Ziemlich turbulente Zeiten - Angelika Schwarzhuber - E-Book
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Ziemlich turbulente Zeiten E-Book

Angelika Schwarzhuber

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Beschreibung

Wenn es um die wahre Liebe geht – immer auf das Bauchgefühl hören!

Singlefrau Ilona führt einen Delikatessenladen am Chiemsee und ist selbst den Leckereien gegenüber nicht abgeneigt. Umso mehr, als ihr Leben derzeit kaum etwas Aufregendes zu bieten hat. Den passenden Mann zu finden, hat sie nach diversen Fehlversuchen abgehakt. Bis Biobauer Chris sie zur Vertiefung ihrer Geschäftsbeziehung in die Toskana einlädt. Dumm nur, dass Ilona sich als etwas jünger und schlanker ausgegeben hat. Sie will die Einladung deswegen ablehnen, da greifen ihre Freundinnen Anna und Zoe ein. Gemeinsam machen sie sich auf eine turbulente Reise in den sonnigen Süden, die Ilonas Leben auf den Kopf stellen wird.

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Seitenzahl: 390

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Buch

Singlefrau Ilona führt einen Delikatessenladen am Chiemsee und ist selbst den Leckereien gegenüber nicht abgeneigt. Umso mehr, als ihr Leben derzeit kaum etwas Aufregendes zu bieten hat. Den passenden Mann zu finden hat sie nach diversen Fehlversuchen abgehakt. Bis Biobauer Chris sie zur Vertiefung ihrer Geschäftsbeziehung in die Toskana einlädt. Dumm nur, dass Ilona sich als etwas jünger und schlanker ausgegeben hat. Sie will die Einladung deswegen ablehnen, da greifen ihre Freundinnen Anna und Zoe ein. Gemeinsam machen sie sich auf eine turbulente Reise in den sonnigen Süden, die Ilonas Leben auf den Kopf stellen wird.

Autorin

Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch erfolgreich als Drehbuchautorin für Kino und TV, zum Beispiel für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Ihr Roman »Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück« wurde für die ARD verfilmt.

Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.

Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:

Liebesschmarrn und Erdbeerblues ∙ Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück ∙ Servus heißt vergiss mich nicht ∙ Der Weihnachtswald ∙ Barfuß im Sommerregen ∙ Das Weihnachtswunder ∙ Ziemlich hitzige Zeiten ∙ Das Weihnachtslied

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Angelika Schwarzhuber

Ziemlichturbulente Zeiten

Roman

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Copyright © 2021 by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Alexandra Baisch

Covergestaltung und – motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold

LH · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-25906-8V002

www.blanvalet.de

Für Carolin, meine wunderbare Schwiegertochter

Kapitel 1

Eine Frau muss ins Kleid passen!

»Blödes Ding, geh doch zu«, murmelte ich gepresst und versuchte, meinen Bauch noch weiter einzuziehen. Gleich würde mein Nabel an der Wirbelsäule andocken.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Eine perfekt manikürte Hand schob sich zwischen den Vorhang.

»Nein!«, zischte ich.

Die Hand zog sich sofort zurück.

Sollte die Verkäuferin es auch nur wagen, einen Blick in die Kabine zu werfen, bevor ich es geschafft hatte, den Reißverschluss an der Seite des Kleides hochzuziehen, dann würde ich sie mit meinem BH erdrosseln. Okay … Vielleicht nicht gleich erdrosseln, schließlich war ich überzeugte Pazifistin, aber … aber ich würde ihr mindestens einen dicken, fetten Pickel mitten auf ihre perfekte kleine Nase wünschen! Was zugegebenermaßen ziemlich kindisch war.

»Ich kann das Kleid auch eine Nummer größer bringen. Soll ich?«, ließ sie nicht locker, obwohl sie mir vorhin davon abgeraten hatte, nachdem sie mit einem Röntgenblick meine Figur taxiert hatte. Umso mehr wollte ich ihr beweisen, dass es passte.

»Nein danke!«, knurrte ich, während sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. Es gab für mich eine Grenze, was Kleidergrößen betraf, und die durfte ich nicht überschreiten. Auch nicht für dieses Kleid. Sonst würde ich irgendwann völlig aus der Form laufen. Das musste ich unbedingt vermeiden. Ein kurzer Blick in den Spiegel, und ich erschrak über die bedenkliche rote Farbe, die mein Gesicht vor Anstrengung inzwischen angenommen hatte. Trotzdem würde ich auf keinen Fall aufgeben! Nur noch etwa sieben Zentimeter, dann hätte ich es geschafft. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, versuchte, mich noch ein klein wenig mehr zu strecken, die Luft anzuhalten und – Bingo! Mit einem energischen letzten Zug glitt der kleine Schieber ganz nach oben.

Ja! Ich ballte die Sieger-Faust, als hätte ich einen Marathon gewonnen. Und irgendwie fühlte es sich fast genauso an. Zumindest hatte ich das dringende Bedürfnis, mich auf den Boden zu werfen und hechelnd nach Luft zu schnappen, während ich mir eine Flasche Wasser über den Kopf goss und mir irgendjemand anerkennend auf die Schulter klopfte. Egal in welcher Reihenfolge das dann ablaufen würde.

Nun setzte ich die Brille auf und wagte es, mich ganz im Spiegel zu betrachten. Das, was ich sah, es war … nun ja …ehrlich gesagt war es all die Mühe nicht wert gewesen.

Verdammt!

Aus meiner Kehle kam ein enttäuschtes Glucksen.

Das traumhafte Etuikleid, um das ich seit einer Woche herumschlich und bei dem ich mir sicher war, dass ich darin einfach nur fantastisch aussehen würde, quetschte meinen üppigen Körper wie Presswurst in einen spinatgrün gefärbten Biodarm. Schauderhaft! Nie im Leben konnte ich meiner besten Freundin Anna darin als Trauzeugin zur Seite stehen. Ich kannte mich und meinen nicht vorhandenen eisernen Willen gut genug und machte mir nichts vor. Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten sechs Wochen so viel abzunehmen, dass das Kleid meinen Körper bis dahin schmeichelhaft umhüllte, war ebenso gering wie die Aussicht darauf, dass der inzwischen ergraute Anteil meiner Haare sich von selbst wieder sein natürliches Dunkelblond zurückerobern würde.

»Hier ist das Kleid eine Nummer kleiner«, hörte ich die Verkäuferin nun sagen.

Kleiner? Tickt die Gute noch ganz richtig?

»Das ist superlieb von Ihnen«, flötete eine zauberhafte Stimme aus der Kabine links von mir. »Danke!«

Die Verkäuferin hatte offensichtlich nicht mich gemeint. Und am entspannten Tonfall der Kundin von nebenan war klar, bei ihr gab es keine Grenze nach oben, die sie verteidigen musste.

Ein Gefühl von Neid stieg in mir hoch. Neid auf alle Frauen dieser Welt, die nie … Halt Ilona! – Neid macht hässlich. Und Neid macht sicherlich auch einen hohen Blutdruck. Außerdem war es ein Gefühl, das völlig untypisch für mich war. Was war heute nur los mit mir? Eigentlich hatte ich doch schon vor einer Weile Frieden mit meinen üppigen Formen geschlossen und kam damit ganz gut zurecht. Doch seitdem ich die Umkleidekabine mit diesem Kleid betreten hatte, litt ich unter einer Anspannung, die mir selbst ein Rätsel war.

Ich seufzte. Vielleicht war es einfach mal wieder an der Zeit für einen gemütlichen Frauenabend mit Anna und Zoe. Spontan griff ich nach dem Handy und tippt eine Nachricht in unsere WhatsApp-Gruppe:

Heute 19 Uhr im Dolce Vita?

Nur wenige Sekunden später schrieb Anna:

Unbedingt!

Und auch Zoes Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

Ich reserviere unseren Tisch!

Zufrieden steckte ich das Handy zurück in die Handtasche und fühlte mich bei der Aussicht auf ein Treffen mit meinen Freundinnen wieder deutlich besser.

Eigentlich hätte ich mir denken können, dass der Schnitt des grünen Kleides für meine Figur nicht wirklich optimal war, egal wie traumhaft schön es im Schaufenster ausgesehen hatte. Dennoch war es zu verlockend gewesen hineinzuschlüpfen. Tja. Die Verkäuferin hatte leider recht gehabt. Vermutlich sollte ich doch besser das taubenblaue Cocktailkleid mit dem die Pölsterchen kaschierenden Chiffon-Überwurf anprobieren, das sie mir eigentlich mit in die Kabine geben wollte. Allerdings war das so gar nicht meine Farbe. Oder sollte ich es für heute einfach gut sein lassen? Und mir die restliche Nachmittagspause, die ich mir extra für den Besuch in dem Modeladen genehmigt hatte, am Stehtisch in meiner Lieblingsbäckerei mit einem feinen Nusshörnchen aus buttrigem Blätterteig und Milchkaffee versüßen. Ja! Das war ein guter Plan.

Und jetzt schnell raus aus diesem Kleid.

Ich griff nach dem Reißverschluss und wollte ihn nach unten ziehen, doch der kleine Schieber rührte sich keinen Millimeter. Erneut zog ich scharf die Luft ein, damit der Stoff etwas weniger spannte, und versuchte es mit der anderen Hand. Ich ruckelte, erst wild, dann mit viel Gefühl. Vergeblich.

Das darf doch nicht wahr sein!

Ich steckte in diesem verdammten Kleid fest. Die Kabine schien mit einem Schlag enger zu werden, und eine plötzlich aufsteigende Panik schnürte mir die Luft ab. Ich begann zu schwitzen.

Hilfe! Ich brauche Hilfe! Sofort!

Rasch schob ich den Vorhang zur Seite, doch von der Verkäuferin war weit und breit nichts zu sehen! Das war wieder mal typisch! Die ganze Zeit war sie um mich herumscharwenzelt, und jetzt, wo ich sie wirklich, wirklich, wirklich brauchte, war sie verschwunden. Das Kleid schien meinen Körper mit jeder Sekunde enger zu umfangen, wie eine Anakonda, die sich um ihr Opfer schlang, um es zu Tode zu quetschen. Verzweifelt japste ich nach Luft.

»Lona?«

Mitten im Japsen hielt ich vor Schreck inne. Es gab nur einen, der mich so ansprach, weil ihm mein Name Ilona nicht gefiel. Und genau dieser eine war der Letzte, den ich jetzt hier sehen wollte!

»Alles okay?« Die Frage klang eher barsch als tatsächlich besorgt.

Ich drehte mich zu der Stimme um. Und tatsächlich: Jo Ranke stand leibhaftig vor mir. Jo Ranke, der Oskar-nominierte Filmkomponist. Der Mann, mit dem ich vor ein paar Wochen nach einem ziemlich kurzen Intermezzo per WhatsApp Schluss gemacht hatte. Und er sah besser aus denn je.

»Alles gut!«, krächzte ich mit einer Stimme, so hoch, dass sie an meiner Schädeldecke vibrierte.

»Wirklich? Du siehst aus, als ob du gleich einen Herzinfarkt kriegen würdest!«, bemerkte er trocken.

Vor meinen Augen begann es zu flimmern, in meinen Ohren rauschte es, und meine Beine fühlten sich an wie Gummi. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich würde doch nicht jetzt ohnmächtig werden?

»Du wirst doch nicht … Lona …«, hörte ich seine Stimme wie aus der Ferne und spürte, wie mich jemand unter den Armen packte und zu einem kleinen Zweisitzersofa zog, das neben der Umkleidekabine für geduldig wartende Ehemänner und Freunde bereitstand.

»Eigentlich solltest du mir egal sein«, zischte er mir keuchend zu. »So wie du mich abserviert hast!«

»Jo … ich …!«, setzte ich an.

»Schon gut! Hinsetzen!«, unterbrach Jo mich streng.

»Kann nicht!«, krächzte ich hilflos.

»Stell dich nicht so an!«

Doch es war unmöglich in dem engen Kleid. Es ging einfach nicht. Er schien das schließlich ebenfalls zu erkennen, und ehe ich michs versah, lag ich auf dem Boden.

Er packte meine Fußknöchel, hob meine Beine hoch und hielt sie fest.

»Schön durchatmen, Lona!«

Ich tat, was er mir sagte, schloss jedoch die Augen. Ich konnte ihn jetzt nicht anschauen! Noch nie im Leben hatte ich mich so geschämt!

»Oh! Was ist denn hier los?« Das war die Stimme der Verkäuferin.

»Jo? Was machst du denn da?« Das war die Stimme der Kundin, die vorhin neben mir in der Kabine gewesen war.

»Vermutlich der Kreislauf«, erklärte Jo knapp und drückte meine Beine noch ein Stück höher.

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es Wochen her war, dass ich meine Beine rasiert hatte. Für ein Date. Mein letztes Date mit Jo, bevor es drei Tage später zu Ende gewesen war! Inzwischen konnten meine haarigen Unterschenkel sicher als Kulisse für die Dschungelshow dienen. Ich presste die Augen noch fester zu und schluckte.

Oh! Mein! Gott!

»Ihr Kopf wird ja ganz rot!«, hörte ich die Kundin rufen.

Kein Wunder!

Wo war das nächste Mauseloch, in das ich mich verkriechen konnte?

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte die Verkäuferin hilflos.

»Wir müssen ihren Kreislauf wieder in Schwung bringen. Jacky, kannst du mal …«

Jo sprach nicht weiter. Doch was er von dieser Jacky wollte, sollte ich gleich erfahren.

»Es geht schon …«, begann ich, da blieb mir erneut die Luft weg. Jemand hatte mir kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Erschrocken riss ich Augen und Mund auf, prustete und spuckte und versuchte, mich hochzurappeln, doch das Kleid und Jos fester Griff um meine Fußknöchel machten das unmöglich.

Eine rassige Dunkelhaarige stand mit einer halb leeren Wasserflasche links neben mir. Sie sah atemberaubend aus in demselben grünen Kleid, das ich trug, allerdings mindestens vier Nummern kleiner. Offenbar war das Schicksal heute ziemlich albern drauf und ersparte mir nichts.

»Vorsicht! Das teure Kleid!«, rief die Verkäuferin, die rechts neben mir stand.

»Lona? Geht’s wieder?«, fragte Jo, und diesmal hörte er sich tatsächlich besorgt an.

Ich nickte und wischte mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

Klar. Es geht mir ganz wunderbar. So was mache ich doch jeden Tag.

»Lona? Du meinst die Lona?«, fragte die Frau ungläubig, die Jo vorhin Jacky genannt hatte und vermutlich halb so alt war wie ich. Ihre Stimme klang alles andere als begeistert.

»Äh, ja. Die Lona!«, bestätigte Jo knapp. »Sollen wir den Notarzt rufen?«

»Ich weiß auch nicht«, murmelte die Verkäuferin unsicher, die mit der Situation völlig überfordert schien.

»Nein!«, rief ich. »Nicht nötig!«

»Eher Greenpeace. Sie zappelt wie ein gestrandeter Walfisch«, kommentierte Jacky trocken. Es war nicht zu überhören, dass sie etwas gegen mich hatte.

Blödes Miststück!

Doch leider hatte sie recht. Ich kam mir tatsächlich genauso vor: wie ein gestrandeter Wal.

»Es geht schon wieder. Wirklich!«, versuchte ich mit aller Würde zu beteuern, die ich aufbringen konnte, und griff erneut nach dem Reißverschluss.

»Hörst du? Du kannst sie jetzt wieder loslassen, Jo!«, sagte Jacky.

»Okay.«

Langsam ließ Jo meine Beine sinken.

Ich versuchte erst gar nicht aufzustehen. Solange ich dieses vermaledeite Kleid trug, würde ich das nie im Leben allein schaffen, ohne mich vollends zu blamieren. Doch der Reißverschluss klemmte nach wie vor.

Inzwischen standen mehrere Leute in der Nähe und verfolgten das Spektakel neugierig.

»Kriegt da jemand ein Kind?«, hörte ich jemanden fragen.

»Das ist doch dieser Musiker, oder?«, meinte ein anderer.

Jo Ranke war vielen hier in der Gegend am Chiemsee bekannt, wo er vor ein paar Monaten nach seiner überraschenden Rückkehr aus Amerika wieder in sein Elternhaus am See gezogen war.

»Ich glaub, da kriegt echt jemand ein Kind.«

Gut, dass das kleine Sofa zwischen uns und den Neugierigen stand, denn einige hatten sogar ihre Handys gezückt und filmten. Ich hoffte so sehr, dass man mein Gesicht nicht erkennen konnte, ansonsten würde ich mich nie wieder aus dem Haus trauen.

Es war wie in einem dieser Träume. In denen man nach vorn an die Tafel gerufen wurde und erst dort bemerkte, dass man nackt war und alle einen anstarrten. Ich wünschte mir nur das eine: sofort aufzuwachen und daheim in meinem Bett zu liegen. Doch ich befand mich tatsächlich in diesem wahr gewordenen Albtraum der Peinlichkeit.

»Ich muss dringend aus diesem Kleid raus«, verkündete Jacky und sprach damit den Satz aus, den eigentlich ich sagen wollte. »Never ever kann ich mich damit noch im Spiegel anschauen, ohne an diese …«, fuhr sie fort und suchte offenbar nach den richtigen Worten, um mir noch richtig eins reinzuwürgen, weil ich ihr die Freude an ihrem Kleid vermasselt hatte, ließ es dann aber bleiben. »Kommst du, Jo?«

Jo nickte, dann ging er kurz in die Hocke und klopfte mir auf die Schulter.

»Das wird schon wieder, Lona.«

Und in diesem Moment fühlte ich mich erneut wie nach einem Marathonlauf. Allerdings war ich die Läuferin, die weit abgeschlagen als Letzte ins Ziel getorkelt war, während die anderen schon längst feierten.

Jo verschwand mit seiner Jacky in der Umkleidekabine.

»Wie konntest du so eine fette alte Kuh mir vorziehen?«, hörte ich sie hinter dem Vorhang zischen.

Oh, oh! Sie kannten sich also schon damals. Deswegen ist sie so sauer auf mich!

»Im Nachhinein verstehe ich das selbst nicht. Wenigstens haben wir nie miteinander geschlafen«, antwortete Jo.

Das hätte der endgültige Tiefpunkt des Tages sein können. Doch in dem ganzen Wahnsinn der letzten Viertelstunde war es mir ein eigenartiger Trost, dass ich es gewesen war, die Jo den Laufpass gegeben hatte.

Ich griff nach der Hand der Verkäuferin.

»Können Sie bitte den Reißverschluss öffnen! Bitte«, flehte ich sie an.

Sie nickte.

Kapitel 2

Freundinnen im Dolce Vita

»Und nachdem die gute Frau den Reißverschluss – weiß der Teufel, wie – gleich beim ersten Versuch aufbekommen hatte, sagte ich zu ihr: ›Packen Sie mir das Kleid ein. Ich nehme es!‹, schloss ich ein paar Stunden später im Dolce Vita die Erzählung meines Fiaskos ab.

Anna verschluckte sich fast an ihrem Pinot Grigio, und Zoe wischte sich vor Lachen die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Echt jetzt? Du hast das Kleid gekauft?«, fragte Anna verwundert, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Ich nickte.

»Nach dem ganzen Tohuwabohu und so, wie ich mich schon davor der Verkäuferin gegenüber verhalten hatte, war ich es ihr irgendwie schuldig. Auch wenn ich dieses Ding sicherlich niemals anziehen werde«, erklärte ich und nahm einen großen Schluck Bardolino.

»Wie kannst du auch ohne mich shoppen gehen? Nächstes Mal begleite ich dich wieder«, versprach Anna, die schon seit dem Kindergarten meine beste Freundin war. Sie war nur ein Jahr jünger als ich und kannte mich manchmal besser, als ich mich selbst kannte.

»Und ich komme auch mit«, bekräftigte Zoe.

Noch bis vor Kurzem hatten die Zahnärztin und ich uns nicht sonderlich gut leiden können. Sie hatte meiner besten Freundin ziemlich weh getan, als sie vor Jahren mit Annas damaligem Mann Harald in die Kiste gesprungen war. Wann immer wir jetzt auf dieses Thema zu sprechen kamen, beteuerte sie hoch und heilig, dass es nur ein einziges Mal vorgekommen sei und es ihr unendlich leidtue und dass sie gar nicht verstehen könne, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Tatsächlich hatte sich später herausgestellt, dass Harald ein notorischer Fremdgänger und Zoe nur eine von vielen Frauen war, mit denen er Anna betrogen hatte. Zoe war damals untröstlich gewesen, dass sie ihrer Mitarbeiterin das angetan hatte, und hatte alles Mögliche und Unmögliche versucht, damit Anna ihr verzieh. Erstaunlicherweise hatte genau dieser Ehebruch die beiden Frauen zusammengeschweißt, die seither nicht nur Chefin und Angestellte waren, sondern auch gute Freundinnen. Ich hatte das lange nicht verstehen können und war eine Weile lang nicht nur sauer, sondern fast ein wenig eifersüchtig auf Zoe gewesen. Das war wohl auch mit ein Grund, weshalb Anna sich entweder mit mir oder mit Zoe verabredete, damit wir nicht zu häufig aufeinandertrafen. Im vergangenen Frühjahr und Sommer hatte sich Annas Leben jedoch ziemlich auf den Kopf gestellt, und das hatte Zoe und mich irgendwie einander nähergebracht. Und als Zoe dann auch noch auf der Hochzeit von Annas Tochter Leo einen Herzinfarkt hatte und fast gestorben wäre, hatte ich erkannt, dass sie mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen war. Und ich ihr wohl ebenfalls, auch wenn wir uns das nie offen ins Gesicht sagen würden und uns nach wie vor mit kleinen Sticheleien gegenseitig aufzogen.

»Einmal gebratener Lachs mit Salat«, riss Hedi, die Bedienung, mich aus meinen Gedanken und stellte den Teller vor Zoe.

»Und hier Gnocchi in Tomatensugo …« Das war mein Essen.

»Und Pizza speziale für Anna.«

Annas Pizza war mal wieder ein kleines Kunstwerk. Salamischeiben, kleine rote und gelbe Cocktailtomaten und Oliven-Ringe waren wie eine Blumenwiese auf einem Bett aus Rucola arrangiert.

Wir drehten uns zur Durchreiche. Dort winkte uns Ronaldo lächelnd aus der Küche zu. Oder besser gesagt, er winkte Anna zu. Der Koch hatte seit Jahren ein Faible für meine beste Freundin. Und obwohl er selbst vergeben war und Anna kurz vor ihrer Hochzeit stand, hatten die kulinarischen Aufmerksamkeiten, die er ihr schenkte, in den letzten Wochen nicht nachgelassen. Es gehörte einfach zu einem Besuch im Dolce Vita dazu, dass Anna bei ihm einen Sonderstatus hatte. Zoe und ich hatten uns längst damit abgefunden.

»Alles klar bei dir, Ilona?«, fragte Anna, nachdem wir angefangen hatten zu essen.

»Ja klar«, antwortete ich. »Warum?«

»Na, weil heute noch gar kein dummer Spruch von dir kam. Noch nicht einmal über meine neue Haarfarbe hast du gelästert«, bemerkte Zoe und schob sich eine Gabel voll Lachs in den Mund. Seit ihrem Herzinfarkt achtete sie noch mehr auf gesundes Essen, als sie das ohnehin schon immer getan hatte. Dabei war sie von uns dreien die Schlankeste und trieb regelmäßig Sport.

»Stimmt. Deine Haare sind ziemlich rot.« Tatsächlich bemerkte ich erst jetzt die Veränderung. Und das war wirklich seltsam.

»Kaschmirrot«, erklärte Zoe.

»Steht dir gut, Zoe. Echt gut«, machte ich ihr ein Kompliment und nahm einen weiteren Schluck Rotwein.

»Siehst du. Genau das meine ich«, sagte Zoe und legte ihr Besteck weg. »Es kann dir gar nicht gut gehen. Normalerweise hättest du schon längst etwas gesagt wie DerPumuckl-Look soll ja gerade wieder in sein oder …«

»So einen Quatsch würde ich nie sagen«, unterbrach ich sie trocken. Mir würde da ein viel besserer Spruch über die Lippen kommen. Aber im Moment fiel mir tatsächlich nichts ein.

»Die Sache heute hat dich wohl doch etwas mitgenommen«, vermutete Anna einfühlsam.

Ich nickte.

»Vielleicht. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass mir das tatsächlich passiert ist. Und es wäre alles nicht ganz so schlimm gewesen, wenn nicht ausgerechnet Jo Ranke und seine Neue dabei gewesen wären.«

Zoe kicherte.

»Immerhin hat er versucht, dich zu retten«, verteidigte sie ihn schwach.

»Und hat damit alles nur schlimmer gemacht«, erklärte ich. Jedes Mal, wenn ich nur daran dachte, wie er meine unrasierten Beine nach oben gerissen hatte, um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, wurde ich knallrot. Und das hatte rein gar nichts mit den Wechselbeschwerden zu tun, die mich ab und zu heimsuchten.

»Jo hat es halt drauf, dass man sich als Frau immer wieder schlecht fühlt«, sagte Anna und seufzte.

Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal für Annas Teenagerschwarm Jo erwärmen könnte. Ganz im Gegenteil, so wie er Anna abserviert hatte, war dieser Mensch für mich gestorben. Als er dann aber mit einem lukrativen Catering-Auftrag zu mir kam, den ich einfach annehmen musste, lernte ich seine charmante und witzige Seite kennen. Und dass dieser attraktive und vielbegehrte Mann sich noch dazu für mich interessierte, schmeichelte mir ungemein. Nach langem Hin und Her hatte ich Anna gebeichtet, dass ich mich gerne auf dieses Abenteuer einlassen würde, und hätte dabei fast unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt. Zum Glück stellte ich dann aber für mich fest, dass ich zwar große Sehnsucht nach einem Partner hatte, er da aber wahrscheinlich nicht der Richtige war, und so hatte ich ihm den Laufpass gegeben. Inzwischen hatte ich mich manchmal gefragt, ob das wirklich so klug war und ob nicht doch etwas aus uns hätte werden können. Doch so, wie er sich heute über mich geäußert hatte, war ich froh darüber.

»Wie kommst du denn mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?«, fragte ich Anna, um das Thema Jo zu beenden.

»Nachdem es nur eine kleine standesamtliche Feier mit wenigen Gästen sein wird, ist alles überschaubar«, antwortete sie. »Umso mehr freue ich mich darauf.«

Das Strahlen in ihren Augen zeigte, wie glücklich sie mit Paul war. Dabei war Anna diejenige von uns dreien gewesen, die nach ihrer Scheidung eigentlich keinen neuen Partner mehr gewollt hatte, während Zoe und ich immer mehr oder weniger verzweifelt Ausschau gehalten und dabei leider auch den ein oder anderen Fehlgriff gemacht hatten.

»Jedenfalls steht dir das eisblaue Kostüm, das du mit Emma und Leo gefunden hast, super und passt genau für eine Winterhochzeit«, schwärmte ich.

Eigentlich wäre ich selbst gerne beim Shopping dabei gewesen. Doch da ich zurzeit keine zuverlässige Aushilfe hatte, konnte ich mein Geschäft nicht einfach einen ganzen Tag für einen Einkaufsbummel in München zusperren.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell das Hochzeitskleid für mich finden würde«, sagte Anna.

»Es ging ja überhaupt alles total schnell bei euch«, bemerkte Zoe und nahm einen Schluck Mineralwasser. Erst vor zwei Wochen hatte Anna uns mit der Nachricht überrascht, dass sie und Paul am ersten Adventswochenende heiraten würden.

»Ja, ich weiß«, sagte Anna. »Aber ich war mir noch nie in meinem Leben bei einer Entscheidung so sicher wie dabei, Pauls Antrag anzunehmen.«

Sie griff nach der Dessert-Karte und wedelte ihrem plötzlich rot glühenden Gesicht Luft zu.

»Wieder mal Hitzewellenzeit?«, fragte Zoe amüsiert.

»Warte nur, das blüht dir sicher auch bald«, antwortete ich anstelle von Anna.

Zoe schnaubte. »Bis dahin ziehen noch einige Jährchen ins Land. Und außerdem will ich vorher unbedingt ein Kind.«

»Ein Kind? Aber ich dachte …«, begann ich, stoppte dann jedoch.

»Was dachtest du?«, hakte Zoe nach, der man nicht ansah, dass sie Anfang vierzig war. »Dass ich meinen Traum von einer Familie wegen der Herzgeschichte aufgegeben habe?« Sie lachte trocken und beantwortete die Frage gleich selbst. »Jetzt werde ich erst recht alles daransetzen!«

In ihrer Stimme lag so viel Überzeugung, dass ich mir sicher war, sie würde ihr Vorhaben verwirklichen können. Und in diesem Moment spürte ich wieder so einen Anflug dieses seltsamen Gefühls, wie heute schon einmal in der Umkleidekabine. Zoe konnte tatsächlich noch ein Kind bekommen. Im Gegensatz zu mir. Was nicht nur an meinem Alter lag, sondern weil mir vor fast fünfzehn Jahren wegen eines großen Myoms die Gebärmutter entfernt worden war. Die Operation hatte mir nicht nur die Möglichkeit genommen, ein Baby zu bekommen, sondern auch meine damalige langjährige Beziehung zerstört.

Zuerst hatte Johannes beteuert, dass ihm das nichts ausmachen würde, weil er mich liebte. Doch nach und nach merkte ich ihm an, dass ihn die Gewissheit, niemals Vater werden zu können, sehr wohl bedrückte. Ich wiederum wollte nicht, dass er seinen Traum von einem Kind aufgeben musste, den er sich mit einer anderen Frau nach wie vor erfüllen könnte. Und da er mich nie deswegen verlassen hätte, weil er ein viel zu feiner Kerl war, trennte ich mich von ihm. Inzwischen war er schon seit Jahren mit einer anderen Frau verheiratet, doch Kinder hatten die beiden trotzdem nicht. Eine üble Laune des Schicksals wollte es, dass auch die andere Frau nicht schwanger werden konnte, wie er mir bei einer zufälligen Begegnung erzählte. Trotzdem schien er mit ihr sehr glücklich zu sein, und auch hier fragte ich mich ab und zu, ob unsere Trennung damals die richtige Entscheidung war und was wohl aus uns geworden wäre, wenn Johannes und ich zusammengeblieben wären.

»Ilona?«

»Ja?«

»Du bist heute wirklich mit den Gedanken ständig woanders«, sagte Anna. »Möchtest du auch noch ein Glas Wein?«

Erst da bemerkte ich, dass Hedi, die Bedienung, neben uns stand und wartete, ob ich was bestellen möchte.

»Ja … gern«, sagte ich. Ich nahm den letzten Schluck und reichte der Frau das Glas.

»Noch einen Bardolino bitte, Hedi.«

»Klar.« Doch sie blieb noch am Tisch stehen.

»Sag mal, Ilona, warst du das zufällig heute in der Boutique?«, fragte sie vorsichtig.

»Wie meist du das?«, fragte ich schnell, wobei ich genau wusste, worauf sie hinauswollte.

»Na ja, die Frau, die von Jo Ranke gerettet wurde«, erklärte sie, und ich lief puterrot an.

O Gott! Es hat sich also schon herumgesprochen!

»Einige Leute meinen ja, dass die Frau am Boden ein Kind bekam«, fuhr sie in ihrem typisch hektischen Tonfall fort, mit dem sie sonst immer unsere Bestellungen aufnahm. »Aber ich weiß von der Frau, die in der Boutique putzt, dass das nicht stimmt. Sie meinte, es müsse eine Geschäftsfrau aus dem Ort gewesen sein. Und da hab ich gleich an dich gedacht, weil ich deine Schuhe erkannt habe. Die Pumps hast du schon öfter hier angehabt. Und du trägst sie heute auch. Warst du das wirklich?«

Sie sah mich neugierig an.

»Äh … ja«, antwortete ich knapp. Auf die Schnelle hatte ich keine Notlüge parat und wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Unauffällig schob ich meine Füße nach hinten unter den Stuhl. Nicht dass die Schuhe sonst noch jemandem auffielen.

»Ha!«, rief sie siegessicher. »Ich wusste es.«

»Warst du denn auch im Geschäft?«, fragte ich vorsichtig nach.

»Nein. Aber ich hab das Video auf YouTube gesehen.«

»Video?«, fragten Zoe und Anna unisono.

Ich schluckte.

Verdammter Mist!

»Es hat schon weit über zehntausend Aufrufe«, verriet sie eifrig.

Hedi zog ihr Handy aus der Hosentasche, rief das Video auf und drückte mir ihr Handy in die Hand.

Nun wünschte ich mir zum zweiten Mal an diesem Tag ein Loch, in das ich mich verkriechen konnte. Das wollte ich mir ganz sicher nicht anschauen, trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von dem kleinen Bildschirm lösen. Glücklicherweise lag ich so nah am Sofa, dass man außer meinem Hinterkopf und meinen Beinen mit den Schuhen, die Jo an den Fußfesseln umklammert nach oben hielt, nichts von mir sah. Die Szene zeigte, wie Jacky die Flasche öffnete und sich nach unten beugte, um mir Wasser – was man ebenfalls nicht sah – ins Gesicht zu schütten, während die Verkäuferin sich erschrocken mit der Hand an den Mund fasste. Der Fokus lag jedoch eindeutig auf Jo Ranke, der meine Beine noch weiter in die Höhe riss. Der Film war mit einer lustigen Musik unterlegt und am Ende so geschnitten, dass in einer Wiederholungsschleife mehrfach hintereinander zu sehen war, wie er meine Beine immer wieder nach unten sinken ließ und hochhob. Dazu als Untertitel: Wer ist Lona? Jo Ranke – Geburtshelfer oder Lebensretter?

Als ich einige der Kommentare unter dem Video las, wurde mir ganz flau im Magen.

»Gib her«, sagte Zoe und schaute sich das Video zusammen mit Anna ebenfalls an.

Es war unübersehbar, dass sich beide das Lachen kaum verbeißen konnten.

»Man erkennt überhaupt nicht, dass du es bist«, flüsterte Anna, die nun versuchte, einen mitfühlenden Blick aufzusetzen.

Das ist aber auch der einzige Trost!

Bevor ich Hedi das Handy zurückgab, griff ich nach ihrer Hand.

»Bitte Hedi, erzähle nicht weiter, dass ich das bin«, bat ich sie eindringlich mit gesenkter Stimme.

»Das würde ich auch vorschlagen«, sagte Zoe, und plötzlich lag eine Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme, die ungewohnt für sie war. »Sonst müssen wir drei uns zukünftig ein anderes Lokal suchen, in dem wir uns treffen.«

Hedi schien kurz zu überlegen, immerhin hatte sie gerade aus erster Hand erfahren, wer diese ominöse Lona war, die der berühmte Jo Ranke angeblich gerettet hatte. Doch die Aussicht auf den guten Umsatz, den sie stets mit uns machten, und vor allem das ordentliche Trinkgeld, ließ sie offenbar ihre Prioritäten überdenken.

»Von mir erfährt es niemand«, versprach sie und ging zur Theke.

»Vielleicht sollte ich auswandern«, murmelte ich und schob mir eine Gabel voll Gnocchi in den Mund.

»Ach komm«, versuchte Anna mich aufzumuntern. »Nimm das doch nicht so schwer.«

»Zum Geburtstag kriegst du von mir einen Epilierer für die Beine«, feixte Zoe mit einem breiten Grinsen.

»Blöde Kuh!«, maulte ich sie an, musste dann aber auch grinsen. Die ganze Sache war wirklich zu albern. Vielleicht sollte ich es tatsächlich einfach mit Humor nehmen.

Hedi kam mit den Getränken.

»Jetzt komm, lass uns darauf trinken, dass dir so etwas nie wieder passiert«, schlug Anna vor, und darauf stießen wir an.

»Hab ich euch übrigens schon erzählt, dass ich über Weihnachten und Neujahr auf die Kapverden fliege?«, wechselte Zoe nun das Thema. Sie verreiste wahnsinnig gern und gab dafür jährlich vermutlich mehr Geld aus, als eine gefräßige Großfamilie für Lebensmittel und Kleidung in drei Jahren verbrauchte. Und nach dem überstandenen Herzinfarkt wollte Zoe noch weniger darauf verzichten, ihr Leben zu genießen. Damit die Praxis in der Zeit ihrer Abwesenheit nicht ständig geschlossen werden musste, hatte sie inzwischen eine erst kürzlich pensionierte Kollegin aus dem Nachbarort engagiert, die ihr Rentnerdasein zwar genoss, aber froh über die Abwechslung war und als Urlaubsvertretung das Gefühl hatte, doch noch gebraucht zu werden.

»Kapverden? Wie herrlich, Zoe«, sagte Anna.

»Wohin macht ihr denn eure Hochzeitsreise?«, fragte Zoe neugierig.

»Nachdem wir an meinem fünfzigsten Geburtstag erst in Venedig und Cavallino waren, wollen wir nach der Hochzeit gar nicht weit wegfahren. Paul kennt ein zauberhaftes Hotel im Bayerischen Wald mit tollem Spa-Bereich, leckerem regionalen Essen und herrlichen einsamen Wanderwegen. Außerdem soll die Hotelbar gut bestückt sein. Da werden wir es uns ein paar Tage einfach so richtig gut gehen lassen.«

Ich unterdrückte ein Seufzen. Ich freute mich wirklich für Anna, dass sie mit Paul doch noch ihr Glück gefunden hatte. Aber gerade heute fühlte ich mich dadurch noch mehr wie eine Verliererin. Ilona, die Frau, die einen Delikatessen-Laden schmiss, und das vermutlich auch nur deswegen, weil ich selbst so eine Genießerin war. Ansonsten war mein Leben langweiliger als Schonkost.

»Du testest das Hotel«, forderte Zoe Anna auf, »und wenn das wirklich so toll dort ist, wie Paul behauptet, dann könnten wir drei ja mal ein Wochenende dort verbringen. Wir wollten doch schon längst was gemeinsam machen.«

Sie sah zu mir.

»Und bevor du protestierst, meine liebe Ilona, dann musst du deinen Laden eben einfach mal an einem Samstag zusperren oder dir endlich eine zuverlässige Aushilfe suchen. So schwer kann das doch wirklich nicht sein.«

Bevor ich darauf antworten konnte, klingelte Annas Handy. Sie stellte ihr Glas ab, griff in die Tasche und meldete sich.

»Hallo Emma …«, begrüßte sie ihre jüngere Tochter. »Was ist los? … Ich versteh dich so schlecht. Sag mal, heulst du?«

Das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand.

War etwas Schlimmes passiert? Zoe und ich sahen Anna besorgt an.

»Ach, Schatz das tut mir leid … drück ihn mal fest von mir … ja, klar kann er bei uns schlafen. Ich komme gleich nach Hause … bis dann.«

»Was ist denn los?«, fragte Zoe.

Anna seufzte mit traurigem Blick.

»Bernhard hat heute mit Ben Schluss gemacht. Oder Ben mit Bernhard, so genau habe ich es nicht verstanden … Sie hatten wohl einen ziemlichen Streit, und jetzt braucht Ben vorerst eine Unterkunft. Und vor allem Trost.«

Ben war der Bruder von Annas Schwiegersohn Timo und schon von klein auf ein ganz besonders enger Freund der Familie.

»Ach, das tut mir leid«, sagte ich. Ich mochte Ben sehr. Er war ein total lieber Typ, der noch dazu umwerfend aussah. Die Tatsache, dass er nur auf Männer stand, hielt einige Frauen jedoch nicht davon ab, sich vorzustellen, wie es wäre, mit ihm zusammen zu sein oder sich in ihn zu verlieben.

»Ach Mensch. Was für ein Mist«, sagte Zoe.

»Ich muss nach Hause«, sagte Anna und suchte in ihrer Tasche nach der Geldbörse.

»Hedi! Zahlen bitte!«, rief sie der Bedienung zu.

»Ich fahr dich«, bot Zoe an.

»Ich hab es doch nicht weit«, sagte Anna.

»Falls du es nicht bemerkt haben solltest, draußen schüttet es inzwischen wie aus Eimern.«

Zoe schob sich das letzte Stück Lachs in den Mund und griff ebenfalls nach ihrer Geldbörse.

»Dann wäre das natürlich super, Zoe. Du bist ein Schatz«, nahm Anna das Angebot an.

»Soll ich auch mitkommen?«, fragte ich.

»Brauchst du nicht«, winkte Anna ab. »Iss wenigstens du in Ruhe zu Ende.«

»Na, dann ab mit euch. Los. Ihr braucht nicht auf Hedi zu warten. Ich übernehme heute die Rechnung«, sagte ich.

»Danke … ich zahl dann nächstes Mal«, sagte Anna, und gleich darauf waren die beiden verschwunden.

Ich saß allein vor dem Rest meiner Gnocchi und Annas erst zur Hälfte verspeister Pizza. So hatte ich mir den Abend heute nicht vorgestellt. So hatte ich mir den ganzen Tag heute nicht vorgestellt. Erst diese Blamage in der Boutique, und jetzt wurde ich quasi auch noch von meinen beiden Freundinnen versetzt. Auch wenn der Grund dafür nachvollziehbar war. Ich trank den Rest des Weins aus. Jetzt hier allein weiterzuessen, darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Überhaupt war mir der Appetit vergangen. Was auch eher ungewöhnlich war. Denn essen konnte ich normalerweise in jeder Lebenslage.

Ich winkte Hedi.

»Ich möchte zahlen, und packst du mir die Reste bitte ein, Hedi?«, bat ich sie.

»Klar.«

»Und es gilt doch, dass du nicht …«, begann ich noch einmal vorsichtig, um mir sicher zu sein, dass sie mich nicht öffentlich bloßstellte.

»Fest versprochen«, unterbrach Hedi mich beruhigend. »Ich würde ja auch nicht wollen, dass alle Welt weiß, wie sehr ich mich öffentlich blamiert habe.«

Danke, liebe Hedi, dass du mir das noch mal so deutlich sagen musst!

Fünf Minuten später ging ich mit einer Doggybag in der Hand nach Hause.

Kapitel 3 

Kalte Pizza und Limettenpesto

Es war noch nicht einmal halb zehn, als ich zu Hause war, und viel zu früh, um ins Bett zu gehen. Doch ich hatte weder Lust auf irgendeine Serie noch darauf, ein Buch zu lesen. Ich verstaute die Essensreste im Kühlschrank und beschloss, noch ein wenig zu arbeiten. Vielleicht konnte ich mich so von den Gedanken an diesen blöden Tag ablenken. Um es mir bequemer zu machen, schlüpfte ich in meine liebste Schlabberhose und streifte den vor Jahren von meinem Onkel Bastian selbst gestrickten Pullover über. Das war der erste Moment an diesem Tag, an dem ich mich wirklich entspannt fühlte.

Meine Wohnung lag über dem Geschäft, was für mich natürlich sehr praktisch war. Mit einem Glas Wein und einer Flasche Wasser ging ich nach unten in das kleine Büro im hinteren Teil des Hauses, direkt neben der Gastroküche, die ich für die Zubereitung der Speisen fürs Catering nutzte. Dort setzte ich mich an den Schreibtisch und schaltete das Radio an. Schon jetzt, Mitte Oktober, trudelten erste Anfragen und Aufträge für Advents- und Weihnachtsfeiern ein. Ich verschaffte mir einen Überblick über den aktuellen Stand und machte eine Aufstellung der Lebensmittel, die ich benötigte. Einen Teil davon bezog ich nicht hier vor Ort, sondern ließ sie von einigen ausgewählten Direktherstellern aus Italien, Frankreich und Österreich liefern. Vor allem Obstbrände, Weine, diverse Essigsorten und Öle, Oliven und eingelegtes Gemüse und Obst sowie besonderes Gebäck und diverse Pasta-Sorten. Im Laufe der Jahre hatte sich mit einigen Erzeugern eine enge Zusammenarbeit entwickelt.

Die Lebensmittel mussten bald bestellt werden, damit ich sowohl für das Catering als auch für den Laden genug vorrätig hatte. Gerade in der Weihnachtszeit waren hochwertige Bioprodukte in kreativen, nachhaltigen Verpackungen beliebte Geschenke.

Zuerst orderte ich online verschiedene Obstbrände und Liköre bei einem Hersteller in der Wachau. Für eine bestimmte Sorte Marillenlikör hatte ich inzwischen sogar mehrere Stammkunden, die sich darauf verließen, dass ich immer ein paar Flaschen des wirklich sehr süffigen Getränks im Laden hatte.

Dann rief ich die Seite der Biomanufaktur Alessia in der Toskana auf. Ich war erst im letzten Jahr auf den Hof aufmerksam geworden, der von einer Italienerin und zwei Österreichern geführt wurde. Christoph Kaiser, dem Foto auf der Homepage zufolge ein gut aussehender Mann, schätzungsweise Mitte vierzig, war mein Ansprechpartner vor Ort. Dass er Österreicher war, machte die Bestellung überaus einfach, da musste ich nicht erst meine paar Brocken Italienisch zusammenkratzen. Von ihnen bezog ich bisher vor allem Öle, verschiedene Essigsorten, eingelegte Antipasti und Oliven.

Als ich durch die Produktliste scrollte, entdeckte ich, dass der Hof seit Kurzem auch verschiedene Pesto-Sorten und mediterrane Aufstriche im Angebot hatte. Ich beschloss, einige zu bestellen, um sie auszuprobieren. Beim Gedanken an Pesto cotto und schwarzen Olivenaufstrich auf würzigem Bauernbrot oder Linguini mit Pesto Genovese lief mir das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich meldete sich der Hunger zurück, der mir vorhin gründlich abhandengekommen war. Ich holte Annas halb aufgegessene Pizza aus dem Kühlschrank und futterte sie kalt, trank dazu ein weiteres Glas Wein, während ich munter diverse Produkte im Online-Shop ankreuzte und die Bestellung schließlich abschickte. Der Wein war lecker, auch wenn er mir inzwischen schon etwas zu Kopf gestiegen war.

Na und? Ist ja ohnehin niemand da, den es stört!

Ich rief gerade die Homepage des Weinguts Bernard Beaulieu im Elsass auf, um Weine und den besten Crémant zu bestellen, den ich jemals getrunken hatte, da kam eine Mail vom italienischen Biobauernhof. Zuerst dachte ich, es handele sich um die Auftragsbestätigung, doch dann las ich den Betreff: Fragen zu Ihrer Online-Bestellung.

Huch! Das ging ja schnell. Ich öffnete die Mail.

Liebe Frau Heubach,

herzlichen Dank für Ihre Bestellung über einen Warenwert von 25.110,30 Euro …

Waaaaas? Ich schluckte und musste den Betrag zweimal lesen! 25.110,30 Euro?! Aber wie …?! Aufgeregt las ich weiter.

… Eine Bestellung von 10.000 Gläsern Limettenpesto wäre zwar ein toller Auftrag für uns, würde aber die Kapazität unserer kleinen Biomanufaktur derzeit sprengen …

Dahinter stand ein Zwinker-Smiley.

… und bevor wir unseren Laden auf Massenproduktion umstellen, möchte ich sicherheitshalber doch nachfragen, ob es sich bei der Stückzahl vielleicht um einen Irrtum handeln könnte?

Nächtliche Grüße aus Bella Italia an den Chiemsee!

Christoph Kaiser

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Der Tag heute hatte es echt in sich. Was würde mir denn noch alles passieren? Gut, dass es bald Mitternacht war und ich alles abhaken und morgen auf einen besseren Tag hoffen konnte. Aber dieser Christoph Kaiser schien immerhin Humor zu haben. Rasch tippte ich eine Mail zurück:

Lieber Herr Kaiser,

offensichtlich ist mir bei der Bestellung ein gewaltiger Fehler unterlaufen. Es sollten natürlich nicht 10.000 Stück, sondern nur 10 Stück sein, wie bei den anderen Pesto-Sorten auch. Danke, dass Sie mich umgehend auf den Irrtum aufmerksam gemacht haben, bevor in zwei Wochen ein Lastwagen mit Paletten voller Pesto vor meinem Laden steht und ich mir eine größere Lagerhalle anmieten muss.

Entschuldigen Sie bitte die nächtlichen Annehmlichkeiten!

Herzliche Grüße aus Bayern in die Toskana

Ilona Heubach

Puh, das war gerade noch mal gutgegangen. Das nächste Mal würde ich Bestellungen nur noch in völlig nüchternem Zustand tätigen, nahm ich mir vor. Für heute machte ich besser mal Schluss mit der Büroarbeit. Wein und Crémant konnte ich auch morgen noch ordern. Doch bevor ich den Rechner herunterfuhr, kam eine weitere Mail von Christoph Kaiser.

Liebe Frau Heubach,

Sie müssen keine zusätzliche Lagerhalle anmieten. Die Bestellmenge ist korrigiert. Der Gesamtwert beläuft sich nun auf 235,20 Euro plus Porto. Die Lieferung geht am kommenden Montag an Sie raus. Und für die nächtlichen Annehmlichkeiten müssen Sie sich nicht entschuldigen

– Zwinkersmiley –

Ein netter Freud'scher Versprecher übrigens.

Schöne Grüße

Chris

Ich las seine Nachricht noch mal. Nächtliche Annehmlichkeiten? Freud’scher Versprecher? Was meinte er denn damit? Außerdem hatte er nur noch mit seinem abgekürzten Namen unterschrieben.

Ich überflog meine eigene Mail noch einmal. Hitze schoss mir ins Gesicht. Ich hatte tatsächlich nächtliche Annehmlichkeiten geschrieben. Wie peinlich!

Rasch tippte ich erneut:

Auf jeden Fall ist der Kontakt zu Ihnen tatsächlich sehr angenehm, Herr Kaiser, trotz meiner offensichtlichen nächtlichen Aussetzer.

Herzlichst, Ilona

Ich hatte die Mail kaum verschickt, da klingelte mein Firmentelefon. Eine Nummer mit einer italienischen Vorwahl wurde angezeigt. Ich hob ab.

»Delikatessen Ilona Heubach«, meldete ich mich, ganz die korrekte Geschäftsfrau, mit nur leichtem Zungenschlag, der hoffentlich unbemerkt blieb.

»Und hier ist Chris Kaiser von der Biomanufaktur Alessia … Ich dachte, da Sie ohnehin noch wach sind, könnten wir doch auch einfach telefonieren? Diese Tipperei ständig macht echt keinen Spaß. Vor allem nicht, wenn man schon zwei, drei Gläser Wein getrunken hat.«

»Normalerweise mache ich das ja nicht, wenn ich arbeite …«, begann ich mich zu rechtfertigen, bis mir aufging, dass er wohl gar nicht mich damit gemeint hatte. »Also, äh, stimmt, ich finde es auch einfacher zu telefonieren, ohne Wein … also ich meine …«, stotterte ich herum.

»Sie haben heute also auch schon etwas getrunken?«, folgerte er amüsiert. Seine Stimme war warm und wohltönend. Und der österreichische Dialekt charmant. Sympathisch!

»Ich war mit zwei Freundinnen zum Essen verabredet«, erklärte ich ungefragt. »Aber es gab einen Notfall, weshalb der Abend ziemlich abrupt endete, und da ich noch nicht schlafen gehen wollte, dachte ich, ich arbeite noch ein wenig. Das hätte ich wohl besser bleiben lassen.«

»Und kein Partner, den es stört, dass Sie noch so spät am Schreibtisch sitzen?«, fragte er und setzte gleich darauf hinzu: »Scusi – ich sollte nicht so neugierig sein.«

»Ach, schon gut«, winkte ich ab. »Nein, kein Mann, den das stört. Ich kann so lange am Schreibtisch sitzen, wie es mir gefällt!«

»Schön … also, ich meine, ich finde es auch gut, wenn einem niemand dreinredet.«

Er ist also auch Single?

»Ich war bei einer Weinprobe bei befreundeten Weinbauern hier in der Nähe«, fuhr er fort. »Aber wir sind heute Abend wohl Leidensgenossen, auch mein Abend hat unerwartet früh geendet – das Gastgeberehepaar hat sich so heftig zerstritten, dass alle sich früh auf den Heimweg gemacht haben, um sich aus der Schusslinie zu bringen.«

Ich musste lachen.

»Das war echt nicht lustig, sondern sehr unangenehm«, beteuerte er.

»Kann ich mir vorstellen. War der Wein denn wenigstens lecker?«, fragte ich.

»War er. Da gab’s nichts zu meckern«, antwortete er. »Ein wunderbar würzig-fruchtiger Chianti.«

»Bei mir gibt es Bardolino«, verriet ich, und wir stellten fest, dass wir durchaus einen ähnlichen Geschmack hatten. Schon nach kurzer Zeit waren wir zu einem freundlichen Du übergegangen. Ich erfuhr einiges über die Biomanufaktur, über Produkte, die demnächst auf die Angebotsliste kamen, und die Olivenernte, die bald beginnen würde und in diesem Jahr besonders ertragreich zu werden versprach.

»Wie hat es dich denn überhaupt dorthin verschlagen?«, wollte ich wissen.

Chris erzählte mir, dass seine jüngere Schwester Claudia sich vor drei Jahren bei einem Urlaub in der Toskana in die Olivenbäuerin Alessia verliebt hatte.

»Claudia ist Malerin, arbeitet aber auch viel auf dem Hof mit«, erklärte er.

»Und du wolltest deine Schwester nicht alleine in die Toskana ziehen lassen?«, hakte ich nach und schenkte mir noch einen großzügigen Schluck Wein ein.

»Sozusagen. Ich stand damals an einem Wendepunkt«, erklärte er. »Ich hatte mir ein kleines, aber recht erfolgreiches IT-Unternehmen in Salzburg aufgebaut. Es lief wirklich gut zu dieser Zeit. Genug Geld, eine Beziehung, von der ich dachte, sie sei stabil. Allerdings blieb durch die Arbeit kaum Zeit für private Dinge. So wie es halt bei vielen Selbstständigen nun mal ist.«

Wem sagst du das?

»Lange Rede, kurzer Sinn – die Beziehung ging in die Brüche, und plötzlich schien es mir unglaublich verlockend, etwas völlig Neues anzufangen. Ich verkaufte meine Firma und steckte einen großen Teil des Geldes in den Ausbau des Biohofes hier. Und es war die richtige Entscheidung«, endete er. »Ich fühle mich pudelwohl.«

»Das hört sich echt toll an«, sagte ich versonnen. So ein Leben in der Toskana konnte ich mir auch herrlich vorstellen.

»Und das Gute daran, ich bin viel an der frischen Luft, habe ausreichend körperliche Bewegung, die mir Spaß macht, und kann umso mehr das herrliche Essen genießen, das wir selbst produzieren, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen.« Er lachte vergnügt.

Es war das erste Mal während des Gesprächs, dass mir das Lächeln im Gesicht für einen Moment entglitt.

»Ja … Bewegung ist echt wichtig«, stimmte ich ihm zu.

»Total. Ich habe jahrelang kaum was anderes gemacht, als hauptsächlich am Schreibtisch zu sitzen. Man redet sich leider gern ein, dass man keine Zeit hat für Sport, weil immer so viel zu tun ist. Aber wenn der ganze Stress dann endlich abfällt und man zur Ruhe kommt, merkt man erst so richtig, wie ungesund man vorher gelebt hat.«

»Offenbar hast du noch rechtzeitig die Bremse gezogen. Das ist gut«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst darauf antworten sollte.

»Hab ich … Jedenfalls hörst du dich total energiegeladen an. Du machst sicher auch Sport?«, fragte er interessiert.

Für einem Moment wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Die Wahrheit, dass ich mich heute schon dabei überanstrengt hatte, nur um mich in ein Kleid zu quetschen, ganz zu schweigen davon, wie ich mich anschließend noch blamiert hatte, als ich wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken lag, der sich nicht hochrappeln konnte, wollte ich ihm sicher nicht auf die Nase binden.

»Ilona? Bist du noch da?«

»Klar.«

Plötzlich ritt mich der Teufel. Er sollte keine moppelige Frau vor Augen haben, wenn er sich mit mir unterhielt. Keine einsame Singlefrau, die mit ihrer Arbeit verheiratet war und deren Höhepunkt in einem riesigen Stück Käsekuchen oder einer neu entdeckten Serie auf Netflix bestand. Rasch nahm ich einen Schluck Wein, und bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, sagte ich: »Ohne Sport würde mir das Leben überhaupt keinen Spaß machen.«

»Dachte ich mir. Was machst du denn so?«