so oft dankte sie insgeheim dem Schicksal, das sie mit diesem wunderbaren Mann zusammengebracht hatte.
»Ja. Du warst sozusagen das beste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe, Nicolas Leclaire.«
Sie beugte sich über den Tisch zu ihm und gab ihm einen Kuss.
»Und du meines, Lotte Müller.«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz.
»Wenn du meine Eltern unbedingt kennenlernen möchtest, dann besuchen wir sie einfach irgendwann im neuen Jahr mal auf Föhr«, schlug sie vor. Dorthin waren die beiden gezogen, kurz nachdem Lotte mit Katja in Hamburg eine Wohngemeinschaft gegründet hatte. Marion und Udo hatten sich auf der Nordseeinsel ein Meditations- und Yoga-Zentrum aufgebaut, das mit einem angrenzenden Hotel zusammenarbeitete.
»Wir können sie natürlich auf Föhr besuchen, aber es ist trotzdem ein wenig schade, dass es an Weihnachten nicht klappt.«
»Glaub mir, sosehr ich meine Eltern mag, aber das würde niemandem Spaß machen«, beteuerte Lotte. »Außerdem bekommen wir ja auch Besuch aus Bayern.«
Katja würde die Feiertage mit ihrem Freund Jonas, ihrer Stiefmutter Julia und der kleinen Halbschwester Ella bei der Familie im Elsass verbringen.
»Und wenn deine Mutter auch noch kommt, dann haben wir genügend Rummel.«
Nicolas nickte und putzte sich die Finger an einer Serviette ab.
»Ja, dann wird viel los sein bei uns … Möchtest du noch irgendwas Süßes?«
»Nein danke, der Flammkuchen hat völlig gereicht«, winkte Lotte ab.
In diesem Moment klingelte Nicolas’ Handy. Er sah auf das Display, dann steckte er das Handy wieder in die Hosentasche, wo es noch kurz weiterbimmelte.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Lotte erstaunt.
»Nein. Das ist nicht so wichtig jetzt«, beteuerte er, ohne zu sagen, wer angerufen hatte. »Sollen wir uns mal so langsam auf den Heimweg machen?«
Sie nickte.
»Ich würde nur gern an dem Stand dort drüben ein wenig Käse für daheim einkaufen.«
»Gute Idee. Und für Onkel Bernard sollen wir ein Glas Heidelbeermarmelade mitbringen.«
»Okay … Aber danach sollten wir wirklich bald nach Hause, damit Patricia Feierabend machen kann.«
Patricia arbeitete schon seit vielen Jahren als Haushälterin auf dem Winzerhof. Doch sie sprang auch als eine Art Hausdame für Nicolas’ siebenundneunzigjährigen Urgroßonkel Bernard ein, und für dessen Tochter Maria fungierte sie als eine Art Betreuerin. Während Bernard körperlich noch einigermaßen rüstig war und geistig so fit, dass er noch in der Firmenleitung der Winzerei mitmischte, litt Maria an einer Demenzerkrankung. Ihre Tage verliefen sehr unterschiedlich. Die meiste Zeit war sie weitgehend klar, und man sah der immer noch feschen Frau Mitte siebzig die Erkrankung nicht an. An manchen Tagen waren es nur einzelne Worte und Namen, die ihr nicht einfielen, oder was sie zu Mittag gegessen hatte. Doch an schlechten Tagen hatte sie Momente oder Phasen, in denen sie weder ihren Vater, noch Nicolas oder Lotte mehr erkannte und auch nicht wusste, wo sie überhaupt war. Glücklicherweise war Letzteres noch nicht allzu oft der Fall, meistens nur dann, wenn sie ein besonders aufregendes Erlebnis hatte oder sehr aus ihrer gewohnten Routine gerissen wurde. Trotzdem war es wichtig, dass immer jemand ein Auge auf Maria hatte.
»Na gut, dann komm, lass uns gehen«, riss Nicolas sie aus ihren Gedanken.
Zwanzig Minuten später drängten sich die beiden mit einem Päckchen verschiedener Käsesorten und Marmelade durch die Ströme der Weihnachtsmarktbesucher zu einem der Parkhäuser in der Nähe der Altstadt.
»Danke für den wunderschönen Ausflug, Nicolas!«, sagte Lotte, bevor sie in den Wagen stiegen.
»Ich danke dir sehr für deine charmante Begleitung, mein Liebling«, entgegnete Nicolas in seiner manchmal etwas altmodischen Art, sich in der deutschen Sprache auszudrücken, die er zwar sehr gut beherrschte, die jedoch trotzdem seine Zweitsprache war. »Was hältst du davon, wenn wir beide uns später noch eine Flasche Pinot Noir aufmachen und es uns gemütlich machen?«
»Davon halte ich sehr viel!«
Sie waren keinen halben Kilometer mehr von der Abzweigung in die kleine private Straße entfernt, die zu ihrem Anwesen mitten in den Weinbergen führte, als am Straßenrand kurz nach einer Kurve ein kleiner Wagen mit laufendem Motor auftauchte. Plötzlich wurde eine der hinteren Türen aufgerissen, und etwas flog heraus und landete in einem Schneehaufen im Straßengraben. Gleich darauf wurde die Tür zugeschlagen, und der Wagen raste mit quietschenden Reifen davon.
»Was war das denn eben?«, rief Lotte verdutzt.
»Entsorgen die hier vielleicht ihren Abfall?«, fragte Nicolas ärgerlich und fuhr nun langsamer.
»Sieht ganz danach aus!«
»Was für eine Riesensauerei! Das kann man doch nicht machen!«
Er hielt an der Stelle an, stieg aus und ging um den Wagen herum. Lotte ließ das Fenster an der Beifahrerseite herunter.
Nicolas leuchtete in der Dunkelheit mit der Taschenlampe seines Handys auf einen Karton, der etwas größer war als eine Schuhschachtel, und beugte sich nach unten. Plötzlich zuckte er erschrocken zurück.
»Was ist?«
»Der Karton bewegt sich!«
»O nein! Pass bloß auf, Nicolas!«
Lotte stieg nun ebenfalls aus dem Wagen.
Sie vernahmen ein leises Kratzen aus dem Karton, der fest mit dickem Klebeband umwickelt war.
»Hörst du das, Nicolas?«, fragte Lotte leise.
»Merde! Da … da ist ein Tier drin. Vielleicht sogar mehrere.«
»Nein! Wer steckt denn Tiere in eine Schachtel und wirft sie einfach so weg?«
»Keine Ahnung. Aber es gibt leider genügend Idioten auf dieser Welt, denen ich so etwas zutraue. Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte er.
Wieder hörten sie ein Kratzen und ein leises Fiepen.
»Wir müssen jedenfalls nachsehen und es befreien.«
»Aber wie gehen wir vor? Wenn wir den Karton öffnen, könnte es uns anspringen und sogar beißen. Und vermutlich würde es – was auch immer da drin ist – sofort in der Dunkelheit das Weite suchen.«
»Hm. In wenigen Minuten sind wir daheim. Wir nehmen die Schachtel mit und machen sie in der Garage auf.«
»Na gut. Aber beeilen wir uns.«
Fünf Minuten später stellte Nicolas den Karton mit dem zappelnden und winselnden Inhalt auf den Boden in der geschlossenen Garage und schlüpfte in dicke Arbeitshandschuhe.
»Mir wäre es lieber, du würdest draußen warten, bis ich weiß, um was es sich handelt!«, sagte Nicolas. Doch Lotte schüttelte den Kopf.
»Ich lasse dich damit doch nicht allein!«
Sie reichte ihm ein Tapetenmesser aus der Werkzeugkiste und griff zur Sicherheit nach einem Besen. Vorsichtig schlitzte Nicolas das Klebeband auf. Dabei drückte er mit der anderen Hand noch gegen den Deckel. Das Kratzen wurde immer wilder.
»Jetzt!«
Er nickte Lotte zu, ließ den Deckel los und ging rasch einen Schritt zurück. Die Klappen des Kartons wurden nach oben gedrückt, und mit einem Satz sprang ein seltsames kleines Etwas heraus.
»Was ist das denn?«, rief Lotte erschrocken, als das Tier zu kläffen anfing und verschreckt zwischen Nicolas und Lotte hin- und herblickte.
»Wenn das nicht eine Mutation aus Katze, Fledermaus und einer Drahtbürste ist, die eine Fremdsprache beherrscht, würde ich sagen, wir haben es hier mit einem kleinen Hund zu tun«, scherzte Nicolas, sichtlich erleichtert, dass aus dem Karton keine Ratte oder sonstiges Getier gesprungen war.
Der Hund war etwas kleiner als eine ausgewachsene Hauskatze. Sein magerer dunkelbrauner Körper erinnerte an einen Rauhaardackel. Zottelige Ohren in allen möglichen Braunschattierungen standen wie Flügel von dem kleinen Kopf mit der spitzen Schnauze ab und passten von den Proportionen her nicht so recht zum restlichen Körper.
»So einen Hund hab ich noch nie gesehen«, murmelte Lotte und stellte den Besen zur Seite.
»Ich auch nicht.«
Inzwischen hatte er aufgehört zu kläffen und begann zu zittern und leise zu jaulen.
»Hey, du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, sagte Lotte ruhig und ging in die Hocke, ganz langsam, um ihn nicht zu erschrecken. »Bei uns bist du in Sicherheit.«
Sie wagte es noch nicht, ihn zu streicheln.
»Was machen wir denn jetzt mit ihm?«, fragte Nicolas.
»Er braucht bestimmt Wasser und etwas zu fressen.«
»Okay … ich geh was holen«, sagte Nicolas.
Kurz darauf kam er mit einer Plastikschüssel mit Wasser und einem zweiten Behälter mit Deckel zurück. Er stellte zuerst die Schüssel mit Wasser auf den Boden.
»Komm, mein Kleiner«, lockte Lotte ihn, die froh war, dass der Hund inzwischen aufgehört hatte zu zittern. »Du bist bestimmt durstig.«
Noch ein wenig misstrauisch tippelte der Hund näher, doch als er erkannte, was in der Schüssel war, begann er hastig zu trinken, so, als wäre er tatsächlich fast am Verdursten.
»Was hast du denn zu fressen für ihn mitgebracht?«, fragte Lotte.
»Im Kühlschrank war noch etwas Grillhähnchen von heute Mittag. Ich habe die Haut entfernt und das Fleisch schon in Stücke geschnitten. Ich hoffe, das passt? Mit Hunden kenne ich mich leider nicht aus.«
»Ja. Hähnchen ist gut. Das mochte mein Balu immer besonders gern.« Der Labradoodle Balu war der Familienhund aus ihren Kindertagen gewesen. Hunde waren für sie also kein Neuland.
Nicolas reichte ihr den Behälter, und sie zog den Deckel ab. Der Hund hob den Kopf und sah Lotte an. Er hatte das Fressen gewittert.
Lotte ging wieder in die Hocke und nahm ein kleines Stück Hähnchenfleisch.
»Schau mal, ich hab was ganz Leckeres für dich.«
Kaum hielt sie ihm das Fleisch entgegen, schnappte er schon danach und schlang es gierig hinunter.
»Noch was?«, fragte sie unnötigerweise. Doch es erschien ihr wichtig, mit dem Tier zu kommunizieren, während er das nächste Stück verputzte.
»Gib du ihm auch ein Stück«, forderte sie Nicolas auf, der es ihr nachmachte. Dem Hund schien es egal zu sein, von wem er die Leckerbissen bekam.
Schließlich stellte Lotte die Box mit dem Fleisch auf den Boden, und innerhalb kurzer Zeit hatte der Hund alles aufgefressen.
»Der arme kleine Kerl war total ausgehungert«, sagte Lotte voller Mitleid.
»Weißt du was? Ein alter Schulfreund meines Vaters ist Tierarzt. Den rufe ich an und frage, was wir mit dem ausgesetzten Tier machen sollen.«
»Ausgesetzt? Diese widerlichen Unmenschen haben den Hund mitten im Winter in einem engen Karton in den Straßengraben geworfen. Die hätten ihn qualvoll sterben lassen!« Lotte kochte innerlich vor Zorn und Abscheu.
»Ja. Das ist schrecklich. Und ich ärgere mich, dass ich nicht auf das Autokennzeichen geschaut habe, um die Leute anzuzeigen.«
»Ich leider auch nicht. Aber mit so was hätte man ja nicht rechnen können.«
»Allerdings nicht.«
Nicolas holte sein Handy aus der Hosentasche und rief den Tierarzt an.
Lotte verstand den größten Teil des Gesprächs, auch wenn ihre Französischkenntnisse noch nicht ganz so gut waren, wie sie es sich wünschte, und sie sich die Bedeutung einiger Worte erst zusammenreimen musste.
Als er aufgelegt hatte, sah er sie mit einem Stirnrunzeln an.
»Pierre will den Vorfall bei der Polizei melden, auch wenn er sich kaum Hoffnungen macht, dass die Leute gefunden werden.«
»Immerhin ein Versuch.«
»Er meint, dass das Tierheim leider derzeit total überfüllt ist. Deswegen hat er mich gebeten, den Hund bis morgen hierzubehalten. Dann sollen wir ihn in die Praxis bringen, und er wird ihn durchchecken und schauen, ob er einen Chip oder eine Tätowierung hat, um den Besitzer zurückzuverfolgen.«
»Okay. Dann bleibt der Kleine heute also hier.«
»Ist er ein Er oder eine Sie?«
»Sieht ganz nach einem Er aus«, antwortete Lotte mit einem Grinsen. »Und vermutlich muss er auch bald mal sein Geschäftchen machen.«
»Aber wenn wir ihn rauslassen, dann haut er uns vielleicht ab«, warf Nicolas ein.
In Ermangelung einer Hundeleine mussten sie improvisieren. Sie banden ihm für den kurzen Gang nach draußen ein kariertes Geschirrtuch um den Hals und befestigten einen Spanngurt daran. Damit konnte er sich nicht aus dem Staub machen.
Kaum waren sie ein paar Meter zu einer schneefreien Stelle unter dem Dach hinter der Garage gegangen, verrichtete der Hund auch schon sein Geschäft.
»Das war wohl schon ganz schön eilig. Du bist ein ganz Braver!«, lobte Lotte ihn und führte ihn rasch wieder hinein.
»Wo soll der Kleine denn eigentlich heute Nacht schlafen?«, fragte Nicolas. »Hier in der Garage ist es zu kalt.«
»Ja. Er hat heute schon genug mitgemacht. Und wer weiß, wie lange vorher schon.«
»Andererseits wissen wir auch nicht, ob er nicht vielleicht irgendeine Krankheit oder Ungeziefer hat«, gab Nicolas zu bedenken.
»Richten wir ihm ein Bettchen in dem kleinen Abstellraum neben unserem Schlafzimmer ein«, schlug Lotte vor.
Und als ob er Lotte verstanden hätte, dass er bei ihnen bleiben durfte, bellte er einmal und wedelte mit dem Schwanz.
»Er scheint sich schnell von dem Schreck erholt zu haben«, sagte Nicolas.
»Das Fressen hat vermutlich seinen Teil dazu beigetragen. Ich hoffe, dass er vorher nicht allzu lange in der Schachtel eingesperrt war.« Sofort kroch wieder die Wut auf die Menschen in ihr hoch, die den kleinen Kerl einfach so entsorgt hatten.
»Komm, mein Kleiner.«
Als sie durch die Seitentür von der Garage aus die Diele des Anwesens betraten, war es kurz vor halb neun. Lotte hatte den Eingangsbereich zum ersten Adventswochenende gestern stimmungsvoll dekoriert. Maria hatte ihr geholfen und dabei Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit erzählt.
»Ihr seid schon zurück? Ich dachte, ihr würdet vielleicht noch irgendwo zu Abend essen.«
Bernard war aus dem Wohnzimmer gekommen, aufgestützt auf seinem Gehstock. Er hatte im Krieg ein Bein verloren und trug deswegen eine Prothese.
Er wirkte deutlich jünger als siebenundneunzig, und Lotte war immer wieder erstaunt, wie agil er noch war. Erst vor einem Jahr hatte Bernard erfahren, dass aus einer Liebesbeziehung in den Wirren des letzten Kriegsjahres in Deutschland eine Tochter hervorgegangen war: Maria. Marias Mutter Marianne war immer davon ausgegangen, dass ihre große Liebe Bernard im Krieg noch vor der Geburt des gemeinsamen Kindes ums Leben gekommen war. Nur durch einen Zufall war Nicolas mittels eines Medaillons aus der damaligen Zeit der Wahrheit auf die Spur gekommen und hatte mit Marias Enkeltochter Katja Kontakt aufgenommen. An Heiligabend im letzten Jahr waren Vater und Tochter dann zum ersten Mal aufeinandergetroffen. Nachdem die beiden so viel gemeinsame Lebenszeit hatten verpassen müssen, hatte Bernard alles darangesetzt, dass Maria zu ihm ins Elsass kam. Alle hatten von Anfang an zusammen geholfen, um den beiden die begrenzte Zeit, die ihnen noch gemeinsam vergönnt sein würde, so unbeschwert wie möglich zu gestalten.
»Wir haben eine Kleinigkeit auf dem Weihnachtsmarkt gegessen und wollten es nicht zu spät werden lassen«, sagte Nicolas.
»Und was habt ihr denn da für einen Hund dabei?«, fragte Bernard verwundert.
»Jemand hat ihn in einer Schachtel im Straßengraben entsorgt«, erklärte Lotte.
Der Hund, immer noch an seiner provisorischen Leine, beäugte den großen weißhaarigen Mann und seinen Gehstock etwas misstrauisch.
Bernard schüttelte schockiert den Kopf.
»Unglaublich, was es für grausame Menschen gibt!«, brummte er zornig.
»Wir behalten ihn heute Nacht hier und bringen ihn morgen zu Pierre in die Praxis«, erklärte Nicolas. »Der wird versuchen, die Besitzer ausfindig zu machen, falls das Tier registriert ist. Oder einen Platz in einem Tierheim für ihn zu finden, falls das nicht der Fall sein sollte.«
Bernard nickte.
»Ich hoffe, er findet wieder nach Hause.«
»Das hoffen wir auch. Wie geht es Maria?«, erkundigte sich Lotte.
»So weit gut. Sie hatte nur am Abend ein wenig Kopfschmerzen und eine Tablette genommen. Sie schläft schon. Deswegen konnte ich Patricia bereits nach Hause schicken«, sagte Bernard. »Und ich gehe jetzt auch in mein Zimmer. Habt ihr die Türen abgeschlossen?«, fragte er.
»Haben wir, Onkel Bernard«, versicherte Nicolas.
Vor ein paar Wochen war Maria in der Nacht aus dem Haus verschwunden. Lotte war noch im Wohnzimmer gewesen, um sich mit Katja per Videochat zu unterhalten. Sie wollte ein Glas Wasser aus der Küche holen, als ihr die offene Haustür aufgefallen war. Zum Glück war Maria erst ein paar Meter weit gekommen. Seither achteten alle besonders darauf, dass die Türen vor allem am Abend immer abgeschlossen waren.
»Na dann, gute Nacht, ihr zwei. Oder besser gesagt, ihr drei!«
»Gute Nacht.«
Lotte holte einen geflochtenen Wäschekorb aus dem Hauswirtschaftsraum, legte ihn mit alten Handtüchern und einer Decke aus und stellte ihn in den kleinen Abstellraum.
»So, Kleiner, hier darfst du schlafen. Komm her«, ermunterte sie ihn freundlich, ins Körbchen zu steigen. Und tatsächlich sprang der Hund hinein, schnüffelte an der Decke und legte sich hin. Doch als Lotte das kleine Zimmer verlassen wollte, hüpfte er wieder heraus und winselte gottserbärmlich.
»Schau mich doch nicht so an, mit deinen kleinen süßen Knopfaugen.« Lotte seufzte. »Du willst nicht alleine sein, oder?«
Wieder ein Winseln.
»Na gut. Dann komm mit!«
Eine halbe Stunde später saßen Lotte und Nicolas bei einem Glas Pinot Noir im Wohnzimmer und verfolgten im Fernsehen eine Talkshow. Der kleine Hund lag in seinem Körbchen auf dem Boden neben ihnen und schlief.
»So einen seltsamen Mix hab ich echt noch nie gesehen«, sagte Lotte, die mehr auf den Hund als auf den Fernseher schaute.
»Keine Ahnung, was sich da für Rassen eingeschlichen haben. Er sieht irgendwie aus, als hätte man ihn aus lauter unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt, die überhaupt nicht zusammenpassen«, meinte Nicolas.
Lotte lachte.
»Ja. Ein wenig schräg, aber vielleicht gerade deswegen auf eine besondere Weise ziemlich süß … Sag mal, sollen wir ihm einen Namen geben?«
»Du weißt schon, dass wir ihn morgen früh gleich zum Tierarzt bringen und ihn dann nicht mehr wiedersehen werden?«, erinnerte sie Nicolas.
»Ja, das weiß ich … Aber falls er wirklich ins Tierheim kommt, braucht er ja auch dort einen Namen, findest du nicht?«, fragte sie, während der Hund im Schlaf kurz die Vorderpfoten bewegte, als würde er im Traum an einer Tür kratzen. Oder an den Innenwänden eines viel zu engen Kartons.
»Ich weiß auch nicht. Hm … Aber immerhin haben wir ihn gerettet. Vielleicht sollten wir ihm dann doch einen Namen geben.«
»Eben!«
»Nur, wenn ich ihn so anschaue, passt irgendwie gar kein Name so richtig zu ihm«, murmelte er nachdenklich.
»Wir haben ihn aus einer Schachtel geholt, wie ein Weihnachtsgeschenk. Und heute ist auch noch der 1. Advent. Was hältst du denn von Noël?«
»Noël? Bedeutet das nicht der an Weihnachten Geborene oder so ähnlich?«
»Ja. Wir wissen zwar nicht, wann er tatsächlich geboren wurde. Aber heute hat er definitiv seinen zweiten Geburtstag, nachdem wir ihn vor dem sicheren Tod gerettet haben. Und das zu Beginn der Weihnachtszeit. Ich finde, Noël passt zu ihm.«
»Na gut. Wenn du meinst, dann nennen wir ihn Noël«, stimmte Nicolas zu.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Er warf einen Blick aufs Display und stand rasch auf.
»Entschuldige, da muss ich rangehen.«
Er ging aus dem Zimmer, und Lotte hörte nur noch, wie er Ja hallo, tut mir leid, aber vorhin … sagte, bevor er die Tür hinter sich schloss. Das Klingeln des Handys hatte Noël wieder aufgeweckt. Er hob den Kopf und sah Lotte aus seinen kleinen dunklen Augen an.
»Schon gut. Du kannst weiterschlafen, Noël … Noël, das ist jetzt dein neuer Name. Ich hoffe, du magst ihn.«
Der Hund gähnte herzhaft, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Offenbar schien ihm sein neuer Name ziemlich egal zu sein.
Lotte versuchte, sich wieder auf die Talkshow zu konzentrieren, fragte sich jedoch, mit wem Nicolas so lange telefonierte. Mit seiner Mutter? Oder seinem Vater? David war im Familienbetrieb vor allem für den Vertrieb der Weine und Kundenbetreuung zuständig und bis kommenden Mittwoch auf einer Geschäftsreise in den Niederlanden.
Erst nachdem fast eine halbe Stunde vergangen war, kam Nicolas wieder zurück und setzte sich neben Lotte aufs Sofa.
»War das dein Vater?«
»Äh, ja.«
»Und? Wie geht es ihm? «
»Ganz gut.«
Er griff nach dem Weinglas und nahm einen Schluck.
Wieder war Noël aufgewacht. Er stand auf, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und suchte sich dann eine neue Schlafposition.
»Was hältst du davon, wenn wir bald ins Bett gehen?«, schlug Nicolas vor.
»Hm. Vielleicht bleibe ich besser noch eine Weile hier und warte, bis der Hund endlich tief eingeschlafen ist«, überlegte Lotte.
»Ich kann dir aber auch noch Gesellschaft leisten.«
»Musst du nicht. Ich komme sicher bald nach.«
»Wie du meinst. Aber lass mich nicht zu lange warten«, murmelte er an ihrem Ohr, und sie bekam eine wohlige Gänsehaut.
»Tu ich nicht«, sagte sie leise und verstärkte das Versprechen mit einem ausgiebigen Kuss.
Lotte erwachte durch ein leises Fiepen an ihrem Ohr und brauchte eine Sekunde, bis ihr klar war, dass sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Im schwach flackernden Licht des Fernsehers sah sie Noël, der sie, beide Vorderpfoten auf dem Sofa, direkt anstarrte.
Lotte setzte sich langsam hoch und schob die Decke beiseite.
»Hey, kleiner Kerl, du sollst doch schlafen«, murmelte sie müde.
Mit einem Satz sprang Noël aufs Sofa und machte es sich neben Lotte bequem, als hätte er das schon Hunderte Male getan.
Sie musste grinsen.
»Damit meinte ich nicht auf dem Sofa, du kleiner Schlawiner.«
Doch sie brachte es nicht übers Herz, ihn vom Sofa zu scheuchen. Vor allem nicht, als er wieder leise winselte.
Vorsichtig streichelte sie über seinen kleinen Kopf.
»Ich habe keine Ahnung, was du alles mitgemacht hast«, sagte sie leise. »Aber jetzt bist du in Sicherheit.«
Das Streicheln und ihre bedächtigen Worte schienen ihm zu gefallen, und er wurde ruhig.
»So ist es gut, mein Kleiner …«
Nach einer Weile griff sie zu ihrem Handy. Es war kurz nach halb eins. Sicherlich war Nicolas inzwischen längst eingeschlafen. Da sie kein gutes Gefühl hatte, Noël allein zu lassen, beschloss sie, ausnahmsweise im Wohnzimmer zu übernachten. Sie nahm die Decke und legte sich auf die andere Seite des L-förmigen Sofas.
»Ich schlafe hier, und du bleibst auf deinem Platz. Verstanden?«
Er sah sie an.
»Und ich kann nur hoffen, dass du keine Flöhe oder sonstiges Ungeziefer hast! Hm. Aber eigentlich siehst du relativ gepflegt aus.«
Noël hatte die Augen wieder geschlossen. Sie griff nach der Fernbedienung auf dem Tisch und schaltete das Gerät aus. Nun war es ganz dunkel im Zimmer.
Gleich morgen früh würden sie Noël zum Tierarzt bringen, und der würde hoffentlich seinen Besitzer oder zumindest einen guten Platz für ihn finden.
Ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht zuzulassen, dass Noël im Tierheim landet«, sagte Lotte am nächsten Vormittag, als sie die Tierarztpraxis mit dem Hund verließen und zum Parkplatz gingen. Pierre, der Schulfreund von Nicolas’ Vater, hatte ihnen eine geeignete Transportbox mitgegeben, damit Noël bei der Autofahrt gut gesichert war. Außerdem hatte er auch noch ein passendes Halsband mit Hundeleine für sie gefunden.
»Irgendwie war mir das schon seit heute Morgen klar, als ich euch beide im Wohnzimmer entdeckt habe«, meinte Nicolas mit einem Lächeln. Noël war es in der Nacht gelungen, am Fußende unbemerkt zu Lotte unter die Decke zu schlüpfen, so dass nur seine kleine spitze Schnauze herausschaute. Nicolas hatte ein Foto der beiden gemacht und es Lotte gezeigt, nachdem er sie geweckt hatte.
»Du bist mir doch nicht böse?«, fragte Lotte unsicher. Immerhin hatte sie die Entscheidung, den Hund wieder mitzunehmen, ziemlich spontan getroffen.
»Nein. Bin ich nicht. Mir wäre es ja auch total schwergefallen, Noël bei Pierre und danach einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Aber ich weiß nicht, was Onkel Bernard und Maria dazu sagen werden. Auch wenn wir dort wohnen, das Anwesen gehört immer noch Onkel Bernard.«
»Ich hoffe, er kann es verstehen, vor allem, wenn er die Geschichte von Noël hört.«
Durch das Auslesen des implantierten Chips hatte der Tierarzt schnell die Besitzerin des Hundes ausfindig gemacht, der unter dem Namen Clown registriert und dreieinhalb Jahre alt war. Doch der Anschluss dieser Frau war nicht erreichbar gewesen.
Pierre hatte mehrere Telefonate mit anderen Tierarztpraxen in der Gegend geführt, und schließlich konnte ihm eine befreundete Kollegin weiterhelfen. Bei ihr war Clown in regelmäßiger Behandlung gewesen, und der Hund hatte auch alle notwendigen Impfungen und Untersuchungen erhalten. Und sie kannte auch das Frauchen des Hundes, eine alleinstehende sechsundsechzigjährige Rentnerin aus Colmar, die jedoch vor neun Wochen überraschend verstorben war. Ihre Nachbarin hatte sich dazu überreden lassen, das Tier aufzunehmen. Doch dann war der Hund nur ein paar Tage später durch die offene Wohnungstür entwischt. Wo das Tier seither gewesen war, wusste niemand. Letztlich war er leider bei Leuten gelandet, die ihn wie Abfall entsorgt hatten. Pierre hatte die Nachbarin darüber informiert, dass der Hund wiederaufgetaucht war, doch die wollte ihn nicht mehr zurückhaben.
»Dann müssen wir den kleinen Clown vorerst doch im Tierheim unterbringen!«, hatte Pierre bedauernd gesagt.
Aber Lotte hatte den Kopf geschüttelt.
»Wir nehmen ihn wieder mit!«
Der Tierarzt hatte gelächelt und versprochen, sich darum zu kümmern, dass sie die Papiere und den Impfausweis von Clown zugeschickt bekamen.
Inzwischen waren sie am Auto angelangt. Nicolas öffnete die hintere Tür, stellte die Transportbox auf die Rückbank und sicherte sie mit dem Gurt. Lotte setzte sich daneben.
»Können wir noch schnell bei einem Supermarkt vorbeifahren?«, bat sie. »Wir brauchen unbedingt Hundefutter.«
»Klar.«
»Ich finde, der Name Clown passt überhaupt nicht zu ihm. Können wir es bei Noël belassen?«, schlug Lotte vor.
»Sehr gern … Zu Clowns habe ich ohnehin kein gutes Verhältnis. Die mochte ich als Kind schon nicht, ich hatte sogar Angst vor ihnen. Ich finde sie nämlich eher gruselig als lustig«, verriet Nicolas.
»Da bist du nicht der Einzige, dem es so geht. Meine Mutter findet Clowns auch ganz schrecklich. Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff: Coulrophobie. Übermäßige Angst vor einem Clown«, erklärte Lotte.
»Ach ja? Jedenfalls ist Noël definitiv nicht gruselig«, beteuerte er.
»Das ist er wirklich nicht.«
Zehn Minuten später parkte Nicolas auf dem Parkplatz eines großen Supermarktes mit einer Abteilung für Tierzubehör.
»Kannst du alleine reingehen? Ich bleib solange bei Noël.«
Noël schien nicht sonderlich begeistert darüber, in der Box eingesperrt zu sein, und hatte zu winseln begonnen. Lotte musste beruhigend auf ihn einreden.
»Und welches Futter soll ich für ihn kaufen?«, fragte Nicolas.
»Nimm einfach ein paar verschiedene Dosen und Trockenfutter. Und Leckerli.«
»Okay.«
Nicolas war kaum im Laden verschwunden, da klingelte sein Handy, das in der Mittelkonsole lag. Lotte beugte sich zwischen den Vordersitzen nach vorn. Das Display zeigte einen Anruf von Nicolas’ Vater an. Sie schnappte sich das Handy und ging ran.
»Hallo David, hier ist Lotte.«
»Bonjour, Lotte. Kann ich bitte Nicolas sprechen?«, fragte er mit stark französischem Akzent.
»Er ist gerade im Supermarkt beim Einkaufen. Kann er dich zurückrufen?«
»Eigentlich wollte ich mich nur kurz aus Amsterdam melden. Ist bei euch auf dem Hof alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja. Bei uns passt alles. Und bei dir?«
»Auch. Vielleicht kann Nicolas mich bitte später mal anrufen?«, bat er.
»Ich sag es ihm.«
»Danke. Er wird sich bestimmt freuen zu hören, dass die Gespräche mit den Kunden in den letzten Tagen gut gelaufen sind.«
»Das wird er.«
»Gut, dann bis später. Au revoir, Lotte.«
»Au revoir, David.«
Lotte war verwundert. Hatte David nicht gestern Abend erst mit Nicolas telefoniert?
Nachdenklich legte sie das Handy wieder zurück in die Konsole. Irgendwie fand sie es seltsam, dass die beiden gestern so lange telefoniert hatten, ohne dass David erwähnt hätte, wie gut die Gespräche mit den Kunden gelaufen waren.
Das hörte sich eher so an, als ob die beiden gestern gar nicht telefoniert hätten. Aber sie hatte Nicolas doch gefragt, ob es sein Vater gewesen war. Warum hätte er ihr eine falsche Antwort geben sollen? Sie überlegte kurz, die letzten Anrufe auf seinem Handy zu überprüfen. Dann wüsste sie sofort Bescheid. Sie kannte seine Pin, und er würde das noch nicht einmal bemerken. Trotzdem tat sie es nicht, das wäre ein zu großer Vertrauensbruch.
Sie sah durch das Gitter in die Transportbox.
»Es wird sicher eine ganz harmlose Erklärung geben«, murmelte sie. »Nicht wahr, Noël?«
Der Hund hatte sich inzwischen beruhigt und seinen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt.
Ein paar Minuten später kam Nicolas zurück. Er hatte nicht nur Hundefutter, das für ein ganzes Rudel reichen würde, und Spielzeug für Noël dabei, sondern auch eine große Schachtel Pralinen, die Lotte besonders mochte. Er öffnete die hintere Wagentür.
»Hier, mein Schatz. Die sind für dich!«
»Du bist süß, vielen Dank, Nicolas!«
»Hauptsache, du gibst mir ein paar davon ab.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte er und gab ihr einen Kuss. Dann schloss er die hintere Tür und stieg vorne ein.
»Ach übrigens, dein Vater hat eben angerufen. Er bittet um Rückruf. Habt ihr nicht erst gestern Abend telefoniert?«, fragte sie wie nebenbei.
»Äh ja, aber nur ganz kurz. Ich rufe ihn später zurück«, sagte er, während er den Sicherheitsgurt anlegte.
»Ich dachte, ihr hättet länger geplaudert?«
»Nein, denn dann kam ein anderes Gespräch rein, das ich annehmen musste.«
»Ach so.«
Das hörte sich nach einer plausiblen Erklärung an, auch wenn er keine Anstalten machte, ihr zu sagen, mit wem er sonst noch telefoniert hatte. Womöglich erschien ihm das einfach nicht für wichtig. Und Lotte würde es damit auf sich beruhen lassen.
»So, und jetzt ganz schnell ab nach Hause mit unserem neuen Familienmitglied.«
Er lächelte Lotte kurz im Rückspiegel zu und startete den Wagen.
»Ich hoffe nur, dass Onkel Bernard nichts dagegen hat, Noël bei uns zu behalten.«
»Das hoffe ich auch. Sehr.«
Sie hätten sich überhaupt keine Gedanken machen müssen. Bernard hatte nichts gegen den putzigen neuen Mitbewohner.
»Ganz früher, noch bevor du zur Welt kamst, Nicolas, hatten wir hier immer Hunde auf dem Weingut. Auch wenn sie wesentlich größer und eindeutig einer Rasse zuzuordnen waren im Gegensatz zu diesem Exemplar hier«, sagte er und betrachtete Noël, der mit einem Kauspielzeug in Form eines Eclairs beschäftigt war, das Nicolas ihm gekauft hatte.
»Ich finde es schön, wenn wieder ein Vierbeiner zu unserer Familie gehört.«
Doch am meisten freute sich Maria über den Familienzuwachs. Die Kopfschmerzen vom vergangenen Abend waren verschwunden, heute ging es ihr wieder gut.
»Ella wird aus dem Häuschen sein, wenn sie uns an Weihnachten besuchen kommt und das Hündchen sieht«, sagte sie. Marias zehnjährige Enkelin Ella war die Halbschwester von Katja. »Ella wollte immer gern ein Haustier haben, aber irgendwie hat das nie geklappt. Ich weiß gar nicht mehr, warum eigentlich nicht?«, grübelte sie und hielt Noël ein Leckerli hin. Sofort ließ er von seinem Spielzeug ab und schnappte es sich.