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Ruth Ryans scheint alles zu haben, was man sich wünschen kann: den perfekten Job, ein schönes Zuhause, Freunde. Doch gerade zu Weihnachten fühlt Ruth sich so alleine wie nie zuvor. Der Todestag ihres geliebten Vaters jährt sich zum ersten Mal, und am liebsten würde Ruth Weihnachten einfach ausfallen lassen. Doch dann beschließt sie, ihr großes, leeres Haus mit neuem Leben zu füllen. Sie lädt Fremde ein - Einsame, Verlassene und Vergessene -, um das Fest der Liebe gemeinsam zu feiern. Für alle ist dieser Akt der Nächstenliebe ein Geschenk. Doch das größte Geschenk bekommt am Ende Ruth.
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Seitenzahl: 469
Zum Buch
Weihnachten weckt in Ruth keine schönen Erinnerungen. Vor einem Jahr starb ihr Vater. Er hatte sie und ihre Schwester alleine großgezogen, nachdem die Mutter die Familie verlassen hatte. Seitdem hat sie zu ihrer Mutter keinen Kontakt. Und nun muss sie auch noch ohne ihren Vater klarkommen. Doch Ruth lässt sich nicht unterkriegen. Sie lädt Fremde ein, um gemeinsam mit ihnen Weihnachten zu feiern – Leser ihrer Kolumne in der Zeitung. Menschen, die mit den unterschiedlichsten Schicksalsschlägen zu kämpfen haben. Darunter ist auch Michael. Ihm hat Ruth in seiner dunkelsten Stunde geholfen. Ruth erinnert sich nicht an ihn, doch er hat nicht vergessen, was sie für ihn getan hat. Nun möchte er ihr etwas zurückgeben. Und plötzlich steht noch jemand an Weihnachten vor der Tür, mit dem Ruth überhaupt nicht gerechnet hat. Kann dieses Weihnachten bei allen Beteiligten die Wunden der Vergangenheit heilen?
Zur Autorin
Emma Heatherington liebt romantische Komödien, Rotwein, gemütliche Abende vor dem Kamin, Musicals und Nashville. Sie schreibt nicht nur Bücher, sondern auch Drehbücher, Songs und Theaterstücke und lebt mit ihrem Partner, dem Künstler und Singer-Songwriter Jim McKee, und ihren fünf Kindern in Donaghmore, Nordirland.
HarperCollins®
Copyright © 2019 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2018 by Emma Heatherington Originaltitel: »A Miracle on Hope Street« Erschienen bei: HarperImpulse, an imprint of HarperCollins Publishers, Ltd. London
Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: Dougal Waters / Getty Images, PJ photography, Aleksey Stemmer, tomertu / Shutterstock Redaktion: Carla Felgentreff E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959678919
www.harpercollins.de
Für meinen geliebten Daddy Hugh McCrory, den wahrscheinlich besten Vater der Welt
Ein einfacher Akt der Freundlichkeit kann manchmal die Welt verändern.
Acht Tage vor Weihnachten – ein Jahr zuvor
»Ich wette, es war der Ehemann. Am Ende ist es immer der Ehemann, nicht wahr, Dad?«
Mein Vater sieht aus, als würde er tatsächlich darüber nachdenken, wer der Täter in unserem Fernsehkrimi ist. Und obwohl ich weiß, dass er in der leeren Stille seines Kopfes mehr als eine Million Meilen weit weg ist, bin ich doch sicher, dass er trotzdem noch irgendwo da drin ist.
Ich weiß nur nicht, wo.
Ich beuge mich zu ihm hinüber und drücke seine Hand. Mir steigt der Moschusduft seines neuen Eau de Cologne in die Nase, ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk von seiner Freundin Mabel aus Zimmer 303, das nur ein kleines Stück den Flur runter liegt. Er schenkt mir im Gegenzug ein ausdrucksloses Lächeln, aber seine Augen funkeln leicht.
»Ich weiß, ich weiß, ihr Männer seid nicht alle schlecht«, sage ich scherzhaft, und mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als ich meinem Vater in die Augen sehe und dort zum ersten Mal seit einer Ewigkeit einen Schimmer seiner liebenswürdigen Persönlichkeit entdecke, die früher so hell strahlte, bevor diese gefürchtete Krankheit das Leben aus ihm herauspresste.
Solche Augenblicke, in denen er wieder ganz mein Vater ist, sind selten geworden. Ich höre es an seinem Lachen, sehe es an einem verschmitzten Lächeln, spüre es an seiner Umarmung oder erkenne es in seinen Augen, und ich klammere mich daran fest und koste es aus, wenn es tatsächlich einmal vorkommt.
Meistens schaue ich ihm einfach nur dabei zu, wie er sich in einem erwachsenen Körper immer mehr zu einem Kind zurückentwickelt, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute. Es bringt mich um, mit anzusehen, wie er langsam von innen heraus verschwindet.
»Es wird Zeit, dass du einen Partner findest«, höre ich ihn in meiner Vorstellung sagen, ein Rat, den er mir gab, als ich mir nach seinem Schlaganfall, mit dem dieses ganze Siechtum begann, große Sorgen um ihn machte. »Und kümmere dich nicht um mich, hörst du? Du bist etwas ganz Besonderes, Ruth. Such dir einen guten Mann, einen guten Lebenspartner. Finde jemanden, der sich zur Abwechslung einmal um dich kümmert.«
»Ich weiß, was du denkst«, sage ich leise, als würde ich dieses Gespräch tatsächlich gerade mit ihm führen, »aber ich brauche niemanden, darum mach dir keine Gedanken, Dad. Ich habe dich und Ally, ganz zu schweigen von meinen zwei hinreißenden Neffen. Und du kannst mich nicht daran hindern, dass ich mich um dich kümmere. Das ist ehrlich gesagt das, was ich momentan am besten hinbekomme.«
Ich kann so tun, als würde ich eine richtige Unterhaltung mit ihm führen, aber sein Schweigen und sein glasiger Blick verraten mir, dass er in seiner ganz eigenen Welt ist. Ich nehme ihm das neue Eau de Cologne, das er fest umklammert hält, aus der Hand, befördere die Verpackung in den Abfalleimer und nehme dann wieder in meinem Sessel Platz, um jeden Moment dieser kostbaren Zeit mit meinem Vater zu genießen.
»Du riechst wirklich gut«, sage ich. »Du riechst genau wie –«
Ich unterbreche mich abrupt, weil ich die Worte einfach nicht über die Lippen bringe. Ich würde ihm gerne sagen, was ich gerade denke, aber ich kann nicht. Ich würde ihm gerne sagen, dass sein Eau de Cologne mich an glückliche Zeiten erinnert, an Sicherheit, an Geborgenheit, an jene unbeschwerten Tage, bevor in unserer Familie alles so furchtbar schiefging – als wir noch zu viert waren, ich, Dad, meine Schwester Ally und unsere Mutter.
»Ich habe diesen Duft nie vergessen, Dad. Er bringt gute Erinnerungen zurück«, ist das, was ich schließlich im Flüsterton herausbringe. »Wie nett von Mabel, dass sie dir dein Eau de Cologne geschenkt hat, nicht wahr? Ich hoffe, sie nimmt es uns nicht übel, dass wir es bereits geöffnet haben.«
Mein Vater wartete früher nie bis zur Bescherung, um seine Geschenke auszupacken, also habe ich seine Tradition fortgesetzt und das Duftwasser schon heute aus seiner hübschen Verpackung befreit, um ihn anschließend großzügig damit einzusprühen. Nicht dass ihm überhaupt bewusst wäre, dass bald Weihnachten ist beziehungsweise ob wir gerade Frühling, Sommer, Herbst oder Winter haben. Aber draußen sieht es definitiv winterlich aus. Auf der anderen Seite der Fenstervorhänge herrscht trübes Tageslicht, und ich lehne mich zurück und entspanne mich in der wohligen Atmosphäre – nur ich, mein Dad, der Duft seines Eau de Cologne, die Vorfreude auf Weihnachten und ein guter alter Poirot-Film im Fernsehen.
»Das ist schön gemütlich«, murmele ich, aber natürlich gibt mein Vater keine Antwort. Stattdessen starrt er nur lächelnd auf den kleinen Fernseher, und das genügt mir im Moment völlig.
Ich konzentriere mich wieder auf unseren belgischen Meisterdetektiv, und meine Hand wandert automatisch in eine Jumbotüte Chips und anschließend hoch zu meinem Mund, der daraufhin knirschend zu kauen beginnt. Das zufriedene Gefühl, das ich hatte, bevor der Duft des Eau de Cologne mich in die Vergangenheit zurückversetzte, stellt sich wieder ein, und ich strecke mich behaglich aus.
Dies ist für mich der Höhepunkt des Tages, und ich habe noch volle dreißig Minuten Zeit, bevor ich in das Hamsterrad meines anderen Lebens zurückkehre, das aus Deadlines am Schreibtisch meines Homeoffice, Terminen für Haarstyling und Make-up und einem künstlichen Lächeln für die Kameras besteht, plus was sonst noch so alles anfällt, wenn man eine berühmte Kolumnistin ist, die für die größte Zeitung der Stadt arbeitet. Ich ziehe meine neue flauschige Strickjacke etwas enger um mich, dann beuge ich mich vor, schiebe den Vorhang leicht zurück und sehe in den düsteren, frostigen Dezembernachmittag hinaus, der von meinem momentanen Standort aus auf der anderen Seite der Welt liegt.
Mir kommt in den Sinn, dass ich in vielerlei Hinsicht ein Doppelleben führe. Da ist zum einen die öffentliche Ruth Ryans, die für die Today schreibt, eine erfolgreiche Frau Anfang dreißig, halb irischer, halb italienischer Abstammung, ein prominentes Gesicht auf jeder bedeutenden Veranstaltung in der Stadt, wo sie sich turnusmäßig am Arm eines neuen Begleiters und in einem neuen Look präsentiert. Eine kurvige, durchschnittlich große Erscheinung mit braunen Haaren, einem freundlichen Gesicht und einer sympathischen Ausstrahlung, an die sich Männer, Frauen und auch Kinder mit ihren größten Sorgen und Ängsten wenden und die garantiert jedem zurückschreibt.
Dann gibt es die private Ruth Ryans – die Ruhige in der Familie; die Singlefrau, die nie richtig häuslich wurde, trotz zweier Heiratsanträge; die Fürsorgliche, Sanfte; diejenige, mit der man gerne zusammen lacht und Spaß hat, um sie anschließend, wenn sie wieder weg ist, aus der Ferne zu bewundern; diejenige, die mit ihren klugen Worten und Ratschlägen nach ihrem intelligenten Vater kommt; diejenige, die sich gerne hinter der öffentlichen Person versteckt, die hier in der Stadt zu einem Markenzeichen geworden ist – und diejenige, die nie über ihre Mutter spricht, nachdem diese an einem Sonntag vor vielen Jahren ohne jede Vorwarnung für immer fortgegangen ist.
Ich verdränge den Gedanken an meine Mutter sofort wieder, so wie ich es immer tue, wenn sie es wagt, mir durch den Kopf zu spuken, und konzentriere mich auf die Gegenwart, die mein Vater ist – derjenige, der uns nie im Stich gelassen hat und der jeden Moment meiner Zuwendung verdient. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, in der Gegenwart zu leben, auch wenn es furchtbar schwer ist, die Vergangenheit loszulassen.
Konzentriere dich, Ruth. Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt. Auf deinen tollen Job im öffentlichen Rampenlicht, auf dein herrliches Haus, in dem so viel Potenzial steckt, auf deinen Vater, den du über alles liebst, auf deine Schwester, die du vergötterst, auf die vielen Privilegien, die du genießt, auf die Orte, die du besuchst, auf die Menschen, die du triffst, auf deine Unabhängigkeit, auf deinen Einfluss. Konzentriere dich darauf.
Die Orte, die ich besuche … Früher reiste ich um die ganze Welt, aber heute ist meine Welt hier in diesem kleinen Zimmer, wo mein Vater nun zu Hause ist, und in den einsamen großen Räumen des vierstöckigen Altbaus am Rande der Stadt, wo wir alle einmal zu Hause waren. Ich habe dieses Zimmer hier im Pflegeheim für meinen Vater so eingerichtet, dass es an unser Haus auf der baumgesäumten Beech Row erinnert, in das er so viel Arbeit gesteckt hat und in dem er mich und meine Schwester großgezogen hat. Dieses Haus wird nun nur noch von mir bewohnt, und ich beobachte, wie es stiller und stiller um mich herum wird, wie es mir immer mehr die Luft abschnürt, nicht nur weil mein Vater es in eine Art Schrein verwandelt hat, sondern auch wegen meiner eigenen Erinnerungen. Meine Kindheit und Jugend teilen sich in das Leben vor ihr und das Leben nach ihr, getrennt durch eine Linie, die sich quer durch alles zieht, was ich mache und was ich bin.
Ich habe versucht, die Sinne meines Vaters wachzukitzeln, indem ich dieses Zimmer hier mit Familienfotos aus vergangenen Tagen geschmückt habe, mit eingerahmten Zeitungsausschnitten, die stolze Momente in seiner langen Karriere als hochgeachteter Universitätsdozent dokumentieren, mit Aufnahmen von meiner Abschlussfeier, auf der er unentwegt von einem Ohr zum anderen grinste, mit Bildern von Allys Hochzeit, als er die Braut stolz zum Altar führte, mit Schnappschüssen von meinen Neffen und mit Postern von seinen Lieblingsfilmen, wie Vom Winde verweht oder Casablanca. Sein Banjo hängt an der Wand, die alte Flöte, auf der er früher so gerne trillerte, glänzt poliert und stolz auf dem Regal neben dem Fenster, wo auch eine Topfpflanze und ein CD-Player stehen, daneben ein Stapel mit Dads alten Lieblingsalben.
Ich habe außerdem Lampen, die ein sanftes Licht verbreiten, einen kleinen flauschigen Teppich und ein Bücherregal angeschafft, das mit den Romanen und Autobiografien bestückt ist, die er früher so gerne verschlang, aber nun nicht mehr verstehen kann. Der Anblick seiner persönlichen Dinge in diesem Zimmer ist herzzerreißend und tröstend zugleich, quälende Schatten des Mannes, der er früher war und der, wie ich glaube, immer noch in ihm ist.
Dies hier mag nicht sein richtiges Zuhause sein, aber ich habe es ihm so gemütlich gemacht wie nur möglich. Es ist ein Ort, wo er eine Versorgung erhält, die ich nicht länger leisten kann, und es ist wie ein anderes Universum, wo man sich auf das Wesentliche beschränkt und einer festen Tagesordnung folgt. Ich fühle mich hier sicher und geborgen, fast wie in einem richtigen Familiennest, wenn man so will, obwohl es gerade einmal ein knappes Jahr her ist, dass meine Schwester und ich die Entscheidung getroffen haben, unseren geliebten Vater in Pflege zu geben, fern des behaglichen Lebens in unserem Haus, das Dad und ich zusammen bewohnten, solange er noch fit genug war.
»Dad, kann ich dir was zu trinken holen?«, frage ich, und er nickt fast unmerklich. Immerhin eine Reaktion, was in seinem benebelten Zustand, wo er mit Antworten auf die einfachsten Fragen kämpft, höchst begrüßenswert ist.
Dieser Ort hier ist gut für ihn, sage ich mir immer wieder. Es ist warm, es ist sicher, alles ist inzwischen vertraut, und vor allem hat Dad hier einen geregelten Tagesablauf, den ich ihm zu Hause nicht geben kann – auch wenn es mir dort zu leer und dunkel und still ist ohne ihn, ohne seine klugen Worte, seine philosophischen Ausführungen, seine vielseitige Musik und sein herzhaftes Lachen.
Mein Vater liebt Routine, und ich liebe sie auch. Ich klammere mich fest daran wie an ein Sicherheitsnetz, denn es beruhigt mich, zu wissen, was ich tun werde, wenn ich morgens aufwache und einem neuen Tag ins Auge sehe.
Dienstage wie heute beginnen mit einer frühen Morgenrunde um den Block und einem Frühstück, danach bearbeite ich bis zum Mittag die Zuschriften in meinem Online-Kummerkasten, fahre dann für ein, zwei Stunden zu Dad, kehre anschließend wieder nach Hause zurück an meinen Schreibtisch, komme später wieder hierher zum Bingo-Abend und bringe schließlich meinen Vater ins Bett. Wenn das getan ist, fahre ich zurück nach Hause, setze mich noch einmal für zwei, drei Stunden an meinen Schreibtisch und löse weiter Probleme der Einwohner dieser Stadt, und zum Schluss schicke ich meinen täglichen Bericht an meinen Redakteur, bevor auch ich schlafen gehe.
Die meisten Abende unter der Woche laufen so ähnlich ab, und wenn nicht gerade Dienstag ist, nehme ich Termine in meinem anderen, meinem öffentlichen Leben wahr: eine endlose Liste von Produkteinführungen, Filmpremieren, Dinnereinladungen und sonstigen Möglichkeiten zur »Profilbildung«, auf die meine Verlegerin und Chefin, die berüchtigte Margo Taylor, pocht, damit die Zuschriften der Leser nicht abreißen, die davon überzeugt sind, dass ich mit meinen klugen Worten dazu beitragen kann, ihre Welt zu verbessern.
Hier, in der Behaglichkeit dieses Zimmers, ist der Tagesablauf präzise wie ein Uhrwerk und Welten entfernt von dem Leben, das ich draußen führe, weshalb mir diese Momente mit meinem einzig wahren Helden, meinem lieben Dad, heilig sind. Früher ähnelte sein Leben meinem, denn auch sein Tag hatte nie genügend Stunden, um seinen beruflichen Pflichten als Dozent und Tutor und seinen privaten Pflichten als Vater nachzukommen, der für mich und meine Schwester sorgte und kochte und wusch und der immer sicherstellte, dass wir alles hatten, was wir brauchten.
Ich konzentriere mich wieder auf Poirot und meine Chips und warte darauf, dass Dad mir wie früher sagt, ich solle leiser kauen, aber natürlich nimmt er meinen Lärm nicht mal mehr wahr. In seinem Kopf herrscht nun größtenteils ein Durcheinander aus Gesichtern, fernen Orten und wahllosen Gedanken, die er in einem gebrochenen Kauderwelsch zum Ausdruck bringt. Er ist in einem Nebel des Vergessens verloren, und nur wir, die ihn lieben und sich an den Mann erinnern, der er einmal war, leiden sehr darunter, mit anzusehen, wie sein ganzes Ich innerlich zerbröckelt.
Als der Abspann rollt, stelle ich den Ton des Fernsehers leiser, höchst zufrieden mit mir selbst, weil tatsächlich der Ehemann das tödliche Verbrechen begangen hat, und für einen Moment stelle ich mir vor, wie viel aufregender es wohl wäre, eine Detektivin zu sein statt eine viel beschäftigte berühmte Kummerkastentante, ein Job, an den ich eher zufällig geriet, nachdem die Leser eines Artikels über erfolgreiche Strategien zur Bewältigung einer Trennung der Redaktion die Tür eingerannt und nach mehr verlangt hatten. Ist es eine schlechte Idee, seinen Beruf zu wechseln, wenn man sich gerade auf der Erfolgsspur befindet und mit zweiunddreißig Jahren schon ziemlich weit oben steht? Wahrscheinlich würde ich nichts daran ändern, selbst wenn ich könnte. Oder doch?
Ich muss an meinen größten Traum denken. Ich träume davon, aus diesem Leben, das ich kenne, auszusteigen und ans Meer zu ziehen, in ein Cottage, wo ich nach Herzenslust schreiben würde, zum Klang der Wellen, die ans Ufer schwappen, während über mir Möwen durch die Luft gleiten. Vielleicht würde ich sogar Gästezimmer vermieten, und ich würde mir Zeit für die Menschen nehmen, die bei mir übernachten, ihnen zuhören und wahrscheinlich versuchen, ihre Probleme zu lösen, denn das ist das, was ich am besten kann.
Ich checke kurz mein Handy, und eine Nachricht von meiner Schwester erinnert mich an meine Pläne für den Abend.
»Rate mal, wer dich heute Nachmittag besuchen kommt«, sage ich zu meinem Vater, der mit einem Lächeln und unschuldigen großen Augen zu mir zurückstarrt, als würde es nicht wirklich eine Rolle spielen, weil es für ihn auch nicht wirklich eine Rolle spielt. Er hat keine richtige Vorstellung mehr von wer oder warum oder wann.
»Elena«, sagt er und hebt seine gebrechliche Hand, um mein Gesicht zu berühren.
Das ist keine Antwort auf meine Frage, sondern er verwechselt mich wieder einmal, und mein Herz steht kurz still, so wie immer, wenn er den Namen meiner Mutter erwähnt. Ich lege meine Hand auf seine und atme tief durch. Das ist das einzig Gute an seiner Demenz: Er weiß nicht mehr, dass sie ihn verlassen hat. Trotzdem werde ich jedes Mal, wenn er ihren Namen sagt, aufs Neue an die Hölle erinnert, die er durchmachte, als sie ging.
»Es tut mir sehr leid, Dad, aber sie kommt nicht zurück«, sage ich, ein Satz, den ich nun schon seit vielen Jahren wiederhole. Mein Vater hat immer darauf beharrt, dass sie es sich eines Tages anders überlegen würde, aber mir wurde bald klar, dass das reines Wunschdenken war.
Plötzlich fröstele ich, trotz der behaglichen Wärme im Raum, und als Dad meinen Blick erwidert, werden meine Augen feucht. Ich schüttele lächelnd den Kopf, in vielerlei Hinsicht froh darüber, dass er vergessen hat, wie lange es her ist, dass wir sie gesehen haben, und wie schmerzhaft ihr Weggang vor all den Jahren war. Unsere Mutter verschwand ausgerechnet dann, als wir sie am meisten brauchten, mitten in der Pubertät, und ich weiß nicht, ob ich ihr das jemals verzeihen kann.
»Ich kann heute ausnahmsweise nicht zum Bingo kommen, aber Ally wird mich vertreten! Deine Super-Ally?«, sage ich mit einem strahlenden Lächeln, und seine Mimik spiegelt meine wider. Ich mustere seine blauen Augen, seine glatte Stirn, während er mit schräg gelegtem Kopf jedes Wort von mir aufzusaugen scheint, obwohl er nur sehr wenig von dem versteht, was ich über meine Schwester zu sagen habe. Super-Ally und Super-Ruth … zusammen mit Dad waren wir ein richtiges Superhelden-Team.
Meine Kehle schnürt sich zu, ein altvertrautes Gefühl, und meine Unterlippe fängt an zu zittern, während ich in die kränklichen Augen meines Vaters blicke, die so weit von mir entfernt sind.
»Ich wünschte, du könntest mit mir reden, Dad«, sage ich. »Bitte sag irgendwas. Du fehlst mir so sehr. Warum bist du so weit weg?«
»Habe ich gerade jemanden sagen hören, dass er den Bingo-Abend verpassen wird?«, fragt eine vertraute Stimme, und als ich den Kopf hebe, sehe ich Oonagh hereinkommen, eine der Pflegerinnen, die sich sehr fürsorglich um meinen geliebten Vater kümmert. Sie schlägt die Decke auf seinem frisch bezogenen Bett zurück und stellt einen Krug Wasser und ein sauberes Glas auf sein Tablett.
»Glauben Sie mir, Oonagh, ich würde lieber zum Bingo gehen als zu meinem Pflichttermin«, erwidere ich. »Die bloße Vorstellung, mich in Schale zu werfen und mir ein Lächeln aufzumalen, bereitet mir Qualen, außerdem soll es nachher noch schneien. Wie geht es Ihrer Familie? Ist die Vorfreude auf Weihnachten schon groß?«
Angesichts der Gelegenheit, mir von ihren Kindern zu erzählen, leuchten Oonaghs Augen auf. »Nun, Harry kann sich nicht entscheiden, ob er sich Sachen von Superman oder von Spiderman wünscht. Ein klassischer innerer Konflikt«, antwortet sie lachend. »Und Moira, na ja, Hauptsache, ihre Geschenke haben mit Musik zu tun. Wo werden Sie dieses Jahr Weihnachten feiern, Ruth?«
Ich will gerade antworten, aber sie kommt mir zuvor.
»Sie wissen doch sicher, dass auch die Angehörigen unserer Bewohner auf unserer Weihnachtsfeier willkommen sind«, erklärt sie. »Wir haben ehrenamtliche Helfer, die für Musik und Unterhaltung sorgen, und als besonderes Highlight bekommen wir sogar Besuch vom Weihnachtsmann. Ich habe dieses Mal frei, weil ich im letzten Jahr Dienst hatte, aber wir haben hier wirklich immer eine schöne Feier.«
Ich sehe zu Dad, der keine Ahnung hat, worüber wir gerade reden, und immer noch auf den Fernseher fixiert ist.
»Ah, das klingt wirklich gut«, sage ich zu Oonagh, »aber unsere Familie feiert dieses Jahr bei mir. Wir werden Dad an Weihnachten nach Hause in die Beech Row holen.«
»Nun, das ist eine viel bessere Idee«, sagt Oonagh zustimmend. »Sie haben mir erzählt, wie sehr er sein Haus und seinen Garten immer geliebt hat.«
»Ja, es war früher einmal ein ziemlich besonderer Ort«, sage ich mit einem abwesenden Lächeln. »Meine Schwester kommt mit ihrem Mann und ihren Kindern, ich freue mich schon richtig darauf. Wir werden Weihnachten ab jetzt immer zusammen in unserem Elternhaus feiern, so wie früher. So, wie es Dad gefallen würde.«
Wir schauen beide zu ihm hinüber, während er weiter unschuldig dasitzt wie ein Kind und die tanzenden Farben im Fernsehen beobachtet, die in seinem müden Kopf sehr wenig Sinn ergeben. Oonagh hat einen sentimentalen Punkt bei mir erwischt, und ich blinzle die Tränen zurück. Ich denke daran, wie ich früher immer an Weihnachten nach Hause zurückkehrte, egal, wo auf der Welt ich mich gerade aufhielt. Das Haus platzte dann vor lauter Weihnachtsschmuck förmlich aus allen Nähten. Mein Vater wollte kompensieren, dass wir ein Ein-Eltern-Haushalt waren, und übertrieb es dabei maßlos.
»Na dann, erzählen Sie mal, wo Sie heute Abend wieder eingeladen sind, dass Sie unser Bingo sausen lassen?«, wechselt Oonagh taktvoll das Thema. »Ich mache übrigens immer fleißig Werbung für Ihre Kolumne, und ich erzähle jedem, der mir zuhört, dass ich Sie persönlich kenne. Sie sind also meine offizielle Promifreundin.«
Wir müssen beide lachen.
»Es ist wahr!«, beteuert sie. »Ich bin schon ganz gespannt, was Sie zu Ihrem nächsten öffentlichen Auftritt anziehen. Aber Sie können wirklich alles tragen, Sie sehen immer aus wie ein Filmstar.«
Ich erröte leicht. Mir wird ewig ein Rätsel bleiben, warum Frauen meines Alters sich so brennend dafür interessieren, wo ich hingehe und was ich dazu anziehe. Ich bin nicht gerade ein dünnes Supermodel, aber vielleicht ist es gerade das, was ihnen an mir gefällt. Ich verkörpere ein Schönheitsideal, das sie selbst erreichen können, nur dass ich öfter zum Friseur gehe und meine Kleider für elegante Anlässe gesponsert bekomme.
»Es ist eine Filmpremiere mit … wie heißt sie noch gleich?«, antworte ich auf Oonaghs Frage. »Sie wissen schon, diese neue Komödie über Meerjungfrauen. Sie läuft heute an, und im Filmpalast auf der Hope Street findet eine große Eröffnungsfeier statt. Ich habe zugesagt, ohne zu berücksichtigen, wie das Wetter wird und dass Meerjungfrauen eigentlich gar nicht mein Ding sind.«
Oonagh keucht beeindruckt auf. »Wow, nun, wenn meine Moira das hören würde, wäre sie grün vor Neid! Der Film scheint wohl ziemlich lustig zu sein«, sagt sie. »Na schön, dann amüsieren Sie sich gut, hören Sie? Und machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben hier alles unter Kontrolle, nicht wahr, Anthony?«
Mein Vater reagiert auf seinen Namen, und Oonagh und ich wechseln einen Blick wie stolze Eltern. Schon seltsam, wie er in einem Moment voll da zu sein scheint, und im nächsten ist er wieder verschwunden.
»Wenn ich nicht in einem Kleid und hohen Absätzen durch den Schnee stöckeln müsste, würde ich mich wahrscheinlich mehr darauf freuen«, sage ich, wie immer bemüht, diese Events herunterzuspielen.
»Ach was, Sie sind ein Glückspilz!«, erwidert Oonagh mit einem warmen Lächeln. »Ich würde jederzeit mit Ihnen tauschen. Mein Abend wird sicher nicht so aufregend, das kann ich Ihnen sagen!«
»Das glauben Sie«, brumme ich. »Ich hätte eher Lust auf einen gemütlichen Abend im Pyjama mit einem knisternden Kaminfeuer und einem Glas Rotwein als auf eine Filmpremiere im Schnee.«
Aber Oonagh ist nicht überzeugt. »Oh, ich kann von einem Leben wie Ihrem nur träumen, Ruth Ryans«, hält sie dagegen. »Große Eröffnungsfeiern mit Promis, Dinnerpartys, Fotoshootings, ein schöner Mann nach dem anderen an Ihrer Seite, und praktisch überall in der Stadt prangt Ihr Name! Sie leben den Traum aller Frauen, und Sie wissen es.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sage ich. Oonagh wird später nach Hause gehen, so wie immer, in ihre warme, bescheidene Doppelhaushälfte am Stadtrand, und mit ihrer Familie zu Abend essen. Dann wird sie mit ihrem Mann die Nachrichten schauen, mit ihren Kindern die Hausaufgaben durchgehen und ein bisschen aufräumen, bevor sie den Abend vor dem Fernseher ausklingen lässt und schließlich früh zu Bett geht, um am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu fahren. Manchmal sehne ich mich nach einem so einfachen Leben, aber ich kann nicht bestreiten, dass ich die Vorteile und Möglichkeiten, die mir mein Bekanntheitsgrad verschafft, durchaus schätze, darum würde ich es nie wagen, Vergleiche zu ziehen oder mich zu beklagen. Ich habe Karriere gemacht, und als mein Vater krank wurde, zog ich wieder bei ihm ein, damit er Hilfe hatte. Mein Liebesleben geriet in den Hintergrund, oder besser gesagt: aufs Abstellgleis. Es mangelt mir zwar definitiv nicht an Gelegenheiten, aber der Richtige ist mir einfach noch nicht begegnet, und außerdem läge mir im Moment nichts ferner.
Oonagh lässt uns schließlich wieder allein, immer noch davon überzeugt, dass ich ein Traumleben führe, und ich richte die Decke, die über dem Schoß meines Vaters liegt.
»Dad, ich muss heute Abend zu einer Veranstaltung, ich werde also nicht mitbekommen, ob du beim Bingo gewinnst«, erkläre ich ihm. »Aber Ally wird nachher bei dir sein und deine beiden Enkelsöhne mitbringen. Sie wird mir hinterher sicher detailliert berichten, wie es war. Vergiss nicht, auf Mabel aufzupassen, falls sie wieder schummelt. Du weißt ja, wie sie ist.«
Ich scherze natürlich, und er lächelt und hebt seinen Daumen.
»Ich hab dich lieb, Daddy. Wir sehen uns morgen«, sage ich und gebe ihm ein Küsschen auf die Wange. »Bis dann, okay?«
Seine Augen werfen Fältchen an den Seiten, und er schaut an mir vorbei zum Fernseher, was mich daran erinnert, den Ton wieder lauter zu stellen, bevor ich gehe. Dad spricht nur noch ganz wenig, und seine Worte sind nicht immer leicht zu interpretieren, aber wir haben unsere kleinen Zeichen, die wir beide verstehen.
Ich hoffe, dass er tief in seinem Innern noch weiß, wer ich bin und wie viel er mir bedeutet.
»Auf Wiedersehen, Dad«, sage ich an der Tür, aber er steckt bereits in einem anderen Teil seiner neuen Routine und lacht über die Zeichentrickfiguren im Fernsehen, also lasse ich ihn damit allein.
Ich gehe aus dem Zimmer, und wie immer presse ich die Lippen fest aufeinander und halte die Tränen zurück, bis ich in meinem Wagen sitze. Erst dann öffne ich die Schleusen.
»Hier drüben, Miss Ryans! Schauen Sie bitte hierher! Danke, Miss Ryans!«
»Ruth! Hier drüben! Ruth!«
Ich lasse mein strahlendstes Lächeln aufblitzen und winke in die Kameras. George, mein Begleiter an diesem Abend, legt seinen Arm fest um meine Schultern (ein bisschen zu fest für ein erstes Date, wenn man berücksichtigt, dass wir uns im echten Leben erst seit wenigen Minuten kennen), dann kehren wir den Blitzlichtern und dem leichten Schneefall auf der Hope Street den Rücken. In der stickigen Luft des Foyers drängen sich gebräunte, makellose und parfümierte Körper, und wir suchen die Menge nach bekannten Gesichtern ab, während wir weitere fünfzehn Minuten im Ruhm schwelgen.
»Ruth, Darling! Du hast es geschafft!« Margo Taylor gibt mir Luftküsse, bewundert mein Kleid, gerät über meine Schuhe ins Schwärmen, berührt entzückt meine Halskette und rückt mir sehr dicht auf die Pelle, aber ich wage es nicht einmal, anmutig einen Schritt vor ihrer aufdringlichen Art und ihren faltigen kalten Händen zurückzuweichen. Ich bin ihr Wunderkind, ihre Entdeckung, ihr Baby, ihr ganzer Stolz. Ohne sie wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin, und ohne mich wäre sie … sagen wir einfach, wir wissen beide, wie wichtig es ist, dass wir uns gegenseitig Honig um den Mund schmieren, also ziehe ich nach.
»Du siehst wie immer umwerfend aus, Margo.«
»Das will ich auch hoffen«, antwortet sie und lacht gackernd. »Ich friere zwar erbärmlich in dieser Kälte, aber dieses Outfit ist so viel wert wie ein kleines Land. Morgen geht natürlich alles wieder zurück in die Boutiquen. Es hat seine Vorteile, nicht wahr?«
Ich nicke und lächle und lache an den richtigen Stellen. Mit Margo Taylor legt man sich nicht an, und ich weiß, dass Tausende freiberufliche Autorinnen sofort bereit wären, den Preis eines kleinen Landes zu zahlen, nur um einen Moment in Margos Gesellschaft zu verbringen und die Karriere voranzubringen.
»Und Sie sind bestimmt der schöne Landschaftsgärtner«, sagt sie zu George. »Wie reizend, dass wir uns endlich kennenlernen! Ruth hat mir alles über Sie erzählt, und ich muss sagen, Sie sehen noch viel umwerfender aus, als ich Sie mir vorgestellt habe.«
George wendet seinen Blick ab, peinlich berührt.
»Das ist George«, korrigiere ich sie über das laute Stimmengewirr hinweg und schenke ihr einen bedeutsamen Blick, aber sie wird nicht einmal rot. »George Gallagher. Er arbeitet in –«
»Mischa, Darling!«
Und damit lässt sie uns stehen. Zurück bleibt nur ein schwaches Echo ihrer schnarrenden Stimme in der stickig warmen Lärmkulisse, und ich bin froh, dass sie im richtigen Moment verschwunden ist, weil ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann, womit George seinen Lebensunterhalt verdient. Ich muss an meinen Vater denken, eine Welt entfernt in seinem kleinen Zimmer, und spüre eine leichte Beklemmung in dieser Menge der Bedeutungslosigkeit.
»Tut mir leid«, sage ich zu George, der meinen Fauxpas offenbar bereits vergessen hat, so wie er die spärlich bekleidete Hostess angafft, die uns in diesem Moment Champagner anbietet. Ihre Arbeitskleidung, in der sie, passend zum Thema des Films heute Abend, wohl eine Meerjungfrau darstellen soll, lässt der Fantasie sehr wenig Raum, und automatisch ziehe ich meinen Bauch ein und straffe die Schultern. Ich komme mir richtig altbacken vor in meinem kleinen Schwarzen, das mich ein verdammtes Vermögen gekostet hat und das, verglichen mit dem Outfit der Hostess, trotzdem wie ein Müllsack aussieht.
»Ich habe Ihnen mal geschrieben«, raunt die Meerjungfrau mir zu, als ich an dem Glas Champagner nippe, das sie mir gegeben hat. »Wegen Stress mit einem Typen natürlich. Ist schon länger her, aber ich habe damals Ihren Rat befolgt.«
»Ach, wirklich?«, sage ich, aufrichtig überrascht. »Was habe ich Ihnen denn empfohlen?«
»Dass ich den Mistkerl zum Teufel jagen soll!«, antwortet sie über den Lärm hinweg, ein bisschen zu laut, und ich sehe, dass Margo, die mit ein paar Leuten in der Nähe steht, ihren Kopf reckt. Die Meerjungfrau schlägt erschrocken ihre Hand vor den Mund und kichert. »Sorry, ich wollte nicht so schreien.«
Ich muss lachen und schaue zu George, der, offenbar immer noch von den Brüsten der Hostess geblendet, nichts von unserem Gespräch mitbekommen hat. Ich nehme mir im Stillen vor, ihn nie wieder als Begleiter einzuladen. Wieder einer, der dran glauben muss.
»Sie müssen eine absolute Beziehungsexpertin sein«, sagt die Hostess bewundernd zu mir. »Meine Mum liest regelmäßig Ihre Kolumne. Sie lebt nach Ihren Ratschlägen, und manchmal zitiert sie Sie sogar, ich schwöre bei Gott.« Sie bekreuzigt sich auf ihrer üppigen Brust, um ihre Worte zu unterstreichen.
»Wow, danke«, sage ich. Ich bin aufrichtig gerührt, trotz der Ironie ihres Kompliments. Es ist wirklich schön, ein Feedback von meinen Lesern zu erhalten, und es kommt nicht oft vor.
»Mein Dad sagt immer, sie soll aufhören, alles zu glauben, was in der Zeitung steht. Er sagt, wenn Sie in Beziehungen so toll Bescheid wüssten, hätten Sie selbst eine.« Sie schlägt wieder ihre Hand vor den Mund, als hätte sie zu viel gesagt, und reißt verzweifelt ihre braunen Augen auf.
»Ist schon okay«, sage ich. »Ihr Vater hat vielleicht nicht unrecht.«
Ich nehme mir rasch ein zweites Glas Champagner vom Tablett, bevor sie es außer Reichweite bringt, und sie geht weiter. George gafft ihr hinterher. Ich werde wohl härteren Stoff benötigen, um diesen Abend mit offenherzigen Meerjungfrauen und Georges Ausziehblicken zu überstehen. Ich muss an Menschen wie Oonagh denken, die jetzt mit ihren Liebsten auf dem Sofa kuschelt, und an mein großes leeres Haus, das auf mich wartet und das mit nicht viel mehr als Erinnerungen an vergangene Tage gefüllt ist. Der Vater der Meerjungfrau hat einen Nerv getroffen. Es stimmt, ich bin schlecht in Beziehungen jeglicher Art. Richtig schlecht. Ich kann’s einfach nicht. Ich kann Menschen außerhalb meines engsten Umfelds offenbar nicht nah an mich heranlassen, und man muss weder ein Genie sein noch Psychologe, um zu wissen, warum.
Die Menge strömt langsam in Richtung Saal, und George und ich folgen den anderen und greifen uns auf dem Weg kostenloses Naschzeug und Popcorn. George legt seine Hand auf meine Schulter, und ich mache eine subtile Bewegung, um sie abzuschütteln. Der zweite Champagner steigt mir in den Kopf, und ich frage mich, welcher Wochentag heute ist. Richtig, Dienstag. Bingo-Abend in Dads Pflegeheim … Ich hasse es wirklich, dass ich das verpasse. Mein schlechtes Gewissen frisst mich auf. Vermutlich wäre es niemandem aufgefallen, wenn ich heute zu dieser Premiere nicht erschienen wäre. Warum habe ich nicht einfach gesagt, dass meine Schwester in der Stadt ist und ich Zeit für meine Familie brauche? Sei’s drum, nun bin ich hier. Lebe in der Gegenwart, wie mein Vater immer sagte, und betrachte nichts im Leben als selbstverständlich.
»Amüsierst du dich?«, frage ich George, der nicht viel mit mir gesprochen hat, seit wir aus dem Taxi gestiegen sind, trotz seiner überfreundlichen Hände. Mit seinem offenen Mund sieht er aus wie ein überwältigter Schuljunge, was bei einem Mann seines Kalibers mehr als nur ein bisschen unvorteilhaft wirkt. Er war doch bestimmt schon mal auf einem C-Promi-Event, wo Soap-Darsteller, alternde Popstars und das eine oder andere Mediengesicht wie ich auf der Gästeliste stehen, oder nicht? Ich meine, das hier ist kaum Hollywood …
»Mir war nicht bewusst, dass du so bekannt bist«, sagt er und zeigt ein sehr unattraktives dümmliches Grinsen. »Die Leute starren dich alle an und reden über dich. Es ist, als wärst du tatsächlich eine Berühmtheit oder so.«
Eine Berühmtheit oder so?
Holt mich hier raus!
Ich hätte wissen müssen, dass es mit George nicht funktioniert, als er mir erzählte, dass er dreißig Minuten zu früh vor meinem Haus stand und im Taxi wartete, weil er Angst hatte, sich zu verspäten und von mir ausgeladen zu werden. Anscheinend steht er auf Meerjungfrauenfilme.
»Ich verschwinde mal kurz, bevor der Film anfängt«, sage ich zu ihm, erleichtert darüber, dass wir gerade an der Damentoilette vorbeikommen und ich seiner langweiligen Gesellschaft für einen Moment entfliehen kann.
Im Waschraum checke ich mein Handy und sehe, dass ich zwei Anrufe von meiner Schwester verpasst habe. Bestimmt wollte sie mir vom neuesten Highlight in Dads Fantasiewelt erzählen oder mir sagen, dass sie es im Pflegeheim stinklangweilig findet und sich wundert, wie ich es dort jeden Tag aushalte. Ich rufe sie kurz zurück.
»Zwei dicke Ladys, die 88!«, rufe ich scherzhaft in den Hörer, als sie sich meldet. »Sag nichts! Ihr habt den Jackpot geknackt!«
»Nein, Ruth –«
»Hat Mabel wieder im falschen Moment ›Bingo‹ gerufen? Ich wette, du findest sie genauso reizend wie –«
»Ruth! Herrgott, ich versuche schon seit einer Ewigkeit, dich zu erreichen!«, unterbricht sie mich schroff. »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«
Ich schaue auf mein Display, aber da ist nichts. Allerdings habe ich hier einen ganz schlechten Empfang.
»Nein. Was ist los, Ally? Ist was passiert?«
Ihrem Ton nach zu urteilen, ist dies kein Höflichkeitsanruf.
»Es ist wegen Dad«, sagt sie, und ihre Stimme klingt nun panisch. »O Ruth, es war furchtbar! Er saß einfach nur da, und dann fing er meinen Blick auf, und ich wusste sofort, dass er Schmerzen hatte.«
»Was!?«
»Ruth, er hat wahrscheinlich einen Herzinfarkt. Er ist jetzt auf dem Weg in die Notaufnahme, und ich fahre ihm gleich hinterher.«
»Aber ich war heute Mittag noch bei ihm und –«
»Ich hol dich in zehn Minuten ab, okay?«, sagt sie. »Warte vor dem Kino auf mich. Ich komme so schnell ich kann, aber im Moment schneit es wie verrückt. Geh schon mal raus und warte dort auf mich.«
Mein Körper schaltet auf Autopilot um, und ich stopfe das Handy in meine Handtasche, verlasse den hell erleuchteten Waschraum und dränge mich mit gesenktem Kopf durch die schafähnliche Menge, ignoriere Hallos und Geflüster. Als ich George endlich finde, erkläre ich ihm, dass ich sofort gehen müsse, ein Notfall in der Familie, und bitte ihn, zu bleiben, ohne seine Antwort abzuwarten.
Nicht mein Dad. Bitte nicht. Nicht mein geliebter Daddy.
Draußen bleibe ich im Schneegestöber stehen, während mir ein scharfer Wind entgegenpeitscht. Scheiße, ist das kalt.
Die Temperaturen liegen unter null, wie die Meteorologen vorhergesagt haben, und mein warmer Atem bildet Wolken. Frierend stehe ich da und trete von einem Bein aufs andere, den Kragen meines falschen Pelzmantels hochgezogen bis zum Kinn. Ich versuche zu verarbeiten, was ich gerade erfahren habe. Was wird uns erwarten, wenn wir im Krankenhaus ankommen? Ich wusste, ich hätte heute Abend nicht ausgehen sollen. Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn ich bei Dad gewesen wäre, so wie sonst immer? Vielleicht ist er wegen irgendetwas in Panik geraten, und ich war nicht da, um ihm zu helfen?
Die Blitzlichter und der ganze Trubel von vorhin sind nun verschwunden, ich stehe mutterseelenallein auf der Hope Street und warte auf meine Schwester. Schneeflocken wirbeln im gelben Schein der Straßenlaternen umher, und aus der Ferne dringt das Summen eines Weihnachtschors zu mir. Ich schließe meine Augen und versuche, ruhig zu bleiben, aber ich zittere am ganzen Körper vor Angst und Schuld und Kälte, und ich bete zu Gott, dass Ally rasch hier eintreffen wird.
»Bitte beeil dich«, murmele ich, während ich auf den Zehen hin und her wippe. »Bitte, Ally, komm.«
Sekunden fühlen sich an wie Minuten, Minuten wie Stunden. Mir reicht’s, ich kann hier nicht länger herumstehen. Es ist bitterkalt, und ich bin zu nervös, um länger zu warten, also hole ich mein Portemonnaie aus der Handtasche und beschließe, ein Taxi anzuhalten, obwohl ich weiß, dass Ally nicht mehr weit sein kann. Mit einem Zwanzig-Pfund-Schein in meiner kalten Hand versuche ich, einen nahenden Taxifahrer auf mich aufmerksam zu machen, aber er braust an mir vorbei, ohne meine Verzweiflung wahrzunehmen.
»Halt! Halt, bitte halten Sie an! Bitte, ich flehe Sie an!«
»Das sind doch Sie, nicht wahr? Von der Zeitung?«
Ich drehe mich um und sehe einen Mann, der vor dem Filmpalast auf dem Boden kauert. Er ist in eine dicke weinrote Decke gehüllt und hat eine grüne Wollmütze tief in die Stirn gezogen. Sein restliches Gesicht wird von langen Haaren und einem Bart verdeckt. Er hockt auf einer Unterlage, die wie ein feuchter Schlafsack aussieht, und ich zucke innerlich zusammen, weil der Mann schrecklich frieren muss. Dann höre ich ein Hupen hinter mir und drehe mich zur Straße, wo endlich die Scheinwerfer von Allys Wagen auftauchen.
»Danke, lieber Gott! Hier«, sage ich zu dem Mann und gebe ihm die zwanzig Pfund, mit denen ich das Taxi bezahlen wollte, und dann noch einen zweiten Schein aus meinem Portemonnaie. »Es ist nicht viel, aber es reicht für eine warme Mahlzeit. Sie sind bestimmt völlig durchgefroren, Sie Ärmster.«
Als er das Geld nimmt, streifen seine roten, kalten Finger meine Hand, und für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir uns in die Augen.
»Sie haben schlechte Neuigkeiten erhalten?«, fragt er, und mir wird bewusst, dass ich weine. Dann holt mich die Realität wieder ein, und ich stürme davon, während Ally erneut auf die Hupe drückt.
»Sie sind ein Engel!«, ruft er mir hinterher, bevor ich in den Wagen meiner Schwester steige. »Gott segne Sie! Danke! Haben Sie vielen Dank!«
Ich schaue zu ihm zurück und sehe, dass er ungläubig die beiden Scheine betrachtet, dann fängt er meinen Blick auf und lächelt.
Ich wünschte wirklich, ich könnte mehr für ihn tun, aber ich muss dringend ins Krankenhaus. Ich muss meinen Vater sehen, bevor es zu spät ist.
Doch als wir dort ankommen, ist es zu spät. Unser geliebter Vater ist für immer von uns gegangen.
Acht Tage vor Weihnachten – heute
»Hört bitte auf, über mich zu reden, als wäre ich nicht da. Ich kann euch hören, wisst ihr?«
Das Quietschen der Scheibenwischer, das Brummen des Motors, das Wummern aus den Boxen … Ich fühle mich betrunken, aber ich bin stocknüchtern; ich fühle mich krank, aber ich bin kerngesund; ich fühle mich unsichtbar, aber ich bin anwesend, hier im Wagen mit meinen Kollegen, auf dem Weg zur Pizzeria, am ersten Todestag meines Vaters, und mir ist heiß und eng. Ich wusste, dass das eine schlechte Idee war.
»Ich setze euch vor dem Restaurant ab und bringe sie dann wieder nach Hause«, sagt Gavin zu Bob, der Nora ansieht, während Gavin meinen Blick im Rückspiegel auffängt und mitleidig den Kopf schieflegt.
»Ich werde gleich wieder okay sein, versprochen«, sage ich. Heute ist unser Pizzaabend im Caprino, den wir einmal im Monat machen. Wir nehmen uns jedes Mal vor, spätestens um Mitternacht zu Hause zu sein, aber am Schluss landen wir fast immer bei mir und verquatschen die halbe Nacht, obwohl wir am nächsten Tag wieder arbeiten müssen.
Meinem Versprechen folgen unbehagliches Schweigen, noch mehr schiefe Blicke, noch mehr Nebel in meinem Kopf.
»Du bist gerade nicht in der Gegenwart, Ruth«, sagt Bob.
Mit seinen siebenundzwanzig Jahren ist er der Jüngste in unserer Runde, aber manchmal glaube ich, er ist der Klügste von uns allen.
»Sie sollte besser nach Hause.«
»Sie kann doch weinen, wenn ihr danach ist. Ruth, heul dir ruhig die Augen aus, wenn es sein muss, oder geh nach Hause, wenn dir das lieber ist. Weißt du, niemand zwingt dich mitzukommen. Dein Dad –«
»Macht mal halblang, Leute! Es ist noch nicht einmal siebzehn Uhr, und wir gehen nur eine Pizza essen und anschließend früh nach Hause. Ist ja nicht so, als hätten wir vor, sie abzufüllen, oder?«
Ich habe keine Ahnung, wer was sagt. Alles, was ich hören kann, sind Stimmen, die in meinem Kopf durcheinanderwirbeln.
»Es ist eine schwierige Zeit im Jahr, Ruth, das ist alles, was ich sage.« Da spricht wieder unser kluger Bob.
»Das Caprino wird im nächsten Monat auch noch existieren und im übernächsten, und ich bin mir sicher, du wirst über Gavins nicht vorhandenes Liebesleben und Noras endlose Eheprobleme schnell wieder auf dem Laufenden sein. Es ist nicht so, als würdest du groß etwas verpassen, wenn du lieber nach Hause möchtest.«
»Meine endlosen Eheprobleme?«, fragt Nora. »Du nimmst den Mund ganz schön voll, Bob. Wenigstens habe ich einen Mann!«
»Ganz zu schweigen von Bobs hypochondrischen Anfällen«, sagt Gavin, der Bob nie etwas durchgehen lassen kann. »Was ist es denn heute, Bob? Rückenschmerzen? Ein eingewachsener Zehennagel? Eine weitere Abfuhr von deinem Traummann?«
»Rückenschmerzen, wenn du es wissen musst«, erwidert Bob. »Ich schwöre, die plagen mich schon die ganze Woche. Warum glaubt mir nie einer? Du glaubst mir doch, Ruth, nicht wahr? Nicht wahr?«
Ich kann ihm nicht einmal antworten, lehne nur meinen Kopf an die Seitenscheibe und starre hinaus auf die weißen Linien, die vorbeirasen, während ich verzweifelt versuche, mich davon zu überzeugen, dass ein Essen mit meinen Kollegen genau das ist, was ich jetzt brauche, um mich zu berappeln und von diesem Tag abzulenken. Es ist mein Job, die Probleme anderer Menschen zu verstehen, darum wird ein Ausflug in die Pizzeria, wo ich mir die Klagen meiner Kollegen anhöre, nicht anders sein als das, womit ich mich sonst immer beschäftige. Ich kann das. Mein Vater würde sich wünschen, dass ich mitgehe.
Ein Bus kommt uns entgegen, auf dessen Seite mein lächelndes Konterfei prangt, und niemand zuckt mit der Wimper, auch dann nicht, als wir an einer Reklametafel vorbeikommen mit meinen gigantischen und, wenn ich das hinzufügen darf, stark retuschierten, überlebensgroßen Gesichtszügen. Meine »Fragen Sie Ruth Ryans«-Kolumne in der Today ist die mit Abstand beliebteste Seite, und dazu gebe ich jeden Sonntagnachmittag im City Radio Ratschläge zu Themen wie Familie, Partnerschaft, Gesundheit, Lebensführung, egal was. Ich kann andere mit geschlossenen Augen beraten, aber mit meinen eigenen Problemen bin ich offenbar überfordert. Mir selbst kann ich nicht helfen, nicht bei dieser überwältigenden Trauer, die einfach nicht weggeht.
»Es ist Zeit, dass sie wieder öfter privat was macht. Es kann sich nicht immer alles nur um ihre Arbeit und um dämliche PR-Termine drehen. Sie sollte hin und wieder etwas unternehmen, um sich abzulenken.«
Ich weiß, sie haben recht; ich habe ja versucht, mich abzulenken: Ich habe mich auf meine Arbeit konzentriert und auf das Positive in meinem Leben, ich habe mit jedem gesprochen, der mir zuhörte, aber hier bin ich nun, ein volles Jahr nach dem Tod meines Vaters, und ich bin nicht einmal fähig, diesen Minischritt zu machen und mit meinen Freunden Pizza essen zu gehen.
»Vielleicht ist sie depressiv. Ruth, kann es sein, dass du an einer Depression leidest?«
Sie reden einfach immer weiter, aber ich finde nicht die Worte, um zu antworten.
Vielleicht bin ich depressiv. Oder einfach nur ständig traurig. Gibt es da einen Unterschied? In dieser Jahreszeit geht die Sonne spät auf und früh unter, und das Letzte, was ich tun sollte, ist, alleine zu Hause zu hocken und ständig daran zu denken, was für eine Qual es war, mit anzusehen, wie mein Vater, ein ehemals starker, attraktiver, intelligenter Mann, vor meinen Augen dahinsiechte.
»Er wusste nicht einmal mehr meinen Namen«, sage ich laut, und dann tue ich genau das, was ich mir geschworen hatte, heute Abend nicht zu tun. Ich hole zitternd Luft und fange an zu schluchzen. Zaghaft drehe ich mich zu Bob, der mich mit seinem starken Arm an seine Brust zieht und es hinnimmt, dass ich sein gutes Hemd mit einer Mischung aus Schminke und Tränen ruiniere, während ich um den Mann weine, der in allen Lebensbereichen mein Held war.
»Ich fahre dich wieder nach Hause«, sagt Gavin. »Vielleicht sollten wir alle mitkommen und Pizza bestellen. Wäre dir das lieber, Ruth?«
Ich gebe keine Antwort, aber sie wissen, dass ich Ja meine. Ich massiere meine Stirn und schaue hinaus auf die Straße, und wir kommen erneut an einem Werbeplakat mit meinem lächelnden Gesicht vorbei.
Ruth Ryans löst Ihre Probleme, steht darunter, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich an all die Menschen dort draußen denke, die auf eine Antwort von mir warten.
»Tut mir leid«, murmele ich zu mir selbst. »Ich weiß nicht, ob ich noch länger in der Lage bin, jemandem zu helfen. Ich kann nicht einmal mir selbst helfen. Tut mir leid, wer ihr auch seid.«
Marian Devine
Marian Devine hatte seit einundzwanzig Tagen nicht mehr ihr Haus verlassen.
Im Normalfall hätte sie inzwischen ihre ganzen Weihnachtseinkäufe erledigt, einen saftigen Truthahn vorbestellt, einen preiswürdigen Kuchen gebacken, ihr Haus von oben bis unten festlich geschmückt und genügend Duftkerzen angezündet, um alles in einen feinen Zimtduft zu hüllen. Aber in diesem Jahr hatte sie nur eine Online-Bestellung bei einem der großen Supermärkte aufgegeben, und es waren auch bloß die üblichen Sachen gewesen, die sie jede Woche einkaufte. Kein Wein, keine Cracker, kein Käse, keine Cranberrysoße, keine Knallbonbons, deren Überreste sie noch Wochen später unter der Couch oder zwischen den Polstern finden würde. Es hatte keinen Sinn mehr. Sie schnappte keuchend nach Luft, als ihr bewusst wurde, dass sie in diesem Jahr niemanden hatte, mit dem sie an einem Knallbonbon ziehen konnte. Wie traurig. Wie unglaublich traurig, verglichen mit den Weihnachtsfesten, die sie früher mit ihrer Familie gefeiert hatte.
Marian nahm sich fest vor, möglichst positiv zu bleiben und sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie durfte nicht den Mut verlieren. War es nicht toll, dass man heutzutage Lebensmittel wie Milch und Brot und Fertigmahlzeiten im Internet bestellen und sich bis vor die Haustür liefern lassen konnte?
Ihre Tochter Stephanie hatte sie mit dem Internet vertraut gemacht, und sie hatte ihr außerdem einen E-Mail-Account eingerichtet, damit sie in Verbindung bleiben konnten, während Stephanie exotische Orte bereiste, von denen Marian nie zuvor gehört hatte und deren Namen sie nicht einmal aussprechen konnte. Rebecca, ihre Älteste, arbeitete in Afrika als Ärztin – ja, als Ärztin, ein Umstand, mit dem Marian und ihr verstorbener Mann gerne ein bisschen herumgeprahlt hatten; aber nun, da Billy tot war, hatte auch das für Marian seinen Reiz verloren, und außerdem hatte sie niemanden, vor dem sie prahlen konnte, seit sie nicht mehr fähig war, der Außenwelt gegenüberzutreten. Bedingt durch ihren Job war Rebecca schon seit ein paar Jahren nicht mehr an Weihnachten zu Hause gewesen, aber für Stephanie war es das erste Mal, dass sie fernblieb. Sie hatte an ihre Mutter appelliert, den Kontakt zu alten Freunden wiederzubeleben und Weihnachten nicht alleine zu verbringen, aber für Marian war es nicht so einfach. Schließlich brachte sie nicht einmal mehr den Mut auf, um ans Gartentor zu gehen.
Doch heute würde sie einen neuen Anlauf nehmen und versuchen, noch rasch Besorgungen zu machen, bevor die Geschäfte in dreißig Minuten schlossen. Draußen war es bereits dunkel, aber die Straßen waren beleuchtet und sicher, und außerdem war sie diesen Weg schon tausendmal gegangen, und es hatte ihr nie Probleme bereitet.
Sie zog vor dem Spiegel in der Diele ihren Lippenstift nach, richtete ihre weinrote Lieblingsmütze auf dem Kopf und versuchte, etwas Hoffnung in einem Gesicht zu erkennen, das in seinen achtundsechzig Jahren auf dieser Welt viel erlebt hatte. Bis vor einer Weile war sie für ihr Alter ziemlich fit gewesen, was hauptsächlich am Wanderverein gelegen hatte, den sie und Billy gegründet hatten, als sie beide im Ruhestand waren, und an den Golfstunden, die sie zusammen genommen hatten. Aber nun versetzte sie die bloße Vorstellung, sich Gladys und Cyril, Martin und Patricia und all den anderen Paaren anzuschließen, wenn sie Tagesausflüge zu Orten wie Donegal oder sogar bis nach Kerry machten, in Panik, und außerdem hatte sie durch das ständige Zuhausesitzen und Trübsalblasen zugenommen. Wer würde sie in ihrem miserablen Zustand schon sehen wollen? Sie hatte den anderen so oft einen Korb gegeben, dass das Telefon aufgehört hatte zu klingeln, genau wie ihre Türglocke. Die einzigen Menschen, mit denen sie hin und wieder ein paar Worte wechselte, waren Tim, ein Bursche Mitte zwanzig, der die Lebensmittel lieferte und wenig Interesse hatte, mehr mit ihr zu besprechen, als dass es statt Pink-Lady-Äpfeln Granny Smith gab oder dass ihr Lieblingsfrischkäse mit Schnittlauch ausverkauft war, sowie Derek, der Postbote, der immer nach Alkohol roch und ein rotes, verkniffenes Gesicht hatte, das praktisch nie lächelte. Auch Derek sprach nur das Nötigste mit ihr, und er konnte es immer kaum erwarten, von ihr wegzukommen, sobald er die Post übergeben hatte. Wenn sie sich traute, mehr zu ihm zu sagen als Danke, lief er wie ein verängstigtes Kaninchen davon. Ein komischer Kauz war dieser Derek.
Marian atmete tief durch, steckte sich ein extra starkes Minzbonbon in den Mund und sagte zu ihrem Spiegelbild, dass heute der Tag sei, an dem sie zumindest zum Postamt gehen und die Weihnachtskarten für ihre Töchter einwerfen würde, und vielleicht würde sie sogar einen kleinen Abstecher in dieses nette Café auf der Hope Street machen und sich Kokosmakronen und einen Kaffee bestellen, um ihre Stimmung zu heben.
Sie konnte das. Sie musste es tun, bevor sie sich noch selbst in den Wahnsinn trieb, indem sie ständig ihre vier Wände anstarrte und mit sich oder dem Fernseher redete.
Als sie an dem kleinen Tisch in der Diele vorbeikam, nahm sie das gerahmte Foto in die Hand – das, auf dem Billys blaue Augen in seinem gebräunten Gesicht leuchteten und auf dem er so gesund aussah, so voller Leben, in seiner Siegerpose auf dem Gipfel des Slieve Donard. Dorthin hatten sie vor etwas mehr als drei Jahren ihren ersten Wanderausflug mit der Gruppe gemacht. Marian stand strahlend neben ihm, die Arme um seine Taille geschlungen, den Kopf an seine starke Brust gelehnt, aber sie erkannte sich auf dem Foto nicht wieder. Damals war sie ein anderer Mensch gewesen, umgeben von Liebe und Familie und Freunden. Aber nun, auch wenn sie sich äußerlich kaum verändert hatte, abgesehen von ein paar zusätzlichen Kilos, war ihr dieses Strahlen abhandengekommen.
»O Billy, warum musstest du so früh gehen?«, sagte sie zu dem Bild, so wie sie es jeden Tag tat, wenn sie versuchte, das Haus zu verlassen. »Warum musstest ihr mich alle so früh verlassen?«
Dann nahm sie ihre Mütze wieder ab, so wie sie es jeden Tag in den letzten drei Wochen getan hatte, und ließ sie auf den Boden fallen. Sie wischte mit dem Handrücken die Farbe von ihren Lippen und verfluchte sich selbst, weil sie so ein Feigling war.
Es ist Weihnachten, mahnte sie sich selbst. Reiß dich zusammen! Du tust dir damit keinen Gefallen.
»Immer sachte, Mum«, hörte sie die Stimme ihrer Tochter sagen. »Solche Dinge brauchen Zeit. Lass es einfach langsam angehen.«
Marian stieß einen tiefen Seufzer aus und gab sich geschlagen. Sie war es allmählich leid, sich Zeit zu lassen. Wie lange würde es noch dauern, bis sie etwas so Simples fertigbrachte, wie zur verdammten Post zu gehen?
Sie würde sich einen Kaffee kochen und es morgen wieder versuchen, sagte sie sich, genau wie in den vergangenen einundzwanzig Tagen. Ihr Herz hob sich leicht, als ihr einfiel, dass sie ihre E-Mails checken könnte – wer weiß, vielleicht hatte die Kummerkastentante von der Today ihr inzwischen geantwortet. Marian liebte ihre Kolumne, ehrlich gesagt kaufte sie die Zeitung nur deswegen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, diese Ruth Ryans mit ihrer warmen Ausstrahlung und ihrer freundlichen Art zu kennen, die für alle wie eine beste Freundin zu sein schien.
»Wie groß muss meine Verzweiflung sein, Billy?«, murmelte sie und kniff die Augen zusammen, die in Tränen schwammen, während sie darauf wartete, dass das Wasser für den Kaffee kochte. »Ich bitte eine Frau, die gerade einmal halb so alt ist wie ich, um Rat, wie ich dieses Weihnachten überstehen soll, und ich warte sehnsüchtig auf ihre Antwort. So schlimm steht es schon um mich.«
Sie setzte sich an den Küchentisch und klappte mit zitternden Händen ihren Laptop auf, so wie sie es jeden Tag tat, seit sie Ruth Ryans geschrieben hatte.
Vielleicht würde sie heute von ihr hören. Es war nicht mehr lange hin bis Weihnachten, und Marian ging die Zeit aus, um eine Lösung zu finden, wie sie die Festtage allein überstehen sollte. Sie brauchte eine Antwort von Ruth, und sie brauchte sie schnell.
Sieben Tage vor Weihnachten
»O nein! Ich wusste, dass das passieren würde! Ich komme viel zu spät! Shit!«
Bob springt aus dem Sessel hoch, in dem er geschlafen hat, sammelt hastig seine Jacke, sein Handy und sein Portemonnaie ein und stürmt aus dem Zimmer. Der Gestank von kaltem Rauch und Alkohol weht an mir vorüber, während ich auf der Couch langsam mit pochendem Schädel zu mir komme. Bob ist bereits auf dem Weg nach draußen, und ich bin wieder einmal mir selbst überlassen. Am besten gehe ich gleich unter die Dusche, denn ich bin fest entschlossen, sämtliche Spuren der Trauer abzuwaschen und die Kraft zu finden, in meinem Homeoffice Zuschrift um Zuschrift durchzuarbeiten und zu entscheiden, wer zu den Glücklichen gehört, denen ich in meiner nächsten Kolumne oder Radiosendung meinen weisen Rat geben werde.
Ich höre, wie Bob die Haustür hinter sich zuknallt, und das Geräusch hallt in der leeren Stille wider. Eine Stille, an die ich mich eigentlich inzwischen gewöhnt haben müsste, aber das habe ich nicht. Diese Stille ist erstickend, sie ist erdrückend – und sie ist eine düstere Mahnung, dass ich nicht vorwärtskomme, nicht auf die Art, wie meine Schwester vorwärtskommt, und nicht auf die Art, wie ich es den Menschen vorspiele, die sich mit ihren Problemen an mich wenden.
Die Uhr tickt, und ich nicke wieder ein, bis ich schließlich schweißgebadet aufschrecke und mich kerzengerade hinsetze, so rasch, dass mir kurz schwummrig wird. Ich hatte wieder diesen Traum. O nein, ich hatte wieder diesen Traum mit ihr, und ich bekomme kaum Luft, weil ich die Bilder wie immer ganz klar vor Augen habe. Sie steht oben auf der Treppe und ruft mich, damit ich ihr mit dem Weihnachtsbaum helfe. Ich versuche, den Treppenaufgang zu finden, aber egal, welchen Raum ich in diesem großen, kalten, leeren Haus betrete, ich suche vergeblich. Ich kann den Aufgang nicht finden, und ich kann sie nicht finden. Sie ruft weiter nach mir und erklärt mir, dass sie die ganze Zeit hier gewesen sei, dass sie nie wirklich fortgegangen sei, dass sie immer noch irgendwo im Haus sei und ich sie einfach nur finden müsse.
Aber ich finde sie nie.