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Kann dich das Leben noch überraschen, auch wenn du glaubst, alles verloren zu haben? Juliette erfährt an ihrem 40. Geburtstag, dass ihr nur noch wenig Zeit bleibt. Ihr erster Gedanke gilt ihrer Tochter Rosie. Nicht mehr lange wird sie Rosie aufwachsen sehen, ihr beistehen, für sie da sein. Wer wird sie dann so lieben, wie nur eine Mutter es kann? Shelley hat Mühe, die Tage zu überstehen, seit ihre kleine Tochter starb. Gefangen in ihrem Schmerz stößt sie jeden von sich weg, auch ihren liebevollen Ehemann. Als sie Juliette begegnet, spürt sie deren Lebenswillen. Findet Shelley durch ihre neue Freundin den Weg zurück ins Leben? Und kann sie Juliette dabei helfen, sich den größten Wunsch zu erfüllen?
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Seitenzahl: 491
HarperCollins®
Copyright © 2019 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2018 by Emma Heatherington Originaltitel: »A Part of Me and You« Erschienen bei: HarperImpulse, an imprint of HarperCollins Publishers, UK
Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: FinePic / München Redaktion: Carla Felgentreff E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677981
www.harpercollins.de
Freitag
Queen Elizabeth Hospital, Birmingham, England
JULIETTE
Ich gewöhne mich gerade an die Vorstellung, dass ich jetzt vierzig bin, als ich erfahre, dass ich bald sterben werde. Seien wir ehrlich, viel absurder geht es nicht.
»So viel dazu, dass mit vierzig das Leben erst richtig anfängt«, sage ich zu meinem Arzt Michael, der mich zerknirscht ansieht. Ich schenke ihm ein nervöses Lächeln und ein Shit-happens-Achselzucken. Mein Gesicht erzählt eine Lüge. Meine Zunge erzählt eine Lüge. Ich versuche, so zu tun, als wäre ich okay, aber natürlich bin ich das nicht. Innerlich weine ich. Ich bin vierzig, und ich sterbe bald, und ich bin überhaupt nicht okay.
Ich starre auf den Boden, bis mir vom Teppichmuster schwindelig wird. Das Ticken der Uhr scheint immer lauter zu werden, während wir beide uns überlegen, was wir als Nächstes sagen sollen. Die lärmenden Uhrzeiger jagen sich im Kreis, verspotten mich, und mein Leben verrinnt wie die Stunden, Minuten, Sekunden … bis zum Stillstand.
Michael sieht mich an, als würde er auch gleich losheulen, und ihm fehlen ausnahmsweise einmal die Worte.
Wir haben einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt, seit wir vor drei Jahren diese Krebs-Odyssee zusammen antraten, und nun haben wir den Punkt erreicht, an den wir nie kommen wollten. Den Teil, wo Michael mir als mein Arzt sagt, dass wir nichts mehr tun können, dass die Reise für mich zu Ende geht. Den Teil, wo er mir als mein Freund sagt, dass trotz unserer Tour de Force durch die Therapien, trotz allen Leidens, Betens und Hoffens alles nur noch eine Frage der Zeit ist. Dass wir nur noch auf das Unvermeidliche warten können.
Wenn das mit dem Warten doch nur so einfach wäre – ich kann nicht bloß herumsitzen und Däumchen drehen. Es gibt noch so viele Dinge, die ich in meinem Leben machen möchte, und nun läuft mir die Zeit davon.
Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus auf die Dächer der Stadt. Aus Angst, ohnmächtig zu werden, wenn ich mich nicht auf so etwas Einfaches konzentriere wie das Atmen, öffne ich den Flügel und inhaliere die frische Luft. Wir brauchen hier schließlich nicht noch mehr Drama, richtig?
»Juliette, hast du schon mit deiner Familie darüber gesprochen?«, fragt Michael. Er spielt nervös mit seinem Kugelschreiber herum. »Ich meine, mir ist klar, dass du vor diesem Termin nicht sicher wissen konntest, wie das Ergebnis ausfallen würde, aber hast du deine Angehörigen trotzdem vorbereitet?«
Ohne ihn ansehen zu müssen, weiß ich, dass er zum dritten Mal, seit ich hier bin, seine Brille abgenommen hat, um sie zu putzen, nur damit seine Hände beschäftigt sind. Er ist immer furchtbar zappelig, wenn er schlechte Nachrichten übermitteln muss. Und das hier ist nicht nur eine schlechte Nachricht. Es ist die allerletzte Nachricht, die er mir jemals übermitteln wird. Dies ist der Anfang vom Ende.
»Meine Schwester weiß, dass ich heute hier bin, meine Mutter auch, aber sie erhalten die Hoffnung immer noch aufrecht. Für sie wird es ein Schock sein, auch wenn sie es insgeheim befürchten«, antworte ich.
»Und Rosie?«
O Gott.
»Rosie …« Meine Stimme versagt kurz, als ich den Namen meiner Tochter ausspreche. »Rosie glaubt, dass ich mir heute zum Geburtstag einen Wellnesstag mit meinen Freundinnen gönne. Sie hat keine Ahnung, was los ist … noch nicht.«
Wie soll ich es ihr bloß beibringen? Wie? Sie hat sonst niemanden, an den sie sich halten kann. Sie hatte immer nur mich.
»Und Dan?«
Michael sorgt wirklich dafür, dass die Nachricht bei mir ankommt, indem er die wichtigsten Menschen in meinem Leben aufzählt. Mein Mund wird trocken, als Dans Name fällt. Ich versuche zu antworten, aber es geht nicht.
»Um Himmels willen, Juliette, du musst es ihm sagen«, fährt Michael fort. »Der arme Mann dreht bestimmt schon durch vor lauter Sorge. Er gehört immer noch zur Familie, egal, was ihr durchgemacht habt.«
Ich drehe mich um und lehne mich mit verschränkten Armen gegen die Fensterbank. »Michael, du weißt genau, dass die Sache ein bisschen komplizierter ist«, sage ich, und er macht sein »Da musst du wohl durch«-Gesicht. »Oh, sieh mich nicht so an!«
»Dan und ich haben beide eingesehen, dass er mit mir und meiner Krankheit nicht klarkommt«, erinnere ich Michael. »Er hat seine eigenen Probleme, mit denen er fertigwerden muss. Ich werde es ihm schon noch sagen – nur halt nicht sofort. Zu seinem eigenen Besten, nicht zu meinem.«
Michael legt den Kopf in seine Hände. Dieses Chaos nimmt ihn fast genauso sehr mit wie mich – und was für ein Chaos es ist, wenn einem bewusst wird, dass man alles zurücklassen muss, was man liebt. Es ist, als würde man für eine Reise packen, die aber nirgendwo hinführt. Wie zum Teufel soll man für so etwas planen?
»Du kannst Dan nicht einfach außen vor lassen, Juliette«, sagt Michael. »Er geht bestimmt schon die Wände hoch vor lauter Verzweiflung. Weißt du überhaupt, wo er im Moment ist?«
Ich zucke mit den Achseln. »Vielleicht bei seiner Mutter? Oder bei seiner Schwester?«
Die Wahrheit ist, ich habe nicht den blassesten Schimmer. Ich weiß nicht, wo mein Mann ist, und im Moment ist das auch besser so – für mich, für ihn und für Rosie.
»Und du hast kein Problem damit, dass du es nicht weißt?«
Ich nicke und zucke wieder mit den Achseln. Was soll ich dazu sagen?
»Kann natürlich sein, dass sich das nach heute ändert«, erwidere ich schließlich. »Oder auch nicht. Ich muss zuerst gründlich darüber nachdenken, wie du sicher verstehen wirst – ich meine, du kennst mich mittlerweile ja fast so gut wie mein eigener Mann.«
Michael und ich haben schon vor einer ganzen Weile die Förmlichkeiten zwischen Arzt und Patient abgelegt und uns eingestanden, dass wir richtig gute Freunde geworden sind. Wir reden über alles, angefangen von amerikanischer Rockmusik über One-Pot-Lieblingsrezepte (Michael ist frischgebackener Single) bis hin zu unseren gemeinsamen irischen Wurzeln, und ich habe ihm sogar einmal Beziehungstipps gegeben – obwohl ich die Letzte bin, die so etwas tun sollte. Die Allerletzte. Wir haben auch viel gestritten, wenn es hart auf hart kam.
»Du bist die anstrengendste und sturste Person, der ich jemals begegnet bin«, sagt er jetzt und bringt ein leichtes Lächeln zustande. »Und das meine ich auf die nettestmögliche Art.«
»Ja, ja, ich weiß«, erwidere ich augenrollend. »Hör zu, ich brauche Zeit, um das alles in meinem Kopf zu sortieren, und danach werde ich mit Dan reden. Ich weiß, Zeit ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann, aber ich muss einfach … ich muss einfach erst in Ruhe überlegen. Ich habe diesen Moment immer gefürchtet, und obwohl ich wusste, dass er irgendwann kommen könnte, ist es ein gewaltiger Schock. Das Kranke daran ist, dass ich mich im Moment gar nicht krank fühle. Ich fühle mich gut! Wie grausam und paradox ist das denn?«
Es entsteht ein kurzes Schweigen.
»Die Symptome werden sich leider ziemlich bald bemerkbar machen«, sagt Michael. »Darum genieß die Zeit, solange du dich noch gut fühlst. Du hast natürlich Anspruch auf Palliativpflege, sobald es dir notwendig erscheint. Du musst dir dann überlegen, ob du zu Hause betreut werden möchtest oder im Hospiz, darüber haben wir ja schon gesprochen. Und wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie deine Schmerzbehandlung aussehen soll und welche Art von Medikamenten du nehmen möchtest.«
Die Uhr tickt wieder, so laut.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und wir beide wissen das.
»Was mache ich jetzt, Michael? Ich meine, ganz konkret: Was ist der nächste Schritt?«, frage ich. »Ich bemühe mich, tapfer zu sein, aber ich habe eine Riesenangst. Bitte sag mir, was ich tun soll. Wie geht es jetzt weiter? Wie fange ich damit an, mich auf mein Ableben vorzubereiten?«
So viele Fragen hängen in der Luft, als würden sie in einer Sprechblase über meinem Kopf stecken. Eine ganze Serie von Fragen, auf die niemand eine Antwort hat.
Das dachte ich jedenfalls.
»Fragst du mich als deinen Freund oder als deinen Arzt?«, erwidert Michael, der Schmerz hat sich in seine Augen eingebrannt.
»Ich frage dich als … als meinen Freund, schätze ich.«
Er schluckt. Er zögert. »Als deinen Freund«, murmelt er. »Okay, als dein Freund würde ich dir empfehlen, dass du dir eine Auszeit nimmst. Dass du alles für ein paar Tage hinter dir lässt, bevor es dir schlechter geht.«
»Was?«
Das ist nicht das, was ich erwartet habe.
»Fahr irgendwohin, wo du schon immer mal hinwolltest. Ich meine sofort. Heute ist dein Geburtstag, Juliette. Du kannst auch morgen fahren, aber tu es einfach«, sagt er. »Pack deinen Koffer und verschwinde für ein paar Tage, vielleicht sogar für eine ganze Woche, wenn du es einrichten kannst. Ich denke, du solltest etwas nur für dich tun.«
Ich rolle wieder mit den Augen.
»O Michael, das ist wirklich ein netter Vorschlag, aber ich kann nicht«, erwidere ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die Energie aufbringe, um in das nächste Flugzeug zu steigen, das mich zu irgendeinem exotischen Ziel bringt, während diese Zeitbombe in meinem Kopf tickt. Die Idee klingt gut, danke dafür, aber ich habe eine minderjährige Tochter, an die ich denken muss. Ganz zu schweigen von meiner Arbeit. Ich habe ein paar Beiträge zu schreiben. Gott, das klingt so belanglos in Anbetracht der Situation, oder? Arbeit. Wen kümmert seine Arbeit, wenn er bald sterben muss?«
Michael nimmt seine Brille ab, was bedeutet, dass er nun wirklich entschlossen ist. Er steht auf.
»Ich meinte natürlich nicht, dass du dich in irgendein exotisches Abenteuer stürzen sollst«, erwidert er. »Ich spreche nicht von New York oder den Bahamas oder von einem Trip zu den Niagarafällen, Juliette. Ich schlage dir lediglich vor, an einem ruhigen Ort abzuschalten … na ja, ruhiger als hier. Irgendwo, wo du in Ruhe in dich gehen und nachdenken kannst, wo du deine Zeit genießen und einen klaren Kopf bekommen kannst. Nicht zu weit weg, aber weit genug, um Abstand zu gewinnen. Das empfehle ich dir als dein Freund, nicht als dein Arzt. Du solltest dir diese paar Tage nehmen. Tu es einfach.«
»Tu es einfach …«, wiederhole ich, und diese drei simplen Worte hallen in meinem Kopf wider.
Ich weiß, Michael meint es gut, aber ernsthaft, eine Reise ist das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn steht. Ich muss diese ganze Katastrophe erst einmal meinem Kind erklären, muss seine Zukunft ohne mich planen; außerdem habe ich eine Schwester, die sich aus lauter Angst um mich die Haare ausrauft; ich habe verzweifelte Eltern, die vollkommen untröstlich sein werden; und ich habe Dan, meinen Mann, der … nun, Dan ist derjenige, um den ich mir nach Rosie am meisten Sorgen mache. Dan, meine große Liebe, mein bester Freund und der Mensch, der mich auf der ganzen Welt am besten kennt. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt fähig bin, ihn einzuweihen. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihm so viel Kummer zu bereiten, denn ich weiß genau, wie er darauf reagieren wird.
»Wie wäre es mit Irland?«, fragt Michael und holt tief Luft. »Du könntest die Fähre nehmen. Fahr zu diesem Ort, von dem du mir erzählt hast – wie hieß er noch gleich, Killarry? Du hast gesagt, es sei dort wunderschön. Das wäre doch toll, oder nicht? Vier, fünf Tage? Oder wenigstens ein langes Wochenende?«
Lieber Gott, hat er gerade Irland gesagt? Bei der bloßen Idee, dorthin zurückzukehren, habe ich Schmetterlinge im Bauch.
»Du meinst Killara«, korrigiere ich ihn, und ich schließe meine Augen. »Gott, Michael, sorry für das Wortspiel, aber das wäre, als würde ich in den Himmel fahren. Das Meer, die Ruhe, die friedliche Atmosphäre … und all die Erinnerungen. Ah, warum musstest du diesen Ort erwähnen?«
»Du hast immer so davon geschwärmt«, sagt Michael. »Es ist relativ schnell zu erreichen, aber weit genug weg, um den Alltag hinter dir zu lassen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Killara. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mein hübsches geliebtes Killara, mit dem ich einige meiner schönsten verrücktesten lebensverändernden Erinnerungen verbinde. Trotz meiner anfänglichen Ablehnung beginne ich nun, Michaels Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
»Denkst du, ich bin fit genug für so eine Reise?«, frage ich. »Einerseits wäre es wirklich seltsam, die ganzen Erinnerungen wieder aufleben zu lassen … andererseits wäre es vielleicht genau das, was ich brauche. Denkst du, ich kann das packen?«
Michaels Gesicht wirkt plötzlich nicht mehr begeistert. »Ah, okay. Dann doch lieber nicht nach Killara«, sagt er, denn er weiß genau, welche Erinnerungen ich meine.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
»Vielleicht ist Killara nicht der ideale Ort«, fügt er hinzu. »Vergiss meinen Vorschlag. Wie wäre es zum Beispiel mit Barry Island? Oder Weston-super-Mare? Caroline und ich haben dort einmal ein tolles Osterwochenende verbracht. Oder vielleicht sogar Blackpool?«
»Zu spät, du hast mir die Idee mit Killara bereits in den Kopf gepflanzt«, sage ich, und aus seinen Augen spricht Bedauern. »Ich wollte immer dorthin zurückkehren, das weißt du. Vielleicht ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Hätte ich es bloß nicht erwähnt«, brummt er. »Was habe ich mir dabei gedacht? Egal, Tenby zum Beispiel hat einen wunderschönen Strand, und da wärst du auch an deinem geliebten Meer.«
»Hör zu, Michael, ich habe nicht vor, alten Erinnerungen hinterherzujagen, so dumm bin ich nicht«, sage ich. »Selbst wenn ich tatsächlich nach Killara fahren sollte, wäre das kein Thema, und seien wir ehrlich, dafür ist es nun auch ein bisschen spät. Ich will kein unnötiges Risiko eingehen.«
Michael massiert seine Schläfen. »Soso.«
»Du hast es doch selbst vorgeschlagen!«, sage ich. »Also gut, natürlich wäre es ein Thema. Wie könnte ich nach Killara zurückkehren, ohne mich zu fragen, wo er ist? Würdest du das nicht? Das mit ihm ist eine Sache, der ich mich nie gestellt habe, über die ich nie mit jemandem gesprochen habe – abgesehen von dir und meiner Schwester, und natürlich weiß auch Dan grob Bescheid –, aber jetzt könnte genau der richtige Zeitpunkt dafür sein. Tatsächlich würde es sogar Sinn ergeben. Stell dir vor, ich könnte …«
»Juliette, bitte nicht«, unterbricht er mich. »Dein Timing, um nach ihm zu suchen, ist … Mir fällt das passende Wort nicht ein. Diese Art von Stress ist jedenfalls nicht gut für dich, das sage ich dir als dein Arzt.«
»Es wäre für mich ja nicht die oberste Priorität, ihn zu suchen«, sage ich. »Aber du stimmst mir doch sicher zu, dass es nicht schaden würde, die Geister der Vergangenheit ein für alle Mal zu begraben, ganz zu schweigen davon, Rosie ein paar Antworten zu liefern. Denkst du, ich kann diese Reise in meinem Zustand machen? Nach dem, was du mir vorhin eröffnet hast?«
Michael weiß, worauf meine Frage abzielt. »Nun, was ich dir gesagt habe, ist leider die unausweichliche Wahrheit«, antwortet er. »Dein Hirntumor ist eine tickende Zeitbombe, aber du wirst nicht über Nacht ins Gras beißen. Im Moment fühlst du dich gut, also wird eine Woche Urlaub keinen Unterschied machen.«
Wir können beide nicht anders, als über seine Wortwahl zu lachen. »Ins Gras beißen« klingt wie etwas, das alte Menschen tun, und nicht eine vierzigjährige Frau wie ich, der die ganze Welt offenstehen sollte.
»Da kommt mir eine tolle Idee!«, sage ich, als ein Geistesblitz mein nichtsnutziges, dahinsiechendes Gehirn trifft. »Ich könnte Rosie mitnehmen. Sie hat ab morgen Schulferien. Wir würden eine schöne Zeit miteinander verbringen, abseits von der Realität des Alltags. Vielleicht würde es ihr sogar helfen, weißt du, um irgendwie damit abschließen zu können, um zu verstehen, was auf uns zukommt.«
»Bist du sicher?«, erwidert er. »Auf die Idee, Rosie mitzunehmen, bin ich gar nicht gekommen. Das klingt gut, vorausgesetzt, du gräbst nicht nach alten Leichen im Keller. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um deinem Kind zu sagen, was damals …«
»O Gott, Michael, wie soll ich ihr diesen ganzen Mist überhaupt beibringen?«, sage ich und lege nun selbst den Kopf in die Hände. »Sie ist erst fünfzehn, verdammt noch mal! Sie will sich mit Jungs beschäftigen und mit Schminktechniken und damit, wie sie am besten an Karten für Ed Sheeran kommt – und nicht mit ihrer sterbenden Mutter. Mein armes Baby. Was soll ich ihr bloß sagen?«
»Nimm sie mit auf deine Reise«, sagt Michael, um meine Konzentration wieder auf den Urlaub zu lenken. »Verbring eine schöne Zeit mit ihr, wie du gesagt hast, wo auch immer das letzten Endes sein wird, und schenk ihr ein paar zusätzliche kostbare Erinnerungen, an denen sie festhalten kann.«
»Aber wie sage ich ihr, dass ich bald sterbe?«
Michael zögert. Das Wort »sterbe« hängt in der Luft.
»Du wirst es wissen, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, antwortet er leise.
»Meinst du?« Ich ziehe die Stirn in Falten und kneife meine Augen zusammen, um keine Tränen zu riskieren. Ich habe keine Zeit zum Weinen.
»Ich denke schon«, sagt er sanft. »Unternimm Dinge mit Rosie, die du hier nicht machen kannst, und nutze die Zeit mit ihr zum Abschalten und Entspannen.«
»O Michael.«
»Rede mit ihr, lies ihr etwas vor, geh mit ihr spazieren, schenk ihr ein paar letzte tolle Erinnerungen«, fährt er fort. »Mach Fotos und Videos oder greif zum Pinsel, verwöhn deinen Gaumen, lass einfach mal alle Fünfe gerade sein … Fahr mit Rosie an einen hübschen Ort, Juliette. Das ist das Beste, was du für sie tun kannst – ihr deine Zeit zu schenken. Du weißt ja, wie Kinder Liebe buchstabieren?«
»Z-E-I-T«, antworte ich. »Den Spruch hast du von mir, du Dieb.«
Er zuckt mit den Achseln. Aber er hat ja recht. Sein Vorschlag, so unrealistisch ich ihn zuerst auch fand, ist in Wirklichkeit hilfreich. Ich werde dieses triste Krankenhaus mit einem Ziel verlassen, etwas, an das ich mich klammern kann und das ich so schnell wie möglich in die Tat umsetzen werde. Michaels Idee gefällt mir gut. Ich werde gleich anfangen, Pläne zu machen. Ich bin gut darin, Pläne zu machen.
»Wirst du mich vermissen, wenn ich weg bin?«, frage ich ihn, während ich meine Handtasche und meine Jacke von der Stuhllehne nehme.
Er sieht mich an und stößt einen tiefen Seufzer aus, dann schüttelt er den Kopf und lacht ungläubig, weil er weiß, dass meine Frage zwei sehr verschiedene Bedeutungen hat. Wird er mich vermissen, wenn ich im Urlaub bin, oder wird er mich vermissen, wenn ich für immer fort bin?
»Nur du kannst auf so eine Frage kommen, Juliette Fox, nur du«, antwortet er. »Die bloße Vorstellung ist für mich so unerträglich, dass ich versuche, erst gar nicht daran zu denken. Du und ich, wir sind inzwischen so eng befreundet, ich vermisse dich ja schon, wenn du nach deinen Terminen hier verschwindest, ganz zu schweigen von …« Er lässt den Rest unausgesprochen.
Ich schließe meine Augen. »Nun, ich werde dich vermissen, so viel ist sicher«, sage ich, und in meinem Bauch macht sich ein riesiger Schwall Nervosität breit. Wir wissen nicht mehr, was wir sagen sollen, und wenden uns langsam zur Tür des sterilen Krankenhauszimmers, wo schlechte Nachrichten auf einer täglichen Basis überbracht werden.
»Diesen Raum und diesen Teppich werde ich nicht vermissen«, füge ich hinzu, im Bemühen, die Stimmung etwas aufzulockern. »Und tausch um Gottes willen dieses schreckliche Bild hinter deinem Schreibtisch aus. Du solltest dieses Zimmer wirklich freundlicher gestalten, und zwar pronto.«
Wir sehen beide zu dem Bild an der Wand. Es ist eigentlich gar nicht so schlimm, aber ich versuche, heute wenigstens in einer Sache die Oberhand zu gewinnen.
»Caroline hielt sich für eine echte Künstlerin, nicht wahr?«, sagt Michael, dann nimmt er das Bild herunter und lehnt es an die Wand, mit der Rückseite zu uns. »Bitte sehr. Erledigt.«
»Ich wette, du fühlst dich bereits besser«, sage ich und verschränke meine Arme.
Er lächelt mich an, und ich frage mich, warum in aller Welt seine Ex, die freigeistige Caroline, jemals glauben konnte, etwas Besseres zu finden als diesen umwerfenden, liebenswürdigen Mann vor mir.
»Du wirst mir fehlen. Ruf mich an, wenn du plaudern möchtest«, sagt er an der Tür. »Spätestens, wenn du aus Irland zurück bist, falls du dich doch dafür entscheidest.«
»Das werde ich, versprochen.«
Seine Augen füllen sich mit Tränen, und er beißt sich auf die Unterlippe. »Es tut mir so leid, Juliette. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun.«
»Schsch, bring mich bloß nicht auf die Palme«, erwidere ich, fest entschlossen, die Dinge trotz widrigster Umstände leichtzunehmen. Ich will nicht, dass Michael weint, aber mir ist klar, dass er sich die Augen ausheulen wird, sobald ich diese Tür hinter mir schließe. Er hat mir erzählt, dass ihm das oft passiert, wenn er seinen Patienten trotz aller Anstrengungen nicht mehr helfen kann.
»Genieß deinen Urlaub«, sagt er, und ich höre, wie seine Stimme unter der Last des Kummers bricht. »Nimm dir von nun an nur noch das Beste vom Besten, denn genau das hast du verdient, und nicht weniger. Ach, und Juliette?«
»Ja?«
Ich weiß, was jetzt kommt. Ich weiß genau, was er als Nächstes sagen wird.
»Sprich um Himmels willen mit Dan«, betont er noch einmal. »Finde ihn und sag ihm, dass du ihn noch immer liebst, bevor es zu … Du weißt schon, was ich meine.«
»Bevor es zu spät ist?«, vollende ich seinen Satz.
Er verzieht das Gesicht und nickt stumm. Nun weint er tatsächlich. Mein Arzt, mein guter alter Kumpel Michael, zerfließt in Tränen.
»O mein Gott«, sage ich leise. Ich lege meine Hand vor den Mund und schließe die Augen, um den Schmerz zu verdrängen.
Die Realität dieser Situation ist wie ein Schlag in den Magen, das nervöse Flattern kehrt in meinen Bauch zurück. Ich nicke zum Abschied, und meine Unterlippe beginnt zu zittern. Meine Augen brennen höllisch.
Das war’s dann also.
Ich werde tatsächlich bald tot sein.
Killara, Grafschaft Galway, Irland
SHELLEY
Der Apfelbaum in unserem Garten schwankt leicht, und ich starre durch das Fenster darauf, bis er vor meinen Augen verschwimmt. Ich kann mich nicht entscheiden, ob sein dreijähriges Bestehen mir eher guttut oder schadet. Im Moment geht es mir richtig an die Nieren, wenn ich ihn nur dort stehen sehe, lebendig und stolz, ohne dass ihm bewusst ist, was er repräsentiert, völlig blind für die Qualen, die ich immer noch durchmache, seit ich ihn zu ihrem Andenken gepflanzt habe.
Matts Arme schlingen sich von hinten um meine Taille, ich spüre seine weichen Bartstoppeln an meinem Hals. Sein vertrauter Geruch lindert den Schmerz ein wenig, und ich schließe meine Augen ganz fest, während ich den Tränen-Tsunami zurückdränge, der sich in mir aufbaut.
»Atme«, flüstert er und holt selbst tief Luft. »Du atmest nicht richtig, Shelley. Lass es raus, wenn es rausmuss. Lass deinen Tränen freien Lauf, wenn sie rausmüssen. Ich bin da. Ich bin bei dir.«
Er schaukelt mich sanft, bevor ich ihn wegschiebe, und als ich es schließlich rauslasse, ist die Tränenflut überwältigend.
»Es ist einfach so unfair«, presse ich zwischen erstickten Schluchzern heraus, aber mein Mann gibt keine Antwort, weil auch er immer noch gebrochen ist. Ich höre an seinem schweren Atem, dass ihn das hier umbringt. Die Grausamkeit des Ganzen, der tief verwurzelte Schmerz, der niemals weggehen wird, obwohl wir kämpfen, um mit dem Verlust fertigzuwerden, der unser Leben ruiniert hat.
»Wenigstens hattet ihr sie für drei kostbare Jahre«, sagten sie.
»Wenigstens musste sie nicht lange leiden …«
»Wenigstens … wenigstens … wenigstens …«
Aber es gibt kein Wenigstens, wenn es um Verlust geht.
Morgen hätten wir ihren sechsten Geburtstag gefeiert, mit Luftballons und Hüpfburgen und Prinzessinnen, aber stattdessen habe ich nichts weiter als ein leeres Haus, Kartons mit weggeräumten Fotos, die ich nicht ansehen kann, und einen Baum im Garten, der mich an sie erinnern soll. Es gibt kein Wenigstens.
»Lust auf einen Spaziergang am Strand, bevor ich fahre?«, fragt Matt, dreht mich um und wischt mit seinen Daumen meine Tränen weg. Wir sehen uns für ein paar Sekunden in die Augen, dann beugt er sich vor und küsst mich ganz sanft auf die Stirn. An Matts Brust gelehnt, lasse ich mich noch einmal fest von seinen Armen umschließen. Seine Wärme und sein Herzschlag erinnern mich daran, dass wir beide am Leben sind. Und dann, wie immer, lasse ich ihn los, kurz bevor ich mich besser fühle – weil ich es nicht verdiene, etwas anderes zu fühlen als Schmerz.
»Ein Spaziergang wäre schön«, antworte ich.
Matt weiß immer, was am besten ist, wenn der Klammergriff der Trauer unerträglich wird. Wenn ich unerträglich werde, sollte ich sagen. Ich weiß, dass die Risse in unserer Ehe allmählich hervortreten, egal, wie sehr ich sie verleugne, und egal, wie viel Geduld Matt aufbringt. Ich habe Angst, dass mir die Zeit davonläuft und dass ich ihn einmal zu oft wegschiebe.
Kurz darauf gehen wir schweigend den sandigen Strand von Killara entlang, nur begleitet vom Plätschern der Wellen und von Merlin, unserem Golden Retriever, der durch das Wasser streift.
Dieser Ort hier ist der wahrhaftige Himmel auf Erden, ein paradiesischer Fleck mit dem Hafen im Hintergrund und den weißen Sanddünen davor, auf die wir von unserem Haus, Ard na Mara, direkt hinunterblicken. Wir haben Ard na Mara entworfen, wir haben es gebaut, und wir haben seinen Namen sorgfältig gewählt: »Ard« ist das gälische Wort für Höhe, und »Mara« bedeutet Meer. Das Grundstück liegt auf der Spitze eines Hügels und hat einen Panoramablick über die Galway-Bucht. Ein Juwel, das Matt nur dank seiner geschäftlichen Kontakte ergattern konnte.
Die bunten Häuserfassaden des Dorfes wirken aus der Ferne wie ein lächelnder Regenbogen, in der Luft gleiten Möwen über uns hinweg, während die Abendsonne im Meer versinkt. Es ist hier in der Tat paradiesisch, und es ist unsere Heimat, aber für mich ist es inzwischen eine Heimat ohne Herz und ohne Seele. Sie ist leer, genau wie ich.
Beim Gehen schließe ich die Augen und verlasse mich darauf, dass Matt mich führt. Am liebsten würde ich mich an ihm festklammern, nur für den Fall, dass ich wieder abstürze, oder, schlimmer noch, für den Fall, dass er mich doch loslässt.
»Ich liebe dich immer noch sehr, Shelley«, sagt er, und sein perfektes Timing lässt mein Herz beinahe stillstehen. »Ich weiß, das alles ist ein Albtraum, aber ich liebe dich unendlich, egal, was passiert.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, aber innerlich fühle ich nichts. Ich wünschte, ich könnte ihm dasselbe sagen.
»Ich weiß manchmal nicht, wie du es mit mir aushältst«, ist alles, was ich hervorbringe. Das ist unser Standardspruch in schwierigen Situationen, den wir im Laufe unserer zwölfjährigen Ehe oft benutzt haben. Die Antwort darauf ist immer dieselbe.
»Du hältst es ja auch mit mir aus, also sind wir quitt«, erwidert er und küsst mich auf die Stirn. Auch wenn wir beide wissen, dass das weit von der Wahrheit entfernt ist, gibt es mir ein bisschen Auftrieb. Aber eigentlich ist mir durchaus bewusst, dass Matts Liebe in den letzten Jahren auf eine harte Probe gestellt wurde. Ich bin durch jedes erdenkliche Gefühl gegangen und habe alles an meinem Mann ausgelassen, obwohl er es nicht verdient hat. Bisher hat unsere Ehe das überstanden, was mir manchmal unerklärlich ist.
»Denkst du, dass es jemals einfacher wird?«, frage ich leise, und er wiegt den Kopf.
»Wir müssen selbst dafür sorgen«, antwortet er. »Ja, sie war unser Ein und Alles, und sie wird uns immer fehlen, aber wir müssen lernen, wieder zu leben, Shelley. Wir haben immer noch so vieles, wofür es sich zu leben lohnt, und ich möchte meine Frau zurückhaben. Ich brauche sie.«
Er hat recht. Er braucht seine Frau, und ich wünsche mir sehnlichst, diese Rolle wieder einzunehmen. Ich möchte seine Geliebte sein, sein Mädchen. Diejenige, die mit ihm zusammen lacht, bis ihr der Bauch wehtut, diejenige, bei der er sich zu Hause fühlt, die lustig und interessant ist und Jazz liebt. Die einen Bücherklub leitet, die ein bisschen hippiemäßig drauf ist, die sich beim Kochen richtig ins Zeug legt und unter jedem Vorwand die besten Feiern veranstaltet. Diejenige, die mit ihm barfuß in unserer Küche tanzt, wenn wir beschwipst sind und in verliebter Stimmung, diejenige, die sich an ihn schmiegt, wenn wir uns zusammen einen gruseligen Film anschauen, diejenige, die vorschlägt, spontan in den Urlaub zu fahren oder mit unseren Freunden einen Segeltörn zu machen oder eine Party zu geben, einfach weil es Samstag ist und das Leben so schön. Ich möchte gerne wieder diese Frau sein, aber sie ist verschwunden, und ich kann sie nicht wiederfinden.
Ich muss an mein Geschäft denken, die Vintage-Boutique in der Nähe des Hafens, die das ganze Jahr über Einheimische und Touristen anlockt und das Einzige ist, das mich in letzter Zeit davor bewahrt hat, vollkommen den Verstand zu verlieren. Ich habe sie »Lily Loves« genannt, lange bevor unsere Tochter geboren wurde. Ich mochte den Namen Lily schon immer – meine Großmutter mütterlicherseits hieß so, und sie war die eleganteste Frau, der ich jemals begegnet bin. Deshalb hatte ich immer das Gefühl, unsere eigene Lily schon zu kennen, bevor sie überhaupt auf der Welt war. Harry ist der Junge, den ich niemals hatte. Harry oder Jack. Ich stelle mir oft vor, wie unser Leben mit den Kindern aussehen würde, die ich durch Fehlgeburten verloren habe, bevor wir mit Lily gesegnet wurden, und es tröstet mich, wenn ich mir einfach nur ihre kleinen Gesichter ausmale. Wie hätten sie wohl ausgesehen? Ich hoffte, sie würden nach Matt kommen. Er hoffte, sie würden nach mir kommen.
Ich denke an Matts Talent, das ihn zu einem der gefragtesten Architekten im Land gemacht hat. Wir haben es seinem Beruf zu verdanken, dass wir so viel von der Welt gesehen haben. Matt ist jahrelang durch die Welt gereist, bevor wir uns kennenlernten, um sein Metier zu studieren und zu erforschen. Und als er nur wenige Monate, nachdem wir uns gefunden hatten, um meine Hand anhielt, wussten wir, dass dies hier der Ort war, an dem wir leben und unsere Kinder großziehen wollten. Matt hat Wolkenkratzer in den Niederlanden entworfen, Hotels in London und Häuser an den schönsten Orten Irlands, und ich habe das Glück, dass ich ihn manchmal begleiten darf, um die Früchte seiner Arbeit zu bewundern. Ich kann mich in vielerlei Hinsicht glücklich schätzen, und manchmal muss ich mir das in Erinnerung rufen.
Wir haben ein schönes Leben hier, direkt am Meer, an Irlands berühmtem Wild Atlantic Way, aber trotzdem macht es mich innerlich fertig, dass ich meinem Mann nicht das Eine geben kann, was wir beide uns am meisten wünschen: eine Familie.
»Bist du sicher, dass du alleine klarkommst, solange ich weg bin?«, fragt Matt, während Merlin an mir hochspringt und nasse, sandige Pfotenabdrücke auf meiner Hose hinterlässt. »Ich könnte Mum bitten, bei dir vorbeizuschauen und …«
»Nein, Matt, bitte, fang gar nicht erst damit an«, wehre ich ab. »Du weißt, ich bin lieber alleine.«
»Aber Shelley …«
»Kein Aber, Matt. Ich will deine Mutter nicht hier haben«, sage ich in scharfem Ton. »Ich will nicht, dass Eliza oder Sarah oder Jack oder die verdammte Jill, oder wer auch immer dir als Nächstes einfällt, nach mir sieht oder mich zum Essen ausführt oder mit mir einkaufen geht. Ich brauche niemanden, okay? Also geh bitte nicht hin und arrangiere etwas hinter meinem Rücken. Ich komme wunderbar alleine zurecht, und es ist mir wesentlich lieber, wenn man mich in Ruhe lässt!«
Die Tränen kommen, ich kann sie spüren. Matt schnaubt und kickt den Sand hoch.
»Ich versuche ja nur, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht«, fängt er wieder an, und seine Stimme klingt gekränkt.
Ich habe keine Argumente, um ihn zu besänftigen. »Es geht mir gut«, ist alles, was ich sagen kann.
»Dieses Mal werde ich eine ganze Woche weg sein, und was willst du sieben Tage lang machen, so mutterseelenallein? In dieser leeren Hülle von einem Haus Trübsal blasen und Tränen vergießen, bis du wieder krank wirst?«
Ich spüre, dass meine Unterlippe zittert, wenn ich nur daran denke, wie sehr ich mir selbst schaden kann, seit Lily gestorben ist.
»Bitte, Matt, hör auf. Ich möchte einfach alleine sein«, sage ich wieder. »Bitte, es ist besser so.«
Matts Gesicht verzieht sich sorgenvoll, aber er weiß, dass ich meine Meinung nicht ändern werde. Ich habe eine Routine entwickelt, um durch diesen Seelenschmerz zu kommen: Sie konzentriert sich darauf, dass ich tagsüber in meiner Boutique arbeite, wo ich mit den Kunden höchstens Small Talk über Mode oder das Wetter betreibe, und abends gehe ich nach Hause und mache mir etwas zu essen und trinke vielleicht ein Glas Wein dazu, um die Leere zu füllen, die ich permanent spüre. Danach lese ich ein bisschen oder drehe mit Merlin eine Runde am Strand, bevor ich schließlich ins Bett gehe. Ich mische mich nicht unter die Leute, ich suche keine Gesellschaft, und ich will auch keine. Noch nicht.
Die Sonne sinkt langsam am Horizont, ihr rotgoldenes Licht scheint meinem Mann ins Gesicht, während er mich verzweifelt ansieht.
»Wir sollten besser umkehren, sonst verpasst du noch deinen Flug«, sage ich und zause Merlin durch das Fell, der unbekümmert um uns herumhüpft. »Ich weiß, Matt, du meinst es gut, aber ich möchte lieber alleine sein. Bitte, mach dir keine Sorgen. Außerdem habe ich diesen großen Burschen hier, der auf mich aufpasst, stimmt’s, Merlin?«
Merlin bellt und springt beim Klang seines Namens noch höher. Matt zuckt nur mit den Achseln.
»Tut mir leid, dass ich eben so schroff zu dir war«, sage ich.
»Wieder«, sagt er. »Du meinst, es tut dir leid, dass du wieder so schroff zu mir warst.«
Und wieder weiß ich, dass ich es zu weit treibe. Ich kann von Matts Gesicht ablesen, dass er es leid ist, sich um mich zu bemühen, nur um ständig eine Abfuhr zu bekommen. Gott, ich fürchte mich vor dem Tag, an dem er endgültig genug davon hat, auf Zehenspitzen um mich herumzuschleichen.
»Ja, es tut mir wieder leid«, sage ich, und wir wissen beide, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird, dass ich seine Hilfe ablehne, oder das letzte Mal, dass ich ihn zurückweise.
Ich habe vielleicht herausgefunden, wie ich ohne Lily existieren kann, aber es ist noch ein weiter, weiter Weg, bis ich gelernt habe, wie ich ohne sie normal leben kann. Meine Ehe zerbröckelt unter dem ganzen Druck und dem Schmerz, den ihr Verlust hinterlassen hat. Ich will so nicht mehr weitermachen.
Aber wenigstens haben wir noch nicht aufgegeben.
Cannon Hill Park, Birmingham, England
JULIETTE
Die Sonne sinkt bereits langsam, aber ich kann mich noch nicht überwinden, nach Hause zu gehen. Also mache ich nach dem Krankenhaus einen Abstecher in den Cannon Hill Park und versuche eine gute halbe Stunde lang, ein Schinken-Sandwich hinunterzubekommen, das wie Sand auf meiner Zunge klebt, bevor ich es schließlich an die Enten im Teich verfüttere. Dieser Ort hier, dieses kleine Stück vom Himmel, ist oft die einzige Oase der Ruhe, die ich in meinem hektischen Alltag finden kann. Ich frage mich nun mehr denn je, warum ich mich für ein Leben in der Stadt entschieden habe, wenn ich die Stille der Natur doch immer viel verlockender fand.
Aufgewachsen in einem Innenstadtviertel, habe ich mich immer danach gesehnt, an der Küste zu leben, wo ich am Meer spazieren gehen, mein eigenes Brot backen, mein eigenes Gemüse anbauen und vielleicht meine eigenen Enten in einem Teich im Garten haben könnte. Ich hatte gehofft, eines Tages ein Leben als Selbstversorgerin zu führen, viele Bücher zu lesen und laut Musik zu hören, ohne dass es mir jemand verbieten kann, weil niemand nah genug wohnt, um sich davon belästigt zu fühlen. Das war mein Plan für die Zukunft, aber meine Zukunft findet jetzt nicht mehr statt, richtig? Es ist zu spät. Ich habe mich zu lange auf dem Gedanken ausgeruht, dass ich alle Zeit der Welt habe.
Ich bekomme Kopfschmerzen vom vielen Grübeln, aber ich schätze, ich werde mich daran gewöhnen müssen, meine Vergangenheit zu reflektieren, während meine Tage hier sich dem Ende neigen. Ich erinnere mich, wie ich meiner dänischen Reisegefährtin Birgit von meinem Zehnjahresplan erzählte und sie mich ermutigte, meinen Traum zu verfolgen und um die Welt zu reisen.
»Halte stets inne und genieße die einfachen Dinge«, lautete ihr Rat damals, und obwohl aus mir nie eine Weltenbummlerin wurde (die Pauschalreisen nach Spanien und das jährliche Camping-Wochenende in einem Holiday Park zählen nicht), habe ich ihre Worte nie vergessen und mir geschworen, dass ich eines Tages genau das tun würde. Ich würde mein Tempo verringern und im Jetzt sein, ich würde alles, was ich hatte, genau betrachten und würdigen, statt immer nur auf das Morgen zu schauen … aber nun habe ich nicht mehr viele Morgen übrig, nicht wahr?
Es ist Juli, meine liebste Zeit im Jahr. Die Gänseblümchen neigen sich und schwanken in einem weiß-gelben Meer unter mir. Von hier aus kann ich den Baum sehen, in den ich als Teenager meinen Namen einritzte und der trotz seiner heiteren Sommerblüte irgendwie erhaben wirkt. Vielleicht weiß auch er, was heute passiert ist. Vielleicht wussten alle, dass es so kommen würde. Alle außer mir.
Ich zupfe an meinen Fingernägeln, an meinen weichen, brüchigen Nägeln, die seit Monaten keine gute Maniküre mehr gesehen haben, dann schließe ich meine Augen und atme. Manchmal ist es gut, einfach nur zu atmen.
Mein Verstand rast, und ich ringe mit meinen Gedanken und versuche verzweifelt, mir nicht zu überlegen, was ich alles vermissen werde, wenn ich von dieser Welt abtrete. Ich zähle die Monate in meinem Kopf. Michael konnte mir keine konkrete Zeitspanne nennen, aber in meinem Herzen weiß ich, dass ich von Glück sagen kann, wenn ich es bis Weihnachten schaffe. Ich würde alles dafür geben, um dieses Jahr weiße Weihnachten zu erleben und nur noch ein einziges Mal mit meiner Familie gemütlich um den Baum zu sitzen, während draußen der Schnee fällt und drinnen ein Feuer im Kamin knistert.
Ich stütze den Kopf in meine Hände und gebe alles, um den Anflug von Panik und Atemnot abzuwehren, der, wie ich weiß, gleich um die Ecke lauert. Rosie. Was zum Teufel wird aus meiner schönen, unschuldigen Rosie, die nicht ahnt, was Sache ist und was das Schicksal mit ihr vorhat? Und dann die Schuldgefühle … mein Gott, diese Schuldgefühle, weil ich sie in so eine Situation gebracht habe, in ein Leben ohne Vater, und nun lasse ich sie ganz allein zurück, ohne einen einzigen Menschen, den sie für sich beanspruchen kann. Ja, sie hat meine Schwester und ihre Großeltern und auch Dan, aber das ist nicht dasselbe.
Wer wird, so wie ich, mit ihr ins Kino gehen, wo wir uns immer den Bauch mit Nachos und Popcorn und Softdrinks vollschlagen und dann auf dem Nachhauseweg jammern, wie schlecht uns ist? Wer wird wissen, dass sich ihre Periode ankündigt, wenn sie Kopfschmerzen hat, und ihr eine heiße Wärmflasche gegen die Bauchkrämpfe geben? Wer wird wissen, dass man Gemüse für eine hausgemachte Suppe auskochen muss, damit sie es isst und sogar liebt, ohne auch nur zu ahnen, dass die Brühe mehr Grünzeug und Knoblauch enthält, als sie jemals die Nase rümpfen könnte? Wer wird sie zu den Konzerten ihrer neuesten Boygroup fahren und auf sie warten, wenn sie hinterher versucht, ein Selfie mit ihren Stars zu machen; und wer wird dann ihre Tränen trocknen, wenn sie untröstlich ist, weil keiner der Jungs Zeit hatte, um kurz stehen zu bleiben und Hallo zu sagen? Wer wird sie in den Arm nehmen und ihr ganz andere Tränen abwischen, wenn ihr im echten Leben zum ersten Mal das Herz gebrochen wird?
Mein Handy piept zum dritten Mal, seit ich hier bin, und reißt mich aus meinem Gedankengang. Dieses Mal gebe ich nach und lese meine neuen Nachrichten gegen mein Bedürfnis, alles auszublenden und erst einmal diesen Schock zu verarbeiten.
Ich liebe dich noch immer, heute und jeden Tag, lautet die erste SMS. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Obwohl ich mit Dan keinen Kontakt vereinbart habe, bis ich wieder bereit bin, beziehungsweise bis er das tut, was er tun muss, konnte er nicht widerstehen, mir eine Nachricht zu schicken. Trotz all seiner Probleme denke ich manchmal, dass ich ihn nicht verdient habe. Dass ich ihn nie verdient hatte.
Bist du okay? Bitte melde dich!, lautet die nächste Nachricht, von meiner Schwester Helen, die zweifellos schon halb panisch vor Angst ist, während sie darauf wartet, dass ich ihr das Ergebnis mitteile. Sie wollte mich ins Krankenhaus begleiten, aber ich habe abgelehnt. Michael hat recht, wenn er sagt, ich sei stur. Aber ich bin noch nicht fähig, weitere Herzen zu brechen. Ich möchte meine Schwester so lange wie möglich im Ungewissen lassen, und wenn es nur für eine weitere Stunde ist.
Hi, Mum, ich hoffe, du hast deinen Wellnesstag genossen!, schreibt Rosie, und als ich das lese, breche ich in Tränen aus. Ich habe glatt vergessen, dass heute mein Geburtstag ist.
Rosie hat etwas zu meinem Vierzigsten geplant, da bin ich mir sicher. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass sie sich die Mühe sparen soll, dass mir dieser ganze Quatsch mit dem runden Jubiläum ziemlich egal ist. Letztes Jahr um diese Zeit hatte ich so viele Ideen, um diesen Meilenstein zu feiern, und eigentlich sollte ich das jetzt erst recht tun. Schließlich bin ich noch hier, richtig? Noch bin ich nicht tot.
Ich sollte besser nach Hause gehen.
Ich tue so, als wäre ich völlig ahnungslos, und lächele überrascht mit meinen nachgezogenen Lippen, als ich in meiner Küche von einer kleinen, aber perfekt zusammengesetzten Gästeschar empfangen werde.
Die zartblauen Einbauschränke und der Kühlschrank, der mit Fotos und Zeichnungen von Rosie übersät ist, begrüßen mich wie eine herzliche Umarmung. Es ist so schön, wieder zu Hause zu sein.
Ich betrachte die Spruchbänder und die beeindruckende Torte und muss fairerweise zugeben, dass Rosie die Überraschung trotz meiner Ahnung gelungen ist. Wow. Sie hat ganze Arbeit geleistet.
»Du kleine Schlawinerin!«, sage ich zu ihr. »Wie zum Teufel hast du das alles organisiert, ohne dass ich etwas gemerkt habe?«
»Tante Helen hat mir geholfen«, sagt sie, und ich umarme sie ganz fest, schließe meine Augen und bete, dass die Tränen bleiben, wo sie sind. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, dass meine Schwester mich anstarrt, mit diesem altvertrauten ängstlichen Ausdruck. Ich kann nicht darauf reagieren. Nicht jetzt.
Die Geburtstagsgesellschaft besteht aus meiner Schwester, ihren drei Jungs und meiner Tochter. Ich will gerade fragen, wo meine Mutter ist, als meine Schwester mir mit einer Erklärung zuvorkommt.
»Mum ist fertig mit den Nerven«, flüstert sie mir zu, als die Kinder mit ihren Handys und anderen Spielereien abgelenkt sind. »Sie hatte einen Migräneanfall und musste sich hinlegen. Sie macht sich schreckliche Sorgen, Jules.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich werde sie später anrufen«, sage ich. »Wahrscheinlich ist es besser so. Weniger Drama.«
Meine Schwester schluckt ihre schlimmsten Befürchtungen hinunter, als ich das sage.
»Also, was steht auf dem Menü?«, frage ich laut und schnuppere in der Luft. »Sagt nichts, es ist Helens berühmter Fischauflauf, nicht wahr?«
»Richtig geraten!«, erwidert mein ältester Neffe George, und die Kinder rangeln nun um einen Platz an meinem Küchentisch und begutachten dann die Torte, die in der Mitte steht. Sie trägt meinen Namen und eine große Vierzig zum Anzünden. Shit, das ist zu viel.
»Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht, Mum!«, sagt Rosie mit leuchtenden Augen. »Das hier ist erst der Anfang! Wir haben auch noch dein Lieblingsnaschzeug für hinterher und Prosecco und Chili-Chips, und ich habe Tante Helen überredet, Eiscreme mitzubringen, obwohl wir schon den Kuchen haben – meine Lehrerin hat nämlich gesagt, dass mit vierzig das Leben erst richtig anfängt, also haben wir alle Register gezogen. Das hier soll dein bester Geburtstag aller Zeiten werden, und du hast ihn dir verdient nach allem, was du bei dieser schrecklichen Chemo durchgemacht hast.«
Autsch.
»Schließlich wird man nicht alle Tage vierzig«, sagt Helen, die immer noch versucht, meinen Blick festzuhalten, aber ich kann sie einfach nicht ansehen. Ich lächele weiter und mache Wow und Oh und Ah vor meiner Tochter und meinen drei Neffen, aber ich weiß, dass Helen mich durchschaut. Ich wage es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie nickt nur und starrt mich an, während ich meine Kunsthaarperücke zurechtrücke.
Als die Kinder es sich später vor einem Film gemütlich gemacht haben und ich ihr die Neuigkeit beibringe, schüttelt sie langsam den Kopf, fassungslos und schockiert. »Es muss doch etwas geben, was man dagegen tun kann.«
Wenn uns in diesem Moment jemand mit unserem Prosecco und dem Kuchen am Tisch sitzen sähe, würde er sicher denken, dass wir gerade richtig schön feiern.
»Da gibt es nichts mehr, Helen«, sage ich zu meiner einzigen Schwester. »Ich könnte wieder dagegen ankämpfen und meine restlichen Tage mit Kotzen zubringen, vollgepumpt mit Chemo und Strahlen, aber ich ziehe es vor, meine Zeit mit dir und Rosie zu verbringen und für schöne Dinge zu nutzen. Ich möchte mit ein bisschen Anmut und Würde von dieser Welt abtreten, wenn du das verstehen kannst. Am liebsten zu Hause.«
Helen will natürlich nichts davon hören. Aus ihren Augen spricht nackte Angst. Mein Gott, wie viel Leid ich ihr bereite …
»Aber es muss doch etwas …«
»Es gibt nichts«, wiederhole ich. »Wir haben alle Möglichkeiten ausgereizt. Ich weiß, das ist ätzend, und zwar so richtig, aber bitte weine nicht, Helen. Ich kann keine weiteren Tränen ertragen, und meine Wimperntusche verläuft bereits, wenn ich nur niesen muss, ganz zu schweigen von weinen.«
Aber es ist zu spät. Sie fängt an zu schluchzen, also stehe ich auf und tröste sie, so wie ich Michael vorhin getröstet habe.
»Du darfst nicht traurig sein, Hel«, sage ich in ihre Haare, die wie immer nach Apfelshampoo duften. Ich hebe meine Augen zur Decke und schlucke hart. »Ich wollte es zwar nicht wahrhaben, aber ich hatte die ganze Zeit eine leise Vorahnung, dass die Diagnose heute so ausfallen würde. Ja, es ist scheiße, und es ist unfair, und es ist nicht unser Wunschergebnis, aber wir müssen es akzeptieren, weil es absolut nichts gibt, was ich dagegen machen kann. Nichts. Es tut mir so leid, Helen. So schrecklich leid.«
Mehr kann ich nicht sagen, während sie versucht, diesen neuen Schlag zu verdauen, weil auch ich es noch nicht richtig verdaut habe. Helen steht auf, wischt sich mit dem Handrücken über die Nase und versucht dann, sich in der Küche zu beschäftigen.
»Aber du hattest den Tumor doch schon fast besiegt«, sagt sie schniefend. »Wie kann er plötzlich so weit fortgeschritten sein? Wie?«
»Man nennt es Krebs«, sage ich, und das bloße Wort macht mich unheimlich wütend, aber ich würde es mir nie anmerken lassen. »Ich versuche ja auch, daraus schlau zu werden, aber ich habe nicht wirklich die Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen oder herumzuanalysieren. Vielmehr ist es höchste Eisenbahn, dass ich aktiv werde und die Dinge angehe, die ich schon vor Jahren hätte machen sollen. Ich habe ein paar richtig hübsche Sachen geplant.«
Helen schüttelt den Kopf. »Juliette, du brauchst bestimmt nicht noch mehr Pläne«, sagt sie. »Dein Leben war ein einziger großer Plan, der nie vollendet wurde.«
»Wie bitte?«
»Die dreißig Dinge, die du vor deinem dreißigsten Geburtstag machen wolltest? Ich glaube, fünf davon hast du geschafft. Die Liste von Dingen, die du für Rosie geplant hast, als sie dreizehn wurde, und die du nie zu Ende gebracht hast? Das zauberhafte Buch mit Überraschungsvorschlägen, das du Dan zur Hochzeit geschenkt hast?«
Sie fängt an zu lachen, und ich kann nicht anders, als mitzulachen. Sie hat nicht unrecht.
»Michael hat mir einen Tapetenwechsel empfohlen, weißt du, um ein paar Tage abzuschalten«, sage ich. »Ich soll irgendwohin fahren, wo ich zur Ruhe komme, fern vom Alltagsstress, wenn du so willst, um das alles erst mal richtig zu verarbeiten.«
»Was? Und wohin?«, fragt sie. »Ist er … ist er denn sicher, dass du nicht …«
»Er ist sich ziemlich sicher, dass ich nicht schon nächste Woche das Zeitliche segnen werde«, sage ich mit einem nervösen Lachen. »Ich überlege, ob ich nach Irland fahren soll, zusammen mit Rosie. Was hältst du davon? Ich fände es sehr schön, ein paar Tage am Meer auszuspannen und in Ruhe über das Leben und … na ja, den Tod nachzudenken.«
Aber meine Schwester lässt sich nicht so einfach hinters Licht führen. Sie weiß genau, was Irland mir bedeutet. »Nein, Juliette, schlag dir das aus dem Kopf«, widerspricht sie vehement, während sie meine Küchenschränke und Schubladen öffnet und schließt. Ich habe keine andere Reaktion von ihr erwartet. »Vergiss es. Du kannst im Moment nicht klar denken, du stehst noch unter Schock. Lass es sein.«
»Ich bin völlig klar«, wende ich ein. »Selbst Michael hat gesagt, dass mir das guttun würde.«
»Michael weiß auch nicht, was du dort erlebt hast!«
»Na ja, eigentlich schon. Tatsächlich weiß er mehr, als du denkst«, versuche ich zu erklären. »Aber meine Vergangenheit ist nicht der Grund, warum ich nach Irland zurückkehren möchte. Killara ist wirklich spektakulär, Helen. Ich kenne keinen schöneren Ort auf dieser Welt.«
»Cornwall ist auch spektakulär«, erwidert sie. »Schottland ist spektakulär. Es hat eine tolle Landschaft und das Meer und eine gute Küche, und es ist …«
»Ja, genau wie Barry Island oder Weston-super-Mare oder das verdammte Blackpool, aber da will ich nicht hin, Helen«, unterbreche ich sie. »Ich möchte Rosie meinen Lieblingsort auf dieser Welt zeigen, und ich möchte ihr erzählen, was ihn damals so besonders machte und für uns beide immer noch besonders macht. Das soll in erster Linie ein Erholungsurlaub werden. Falls sich mehr ergibt, wäre das ein zusätzlicher Bonus, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich nach Killara will, glaub mir.«
Meine Schwester ist schwerer zu überzeugen als Michael, aber damit habe ich gerechnet. Mir war klar, dass sie mir nicht sofort beim Packen helfen und mich mitsamt Rosie im Schlepptau jubelnd nach Killara verabschieden würde, damit ich einen Mann suchen kann, der dort früher auf einem Boot arbeitete – wenn ich hier, in der realen Welt, kurz davor stehe, den Löffel abzugeben. Ausgeschlossen.
»Und was sind die anderen Gründe? Ich glaube dir nicht für eine Sekunde, und hast du eigentlich auch mal an Dan gedacht?« Helen kramt immer noch in den Küchenschubladen.
»Dan wird es verstehen«, sage ich. »Ich werde ihn anrufen und ihm alles erklären.«
»Juliette, du kannst in deinem Zustand keinen weiteren Stress gebrauchen, und irgendwelchen Luftschlössern und Hirngespinsten nachzujagen, ist definitiv Stress«, erwidert sie. »Meine Güte, es kann doch nicht so schwer sein, hier irgendein Stück Papier zu finden!«
Sie zieht ein altes Notizbuch heraus und befeuchtet ihren Zeigefinger, um die Seiten durchzublättern, bis sie ein leeres Blatt gefunden hat.
»Wofür brauchst du ein Stück Papier?«, frage ich. »Ich möchte in Killara ja nur Urlaub machen und eine schöne Zeit mit Rosie verbringen. Das würde uns beiden guttun, das weißt du.«
Sie fängt an, etwas zu notieren. »Du wirst ihn nie finden«, sagt sie, während sie weiterschreibt. »Schließlich weißt du kaum was über ihn. Du hast gesagt, du kannst dich nicht einmal an seinen richtigen Namen erinnern.«
Sie hat nicht unrecht. Nur ist es nicht so, dass ich seinen richtigen Namen vergessen habe, ich habe ihn nie gewusst.
»Dafür erinnere ich mich an alles andere«, entgegne ich, und das ist wahr. Ich erinnere mich an sein dunkles Haar und seinen muskulösen Rücken und an das Gefummel und Gekicher und die Dringlichkeit und den Geruch von Alkohol – und an meine Scham, als ich alleine wach wurde, an die Angst auf meiner Rückreise nach Birmingham, als ich langsam wieder nüchtern wurde und mir dämmerte, wie dumm es gewesen war, dass wir nicht verhütet hatten.
Ich erinnere mich, wie ich an dem Morgen vor meiner Abreise nach ihm suchte, nur um zu sehen, ob ihm etwas an mir lag und ob er mich wiedersehen wollte. Ob er überhaupt eingestehen würde, was zwischen uns passiert war. Aber er war wie vom Erdboden verschwunden. Ich erinnere mich an die Kränkung, die ich empfand, und daran, wie Birgit und ich uns hinterher darüber kaputtlachten, dass ausgerechnet ich, ein braves, katholisches Mädchen aus der Klosterschule, mit einem schönen Iren eine heiße Nacht verbracht hatte, ohne seinen richtigen Namen zu kennen, geschweige denn seine Telefonnummer.
Aber vor allem erinnere ich mich an die Leere, die ich spürte, als ich allein in den Flieger nach Birmingham stieg, ohne Birgit, um mit ihr weiter darüber zu lachen, und an das Gefühl, dass mein Leben sich für immer verändert hatte. Und wie es sich veränderte.
An das alles kann ich mich klar und deutlich erinnern.
»Was machst du da?«, frage ich meine Schwester, die immer noch schreibt, während ich mit offenen Augen von der Vergangenheit träume.
»Nichts«, sagt sie.
»Du schreibst nichts?«
»Okay, okay, ich entwerfe einen Plan«, sagt sie. »Jetzt bin ich nämlich an der Reihe. Du bist nicht die Einzige, die sich im Leben etwas vornimmt, weißt du.«
Ich werfe einen Blick auf ihre Notizen und lese den letzten Punkt ihres »Plans«, dann stöhne ich laut auf, und Helen zuckt zusammen.
»Was ist?«, fragt sie bestürzt und lässt vor Schreck ihren Stift fallen. »Hast du Schmerzen? Was ist los, Juliette?«
»Nein, ich habe keine Schmerzen«, sage ich. »Ich frage mich nur, warum in aller Welt du diesen Unsinn vor mir aufschreibst. Platz schaffen für Rosie? Du könntest wenigstens warten, bis ich tot bin, bevor du hingehst und dein Leben nach mir planst. Herrgott, Helen, manchmal hast du genauso wenig Taktgefühl wie unsere Mutter.«
»Übertreib nicht, so schlimm bin ich auch wieder nicht«, erwidert sie, dann reißt sie die Seite aus dem Notizbuch und zerknüllt sie, aber es ist zu spät, ich habe bereits genug gesehen. »Und versuch nicht, das Thema zu wechseln. Du wirst nicht nach Irland fahren, um nach all der Zeit diesen Fremden ausfindig zu machen. Du fährst nicht. Punkt.«
Ich ziehe eine komische Grimasse. Sie lacht nicht.
»Sein Spitzname war Skipper. Er war Kapitän auf einem Boot. Ein Seemann, und noch dazu ein verdammt schöner.« Ich grinse, aber meine Schwester reagiert angewidert. »Das war ein Witz!«, verteidige ich mich. »Na ja, eigentlich nicht. Hör zu, ich schwöre dir, ich weiß nicht einmal, ob er aus Killara war. Vielleicht war er nur auf der Durchreise, so wie ich. Er ist jedenfalls nicht der Grund, warum ich wieder dort hinmöchte, Ehrenwort.«
Aber Helen hat genug von meinen Scherzen. Sie schließt kurz ihre Augen, dann richtet sie sie wieder auf mich, ohne einen Funken von Belustigung.
»Bitte, Juliette«, sagt sie leise. »O Gott, bitte, denk doch auch mal an Rosie. Sie hat sich heute so gefreut, als wir die Party für dich organisiert haben. Ich konnte es fast nicht ertragen, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Kerzen in den Kuchen steckte und die Geschenke für dich einpackte. Gefallen dir deine Geschenke? Sie war richtig stolz auf sich. Und Dan hat dir auch ein Geschenk zukommen lassen. Hast du es gesehen?«
Ich nicke. Auf der Anrichte liegt ein silbernes Medaillon, auf das ich schon seit Jahren ein Auge geworfen habe, wie Dan weiß. Das hier ist zu hart. Das alles ist zu hart für mich.
»Ich bin ganz begeistert von meinen Geschenken«, antworte ich. »Vielen Dank dafür. Du bist die beste Schwester der Welt, das weißt du.«
»Ich bin deine einzige Schwester«, erwidert sie. »Das solltest du auch erwähnen.«
»Trotzdem bist du die beste.«
»Die arme Rosie hat keine Ahnung«, murmelt sie. »Sie wird bestimmt … Oh, wie willst du es ihr nur beibringen, Juliette? Du bist ihre ganze Welt!«
Helen steht nun kurz vor dem Zusammenbruch, als ihr die Dimension des Ganzen bewusst wird. Ich will es nicht sehen, also wende ich meine Augen ab.
»Nicht, Helen. Bitte sag nicht ›arme Rosie‹, und wehe, du fängst wieder an zu weinen. Ich will nicht, dass du traurig bist.«
Aber sie ist nicht zu halten. Meine Schwester hat erst jetzt richtig verinnerlicht, dass mein Leben bald zu Ende geht, während ihr Leben und Rosies und Dans sich dramatisch verändern werden.
»Du weißt, ich werde mich um sie kümmern, so gut ich kann«, bringt sie schniefend hervor. »Es wird nicht dasselbe sein wie mit dir, ich meine, ich kann dich nicht ersetzen, aber ich werde mein Bestes geben, und Brian natürlich auch. Ich verspreche dir, wir werden alles für sie tun. Sie kann ihr eigenes Zimmer haben. Die Jungs können ein bisschen zusammenrücken, das wird ihnen nicht schaden, und …«
»Wir hatten dieses Gespräch bereits, Helen. Ich weiß, dass du dich gut um Rosie kümmern wirst«, unterbreche ich sie. »Das hast du mir alles schon gesagt.«
»Was ich dir eigentlich zu sagen versuche, ist, dass sie ihn nicht braucht«, erwidert sie. »Juliette, sie braucht keinen Fremden, der in ihr Leben platzt, bei all dem, was ihr bevorsteht. Sie hat mich und Dan und Brian und die Kids. Überleg dir das gut. Denk an Rosie. Bitte.«
»Aber was, wenn ich nicht ihre ganze Welt bin?«, sage ich. »Was, wenn es in Irland noch eine andere Welt für sie gibt und sich dort vielleicht neue Möglichkeiten für sie auftun? Was, wenn …«
Ich verstumme mit einem Achselzucken, und Helen drückt meine Hand, während sie sich mit ihrer anderen Hand die Augen abwischt und dann den Kopf schüttelt. Sie hat natürlich recht. Meine große Schwester Helen, dreifache Mutter, einfache Ehefrau und eine weise alte Eule, hat immer recht gehabt. Sie war nicht überrascht, als ich vor sechzehn Jahren von meiner Rucksacktour durch Irland mit mehr Gepäck zurückkehrte, als ich von zu Hause mitgenommen hatte. Nicht weil ich jemals wahllos mit Männern geschlafen hätte, sondern vielmehr, weil ich immer so sorglos war und dachte, mir könnte nichts passieren. In meiner naiven Unbekümmertheit erkannte ich ein Problem nicht einmal dann, wenn es mir direkt ins Gesicht starrte. Im Grunde ist das immer noch so.
»Leichtgläubig«, nannte meine Mutter mich immer. »Unsere Juliette würde alles glauben, was man ihr erzählt, ohne jemals daraus zu lernen. Sie ist leichtgläubig wie ein Kind.«
Ob leichtgläubig, sorglos, dumm oder wie auch immer man mich nennen mag, seit jenem Urlaub auf der Smaragdinsel vor all den Jahren bin ich sehr gut zurechtgekommen, herzlichen Dank auch. Rosie hat es an nichts gemangelt, selbst wenn sie keine Vaterfigur in ihrem Leben hatte … nun, abgesehen von Dan natürlich, aber er ist eher wie ein Freund für sie. Warum fange ich also an, in alten Geschichten zu rühren, wo es nichts zu rühren gibt, und in meiner lückenhaften Vergangenheit zu bohren? Warum gehe ich das Risiko ein, Rosies gesamte Welt auf den Kopf zu stellen und ein furchtbares Chaos zu hinterlassen, wenn ich doch alles so lassen könnte, wie es ist, in der Gewissheit, dass meine Tochter gut aufgehoben sein wird?
Ich tue es, weil ich weiß, dass sie eines Tages erfahren möchte, wer ihr Vater ist, und ich die Einzige bin, die ihr das sagen kann.
Ich tue es, weil ich tatsächlich glaube, dass dort drüben eine andere Welt auf sie wartet.