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Bei allzu hitzigen Zeiten sollte man immer einen kühlen Kopf bewahren ...
Von der Liebe hat Anna die Nase gestrichen voll. Auch ohne Mann geht es in ihrem Leben turbulent zu: Hochzeitsvorbereitungen der einen Tochter und Abiturstress der anderen. Dazu eine eigenwillige Mutter und lästige Hitzewellen. Als ihr Jugendschwarm Jo zurück in die Stadt kommt, erwachen jedoch Gefühle, die sie längst für ausgestorben hielt. Doch Jo kann sich nicht einmal mehr an ihre damalige Nacht erinnern. Zudem nervt sie Paul, der Vater einer Mitschülerin ihrer Tochter. Frustriert lässt sie sich von ihren Freundinnen Zoe und Ilona dazu ermuntern, sich auf die Einladung eines jungen Mannes einzulassen. Und damit nimmt das Chaos seinen Lauf ...
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Seitenzahl: 413
Buch
In Annas leben geht es derzeit ziemlich turbulent zu – Hochzeitsvorbereitungen der einen Tochter, laute Bandproben und Abiturstress der anderen, dazu die etwas schrullig gewordene Mutter, die sich mehr in Annas Angelegenheiten mischt, als ihr lieb ist. Und dann gibt es noch Paul, den nervigen Vater einer Mitschülerin ihrer Tochter und Annas Kampf mit den Erscheinungen der Wechseljahre. Gut, dass sie ihre Freundinnen Zoe und Ilona hat. Mit ihnen lassen sich Ärger und lästige Hitzewellen am besten bei einem Glas kühlem Weißwein vergessen. Als Anna hört, dass ihr Jugendschwarm Jo zurück in der Stadt ist, fährt sie neugierig zu seinem Haus. Geknickt muss sie feststellen, dass er sich überhaupt nicht an sie erinnert. Ihren Frust lässt sie an einem Patienten aus, einem jungen Mann namens Leo, der sich davon nicht beeindrucken lässt und sie zum Essen einlädt. Dabei könnte sie altersmäßig seine Mutter sein. Aber: Warum eigentlich nicht? Und damit geht das Chaos erst richtig los ...
Autorin
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV, unter anderem für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:
Liebesschmarrn und Erdbeerblues ∙ Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück ∙ Servus heißt vergiss mich nicht ∙ Der Weihnachtswald ∙ Barfuß im Sommerregen ∙ Das Weihnachtswunder
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Für Jasmin und Caroline
und
für Ramona
Kunterbuntes Patchwork kann durchaus funktionieren.
Die Schweißperlen auf meiner Stirn stammten heute ausnahmsweise mal nicht von meinen Wechselbeschwerden. Ich hatte schlicht und ergreifend Todesangst.
Darf man als Mutter einer Fahranfängerin eigentlich die Augen schließen, bis man am Ziel ist? Gibt es da irgendwelche Vorschriften von der Führerscheinstelle?
Ich hatte mir wirklich fest vorgenommen, ganz locker und cool zu bleiben. Doch nun stand ich kurz davor, meine Tochter anzuflehen, mich aussteigen zu lassen. Jetzt konnte ich auch nachvollziehen, warum Emma die praktische Fahrprüfung erst im dritten Anlauf geschafft hatte. Und zwar heute. Vor genau einer halben Stunde. Noch beim Frühstück hatte ich mich lautstark über den Fahrlehrer ausgelassen, der meiner Tochter mehr Fahrstunden aufgebrummt hatte, als mein Budget eigentlich verkraften konnte. Doch jetzt leistete ich innerlich Abbitte. Ich stand kurz davor, ihn anzurufen und zu fragen, welches Wahnsinns-Mittel er nahm, um solche Fahrten nervlich zu überstehen. Genau das hätte ich nämlich auch gern! In doppelter Dosis!
Warum zum Teufel hatte er zugelassen, dass der Prüfer Emma die Fahrerlaubnis erteilt hatte? Führerschein mit 17! Wem war nur so ein Irrsinn eingefallen? Meine Generation war damals immerhin schon 18 gewesen. Und kaum hatten wir bestanden, waren die einzigen Beifahrer Freunde und Mitschüler gewesen. Oder irgendwelche Tramper, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, wenn es abends in die Disco oder auf ein Rockkonzert ging. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, dass unsere Eltern sich ohne Not von uns hatten herumkutschieren lassen. Wenn wir als Familie unterwegs gewesen waren, saß immer mein Vater am Steuer. Außer zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen er mal einen über den Durst getrunken hatte. Dann – aber nur dann – durfte auch mal meine Mutter ran.
Mit Sätzen wie: »Du weißt schon, dass es auch einen vierten Gang gibt, Mina? … Wenn du noch langsamer fährst, fahren wir rückwärts … Als Gott die Talente zum Autofahren verteilte, warst du wohl gerade beim Kochkurs …« hatte er sie schier in den Wahnsinn getrieben. Bis sie irgendwann einmal mitten in der Nacht neben einer Telefonzelle völlig entnervt den Wagen angehalten und ein Taxi gerufen hatte.
»Wenn du dein Auto morgen früh in der Garage haben willst, dann steigst du jetzt in das Taxi!«, hatte sie in einem Ton gedroht, den meine Schwester Moni und ich bisher noch nie von ihr gehört hatten. »Wir kommen nach.«
Wir hatten mit offenen Mündern zugesehen, wie Vater tatsächlich mit hochrotem Kopf ins Taxi einstieg.
Die nächsten drei Tage redeten sie kein Wort miteinander. Am vierten Tag stritten sie so laut, dass es für unsere Nachbarn wie Kino in der ersten Reihe war – nur ohne Bild. Danach herrschte erstaunlicherweise wieder Frieden. Und ab da hielt er sich mit seinen Kommentaren bei Autofahrten mit Mutter am Steuer zurück. Zumindest meistens.
»Stell dir vor, Mama, ich war die Einzige, die es heute geschafft hat. Alle anderen sind durchgefallen«, riss Emma mich aus meinen Gedanken.
»Ich bin ganz schön stolz auf dich«, hörte ich mich sagen und wagte mir gar nicht vorzustellen, wie die anderen Prüflinge gefahren waren. Unauffällig wühlte ich in der Handtasche auf meinem Schoß nach den harmlosen pflanzlichen Beruhigungsdragees, die ich immer dabeihatte. Doch als ich sie schließlich fand, hielt ich inne. Bis die wirkten, wären wir ohnehin schon längst daheim – oder im schlimmsten Falle tot.
Nicht so weit links!, wollte ich rufen. Doch wie durch ein Wunder schaffte es Emma, den Außenspiegel des entgegenkommenden Fahrzeuges nicht abzufahren. Langsam stieß ich die Luft aus, die ich unbemerkt angehalten hatte. Bleib ganz locker, Anna, ganz locker!, sagte ich mir.
Ich versuchte, mich zu erinnern, wie es war, als ich das erste Mal mit meiner ältesten Tochter Leonie – die wir alle nur Leo nannten – mitgefahren war. War mein Nervenkostüm damals noch stabiler gewesen? Allerdings hatte ihr Vater meist als Fahrbegleiter fungiert. Damals, vor acht Jahren. Als wir noch nicht geschieden waren, Harald und ich.
Ich warf Emma einen Blick von der Seite zu. Sie war so unglaublich hübsch mit ihren hellgrauen Augen, die leider mal wieder viel zu dick mit schwarzem Kajal umrahmt waren. Ihre hüftlangen dunkelbraunen Locken hatte sie heute zu einem lockeren Zopf geflochten und sah dadurch noch jünger aus, als sie war. Viel zu jung, um schon selbst Auto zu fahren. Es kam mir vor wie gestern, als sie auf ihrem roten Bobby-Car in der Hofeinfahrt hin und her geprescht war. Oder unsere Fahrten damals im Autoscooter auf dem Rosenheimer Herbstfest. So stolz war sie gewesen, als sie ihrem Vater und Leo immer wieder geschickt ausgewichen war, damit sie uns nicht rammen konnten. »Du wirst mal eine prima Autofahrerin«, hatte ich sie damals gelobt. Jetzt war ich mir da gar nicht mehr so sicher.
»Soll ich dich noch zum Supermarkt fahren, Mama?«, fragte Emma eifrig und fuhr so rasant in den Kreisverkehr, dass der Wagen gerade so die Kurve bekam. Ich schob die Hände unter meine Schenkel, um ihr nicht ins Lenkrad zu greifen oder die Handbremse zu ziehen.
»Ich habe schon alles eingekauft«, presste ich hervor.
»Schade …«
»Hm.«
»Wir könnten nach Rosenheim in die Eisdiele fahren«, schlug Emma wenig später vor.
»Ein anderes Mal«, sagte ich schnell. »Ich muss doch wieder zur Arbeit.« Falls ich das hier überlebe!
»Okay. Dann frag ich Oma«, sagte meine Tochter, drehte das Radio lauter auf und drückte aufs Gas, um gerade noch so über die Kreuzung zu kommen, bevor die Ampel auf Rot schaltete. Mir blieb fast das Herz stehen, und ich fragte mich, ob es tatsächlich so eine gute Idee gewesen war, meine Mutter als weitere Begleitperson für Emma eintragen zu lassen.
»Hör mal«, begann ich vorsichtig. »Du weißt, dass Oma etwas ängstlich sein kann. Vielleicht fährst du vorerst noch ein wenig langsamer, wenn sie dabei ist.«
»Ich fahr ja sowieso nur so schnell, wie ich darf«, bemerkte Emma gereizt. Seit Kurzem fasste sie fast jedes Wort von mir als Kritik auf – nicht nur beim Autofahren.
»Man muss aber nicht so schnell fahren, auch wenn man es darf!«, konnte ich mir nun doch nicht verkneifen.
»Willst du, dass ich einen Unfall baue?«, fuhr Emma mich an. »Das kann nämlich passieren, wenn man als Fahrer ständig verunsichert wird.«
»Aber ich …«, setzte ich an, behielt meine Meinung dann aber für mich. Es wäre alles andere als hilfreich, jetzt mit ihr zu streiten. Und eigentlich wollte ich ihr ja gar nicht reinreden, ich wollte nur heil wieder aus dem Auto steigen.
»Wo fährst du denn eigentlich hin? Wir hätten links abbiegen müssen«, sagte ich stattdessen.
»Zu Jana.«
»Welche Jana?«
»Jana. Die Neue!«
»Ach ja«, sagte ich, und vage konnte ich mich daran erinnern, dass sie von einem Mädchen erzählt hatte, das erst seit dem letzten Halbjahr an der Schule war und mit dem sie sich angefreundet hatte.
»Und was wollen wir bei … Jana?«
»Ich hole ihren Bass ab, damit sie ihn heute Abend nicht mit dem Fahrrad zur Bandprobe transportierten muss«, erklärte Emma bereitwillig. Aha!
Meine Tochter hatte mit einigen Freunden vor Monaten die Band Crazyblubb gegründet, in der sie die Sängerin war, und seither ertönten zweimal in der Woche schräge, laute Klänge aus unserem Keller.
»Bass? Spielt Jannik denn nicht mehr mit?«, fragte ich erstaunt.
»Der hat überhaupt keine Zeit mehr, seitdem er eine Freundin hat. Außerdem muss er ständig lernen.«
»Und genau das solltest du auch, mein Fräulein! In einer Woche beginnt das schriftliche Abi!«
Emma verkniff sich einen Kommentar, blinkte und parkte – leicht schief – vor einem Doppelhaus mit einem kleinen, etwas vernachlässigt wirkenden Vorgarten.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie und stieg aus.
Ich spürte, wie die Anspannung in meinem Körper augenblicklich nachließ. Immerhin hatten wir die erste Etappe heil überstanden, und die letzten Kilometer bis nach Hause würden wir hoffentlich auch noch schaffen.
Emma klingelte an der Haustür, die gleich darauf geöffnet wurde, und verschwand, ohne dass ich einen Blick auf ihre Freundin werfen konnte.
Ich holte das Handy aus der Tasche und schickte eine WhatsApp-Nachricht an unsere Familiengruppe, die aus meiner Mutter, Emma und Leo bestand: Emma hat den Führerschein!
Offenbar hatte meine Mutter schon sehnsüchtig auf die Nachricht gewartet, denn es dauerte keine zehn Sekunden, da schickte sie auch schon eine Reihe Smileys mit Herzchenaugen und hocherhobenem Daumen. Sie liebte ihr Handy, das wir ihr zum fünfundsiebzigsten Geburtstag geschenkt hatten, und bombardierte uns inzwischen mehrmals täglich mit Sinnsprüchen und vermeintlich lustigen Katzenfotos und Videos.
Auch Leo meldete sich nur wenig später: Cool, kleine Schwester!
Gleich darauf klingelte das Handy.
»Hallo, Leo«, grüßte ich meine ältere Tochter.
»Hi, Mama. Du, die Dekorateurin hat mich angerufen. Sie will sich morgen Nachmittag schon mit uns treffen wegen der Hochzeitsdekoration.«
»Morgen? Aber ich dachte, das wäre erst nächste Woche?!«
»Da ist ihr irgendwas dazwischengekommen. Keine Ahnung. Du kannst doch, oder?« Ihre Stimme klang drängend, wie immer, wenn es um die Organisation der Hochzeit ging, die in sechs Wochen stattfinden würde.
»Ja, klar«, sagte ich und seufzte innerlich. Der Yogakurs an meinem freien Nachmittag war ja auch gar nicht so wichtig.
»Super! Und Mama …?«
»Ja?«
»Kannst du bei Papa anrufen? Ich würde so gern die Zwillinge als Blumenmädchen dabeihaben.«
»Ich? Warum machst du das nicht …«
»Er ist doch immer so schwer zu erreichen. Und ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Meine Masterarbeit, die Hochzeit …«, unterbrach sie mich. »Gut, dass du mir so viel abnimmst, Mama. Bist ein Schatz. Bussi und bis morgen.«
Und schon hatte sie aufgelegt.
Na wunderbar! Jetzt musste ich meinen Exmann fragen, ob seine dreijährigen Töchter Blumen streuen durften. Da er tatsächlich immer nur schwer zu erreichen war, würde ich besser gleich mit Karla sprechen, seiner zweiten Frau, die er schon ein Jahr nach unserer Scheidung geheiratet hatte.
Ich wollte sie gerade anrufen, da sah ich Emma mit einem Basskoffer aus dem Haus kommen. Ich steckte das Handy in die Tasche. Den Anruf würde ich auf heute Abend verschieben.
Emma verstaute das Instrument im Kofferraum, dann stieg sie ein und startete unseren Opel Corsa. Bilderbuchmäßig setzte sie den Blinker, drehte den Kopf nach einem Blick in den Seitenspiegel kurz nach hinten und fuhr dann los.
»Gut gemacht«, lobte ich sie.
»Weil da schon was dabei ist!«
Ich seufzte. Ich konnte es ihr aber auch wirklich nicht recht machen. Dann brachte sie uns nach Hause.
Erleichtert stellte ich fest, dass meine Mutter nicht da war. Ich hatte vorhin tatsächlich ihren Canasta-Nachmittag vergessen. Ein- bis zweimal in der Woche traf sie sich mit ihrer Freundin Gundi bei unserem Nachbarn Karl Obermeier zu einer ausgedehnten Kartenrunde. Emmas Fahrt mit ihr nach Rosenheim fiel somit für heute flach. Gott sei Dank! Trotzdem würde Emma ihre Oma womöglich zumindest zu einer kleinen Spritztour überreden, wenn sie zurückkam. Da ich meiner Mutter nicht schon am ersten Tag zumuten wollte, die noch sehr gewöhnungsbedürftigen Fahrkünste ihrer Enkelin auszuhalten, gab ich vor, mit dem Auto zur Arbeit fahren zu müssen.
»Warum nimmst du nicht das Fahrrad?«, maulte Emma enttäuscht.
»Weil … weil ich später noch was erledigen muss«, sagte ich ausweichend. Und bevor Emma mich doch noch um den Finger wickeln und mir das Auto abschwatzen konnte, schnappte ich meine Handtasche und die Autoschlüssel und floh aus dem Haus.
Als ich in der Zahnarztpraxis ankam, saß meine Chefin Zoe im großen Foyer, das gleichzeitig als Wartezimmer diente, auf dem Sofa und blätterte durch eine der teuren Hochglanz-Illustrierten, die den Patienten die Wartezeit verkürzen sollten.
»Du bist schon da?«, fragte ich das Offensichtliche. Normalerweise kam sie immer erst ziemlich knapp zur Abendsprechstunde.
»Ich war beim Steuerberater, und es lohnte sich nicht mehr, nach Hause zu fahren«, erklärte Zoe und biss in einen Apfel.
Zoe hatte vor neun Jahren die Praxis ihres Onkels hier in Prien am Chiemsee übernommen. Und damit auch sämtliches Inventar – mich eingeschlossen. Zunächst hatte ich nicht gewusst, ob ich damit klarkommen würde, für eine fast zehn Jahre jüngere Chefin zu arbeiten. Doch sie schätzte meine Erfahrung, und wir waren ziemlich schnell ein gut eingespieltes Team.
Ich deponierte meine Handtasche unter dem Schreibtisch in der Anmeldung.
»Alles okay bei dir? Du siehst etwas blass aus«, stellte Zoe fest.
»Emma hat den Führerschein.«
»Ah!« Sie nickte.
Obwohl selbst kinderlos, wusste Zoe sofort, was dieser Satz bedeutete. Ich war nicht der einzige Elternteil in ihrem Bekanntenkreis mit einem Fahranfänger-Nachwuchs.
»Tja, da musst du durch.«
»Ich weiß. Aber bei Leo kam es mir nicht so schlimm vor damals«, sprach ich aus, was mir vorher durch den Kopf gegangen war, und setzte mich neben sie aufs Sofa.
Zoe lachte auf.
»Nicht so schlimm? Ich weiß noch, wie Harald damals erzählte, wie panisch du … Verdammt!«
Sie stand auf, und ich tat so, als ob ich gar nicht gehört hätte, was sie eben gesagt hatte.
Genau in diesem Moment ging es wieder los. Es war, als ob man einen Herd voll aufdrehen würde. Mein Gesicht und der Hals schienen innerhalb weniger Sekunden zu glühen, und gleich darauf bildeten sich winzige Schweißperlen auf meiner Stirn, den Wangen und am Nasenrücken. Das Ganze dauerte kaum eine Minute, trotzdem fühlten sich die Wallungen unangenehm an und brachten mich immer ein wenig aus dem Gleichgewicht. Rasch griff ich nach einer der Zeitschriften und fächelte mir Luft zu.
»Tut mir leid, Anna«, sagte Zoe und machte ein bedrücktes Gesicht.
»Für mich ist das abgehakt, Zoe«, sagte ich. Weiter ging ich nicht darauf ein, denn in diesem Moment kam Oxana.
Zu meinen Aufgaben in der Praxis gehörte es, Zoe bei den Untersuchungen und Behandlungen zu assistieren, unseren Patienten zu erklären, wie man gründlich die Zähne putzt, panische Kinder – und manchmal Erwachsene – zu beruhigen, den Zahnstein zu entfernen und mich um die Reinigung der Instrumente zu kümmern. Oxana war für die Anmeldung und den ganzen Verwaltungskram zuständig. Ab und zu sprang sie auch im Behandlungszimmer ein, wenn ich ausnahmsweise mal nicht da war. Was jedoch so gut wie nie vorkam.
»Schönen Nachmittag, Frau Doktor und Anna«, sagte sie, und auch für jemanden, der sie nicht kannte, waren ihre russischen Wurzeln unüberhörbar.
»Hallo Oxana«, sagten Zoe und ich gleichzeitig.
Die fünfundzwanzigjährige Angestellte mit dem Gesicht eines Engels und dem Körper einer Burleske-Tänzerin warf eine Gratiszeitung auf den Tisch, die sie wohl aus dem Briefkasten gefischt hatte. Dann nahm sie am Schreibtisch in der Anmeldung Platz und band mit wenigen Handgriffen ihre blonden Locken zu einem Dutt zusammen, bevor sie den Computer anschaltete und den Terminkalender aufrief. Das alles machte sie mit solch einer Eleganz, wie es seinerzeit Katharina Witt noch nicht beim Eiskunstlaufen hinbekommen hatte. Seitdem Oxana vor zwei Jahren hier angefangen hatte, war der männliche Anteil der Patienten rapide gestiegen.
Zoe war inzwischen ins Behandlungszimmer 2 verschwunden, und ich ging in die kleine Abstellkammer und schlüpfte in meine Arbeitskleidung. Als ich in weißer Hose und lilafarbenem Schlupfkasack mit dem Praxislogo eines grinsenden Zahns wieder ins Wartezimmer kam, saß bereits eine Patientin auf dem Sofa und schlug die Gratiszeitung auf.
»Hallo, Frau Fischer«, grüßte ich die alte Dame freundlich, die gut mit meiner Mutter bekannt war.
»Guten Tag, Anna«, sagte sie und schob ihre Lesebrille auf die Nase. »Wie geht’s Mina?«
»Oh, Mama geht’s gut, danke.«
»Sag ihr einen schönen Gruß. Ich komm die Tage mal vorbei mit ein paar Sachen zum Ändern.«
»Richte ich aus, Frau Fischer.«
Meine Mutter war Schneiderin. Und obwohl sie schon längst in Rente war, besserte sie diese durch gelegentliche Näharbeiten im Bekanntenkreis auf.
Während ich in Richtung Behandlungsraum 1 ging, sah ich aus dem Augenwinkel die dicke Schlagzeile auf der ersten Seite: International gefeierter Filmkomponist kommt zurück – Jo Ranke wieder am Chiemsee.
Darunter das strahlende Foto eines in die Kamera lächelnden Mannes, von dem ich zwar wusste, dass er 52 war, der jedoch wesentlich jünger aussah.
Ich blieb stehen, weil meine Beine sich ganz schlagartig wie Wackelpudding anfühlten! Jo? Jo kommt zurück an den Chiemsee? Jo! Meine erste große Liebe.
»Kommst du mal bitte, Anna?«
Zwischen zwei Patienten holte Zoe mich aus dem Behandlungszimmer in die kleine Küche und sah mich besorgt an.
»Es tut mir leid, dass ich vorhin die Sache mit Harald erwähnt habe. Aber …«
»Ach was!«, unterbrach ich sie und winkte ab. »Ich hab dir doch längst verziehen, dass du mit ihm im Bett warst.« In Anbetracht der Tatsache, dass Jo zurückkam, war mein damals fremdgehender Ex für mich gerade tatsächlich etwas nebensächlich.
»Einmal! Und ich war betrunken!«, stellte Zoe den Sachverhalt zum gefühlt hundertsten Mal klar.
»Ist schon gut, Zoe. Du warst ja nicht die Einzige.«
Inzwischen konnte ich die Sache mit Humor nehmen. Damals hatte dieser Ausrutscher natürlich für ziemliche Spannungen gesorgt. Ich war kurz davor gewesen, meinen Job zu kündigen. Doch zwei Gründe hatten mich davon abgehalten:
Erstens: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit Anfang 40 kurzfristig einen gleichwertigen Job in meiner Heimatstadt bekommen würde, war eher gering. Vor allem mit der Aussicht, bald eine alleinerziehende Mutter zu sein. Denn wie sich herausgestellt hatte, war Zoe nur die Spitze des Eisberges gewesen.
Zweitens: Zoe tat die ganze Sache unendlich leid. Innerhalb einer Woche hatte sie fast vier Kilo abgenommen. Als sie während einer Wurzelbehandlung schließlich einen Heulkrampf bekam und wir den verstörten Patienten zu einem Kollegen schicken mussten, hatte ich Zoe nach Hause in ihre schicke Dreizimmerwohnung gebracht. Dort beschwor sie mich verzweifelt, ihr zu verzeihen und den Job nicht zu kündigen. Nach zwei Flaschen Riesling und einer halben Flasche Eierlikör hatte ich ihr schließlich Absolution erteilt. Dass sie meinen Lohn erhöhte und mir eine Woche zusätzlichen Urlaub anbot, hatte ich unter den besonderen Umständen, ohne mich zu zieren, angenommen. Außerdem versprachen wir uns hoch und heilig, mit niemandem darüber zu reden, damit sie vor den Leuten nicht als das Flittchen eines Ehebrechers dastand – und ich nicht als die bemitleidenswerte Betrogene. Der Morgen war bereits angebrochen, als ich mit dem festen Vorsatz, Harald in die Wüste zu schicken, mit dem Taxi nach Hause gefahren war. Doch er war mir zuvorgekommen. Seine Schrankseite war leergeräumt, und ein Zettel lag auf meinem Nachttisch: Es tut mir leid, Anna. Mehr Worte war ich ihm nicht wert gewesen.
»Was ist denn dann mit dir los, Anna?«, unterbrach Zoe meine Gedanken. »So unkonzentriert kenn ich dich sonst ja gar nicht.«
»Nichts.«
Sie legte den Kopf zur Seite und sah mich prüfend an.
»Nichts? Du hättest Frau Fischer den Speichelsauger fast in die Nase gesteckt!«
»Es tut mir leid … ich bin irgendwie abgerutscht«, versuchte ich mich herauszureden.
»Zweimal?«
Ich zuckte verlegen mit den Schultern.
»Wird nicht wieder vorkommen.«
»Wenn du etwas auf dem Herzen hast …«
»Echt nicht«, unterbrach ich sie und versuchte, ganz normal zu klingen. Und sie nahm es mir schließlich ab.
»Na gut, dann lass uns weitermachen.«
Vier Stunden später fuhr ich daheim in die Garage und hatte keinen blassen Schimmer, wie ich die Arbeitszeit überstanden hatte. Ständig hatte sich Jo in meine Gedanken geschlichen, und es war mir schwergefallen, mich ausreichend auf meine Arbeit zu konzentrieren, um keinen Fehler mehr zu machen. Dabei hatte ich bis heute schon ewig nicht mehr an Jo gedacht. Nun ja, ewig war womöglich ein klein wenig übertrieben. Denn tatsächlich hatte ich erst vor Kurzem von ihm geträumt. Was, seitdem ich Single war, öfter vorkam und zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich war. Schließlich waren inzwischen gut dreißig Jahre vergangen, seitdem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich Jo niemals wirklich vergessen können. Er hatte mir nicht nur die Jungfräulichkeit geraubt, sondern auch noch mein Herz gebrochen.
Als ich aus dem Auto stieg, hörte ich aus dem offenen Kellerfenster verschiedene Musikinstrumente beim Versuch, einen gemeinsamen Song zu spielen. Was nicht wirklich zu klappen schien. Der Bass wummte, eine E-Gitarre suchte jaulend nach den richtigen Tönen, und das Schlagzeug dröhnte. Als ich auf die Haustür zuging, setzte Emma mit dem Gesang ein, und nun erkannte ich auch das Lied:
Smells like teen spirit von Nirvana.
Gut, dass wir keine direkten Nachbarn hatten, die sich über die laute Musik aufregen konnten. Unser Häuschen stand inmitten eines großen Gartens voller Obstbäume, Beerensträucher und einem Gemüsebeet, um das sich meine Mutter mit großer Leidenschaft kümmerte. Und meine Mutter – tja, die hörte glücklicherweise nicht mehr ganz so gut und bekam deswegen nicht mehr so viel mit in ihrer Einliegerwohnung. Zumindest hatte sie sich noch nie über die Lautstärke beschwert.
»Ach, die jungen Leute sollen ruhig Musik machen«, hatte sie gesagt, als Emma darum gebeten hatte, einen Raum im Keller zum Probenraum umzufunktionieren. »Wenn sie musizieren, kommen sie wenigstens auf keine dummen Gedanken.«
Ich sperrte die Haustür auf, und Conny, unsere schwarze Katze, jagte wie der Blitz an mir vorbei in den Garten.
Offenbar war sie kein sonderlicher Fan der Musik von Crazyblubb. Oder von Nirvana.
Ich ging in die Wohnküche und setzte Teewasser auf. Viel lieber hätte ich jetzt eine schöne Tasse Kaffee getrunken. Doch den gab es neuerdings nur noch bis kurz nach Mittag, sonst saß ich die halbe Nacht schlaflos im Bett.
Ich seufzte. Früher hatte mir nächtlich zugeführtes Koffein überhaupt nichts ausgemacht. Inzwischen – nur wenige Monate vor meinem fünfzigsten Geburtstag – gab es immer mehr Dinge, auf die ich verzichten musste oder die mich einschränkten: Von Prosecco bekam ich meist Kopfschmerzen, fettiges Essen verursachte Sodbrennen, und zu langes Sitzen rief Rückenschmerzen hervor, die ich nur durch konsequente Yogaübungen in den Griff bekam. Auch wenn ich einigermaßen fit war, wurde mein Körper mehr und mehr zu einer Spaßbremse. Und das gefiel mir absolut nicht.
Ich setzte mich mit dem Tee und der Gratiszeitung, die ich aus der Praxis mitgebracht hatte, an den Küchentisch und schob meine Lesebrille auf die Nase. Auch so ein notwendiges Übel, das ich erst seit Kurzem brauchte. Inzwischen lag fast in jedem Zimmer eine Brille, damit ich sie nicht ständig suchen musste.
Endlich konnte ich in Ruhe den Artikel über Jo lesen. Außer der Tatsache, dass er in das Haus seiner kürzlich verstorbenen Mutter direkt am See gezogen war, erfuhr ich, dass er eine Scheidung hinter sich hatte.
Er ist also Single!, schoss es mir durch den Kopf, obwohl das nicht zwingend der Rückschluss sein musste. Vielleicht hatte er ja bereits eine neue Freundin? Aber wenn dem so wäre, dann würde das doch sicher auch in der Zeitung stehen. Urplötzlich tanzten Hormone, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass sie überhaupt noch in meinem Körper vorhanden waren, mit einer Flasche Bier um ein hellloderndes Lagerfeuer und sangen den Hit der Pointer Sisters: I’m so excited. Ich schluckte. Reichte die Nachricht von Jos Rückkehr tatsächlich, um meinen Puls so in die Höhe schnellen zu lassen? Oder sollte ich dringend mal wieder meinen Blutdruck kontrollieren lassen?
In einem Alter, in dem man sich bei jedem Einkauf von Tampons Gedanken darüber machte, ob es die letzte Packung sein wird, die man in den Einkaufswagen legt, hatte sich das Thema Mann für mich eigentlich erledigt.
Die krampfhaften Versuche von Zoe und meiner besten Freundin Ilona, einen passenden Partner zu finden, belächelte ich im Grunde immer. Als alleinerziehende berufstätige Mutter mit Katze und Oma im Haus hatte ich genug um die Ohren. Da brauchte ich nicht auch noch einen Mann, der sich womöglich in Erziehungsfragen einmischte, mir einen anderen Lebensstil aufdrängen wollte oder mir den nächtlichen Schönheitsschlaf durch lautes Schnarchen raubte. Und überhaupt war ich seit der Trennung von Harald keinem Mann mehr begegnet, der mich auch nur im Ansatz interessiert hätte. Und wenn ich ganz ehrlich war, wollte seither auch keiner mehr was von mir. Zumindest nicht ernsthaft. Nun ja. Bis auf Ronaldo vielleicht, der spanische Koch in meinem italienischen Lieblingslokal Dolce Vita gleich um die Ecke. Ronaldo zauberte aus Salamischeiben und Oliven Blumen auf meine Pizza und goss besonders viel Limoncello über das Zitroneneis, das ich mir manchmal als Nachtisch gönnte. Er war wirklich nett und sah auch gar nicht übel aus. Allerdings hatte die Sache einen Haken – und der hieß Gerda. Gerda war seine Frau und für ihr aufbrausendes Wesen bekannt. Natürlich kam Ronaldo schon aus diesem Grund nicht in Frage.
Der Lärmpegel aus dem Keller schwoll an. Irgendeine eigenwillige Interpretation eines Songs von Coldplay, dessen Titel mir gerade nicht einfiel. Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr. Dreiviertel neun. Noch fünfzehn Minuten. Das war das Zeitlimit, das ich mit Emma ausgehandelt hatte, wenn sie unter der Woche probten.
Ich ging zum Kühlschrank und holte den restlichen Nudelsalat von heute Mittag heraus, überlegte kurz und stellte ihn dann wieder zurück. Obwohl ich seit Stunden nichts mehr gegessen hatte, war ich überhaupt nicht hungrig. Was mich etwas erstaunte. Denn eigentlich konnte ich immer essen.
»Hast du Conny irgendwo gesehen?«
Erschrocken drehte ich mich um.
»Mama, du hast mich vielleicht erschreckt!«
»Tut mir leid. Aber die Katze ist schon wieder nicht da.«
»Conny ist im Garten.«
»Wo?«
»Im Garten«, sagte ich etwas lauter. »Ich lass sie dann rein.«
»Danke. Sag mal, kann Emma morgen das Auto haben?«, fragte sie.
»Warum?«
»Dann kann sie mich in die Gärtnerei fahren und zum Friedhof. Ich muss unbedingt neu anpflanzen.«
Ich schluckte. Soll ich die beiden tatsächlich schon allein losziehen lassen?
»Das kann ich doch machen«, schlug ich vor.
Sie lachte.
»Du? Mit deinem nicht vorhandenen grünen Daumen?«
Ich seufzte innerlich. Und das nur, weil ich ab und zu vergesse, die Blumen zu gießen.
»Ich mach das lieber selbst«, setzte sie hinzu, bevor ich etwas sagen konnte. »Und Emma freut sich bestimmt, wenn sie fahren darf.«
»Wenn du meinst«, sagte ich schließlich.
Meine jüngste Tochter hatte jetzt nun mal den Führerschein, und sie musste praktische Erfahrungen machen. Ich sollte meine Angst überwinden. Irgendwie.
Sie legte ihre Hand auf meinen Arm.
»Keine Sorge. Ich pass schon auf, dass sie nicht zu schnell fährt«, sagte sie und drückte mich beruhigend. »Notfalls fasse ich mir theatralisch ans Herz – so was hilft immer.«
Ich musste lachen, bis mir die Bedeutung dieser Bemerkung aufging.
»Das hast du ja bei mir auch schon öfter gemacht«, sagte ich.
»Eben – und es hilft immer.«
»Mama!«
»Was denn? Besser als irgendwelche Diskussionen, oder?«
Ich ersparte mir eine Antwort.
»Falls du noch Bügelwäsche hast, kannst du sie mir mitgeben!«, bot sie mir an. Seitdem sie von meiner Schwester eine Bügelmaschine bekommen hatte, kümmerte sie sich auch um unsere Sachen.
»Momentan nicht, danke.«
Ich bewunderte meine Mutter für ihre Energie. Nicht nur, dass sie ihren Haushalt, unseren Garten und den Friedhof in Schuss hielt und schneiderte, sie half auch einigen ihrer Freundinnen, die altersbedingt nicht mehr so rüstig waren, und sang im Beerdigungschor. Die Arbeit und die Teilnahme am sozialen Leben am Ort hielten sie fit.
»Wer rastet, der rostet«, lautete ihr Mantra. Und offenbar war an diesem alten Spruch tatsächlich was dran. Sie hatte immer noch eine gute Figur, und die meisten Leute schätzten sie deutlich jünger. Zudem war ihr Kleiderstil moderner als der manch einer Vierzigjährigen. Auch wenn unser Zusammenleben nicht frei von Konflikten war, so war ich doch froh, dass sie nach der Trennung in die Einliegerwohnung gezogen war, die Harald früher als Büro genutzt hatte. So konnte ich weiterhin problemlos arbeiten gehen und wusste, dass Mutter sich gut um meine Töchter kümmerte.
Sie warf einen Blick auf die Zeitung und kam näher.
»Das ist doch der Ranke Josef«, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen und griff nach der Zeitung. »Der Musiker, oder?«
»Komponist ist er, Mama. Für Filmmusik.«
»Genau. An den kann ich mich noch gut erinnern. Er ging mit Moni in die Klasse«, sagte sie.
»Stimmt.« Mehr sagte ich nicht dazu. Außer meiner besten Freundin Ilona wusste niemand von meinem Abenteuer mit Jo. Und das sollte auch so bleiben.
»Der schaut jetzt besser aus als damals. Meinst du, er ist geliftet?«, fragte sie.
»Ach komm, Mama. Sicher nicht.«
Sie schaute das Foto genauer an.
»Hm. Da bin ich mir aber nicht so sicher. Heutzutage machen das ja auch Männer.«
Ich zuckte nur mit den Schultern und nahm einen Schluck Tee, der inzwischen kalt geworden war.
»Wär der nichts für dich, Mädchen?«
»Für mich?« Ich lachte kurz auf und spürte, wie Hitze in meine Wangen schoss, die auch diesmal nichts mit den Wechseljahren zu tun hatte. »Wie kommst du denn auf so eine Schnapsidee?«
Bevor sie eine Antwort geben konnte, die mich tatsächlich interessiert hätte, kam Emma in die Küche. Und jetzt erst fiel mir auf, dass es aus dem Keller ruhig geworden war. Durch die offene Tür sah ich Robin und Farid, die zwei anderen Mitglieder der Band, die mir kurz zuwinkten und sich verabschiedeten.
»Hallo, Oma … Mama, kann Jana am Wochenende bei uns schlafen?«
»Dieses Wochenende? Das ist keine gute Idee. Du musst fürs Abi lernen.« Dass ich sie immer wieder daran erinnern musste, nervte mich inzwischen gewaltig.
»Genau deswegen soll sie ja hier schlafen. Dann können wir gemeinsam Mathe-Übungen machen.«
Ihr Ton verriet mir etwas anders. Trotzdem stimmte ich zu. Vielleicht würde sie zusammen mit der neuen Freundin ja tatsächlich lernen. »Na gut … Wo ist Jana denn eigentlich?«
»Im Keller. Wir überlegen uns noch einen Song für Leos Hochzeit, bis sie abgeholt wird.«
Während sie redete, holte sie eine Tüte Chips aus dem Vorratsschrank und zwei Flaschen Wasser.
»Fährst du mich morgen zur Gärtnerei und zum Friedhof, Emma?«, fragte meine Mutter, die zwar selbst einen Führerschein hatte, jedoch seit drei Jahren nicht mehr Auto fuhr. Damals war ein spielendes Kind zwischen geparkten Autos hervor direkt vor ihren Wagen gelaufen. Sie hatte gerade noch bremsen können, und es war glücklicherweise nichts passiert. Aber danach hatte sie sich nie wieder ans Steuer gesetzt.
»Klar!« Emma strahlte. »Und wenn du sonst noch irgendwohin musst, kann ich dich auch immer fahren, Omi.«
»Schön! Wie gut, dass du jetzt auch den Führerschein hast«, sagte Mutter sichtlich erfreut, und ich hoffte nur, dass ihre gute Laune nach der Fahrt morgen nicht in Angstattacken umschlagen würde.
Emma verschwand wieder in den Keller.
Und auch meine Mutter verabschiedete sich. Wie war sie vorhin nur auf die Idee gekommen, Jo könnte ein passender Partner für mich sein?
Ich räumte den Geschirrspüler aus und wollte gerade in mein Schlafzimmer gehen, um mir im Bett eine Serienfolge von The Blacklist mit dem großartigen James Spader anzuschauen, da hörte ich draußen ein Hupen. Nanu? Wer war das denn um diese Zeit?
Ich ging in den Flur, öffnete die Haustür und sah hinaus. Vorne an der Straße stand ein roter Wagen unter der Straßenlaterne. Ich konnte nur die Umrisse eines Mannes sehen, der am Steuer saß.
»Das ist nur mein Papa«, hörte ich eine Stimme sagen. Ich drehte mich um. Neben Emma stand ein Mädchen mit einem frechen blonden Kurzhaarschnitt und schlüpfte eilig in graue Sneakers und einen schwarzen Mantel. Sie überragte Emma fast um einen Kopf und wirkte so schlaksig wie ein Fohlen.
»Hallo, Jana. Ich bin Emmas Mutter.«
»Hallo, Frau Reiter. Und danke, dass ich am Wochenende hier schlafen darf.« Höflich war sie jedenfalls.
»Gern. Ich bin ja froh, wenn ihr fleißig Mathe lernt«, fügte ich hinzu, damit ja klar war, was ich von den beiden am Wochenende erwartete.
Emma verdrehte hinter Janas Rücken genervt die Augen, und ich verkniff mir ein Kopfschütteln.
Ein weiteres ungeduldiges Hupen. Was hatte der denn für ein Problem? Er musste doch sehen, dass wir ohnehin schon in der offenen Tür standen.
»Ich muss los. Tschüss Emma, tschüss Frau Reiter.«
»Ciao Jana«, sagten Emma und ich gleichzeitig.
Das Mädchen nahm ihren Basskoffer und beeilte sich, zum Wagen zu kommen und einzusteigen. Gleich darauf fuhren sie los.
»Das ist Janas Vater?«, fragte ich. »Warum klingelt er nicht an der Haustür und stellt sich vor?«
»Keine Ahnung. Vielleicht musste er ja dringend irgendwohin?«, meinte Emma. Und bevor ich sie weiter über Janas Eltern ausfragen konnte, verschwand sie auf ihr Zimmer.
Ich konnte mich weder auf die Serie konzentrieren, geschweige denn einschlafen. Durch den Zeitungsartikel kreisten meine Gedanken immer wieder um Jo, obwohl die Sache schon so viele Jahre zurücklag.
Jo hatte mit Freunden am Weiher seinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Eigentlich war ich gar nicht eingeladen gewesen. Aber Moni hatte ihren Hausschlüssel vergessen. Diesen Umstand hatte ich nur zu gern genutzt, um mit dem Fahrrad an den Weiher zu fahren und ihn ihr zu bringen.
Nachdem Jo mir ein Bier in die Hand gedrückt hatte, war ich einfach geblieben. Der gutaussehende Dunkelhaarige hatte mich bis dahin immer nur als die kleine Schwester seiner Schulfreundin Moni gesehen. Dabei war ich bereits achtzehn und schon lange in ihn verknallt gewesen.
An diesem Abend schien Jo mich zum ersten Mal auch als Frau wahrzunehmen. Vielleicht hatte das an dem Kleid gelegen, das ich extra für ihn angezogen hatte. Stundenlang hatten wir uns am Lagerfeuer unterhalten. Über Musik, über unsere Träume und darüber, wie viele Möglichkeiten es gab, eine Bierflasche zu öffnen, wenn man keinen Flaschenöffner zur Hand hatte. Die anderen waren irgendwann nach Hause gefahren oder hatten sich in ihre Zelte zurückgezogen, und da hatte er endlich die Hände an meine Wangen gelegt und mich geküsst. Noch heute konnte ich mich an diesen Moment erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre. An seine weichen Lippen, sein Haar, das leicht nach Rauch duftete, seine warmen Hände – und das Gefühl, die Welt würde stillstehen, während wir uns küssend weiterdrehten.
»Komm!«, hatte er mir nach einer Weile ins Ohr geflüstert und mich an der Hand zu seinem Wagen gezogen. Und dort auf der Rückbank seines alten Opel-Caravans hatten wir miteinander geschlafen.
Am nächsten Morgen tat er vor den anderen so, als ob nichts gewesen wäre. Dabei hätte ich es vor lauter Verliebtsein am liebsten in die ganze Welt hinausposaunt: Jo hat mit Anna geschlafen! Als ich mich verabschiedete, winkte er mir nur kurz zu und drehte sich dann weg.
Die nächsten Tage war ich nicht aus dem Haus gegangen, aus Angst, seinen Anruf zu verpassen. Doch er hatte nichts von sich hören lassen. Am dritten Tag war ich schließlich abends in die Kneipe gegangen, in der Jo regelmäßig mit seinen Kumpels war. Und da erfuhr ich, dass er am Morgen nach Hamburg aufgebrochen war. Dort würde er im Herbst studieren und sich bis dahin mit Kellnern Geld verdienen. Er war in Hamburg? Warum hatte er mir das nicht am Lagerfeuer erzählt? Niedergeschlagen war ich nach Hause gegangen und hatte meiner Mutter weisgemacht, ich hätte eine Magenverstimmung, damit sie nicht weiter nachfragte, was mit mir los war.
Wochenlang hatte ich gehofft, dass es für sein Verhalten irgendeine plausible Erklärung gab. Dass er mich doch noch anrufen oder mir vielleicht schreiben würde. Fehlanzeige. Seither hatten wir uns nie mehr gesehen, wenn man von den Fotos in verschiedenen Zeitschriften, die über ihn berichteten, mal absah. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich den Liebeskummer überwunden hatte, den ich mir nicht anmerken lassen wollte, weil niemand von dieser peinlichen Abfuhr wissen sollte. Nur Ilona hatte ich alles erzählt. Und sie hatte damals ihr Bestes versucht, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Und schließlich hatte ich Harald kennengelernt, und ab da spielte Jo für mich keine Rolle mehr.
Trotzdem schlummerte nach all der Zeit immer noch ein vages Sehnen in mir, das ich selbst nicht verstehen konnte. Stimmte es also, dass man den ersten Mann niemals wirklich vergessen konnte? The first cut is the deepest, hatte Cat Stevens vor vielen Jahren einen Song geschrieben. Hatte er damit recht? Oder lag es daran, dass ich niemals eine Chance gehabt hatte, Jo zu sagen, wie verliebt ich in ihn war? Du bist albern, Anna Reiter! Das ist doch schon so lange her!, sagte ich mir und beschloss ganz resolut, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
Obwohl ich nur wenig geschlafen hatte, war ich erstaunlicherweise ziemlich fit, als ich mich aus dem Bett schwang. Da ich gestern vergessen hatte, bei Karla anzurufen, holte ich das gleich in der Früh nach.
»Reiter?«, meldete sie sich.
»Hier auch Reiter«, sagte ich.
»Hallo, Anna!« Sie klang überrascht. »Moment … warte kurz … Nein, Pia, jetzt nicht. Lina, nicht den …« Ein lautes Scheppern war zu hören. »… Kuchenteller!« Es folgte ein tiefer Seufzer.
»Soll ich später noch mal anrufen, wenn die Zwillinge im Kindergarten sind?«, bot ich an.
»Der fällt heute wegen irgendeiner blöden Datenschutz-Fortbildung aus.«
Es war nicht zu überhören, wie wenig begeistert sie darüber war.
»Schieß los!«
»Also, es geht um die Hochzeit …«, begann ich und trug ihr Leos Bitte vor.
»Aber klar doch!«, rief die neue Frau meines Exmanns.
Sie freute sich, dass Leo ihre beiden kleinen Halbschwestern als Blumenmädchen dabeihaben wollte und versprach, sich um alles Notwendige zu kümmern. Und so konnte ich einen weiteren Punkt auf der langen Liste abhaken, die meine Tochter für mich erstellt hatte.
Wie üblich am Mittwochvormittag waren in die Praxis nur einige wenige Patienten einbestellt, welche zeitaufwändige Zahnersatzbehandlungen bekamen. Beißerchen wurden abgeschliffen, Brücken und Kronen angepasst und Behandlungspläne besprochen. Nur wirklich dringende Notfälle wurden an einem Mittwoch angenommen. Glücklicherweise gab es heute keinen davon. Und so kam ich ausnahmsweise einmal pünktlich aus der Praxis. Als ich auf die Bäckerei zusteuerte, fuhr ein schwarzer Mercedes an mir vorbei. Zufällig fiel mein Blick auf den Fahrer, und ich erstarrte: Jo! War er das? Natürlich war er es! Sofort jagte mein Puls auf gefühlte 180 nach oben, und ich sah dem Wagen hinterher, bis er in der Kurve verschwunden war. Jo war tatsächlich wieder zurück in seiner alten Heimatstadt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns irgendwo gegenüberstehen würden. Bei dem Gedanken daran schnürte es mir den Magen zu. War es Vorfreude? Oder doch eher Angst? Immerhin hatte ich keine Ahnung, wie ich ihm begegnen sollte nach all den Jahren. Doch was sollten diese albernen Überlegungen? Ich war schließlich kein Teenager mehr.
Rasch machte ich meine Einkäufe und beeilte mich, nach Hause zu kommen.
In der Einfahrt vor dem Haus stand schon Leos knallblauer Renault Clio, mit dem wir zur Dekorateurin fahren wollten.
»Hallo, beste aller Schwiegermütter«, wurde ich fröhlich begrüßt, als ich in die Küche kam. Dort saßen Leo, meine Mutter und ein junger Mann am Tisch, der den Titel sexiest man alive mehr als verdient hätte. Und nein, das dunkelhaarige Prachtexemplar mit den funkelnd hellgrünen Augen und dem breiten Grinsen im Gesicht war nicht mein zukünftiger Schwiegersohn, sondern dessen Bruder Ben. Ben war seit dem Kindergarten Leos bester Freund. Er hatte von klein auf so viel Zeit bei uns verbracht, dass er längst zur Familie gehörte. Die Kinder gingen in dieselbe Klasse in der Grundschule, wechselten gemeinsam aufs Gymnasium und waren auch dort unzertrennlich. Jeder war davon überzeugt gewesen, dass Leo und Ben zusammengehörten und aus ihnen später einmal ein Paar werden würde. Doch das Schicksal hatte sich hier wohl einen Spaß erlaubt und andere Pläne gehabt. Ben liebte Leo, keine Frage, aber für eine große romantische Liebe hatte sie das falsche Geschlecht. Als Leo im Teenageralter irgendwann registrierte, dass Ben nur auf Jungs stand, hatte sie sich zunächst irritiert zurückgezogen. Doch lange hatte sie es nicht ohne ihren Ben ausgehalten.
»Die Chancen stehen gut, dass wir für immer beste Freunde bleiben«, hatte sie pragmatisch gesagt. »Ob wir das als Paar auch so lange aushalten würden, ist hingegen fraglich.«
Ben hatte bald einen festen Freund, und auch Leo traf sich mit Jungs. Das schien ihre Freundschaft jedoch nie zu beeinflussen.
Vier Jahre später hatte sie uns dann damit überrascht, dass sie mit Bens zwei Jahre älterem Bruder Timo zusammen war.
Und nun standen die beiden kurz davor zu heiraten.
»Ich wusste gar nicht, dass du auch mitkommst, Ben«, sagte ich erfreut.
»Du glaubst doch nicht, dass ich euch die Hochzeitsdeko allein aussuchen lasse«, meinte er gespielt empört.
»Gut, dass du dabei bist, Ben«, sagte meine Mutter, die sowohl an meinem, wie auch an Leos Geschmack in solchen Dingen zweifelte.
»Du traust uns ja gar nichts zu, Oma«, protestierte Leo.
»Aus gutem Grund, mein Mädchen«, antwortete sie. »Aus gutem Grund.« Und Ben nickte zustimmend.
»Keine Angst, Mina«, sagte er. »Ich sorge höchstpersönlich dafür, dass mein Bruder und Leo eine großartige Hochzeit haben werden.«
Ohne dass ihn irgendjemand hatte fragen müssen, hatte Ben von Anfang an die Aufgaben eines Hochzeitsplaners übernommen. Da die Eltern der Brüder vor zwei Jahren nach Griechenland gezogen waren, um dort ein sonniges Rentnerdasein zu genießen, konnten sie nicht bei den Vorbereitungen mithelfen. Deswegen waren Leo und Timo froh über jede Hilfe, die sie bekommen konnten.
Wir wollten gerade aufbrechen, da kam Emma mit Jana im Schlepptau nach Hause. Als Jana Ben sah, klappte ihr Unterkiefer nach unten.
»Hallo! Ich bin … äh, Jana«, stotterte sie und lief schlagartig knallrot an. Leo, Mutter und ich warfen uns amüsierte Blicke zu. Es war nichts Neues für uns, dass Ben diese Wirkung erzielte.
»Hallo auch, Jana«, sagte Ben freundlich.
»Das ist Ben. Mach dir keine Hoffnung, der steht nur auf Jungs«, erklärte meine Jüngste trocken; damit war das Thema für sie abgehakt.
Ben zog Emma an sich und knuddelte sie durch.
»Hey, Hexlein, ich hab gehört, du hast jetzt endlich den Führerschein.«
»Und wie ich den habe!« Sie grinste breit.
»Gratuliere. Und fahr immer schön vorsichtig, ja?« Ben durfte so etwas zu ihr sagen, ohne dass sie eingeschnappt war. Im Gegensatz zu mir.
»Logo.«
Waren Leo und Ben die besten Freunde, so war Ben für Emma der große Bruder, den sie nie hatte. Die beiden teilten zudem eine große Leidenschaft: Kochen. Alle paar Wochen veranstalteten sie eine Kochsession bei uns und verschwanden dafür stundenlang in der Küche, um uns dann mit den ausgefallensten Leckereien zu verwöhnen. Wir mussten jeweils einen Tipp abgeben, wer was gekocht hatte, und der Sieger brauchte nicht beim Aufräumen zu helfen. Ben hatte die Liebe zum Kochen sogar zum Beruf gemacht und arbeitete in der Küche eines der angesagtesten Restaurants am Chiemsee, dessen Chef Bernhard zufälligerweise auch sein Freund war.
Jana starrte Ben immer noch an.
»Nicht sabbern. Komm!«, sagte Emma und zog ihre Freundin in Richtung Treppe. »Wir gehen in mein Zimmer.«
»Ich dachte, du fährst mich zum Einkaufen?«, fragte Mutter.
»Yup. In einer halben Stunde.«
»Bitte fahr vorsichtig mit Oma, ja?«, rief ich ihr hinterher und erntete nur ein genervtes Schnauben – und eine Hitzewelle.
Als wir das Haus der Dekorateurin verließen, schwirrte mir der Kopf. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie aufwändig es war, den passenden Blumenschmuck für die Kirche, den Brautstrauß und das restliche Material für die Deko auszuwählen. Vor allem, wenn man Ben dabeihatte, der alles besonders genau nahm und Gabrielle, die Dekorateurin, mit seinen Sonderwünschen ein paarmal ganz schön ins Schwitzen gebracht hatte. Da gab es so vieles, an das man denken musste, worüber ich mir im Leben nicht den Kopf zerbrochen hätte. Schwimmkerzen in Holzschalen oder eher gläserne Kerzenständer? Tischkarten auf elfenbein- oder cremefarbenem Papier, mit Goldschrift per Hand beschrieben oder schwarz bedruckt? Weiße Hussen oder vielleicht gar keine? Das waren nur einige der Punkte, über die wir vier Stunden lang diskutiert und schließlich einen Preis ausgehandelt hatten, bei dem mir fast die Spucke wegblieb.
Der Satz: Früher war alles einfacher, stimmte gewiss nicht immer, aber was Hochzeiten anbelangte, war er ganz sicher in den meisten Fällen zutreffend, wenn man nicht gerade zu irgendeinem Königshaus oder der High Society gehörte. Zwischen dem Heiratsantrag, den Harald mir gemacht hatte, und unserer Hochzeit, hatten damals gerade zwei Monate gelegen. Und das hatte völlig ausgereicht, um Kleid und Anzug zu kaufen, das passende Wirtshaus auszusuchen, zwei Menüs auszuwählen, einen Termin im Standesamt zu vereinbaren, mit dem Pfarrer zu sprechen und die Einladungen zu verschicken. Die Musik legte ein befreundeter DJ auf, in der Kirche sang der Priener Kirchenchor, und die Fotos machte mein Schwager. Die Auswahl des Blumenschmucks und des Brautstraußes hatte damals gerade mal eine halbe Stunde gedauert. Das war es auch schon gewesen. Und bei den meisten meiner Freundinnen war es ähnlich gelaufen. Inzwischen reichten zwei Monate oft noch nicht einmal mehr aus, um einen Termin in einem Brautmodegeschäft zu bekommen. Leos Kleid, ein eleganter Traum aus Satin und Spitze, hatten wir bereits vor einem halben Jahr nach einem Musterkleid ausgewählt und die Bestellung aufgegeben, und wir warteten nun jeden Tag darauf, einen Anruf aus dem Geschäft für die Anprobe zu bekommen.
»Hoffentlich gefällt Timo die Deko, die wir ausgesucht haben«, sagte Leo. Da er in einer Physiotherapiepraxis angestellt war, hatte er nicht freinehmen können, um bei dem vorgezogenen Termin heute mit dabei zu sein.
»Dem ist das doch völlig egal«, sagte Ben trocken. »Timo würde es vermutlich noch nicht mal auffallen, wenn die Stuhl-Hussen farblich nicht zu den Kerzenleuchtern passen würden.«
Mir vermutlich auch nicht! Ich lachte. Genau das war es, was ich an meinem zukünftigen Schwiegersohn so mochte. Für ihn würde am Hochzeitstag nur eines im Mittelpunkt stehen: seine Braut! Ob mit oder ohne farblich passenden Stuhl-Hussen.
Als Leo und Ben mich daheim abgesetzt hatten, warf ich als Erstes einen Blick in die Garage und atmete erleichtert auf. Da stand mein Wagen und war völlig unversehrt, woraus ich schloss, dass auch Emma und Mutter wohlauf waren. Aus der Einliegerwohnung hörte ich die Titelmelodie von »Dahoam is Dahoam« und aus dem Zimmer meiner Tochter Die toten Hosen.
»Hast du Lust, noch auf ein Glas Wein vorbeizukommen?«, fragte ich Ilona, mit der ich telefonierte, während ich versuchte, aus meinen Schuhen zu schlüpfen, ohne Conny auf den Schwanz zu treten. Ihrem Gemaunze nach war sie kurz vorm Verhungern.
»Schon überredet«, sagte Ilona sofort. »Ich bring alles mit.«
Ich fütterte die Katze und brachte sie dann zu meiner Mutter, bei der sie meistens die Nächte verbrachte.
Eine halbe Stunde später saßen wir gemütlich im Wohnzimmer, und ich schenkte Bordeaux ein, den Ilona aus ihrem kleinen Delikatessen-Laden mitgebracht hatte. Außerdem hatte sie schwarze Oliven, hauchdünn geschnittenen Fenchelschinken und einen herrlich cremigen Rohmilchbrie dabei.
»Du musst doch nicht immer was mitbringen«, tadelte ich sie mit vollem Mund, jedoch nicht ernsthaft. Dazu genoss ich diese Köstlichkeiten viel zu sehr.
»Schon gut. Du kannst mir ja gelegentlich wieder mal deinen megaleckeren Käsekuchen backen.«
»Kriegst du«, versprach ich.
»Super. Ich brauch ja was, um meine Hüften in Form zu halten«, sagte sie und klopfte grinsend gegen ihre üppigen Rundungen.
Ilona war schon im Kindergarten ein Pummelchen gewesen. Nach einem jahrzehntelangen Kampf gegen die Kilos und einem immerwährenden – zwischen drei Kleidergrößen schwankenden – Auf und Ab, hatte sie an ihrem 50. Geburtstag im letzten Jahr beschlossen, Frieden mit ihrer Figur zu schließen.
»Mir reicht das jetzt. Wenn ich Glück habe, liegen noch zwanzig oder dreißig Jahre vor mir. Vielleicht aber auch nur noch fünf Monate oder drei Tage. Wer weiß das schon? Und diese Zeit werde ich ganz bestimmt nicht länger damit verplempern, Kalorien oder Punkte zu zählen oder mir irgendein Pulver anzurühren und es gewaltsam hinunterzuwürgen, nur damit ich mich vielleicht irgendwann wieder in Kleidergröße 38 quetschen kann. Wenn ein Mann eine schlanke Freundin haben will, ist er bei mir eben an der falschen Adresse. Außerdem sind Fettpölsterchen gut gegen Falten.«
Erstaunlicherweise nahm sie ab diesem Tag nicht mehr zu und wirkte insgesamt viel ausgeglichener.
»Und überhaupt – hast du mir nicht was zu erzählen?«, fragte sie plötzlich und sah mich unter ihrer schwarzen Brille hervor fragend an. Gleichzeitig begann sie, eine sehr eingängige Melodie zu summen. Die Titelmelodie eines Kinoblockbusters, die aus der Feder von Jo Ranke stammte und ihm sogar eine Oscarnominierung eingebracht hatte.
Augenblicklich spürte ich mein Herz schneller schlagen.
»Du hast es gelesen?«, fragte ich unnötigerweise, um mich ein wenig zu sammeln. Gleichzeitig war ich froh, dass ich nun endlich jemanden hatte, mit dem ich über Jo reden konnte.
»Ich hätte nie gedacht, dass er zurückkommt«, sagte sie und schob sich eine Olive in den Mund.
»Ich auch nicht. Und stell dir vor, ich hab ihn heute sogar schon gesehen!«
»Echt? Wo denn?« Sie rutschte auf dem Sofa nach vorne.
»Im Auto. Er ist an mir vorbeigefahren.«