Das weiße Gold des Amazonas - Mirjam Kul - E-Book

Das weiße Gold des Amazonas E-Book

Mirjam Kul

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Beschreibung

Brasilien, 1896: Taya wächst in einem Sklavenlager des preußischen Kautschukbarons Heinrich Lorenz auf. Ihr Bruder und ihr Vater gehören zu den vielen Indigenen, die auf den Plantagen ausgebeutet werden. Taya ringt um ihre Liebsten und um das Überleben ihres Volkes. Eine schicksalhafte Begegnung mit Paul, dem Sohn des Barons, verändert ihr Leben. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebe, die nicht sein darf. Paul und Taya führen damit ihre beiden Familien an einen gefährlichen Abgrund aus Lügen und Gewalt.

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Mirjam Kul

Das weiße Gold des Amazonas

Roman

Zum Buch

Eine verbotene Liebe am Amazonas »Wenn wir uns je sicher fühlen wollen, müssen wir an einen Ort gelangen, an dem es keine weinenden Bäume gibt. Im Kautschukwald stirbt unser Volk, Paul. Ich weiß, du bist dazwischen. Vielleicht musst du dich irgendwann entscheiden.« Brasilien im Jahr 1896: Taya gehört dem indigenen Stamm der Andyrá an und lebt mit ihrem Bruder und ihren Eltern in einem Sklavenlager des preußischen Kautschukbarons Heinrich Lorenz. Die Männer der indigenen Stämme arbeiten als Seringueiros, Kautschukzapfer, auf den Plantagen im Dschungel und werden dort auf brutale Weise ausgebeutet. Ihre Frauen und Kinder werden als Druckmittel im Lager gehalten, damit die Männer nicht in den Dschungel fliehen. Taya ringt um ihre Liebsten und um das Überleben ihres Volkes. Eine schicksalshafte Begegnung mit Paul, dem Sohn des Barons, verändert ihr Leben. Zwischen den beiden entwickelt sich schnell eine tiefe Verbundenheit, welche die beiden um jeden Preis geheim halten müssen. Ein Spiel mit dem Feuer beginnt, das nicht nur Taya und Paul in Gefahr bringt, sondern auch ihre Familien an einen gefährlichen Abgrund aus Lügen und Gewalt führt.

Mirjam Kul ist gelernte Erzieherin und Familientherapeutin. Seit 2015 ist sie als Autorin sehr aktiv und konnte damit ihre Leidenschaft zum Beruf machen. Die Katzennärrin lebt mit ihrer Familie in München. Ihre Neugierde, familiäre Strukturen zu erfassen, ihre Kreativität und die Eindrücke ihrer Reisen verarbeitet sie in ihren Geschichten. Sie schreibt historische und fantastische Romane. Ihre Bücher ziehen insbesondere die Leser:innen in ihren Bann, die Abenteuergeschichten, Liebe und Familiensagas mögen. Nach einer sehr erfolgreichen Fantasy-Buchreihe ist „Das weiße Gold des Amazonas“ ihr erster Roman im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)«

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung unter Verwendung der Fotos von: © Wabisabi / stock.adobe.com; microtech / stock.adobe.com; PublicDomainPictures / Pixabay

ISBN 978-3-7349-3114-7

Zitat

»Wirklich weise ist, wer mehr Träume in seiner Seele hat als die Realität zerstören kann.«

Hans Kruppa

Namensverzeichnis

Tayana (Bedeutung: die Liebe), Spitzname Taya

Paul Lorenz (Bedeutung: stammt von Paulus »der Jüngere« ab)

Tayas Familie:

Tohon (Bedeutung: Puma), Bruder

Kajika (Bedeutung: läuft ohne Geräusch), Vater

Tabbenoca (Bedeutung: Sonnenaufgang), Mutter

Pauls Familie:

Karl (Bedeutung: wird mit »der Freie« übersetzt, einer, der kein Sklave war), Bruder

Heinrich (Bedeutung: der Herr im Haus/Herrscher), Vater, Kautschukbaron

Luise (Bedeutung: Beschützerin/Kämpferin), Mutter

Angestellte der Familie Lorenz:

Emefa (Bedeutung: hier ist Frieden), Haushälterin

Diego, Gärtner

Cristobal, Gärtner

Fernando Rocha, Buchhalter

Katharina, Zofe

Befreundete Familie Taya:

Tallulah (Bedeutung: springendes Wasser), beste Freundin von Taya – Spitzname Tula

Yumah (Bedeutung: Sohn des Flusses), Bruder von Tula, bester Freund von Tohon

Moema (Bedeutung: Morgenlicht), Mutter von Tula und Yumah

Sonstige Personen:

Charlotte Thomson, Verlobte von Karl

Emmanuel Petit, Gouverneur Manaus

Camille Petit, Ehefrau des Gouverneurs

Wichtige Begriffe:

Andyrá (Bedeutung: Fledermaus)

Seringueiros (Bedeutung: Kautschuksammler)

Prolog

1876, Manaus, Brasilien

Luise schien es, als prallte sie gegen eine heiße Wand aus Luft. Das feuchte Klima im fernen Brasilien setzte ihr auch nach Monaten noch entsetzlich zu. Wie sollte sie sich an die Mischung aus Hitze, Schwüle, Feuchtigkeit und an die endlosen Bäume um sie herum gewöhnen?

Sie war eine geborene und wohlerzogene Preußin und als solche in den vier Jahreszeiten aufgewachsen. Auf den kalten Winter hoffte sie in Manaus vergeblich.

Ihre Ehe mit Heinrich Lorenz war frisch.

Luises Vater hatte das lukrative Geschäft gegen ihren Willen arrangiert.

Mit schwerem Herzen spazierte sie zum Ufer des Igarapés. Eine ihrer Mägde hatte Luise erklärt, dass die Wasserwege am Rio Negro unter den Einheimischen so genannt wurden.

Ihr Ehemann Heinrich hatte Land am Amazonas gekauft und häufte seit Monaten unfassbaren Reichtum an. Luise lebte als seine Frau in einem großen Haus mit eigenem Anlegehafen. Um sie herum wimmelte es von den Angestellten ihres Mannes, die das Gelände pflegten und für ihre Sicherheit sorgten. Hier konnte sie sich frei bewegen. Die Gärtner waren angewiesen worden, Schlangen und andere gefährliche Tiere vom Grundstück fernzuhalten.

Mit einem Sicherheitsabstand zum Rio Negro blieb sie stehen. Der Fluss ängstigte sie. Zu viele schaurige Geschichten hatte sie gehört. Piranhas und Riesenschlangen lebten in den Gewässern. Auf einem der hohen Treffen der Kautschukbarone hatte der Gouverneur von einem Fisch berichtet, der in die Harnröhre der Menschen eindringe.

Luise drückte ihren Säugling an sich.

Warum nur hatte ihr Vater sie an Heinrich Lorenz verheiratet und ihrem Leben diese schreckliche Bürde übergestülpt?

Vor wenigen Wochen hatte sie Heinrichs Sohn auf die Welt gebracht. Luise betrachtete das Bündel in ihren Armen. Sie erinnerte sich an ihre Erleichterung, als Karl geboren wurde und sich herausstellte, dass es sich tatsächlich um einen Jungen handelte.

Heinrich hatte seine Freude über seinen Erben zum Ausdruck gebracht und Karl seinen Namen gegeben.

Karl schlief friedlich in ihren Armen. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich umgehend an das Klima gewöhnt. Seufzend streichelte sie über das kleine pausbäckige Gesicht. Sie liebte ihren Jungen, wenn das auch für seinen Vater nicht galt. Der blonde Flaum auf dem kleinen Kopf war ein deutlicher Hinweis auf Karls preußische Herkunft.

Luise schluckte ihren Kummer herunter. Sie war eine Fremde an diesem Ort. Schlimmer noch, ein Eindringling.

Die Einheimischen kannten die Gefahren des Dschungels, die Tücken des Klimas. Sie lebten im Einklang mit dieser fremden Welt. Sie waren ein Teil davon.

Nur den weißen Wilderern mit ihren neuartigen Waffen konnten sie nicht genug entgegensetzen.

Luise spürte die feindlichen Blicke der Einheimischen, wenn sie in ihren prunkvollen Kleidern durch die Straßen Manaus’ spazierte. Sie schämte sich in Grund und Boden, wenn verlauste Kinder um Geld bettelten, während Heinrich ihr verbot, das gleiche Kleid zweimal zu einem besonderen Anlass zu tragen.

Sie hatte keine Ahnung gehabt, als sie vor einem Jahr von Preußen aufgebrochen war, um die Frau an Heinrichs Seite zu werden. Monatelang hatte sie heimlich in ihrem Zimmer geweint und ihr Schicksal nicht akzeptieren wollen.

Innerhalb weniger Wochen war ihre Blutung ausgeblieben und eine Schwangerschaft festgestellt worden. Das hatte alle Fluchtfantasien zunichtegemacht.

Mit dem kleinen Karl konnte sie erst recht nirgends hin.

»Du nix jammern, du reich sein. Freuen.« Emefa, die afrikanische Haushälterin, hatte das zu Luise gesagt.

Heinrich bestand darauf, dass seine Angestellten »ordentlich« mit ihm redeten. Also lernten sie Deutsch und Portugiesisch.

Emefa hatte ein burschikoses Wesen und ließ sich nicht unterkriegen. Luise mochte die Frau sehr und bewunderte ihre Stärke. Schließlich hatte man sie ihrem Kontinent entrissen und hierher verschifft.

War es Luise nicht ähnlich ergangen? Durfte sie als reiche Preußin unglücklich sein? Oder war das Gotteslästerung?

»Senhora Lorenz«, rief Emefa.

Luise konnte sie von Weitem sehen. Emefa stand auf der Veranda und rieb eine Hand an ihrer Schürze ab.

»Du essen. Dünn sein. Nix gut für filho.«

Luise wusste Emefas Fürsorge zu schätzen. Sie stillte Karl, und das laugte sie aus. Er war ein kräftiges Bürschlein.

Sie setzte sich in Bewegung, als sie ein Schreien hörte.

Irritiert sah sie auf das Baby in ihren Armen. Es schlief und war es nicht gewesen, obwohl der Laut seinem Geschrei ähnelte.

Luise drehte sich um ihre Achse. Das Plärren wurde lauter.

Sie eilte in die Richtung, aus der sie den Lärm vernahm.

Ein Baby.

Dort weint ein Baby.

Ihr Puls schoss in die Höhe. Ihre frischen mütterlichen Instinkte jagten ihr die Tränen in die Augen.

Im Igarapé schwamm etwas. Es trieb zwischen die Boote.

»Senhora Lorenz!« Emefas Stimme klang hinter ihr.

Luise eilte auf den Steg, um zu sehen, wohin das Baby getrieben war.

Sie erhaschte einen Blick auf einen schwimmenden Korb. Darin lag ein schreiendes Baby. Es war in Rage und strampelte heftig mit den Beinchen.

Luises Herz zersprang in ihrer Brust.

Ein herannahendes Boot scheuchte das Wasser auf. Wellen bildeten sich auf dem Rio Negro.

Hinter Luise kam Emefa schnaufend zum Stehen. »Senhora!« Sie rang nach Luft.

Luise musste handeln. Der Korb schwankte und drohte zu kippen. Sie drückte Karl in Emefas Arme und sprang in den Fluss.

Emefas Kreischen hallte laut wider. »Socorro! Hilfe! Senhora Lorenz Wasser fallen.«

Luise schwamm zu dem Korb und griff danach. Das Baby schien unverletzt. Sein Plärren aber war ohrenbetäubend. Luise schob es schwimmend vor sich her.

Diego und Cristobal, die beiden Gärtner, erreichten den Steg und halfen Luise. Diego nahm den Korb. Cristobal zog sie aus dem Wasser.

Die Aufregung sprang auf alle Beteiligten über. Diego murmelte portugiesische Worte, die Luise nicht vollständig verstand. Sie drängte den Mann zur Seite und nahm den Schreihals aus dem Korb.

Vor lauter Geschrei verschluckte sich das Baby. Sie klopfte sanft auf seinen Rücken.

Instinktiv schob Luise sich an den Männern vorbei, lief auf die Wiese und öffnete den Ausschnitt ihres Kleides, um die tröstende Brust anzubieten.

Völlig durchnässt und mit sich überschlagendem Puls hockte Luise auf der Wiese und starrte in die dunklen Augen des Kleinen, der kräftig zu saugen begonnen hatte und sie dabei ansah.

»Senhora, náo. Kind nix für Preußen-Frau.« Emefa eilte mit Karl auf dem Arm herbei. »Ich rufen Katharina. Sie trocken machen.« Sie lief in Richtung des Hauses davon.

Luise zog vorsichtig an der zerlumpten Decke, die um die Brust des Babys gebunden war. So entdeckte sie, dass es sich um einen Jungen handelte. Genau wie Karl legte er sein kleines Händchen zwischen die Wölbung ihrer Brüste und ließ sie während des Trinkens nicht aus den Augen.

Der Kleine war so hungrig, er forderte auch die andere Seite.

»Senhora Lorenz.« Emefa kehrte schnaufend zurück.

Luise sah, dass Katharina ebenfalls auf dem Weg zu ihnen war. Sie trug Karl auf dem Arm.

Emefa wollte Luise das Baby der Einheimischen abnehmen.

Luise schob Emefas Hand zur Seite und schüttelte heftig den Kopf.

»Filho Karl nix trinken übrig. Senhor Lorenz böse sein.« Emefa warnte Luise eindringlich. »Ich Mehlbrei machen für Wald-Kind.«

»Ich habe Karl vor einer Stunde gestillt. Ich habe genug Milch.« Luise widersprach. Sie brachte es nicht übers Herz, dem Baby die tröstende Brust zu verwehren.

Dieser Junge war in einem Bastkorb angespült worden. Wie verzweifelt musste seine Mutter sein, sein Schicksal dem Fluss zu überlassen? Was hatte dieses Baby für Ängste ausgestanden?

Luise verstand Emefas Sorge. Schon oft hatte die Haushälterin Heinrichs harte Hand zu spüren bekommen, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen abgelaufen war.

»Luise, was ist passiert? Woher stammt dieses Baby?« Katharina, Luises Zofe, näherte sich mit geweiteten Augen.

»Ich habe ihn gefunden und werde ihn behalten.« Schützend drückte sie den Jungen an sich.

»Das ist ein Kind der Indigenen. Man sieht es auf den ersten Blick. Der Baron wird das nicht dulden.« Katharina blickte Luise missmutig an.

Diego brachte den Korb, in dem der Kleine gelegen hatte.

Luise fand neben einer weiteren zerschlissenen Decke eine aus Holz geschnitzte Figur. Stirnrunzelnd nahm sie sie heraus und musterte sie.

Die Figur schien ein vogelartiges Tier darzustellen.

Luise begriff die Zusammenhänge nicht. Sie kannte die Welt der Indigenen zu wenig.

Es spielte keine Rolle.

In ihren Armen löste sich der Kleine von ihrer Brust, und sie verdeckte ihre Blöße. Sie erhob sich vom Gras und ließ ihn ein Bäuerchen machen.

»Wir haben genug Geld, um zwei Kinder aufzuziehen.« Luise entschied sich für ein zweites Kind.

Sie sah die ungläubigen Blicke von Diego und Cristobal, beides Indigene, denen Heinrich einen neuen Namen gegeben hatte, damit er sie leichter aussprechen konnte.

Diego senkte den Blick. »Götter segnen, Senhora.«

»Nix Götter. Nur Kreuz-Gott beten. Senhor Lorenz böse sein. Schlagen dir.« Emefa schnappte aufgelöst nach Luft.

Sie alle duckten sich unter Heinrich. Luise wusste, warum, und sie verstand es. Er kannte keine Gnade.

Sie aber war seine Ehefrau, und er musste sie anhören.

Er muss nichts. Sie schluckte. Sie war zwar die Ehefrau eines Kautschukbarons, aber sie hatte keine Macht.

Luise nahm den Jungen mit sich und brachte ihn ins Haus. Sie kannte diese Art Luxus, eine Villa mit edlen Chinateppichen, prunkvollen Gemälden und Tapeten und marmornen italienischen Böden auszustatten, bereits aus Preußen.

An diesem Ort mitten im Dschungel fühlte sich der Prunk furchtbar unpassend an.

Sie stieg die Treppen nach oben und brachte den Kleinen in Karls Zimmer. Katharina folgte ihr, während Emefa laut vor sich hin fluchte.

Karl erwachte langsam aus seinem Schlaf. Er nörgelte.

Katharina konnte gut mit ihm umgehen. Lächelnd beobachtete Luise sie dabei, wie sie den Jungen schaukelte und er zufrieden gluckste.

Der andere Junge brauchte dringend ein Bad, denn er roch. Luise wollte Heinrichs schlechte Meinung nicht noch füttern, indem sie einen stinkenden Jungen herzeigte. Er sollte frisch gewaschen vorgeführt werden.

Murrend brachte Emefa erwärmtes Wasser und goss es in Karls Wanne. »Wertvoll baden. Nix für diese Kind. Senhor Lorenz böse sein.«

Luise fühlte mit einem Finger ins Wasser und befand die Wärme für genau richtig. Der süße Fratz bekam ein Bad mit milder Seife. Heinrich ließ sie extra aus Europa herbringen, weil er großen Wert auf Körperpflege legte. Den anderen Baronen wollte er in nichts nachstehen.

Der Kleine liebte zweifelsfrei das Wasser. Er quietschte ausgelassen und trieb Luise damit die Rührungstränen in die Augen.

»Senhora nass. Trocken Kleid anziehen. Mücken jagen Senhora, bekommen Malaria. Tot sein.«

Luise warf Emefa einen strengen Blick zu. »Mal nicht dauernd den Teufel an die Wand.« Das durchnässte Kleid hing schwer an Luise herunter, und sie wollte es liebend gern wechseln, aber zuerst sollte der Junge versorgt sein.

Das Bad tat ihm gut. Fröhlich strampelte er und gab dabei brabbelnde Geräusche von sich. Wie alt mochte er sein?

Er wirkte Karl sehr ähnlich, und der war erst sieben Wochen alt.

Sie nahm das Baby aus der Wanne und trocknete es ab. Stirnrunzelnd musterte sie die Brust des Jungen. Hatte sie einen Fleck beim Baden übersehen?

Sie fuhr über die dunkle Stelle, die sich nicht entfernen ließ. Beim näheren Hinsehen verstand sie, dass es sich um eine Tätowierung handelte.

Erschrocken weitete Luise die Augen. Wer tätowierte ein Neugeborenes? Waren die Indigenen am Ende so unmenschlich, wie Heinrich es behauptete?

Luise erkannte die Fledermaus und kombinierte es prompt mit der hölzernen Figur.

War der Junge mit dem Schutz der Fledermäuse zu den Göttern geschickt worden? Sie hatte gehört, dass die Einheimischen an mystische Dinge glaubten und dabei andere Götter und Geister verehrten als die Christen.

Verehrten sie Fledermäuse?

Heinrich würde diese Tätowierung nicht gefallen. Glücklicherweise konnte Luise sie leicht verbergen, wenn sie den Jungen ankleidete. Heinrich übernahm nie das Wickeln.

Begeistert hielt sie den Kleinen kurz darauf in die Höhe. Er trug einen von Karls Stramplern und sah darin zuckersüß aus.

Selbst Katharina lachte auf.

Sie legten Karl und den Neuankömmling zusammen aufs Bett und besahen sich die beiden Zwerge.

Neugierig drehten die Babys die Köpfe zueinander.

Karl streckte grobmotorisch die Händchen aus und tapste dem anderen ins Gesicht. Der lachte und strampelte in alle Richtungen.

Luise berührte Katharinas Hand und drückte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augen, so gerührt war sie.

»Ist es nicht erstaunlich, dass Babys so rein sind, dass sie einander gernhaben, ohne auf Äußerlichkeiten zu achten?«

»Kaum zu glauben, dass wir alle rein geboren wurden«, erwiderte Katharina.

»Emefa!«, brüllte Heinrich im unteren Stockwerk.

Er war zurück.

Luise deutete Katharina, ihr aus dem nassen Kleid zu helfen. Sie musste sich schleunigst in Form bringen, um Heinrich als stolze Ehefrau zu begegnen. Ein Kampf lag vor ihr.

Ein Kampf um diesen Jungen, der gerade an Karls Hand lutschte.

Katharina verstand sie ohne Worte. Schnell brachte sie das nasse Kleid auf den Balkon, legte es über das Geländer und eilte zurück. Luise trocknete sich bereits ab. Ein Blick in den Spiegel bewies ihr, dass ihre Haare fürchterlich aussahen.

Bei dem Sprung in den Rio Negro hatte sie alles ausgeblendet, sogar ihre Angst vor den Tieren, die in ihm wohnten.

Es galt nur, den Säugling im Bastkorb zu retten.

Katharina half Luise in ein frisches Kleid. Sie kämmte Luises Haare und band sie in einen Dutt.

»Danke, Katharina, es wird schon gehen. Ich trage Karl, wenn ich Heinrich gegenübertrete. Du nimmst bitte unseren Neuankömmling.« Luise schlüpfte noch in ihre Schuhe und nahm Karl auf den Arm.

Sie achtete auf einen aufrechten Gang und schritt die Stufen nach unten.

Heinrich stand bei offener Tür in seinem Büro mit Fernando Rocha, seinem Buchhalter. Er blickte vom Schreibtisch auf. »Luise, mein Liebling«, sagte er und lächelte ihr zu. »Du siehst wunderschön aus. Die Geburt unseres Sohnes ist dir wohl bekommen.«

Luise erwiderte sein Lächeln. »Ich danke dir. Ich erwarte dich beim Essen. Emefa hat gekocht.«

Sie wartete sein Nicken ab und lief voraus.

Heinrich klärte bei jeder seiner Ankünfte immer zuerst die Finanzen mit Senhor Rocha. Dabei sollte sie ihn nicht stören. Schließlich brauchte sie ihn möglichst gut gelaunt, um ihren Willen zu bekommen.

Emefa sah mit großen Augen zu Katharina, die Luise mit dem Baby der Einheimischen folgte.

Luise legte Karl in seine Hängematte und schaukelte ihn ein wenig hin und her. Der Junge war nicht begeistert und nörgelte prompt. Sie sollte ein Kindermädchen einstellen.

Heinrich ärgerte sich, wenn er mit Luise speisen wollte und Karl sich nur auf dem Arm beruhigen ließ. Katharina konnte nicht beide Jungen tragen, und Emefa war stets mit Küchenaufgaben beschäftigt.

Luise nahm Karl wieder auf den Arm, damit er nicht weiternörgelte. Sie stupste seine Nase mit ihrer und sprach beruhigend auf ihn ein.

»Luise, Liebling, zeig mir meinen Sohn.« Heinrich stolzierte herein. Seine Laune schien gut zu sein.

Erleichtert drehte sie Karl in seine Richtung.

»Er entwickelt sich prächtig«, erklärte sie. Karls Pausbäckchen bewiesen, wie wohlgenährt und stramm er war.

»Er ist großartig gelungen.« Heinrich freute sich sichtlich. »Ich habe den Gouverneur zu uns eingeladen, Liebling. Er möchte unseren Sohn sehen.«

»Für heute?«, fragte sie. Das wäre kein guter Zeitpunkt.

»Frühestens in der nächsten Woche kann er es einrichten«, antwortete Heinrich, warf einen letzten Blick auf Karl und schritt zu seinem Platz am Kopf der Tafel.

Luise legte Karl zurück in die Hängematte und hoffte, er würde es akzeptieren und nicht weinen.

»Setz dich, damit wir essen können«, sagte Heinrich.

Luise entdeckte Katharina in einer hinteren Ecke, wo sie mit dem Baby ausharrte. Sie wirkte nervös.

Luise setzte sich auf ihren Platz und nahm Messer und Gabel in die Hand. »Ich möchte etwas mit dir besprechen, Heinrich.«

»Alles, was du willst, mein Liebling. Du weißt, ich kann dir nichts abschlagen. Möchtest du eine neue Badewanne? Ich habe gehört, dass es neuartige Systeme gibt, in denen warmes Wasser aus einem Rohr direkt in die Wanne läuft. Natürlich werde ich das sofort für dich veranlassen.« Heinrich lächelte ihr zu.

Heinrich kam dauernd mit Erfindungen um die Ecke. In Europa lebte der Fortschritt auf, und die Kautschukbarone glaubten, jeden Schnickschnack für sich beanspruchen zu müssen.

»Das klingt interessant«, behauptete Luise, um ihn nicht zu verärgern. Ein heißes Bad war das Letzte, das sie in diesem Klima benötigte. »Tatsächlich wollte ich etwas anderes mit dir besprechen. Es gab einen Zwischenfall im Garten.«

Heinrich verengte seine Augen zu Schlitzen. »Fernando hat mir nichts gesagt. Ist das Gesindel unhöflich zu dir gewesen?« Heinrich ballte eine Hand zur Faust. Er neigte zu Gewaltausbrüchen gegenüber den Angestellten.

Luise konnte es nicht mitansehen, wenn er auf Diego oder Emefa einschlug.

»Heinrich, ich bitte dich. Sie behandeln mich alle zuvorkommend.« Luise tätschelte seine Hand. »Ich hörte fremdes Babygeschrei, während Karl friedlich schlief. Ein Kind wurde in einem Korb angespült.«

Heinrich winkte ab und widmete sich seinem gegrillten Fleisch. »Hast du nicht davon gehört, Liebling? Die Wilden töten ihre Kinder gleich nach der Geburt. Manche werfen sie den Piranhas zum Fraß vor, andere ersticken sie im Sand.«

Luise weitete die Augen. »Warum sollten sie das tun?«

Heinrich kaute genüsslich, bevor er sich an sie wandte. »Sie sind wie Tiere, Luise. Die Weiber lassen jeden Abschaum zwischen ihre Schenkel und müssen anschließend die Bälger loswerden.«

Luises Blick schnellte zu Diego, der neben der Tür stand und Befehle abwartete. Sie wusste, dass er früher zu jenen Wilden gehört hatte, bevor er zivilisiert worden war.

Traurigkeit lag in seinem Blick.

Instinktiv wusste Luise, dass Heinrich log. Ob er das absichtlich tat oder es nicht besser wusste, konnte sie nicht sagen.

Das Baby im Korb war zweifelsfrei liebevoll verpackt worden. Mehr als eine zerschlissene Decke hatte seine Mutter wahrscheinlich nicht gehabt, aber die hatte sie ihm gelassen. Außerdem die hölzerne Fledermaus, die Luise versteckt hatte.

»Ich habe dem Baby geholfen.« Luise räusperte sich. Dieses Gespräch würde nicht leicht werden.

Heinrich stöhnte auf. »Du bist ein engelsgleiches Geschöpf, Luise. Deswegen habe ich bei deinem Vater schwere Geschütze aufgefahren, um dich ehelichen zu können. Die Anwärter standen Schlange.«

Luise schluckte ihren Zorn hinunter. Wie ein Stück Vieh hatte ihr Vater sie verkauft.

»Dein schlechtes Gewissen ist unnötig. Die Wilden sollen sich freuen, dass ich ihnen Arbeit gebe und sie zivilisiere. Warum zur Hölle kannst du das nicht einsehen und mich unterstützen?«

Luise achtete auf eine aufrechte Sitzhaltung. Diese Diskussion um seine Arbeit als Kautschukbaron hatten sie in den letzten Monaten oft geführt, und Heinrich war laut und aggressiv geworden. Bisher hatte er sie nicht geschlagen, aber die Dienerschaft musste es an ihrer Stelle ausbaden, was dazu führte, dass Luise sich schuldig fühlte und ihn ungern reizte.

»Ich möchte nicht über deine Arbeit sprechen, Heinrich. Es geht mir um das Kind. Er ist nur ein Baby, und wir haben genug Geld.« Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und tat es langsam genug, damit Heinrich ihrer Bewegung folgen konnte. Sie musste ihre anziehende Wirkung auf ihn nutzen. Einen anderen Weg sah sie nicht.

Er räusperte sich. »Liebling, ich erfülle dir jeden Wunsch, weil du die schönste Frau in Manaus bist, meine Frau.«

»Aber?«, fragte sie.

»Ein Balg von denen kommt mir nicht ins Haus!«, donnerte er.

Mit dieser Reaktion hatte Luise gerechnet, aber sie gab nicht auf.

»Ich achte darauf, dass der Junge dich nicht stört. Er wird zivilisiert aufwachsen und für keinen Anstoß sorgen.« Luise benutzte Heinrichs abwertende Sprache, die ihr zuwider war. Nur diese verstand er offensichtlich. Sie widmete sich ihrem Essen.

Luise wollte den Kleinen als eigenes Kind annehmen und nicht der Dienerschaft in Obhut geben, aber es wäre bereits ein Erfolg, wenn das Baby bleiben durfte.

»Wie wäre es, wenn wir das Kind zu den Missionaren geben? Das gibt dir Seelenfrieden, und das Problem ist gelöst.« Nachdem er laut geworden war, sprach er nun ruhiger. Sein Jähzorn war ein schlimmer Charakterzug an ihm.

Luise versuchte, mit Heinrich zurechtzukommen.

Welche Wahl hatte sie?

»Bei allem Respekt, Heinrich. Er ist ein Baby. Er braucht keine Bekehrung, sondern mütterlichen Schutz. Er ist wie Karl. Unser Junge hätte einen Spielgefährten.«

Heinrichs Gesicht färbte sich rot.

Luise war zu weit gegangen. Sie zuckte zusammen, als Heinrich seine geballte Faust auf den Tisch knallte. »Mein Sohn spielt nicht mit Dreck.«

Es war eine imaginäre Ohrfeige.

Luise war als fromme Katholikin nach Manaus gekommen. Oft hatte sie weinend im Bett gelegen und im Gebet nach Hilfe gerungen. Sie würde es nie offen zugeben, aber sie hatte ihren Glauben verloren.

Zu schlecht war die Welt an diesem Ort.

Heinrich scherte sich nicht um ihre Grenzen. Das Schicksal der Menschen, die dieses Land zuerst bewohnt hatten, kümmerte ihn nicht. Im Gegenteil.

Luise rückte ihren Stuhl nach hinten und erhob sich.

»Du hast den Teller nicht geleert. Wenn es dir nicht schmeckt, werde ich Emefa bestrafen.« Heinrich grollte. Er drohte die Kontrolle zu verlieren.

»Das Essen ist einwandfrei. Ich ertrage nur die Gesellschaft am Tisch nicht.« Es kostete sie Überwindung, sich höflich auszudrücken. Sie tat es zum Schutze der Sklaven, die hier lebten. Das waren sie für Heinrich.

Sie ging zu Karl, der bei dem Brüllen seines Vaters zu weinen begonnen hatte. Beruhigend nahm sie ihn auf den Arm und summte ein Wiegenlied. Sie deutete Katharina mit dem Kopf, das Baby der Einheimischen aus dem Raum zu bringen.

Heinrich baute sich breitbeinig vor der Tür auf. Er war ein hoch aufragender Mann und der Dienerschaft deutlich an Größe überlegen. Er packte Katharina am Arm und schaute auf das Baby in ihren Armen.

Luise drückte Karl an sich und eilte zu Katharina. Sie musste einen Weg finden, Heinrich zu beruhigen.

»Wir brauchen einen Namen für ihn.« Sie tätschelte Heinrichs Arm, schob sich geschmeidig mit Karl dazwischen und lächelte ihm zu.

Heinrich focht einen innerlichen Kampf. Luise sah es ihm an. Bisher hatte er sie mit Geschenken überhäuft und sie stolz vor den anderen Kautschukbaronen vorgeführt. Auf seine machtgierige und besitzergreifende Art liebte er sie.

Nun stand sie vor ihm, mit seinem Sohn in den Armen, und bat ihn, ein Baby der Indigenen aufzunehmen.

»Ich habe gehört, dass die Gattin des Gouverneurs ebenfalls diese lästigen Anwandlungen hat, die sie ›Gewissensbisse‹ nennt. Der Gouverneur hat ihr gestattet, eine soziale Einrichtung zu gründen.«

Luise reagierte überrascht. Camille Petit lebte so offen dekadent, wie Luise es nie zuvor gesehen hatte.

»Ich werde ihn zu einem anständigen Jungen erziehen, der lesen und schreiben kann.« Luise strich mit der freien Hand über Heinrichs Brust.

Brummend setzte er sich zurück an den Tisch. »Ich erwarte, dass dein Gewissen damit beruhigt ist. Es schadet meinem Ansehen in der Gesellschaft, wenn meine Frau nicht hinter mir steht. Der Junge ist die einzige Spielerei, verstanden?«

Luise wies Katharina an, den Kleinen nach oben zu bringen, und drückte Karl in Emefas Arme, die in der Nähe stand und die Situation angespannt beobachtet hatte.

Luise setzte sich zu ihrem Ehemann an den Tisch und führte das Essen fort. »Ein wenig Moral hat noch niemandem geschadet.«

Heinrich lachte auf. »Rede nicht von Dingen, die du nicht verstehst. Moral ist käuflich. Immer.«

Luise musste lange über seine Worte nachdenken.

Nüchtern betrachtet hatte Heinrich Lorenz in seinem jungen Alter von nur 25 Jahren es bis ganz nach oben geschafft.

Er hatte alles. Nur keine Liebe. Und kein Herz.

»Wie wäre es mit Paul?« Luise tupfte mit einer Serviette ihren Mund ab.

»Nenn ihn, wie du willst.«

Luise wog verschiedene Namen ab. Karl und Paul klangen stimmig zueinander. »Dann ist es entschieden. Bitte melde Paul bei den Behörden an und besorge ihm Papiere.«

Heinrich schob den leeren Teller von sich und sah sie direkt an. »Du kannst froh sein, dass ich diese Schwäche für dich habe.« Er erhob sich und trat hinter Luises Stuhl, um ihr behilflich zu sein.

Sie ahnte, was er wollte. Schon drückte er sie an sich und küsste sie überschwänglich.

Luise erwiderte seine Annäherung. Seit einem Jahr versuchte sie, ihn zu mögen, um ihr Leben leichter zu machen.

Heute hatte er sie tatsächlich ein wenig gewonnen, trotz seines widerlichen Geredes über jene Menschen, die anders waren als er. Er hatte ihr den zweiten Sohn zugestanden.

Luise ahnte, dass dieser Junge mit der Fledermaus besonders war und zum Segen für dieses Haus werden würde.

1

1883, Manaus, Brasilien (sieben Jahre später)

»Was ist mit uns?« Taya sang aus Leibeskräften mit den anderen Kindern und Erwachsenen im Chor.

Sie saßen in einem großen Kreis rund um das Lagerfeuer. Neben Taya trommelte ihr großer Bruder Tohon mit geschlossenen Augen auf seiner Atabaque. Er träumte sich fort.

Auch Taya wollte an jenen Ort, von dem ihre Eltern erzählt hatten.

Früher hatten ihre Eltern im Stamm der Andyrá mitten im Dschungel bei den Wasserfällen gelebt. Sie waren frei gewesen, bis die Fremden kamen und sie verschleppt hatten.

Seitdem arbeitete papai hart im Kautschukwald, damit Tohon und Taya nichts passierte.

»Wir wollen den Fluss entlang und unsere verlorenen Brüder und Schwestern finden.«

Die Bewohner des Lagers hatten das Lied selbst erfunden und sangen es, wenn sie in der Regenzeit zusammenkamen.

Taya liebte die Gemeinschaft so sehr, dass sie nicht sitzen bleiben wollte. Sie sprang auf und sang, so laut sie konnte, damit ihre Stimme im Chor zu hören war. »Was ist mit Liebe? Warum kennt ihr sie nicht?«

Einige Männer tanzten.

Mamãe hatte ihr erzählt, dass die Andyrá ein singendes und tanzendes Volk gewesen waren, das in den Höhlen am Fluss bei den Fledermäusen gelebt hatte.

Papai lag auf dem Boden und bettete seinen Kopf auf mamães Schoß. Er hatte heute keine Kraft zu tanzen. Die Fremden schlugen manchmal auf seinen Rücken, wenn er nicht genug Kautschuk gebracht hatte.

Taya hob den Kopf gen Himmel und hielt Ausschau nach den Fledermäusen.

Würden sie kommen und ihr das Land ihres Stammes zeigen?

Als das Lied endete, blieb Taya sehnsüchtig zurück. Die Momente, in denen sie sich zusammenfanden und sangen, waren die schönsten in ihrem Leben.

Leider blieb dafür wenig Zeit. Tohon und sie mussten ihrer mamãe bei der Arbeit helfen und die Männer in den Dschungel.

Taya graute es vor dem Tag, an dem die Fremden auch Tohon in den Kautschukwald brachten. Papai hatte ihnen gesagt, dass es passieren würde, und Tohon alles über den Baum, der weinte, erzählt.

Papai war stark und kam trotzdem schwach nach Hause. Tohon aber war nur ein dünner Junge.

Die Gruppe löste sich auf, und Taya folgte ihrer Familie. Sie bewohnten eine kleine Holzhütte, in der sie sich mit ihrem Bruder eine Bastmatte teilte.

Es wurde dunkel, und Taya beeilte sich, zu Tohon zu krabbeln, um sich schlafen zu legen.

Mamãe sang papai leise in den Schlaf. Taya war froh, dass er bei ihnen war. In der Trockenzeit, wenn der Kautschukbaum weinte, kam papai viele Monde nicht nach Hause. Während auch Taya dem Gesang lauschte, dachte sie an mamães Worte.

»Ich verehre deinen papai, weil er alles für uns erträgt. Er könnte in den Dschungel laufen und die Andyrá suchen, aber er kämpft, weil er uns liebt.«

Taya liebte papai auch sehr stark.

»Niemand läuft in den Dschungel. Die Fremden jagen ihre tollwütigen Hunde hinter ihnen her.« Moema, mamães beste Freundin, hatte das geantwortet, und Taya hatte erschrocken Tohons Hand ergriffen.

Als Taya Stunden später erwachte, war papai fort. Tohon war schon auf den Beinen und schüttelte den Kopf über sie. »Aufstehen, kleine Fledermaus.«

»Ich bin schon sieben«, entgegnete sie.

»Wusstest du, dass die Andyrá ohne die Zeit der Fremden gelebt haben? Niemand zählte die Sonnenaufgänge, wie es die Fremden tun.«

Interessiert setzte Taya sich auf. »Ist es wichtig, die Zeit zu zählen?«

Tohon zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Die Fremden zählen meine Zeit, damit sie wissen, wann ich zum Kautschukwald muss. Ich bin neun, aber mit zwölf muss ich gehen.«

»Ich wünschte, sie würden die Zeit nicht zählen«, wisperte Taya.

»Wenn papai die weißen Tränen für die Fremden sammeln kann, kann ich es auch«, erklärte Tohon.

»Aber ich will zu den Fledermäusen und ihre Höhlen sehen und unseren Fluss. Sie sind doch unsere Schutzgeister. Warum helfen sie uns nicht?«

»Sag das nicht zu dem Missionar, wenn er wieder zu uns kommt, damit wir zum Kreuz-Gott beten. Sonst bestrafen sie uns.«

Taya erhob sich seufzend von der Bastmatte und folgte ihrem Bruder nach draußen.

Sie trafen auf ihre besten Freunde Yumah und Tallulah. Yumah wurde bald zwölf. Sein papai war im Kautschukwald gestorben. Taya wusste, dass Yumah große Angst vor den Fremden hatte.

Tallulah war so alt wie Tohon, würde aber als Mädchen nicht in den Kautschukwald müssen.

»Die Wächter haben Potira mitgenommen. Sie sagten, dass ihr Bruder tot ist und keiner mehr für sie arbeitet«, erzählte Yumah sichtlich betroffen.

»Wohin haben sie Potira gebracht?« Taya dachte an die junge Frau, die schon zu bluten begonnen hatte.

»Ich habe gehört, wie meine mamãe zu deiner gesagt hat, sie käme ins Hurenhaus.« Yumah raufte sich die Haare. »Unsere mamães haben geweint und sich umarmt.«

»Was ist ein Hurenhaus?«, fragte Tohon.

»Das weiß ich nicht.« Yumah hielt Tallulahs Hand. »Ich glaube, es ist nicht schön da. Wenn ich in den Wald muss, strenge ich mich an, Tula, versprochen.«

Tohon ballte seine Hände zu Fäusten. »Wir müssen die Fledermäuse finden. Sonst hört das nie auf.«

»Bestimmt haben die Fremden die Fledermäuse getötet«, erklärte Tallulah.

»Niemals!« Taya stampfte mit einem Fuß auf. »Keiner kann sie töten. Sie sind zu schlau. Außerdem sind sie unsere Schutzgeister. Sie werden die Fremden von hier fortjagen.«

Yumah sah sie zweifelnd an.

»Man muss an sie glauben, damit sie kommen.« Taya hatte sie oft gerufen. Sie würde nicht aufgeben.

»Wir sollen beim Körbeflechten helfen, hat mamãe gesagt«, wandte Tallulah ein.

»Ich komme gleich, ich gehe mich waschen.« Taya löste sich von den anderen und rannte zum Rio Negro.

Das Ufer war nicht weit entfernt. Hier im schwarzen Wasser konnten sie sich frisch machen.

Taya hatte gehört, dass der Rio Negro weiter oben klares Wasser führte. Zu gern wollte sie das sehen. Niemand erlaubte ihr, die Welt außerhalb des Lagers zu erkunden. Manchmal nahm mamãe sie mit in die Stadt, aber die Wächter kontrollierten das streng.

Wenn mamãe und Taya zum Markt gingen, musste Tohon zurückbleiben, damit sie nicht wegliefen.

Wie so oft stand Taya am Wasser und suchte den Himmel ab. »Wo seid ihr?«, flüsterte sie.

Waren die Fledermäuse tatsächlich fort?

Tief im Wald, wo es keine Fremden gab?

Taya schloss die Augen und stellte sich den Ort der Andyrá vor. Dort musste es klares Wasser geben, Wasserfälle und Flussbecken, in denen ihr Stamm gebadet hatte.

Gab es dort noch Überlebende? Hofften sie auf die Rückkehr ihrer Brüder und Schwestern? So wie Taya und die anderen es in ihrem Lied sangen?

Taya zog ihr Kleid aus, um sich zu waschen.

Sie schlurfte über den Boden im Wasser. Ihre Eltern hatten sie eindringlich vor dem Stechrochen gewarnt, der sich im Schlamm eingrub und einen gefährlichen Stachel hatte.

Während sie ihr Gesicht wusch, nahm sie eine Bewegung wahr. Ein schwarzer Schatten rauschte an ihr vorbei.

Taya drehte aufgeregt den Kopf in Richtung des Vogels.

Oder war es eine Fledermaus? Konnten die Fledermäuse ihres Stammes im Morgengrauen wach sein?

Sie dachte nicht länger nach, sondern warf sich ins Wasser. Taya schwamm der Fledermaus hinterher.

Es musste ein Zeichen sein.

Sie wollte nach ihr rufen, wagte es aber nicht. Wenn jemand sie erwischte, würde sie Ärger bekommen. Mamãe wollte nicht, dass Taya allein rausschwamm.

Hier, wo sie wohnten, war der Fluss frei von Müll. Da hatten sie Glück. Vorne in Manaus stank es fürchterlich, und eklige Sachen schwammen im Wasser. Taya hatte sich ihre Nase zuhalten müssen.

Sie blickte um sich. Die Fledermaus war verschwunden.

Nein. Nein! Nein!!

Hektisch suchte sie den Himmel ab und schwamm im Kreis.

Was hatte sie nur für eine blöde Idee gehabt?

Sie hatte sich zu weit von ihrem Lager entfernt.

Während sie so kräftige Züge schwamm, wie sie konnte, hörte sie das Rufen eines Vogels. Wieder suchte sie das Tier. Seinetwegen war sie zu weit auf den Fluss hinausgeschwommen.

Es kam direkt auf sie zugeschossen und umkreiste sie fliegend.

Taya rang nach Luft. Sie starrte auf die Fledermaus.

Obwohl sie noch nie einer lebendigen Andyrá begegnet war, wusste sie genau, wie sie aussah.

Sie hatte ein rötlichbraunes Fell, kräftige Hinterbeine, eine herzförmige große Nase und spitze Ohren.

Taya hörte die Laute klar und deutlich. Sie erklangen in einer Sprache, die sie nicht verstand.

»Ich kann die Sprache meines Stammes nicht«, rief Taya der Andyrá zu. »Die Fremden haben sie verboten. Mamãe hat mich Portugiesisch gelehrt.«

Die Andyrá verstummte, kreiste aber weiter über ihr.

»Es tut mir leid.« Taya geriet mehr und mehr außer Atem. Ihre Kraft schwand. »Du musst die anderen Schutzgeister holen, damit sie uns befreien.«

Sie bemerkte den aufmerksamen Blick der Fledermaus. Ihre dunklen Knopfaugen bohrten sich in ihre.

Die Erschöpfung ließ Taya keuchen. Sie suchte das rettende Ufer.

Wie sollte sie dieses weite Stück zurücklegen?

Die Angst kroch in ihre Glieder.

Die Fledermaus flog davon. Taya durfte nicht aufgeben und schwamm in Richtung Ufer. Immer wieder drehte sie den Kopf, weil sie die Laute der Andyrá hören konnte.

Die Andyrá umkreiste einen Mann auf einem Einbaum. Sie schien ihn zu kratzen, denn sie flog vor seinem Gesicht, und er schrie auf. Die Andyrá kehrte zu Taya zurück.

Taya winkte dem Mann, der dank der Fledermaus zu ihr herübersah, und rief um Hilfe.

Er paddelte auf sie zu und zog sie bald aus dem Wasser in seinen Einbaum.

Taya schluckte. Der Mann hatte die gleiche Gesichtsfarbe wie der Fluss. So nah war sie noch keinem von denen gekommen. Sie hatte aber gehört, dass die Fremden sie escravos nannten.

Musste sie sich vor ihm fürchten oder war er ein Wunderwerk der Geister wie der Fluss, auf dem sie trieben?

»Kannst du mich ans Ufer bringen?«, fragte sie.

Wortlos nickte er.

Offensichtlich konnte er auch Portugiesisch, sonst hätte er sie kaum verstanden.

»Bist du mit den Fremden zu unserem großen Wald gekommen?«, fragte Taya.

»Die Barbaren schleppten mich her, aber ich bin weggelaufen«, entgegnete er. »Sie sagen, ich bin wild, aber sie sind selbst wild.«

Taya umarmte sich selbst. Die Fledermaus war nirgends zu sehen. »Wir müssen dorthin«, rief sie.

Der Mann brachte sie zwar in Richtung des Ufers, aber viel zu weit südlich. Sie konnte unmöglich die Strecke am Ufer zurücklaufen. Dort standen die großen Häuser, wie Taya welche in Manaus gesehen hatte. Nur die reichen Fremden bewohnten sie.

Sie wies aufgeregt nach Norden.

Der Mann schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin auf der Flucht. Ich paddle nicht zurück. Entweder du schwimmst oder du läufst.«

Er meinte es ernst.

Er näherte sich einem Steg mit Booten. In einiger Entfernung deutete er Taya, seinen Einbaum zu verlassen.

Sie wog die Strecke ab. Dort wohnten bestimmt die Fremden, und die waren böse. Was sollte sie nur machen?

Der Mann würde sie nicht zurückbringen, und auf keinen Fall wollte sie sich noch weiter von ihrer Familie entfernen.

»Raus aus meinem Einbaum«, forderte er. »Ich nehme kein Kind mit.«

Taya glitt ins Wasser und schwamm auf den Steg zu.

Sie musste so schnell wie möglich nach Hause. Mamãe und Tohon waren bestimmt aufgelöst.

Taya erreichte den Steg und zog sich nach oben.

Kaum schlich sie über das Holz, stand wie aus dem Nichts ein Junge vor ihr.

Taya atmete erleichtert auf. Er war so groß wie sie, hatte die vertraute Augenfarbe ihres Volkes und die Haut, die die Sonne geküsst hatte.

»Ich bin Taya und stecke in Schwierigkeiten.« Sie blickte vorsichtig in Richtung des Hauses. Die Fremden hatten den Dschungel bezwungen und das Gelände von Bäumen und Schlingpflanzen befreit. Die Orchideen wuchsen in geordneten Bahnen. Taya runzelte die Stirn.

»Taya.« Der Junge wiederholte ihren Namen und sah sie neugierig an.

»Tayana, aber alle sagen Taya.«

»Ich heiße Paul.«

Taya wunderte sich über seinen seltsam klingenden Namen. »Aus welchem Stamm kommst du?«, fragte sie.

»Stamm?« Paul schien sie nicht zu verstehen. »Du brauchst was zum Anziehen. Warte hier auf mich.« Er eilte davon.

Taya folgte ihm bis zum Ende des Steges und setzte sich auf die Wiese. Schon bald trocknete ihre Haut an der Luft.

Es wäre besser, wenn sie sich was überziehen könnte. Die Fremden hassten Nacktheit, hatte mamãe gesagt. Früher hatten die Andyrá sich keine Stoffe übergeworfen, die in der Schwüle des Dschungels sofort durchnässten. Taya besaß zwei Kleider. Die trug sie abwechselnd.

Bald kehrte Paul zurück.

»Bei uns wohnen keine Mädchen, aber ich habe eines von Mamas Unterkleidern besorgt. Wir können etwas abschneiden.«

Taya wunderte sich über diesen Jungen. Hatte seine Familie genug Geld für Unterkleider? »Was ist das?« Sie deutete auf das Ding in seinen Händen.

»Eine Schere. Damit kann ich das Kleid kürzen. Zieh es an.«

Taya warf sich das übergroße Unterkleid über und versank schon bald in dem Stoff. So etwas Weiches hatte sie noch nie getragen. Es fühlte sich schön an.

Paul legte die Schere auf die Wiese und band ihr mit den Schnüren einen Gürtel. Danach nahm er die Schere und schnitt an ihren Ärmeln den überflüssigen Stoff ab.

»Wem gehört das Kleid? Wird die Frau nicht schimpfen?« Besorgt blickte Taya zum Haus. Sie konnte sich nicht erklären, was vor sich ging. Sie hatte noch nie von einer reichen Familie ihres Stammes gehört, wo die Frauen Unterkleider trugen.

»Es gehört meiner mamãe. Ich nenne sie in meiner anderen Sprache ›Mama‹. Sie ist nett zu allen Leuten.« Paul kürzte das Kleid an ihren Beinen und betrachtete danach lachend seine Arbeit. »Du siehst schön aus, Taya.«

Erst jetzt fiel ihr auf, wie edel Paul gekleidet war. Er trug Hosen aus einem schönen hellen Stoff, die ihm genau passten. Auch sein Hemd schien wertvoll zu sein.

»Warum bist du in dem Wasser geschwommen? Mama sagt, dass es gefährlich ist. Ich soll nicht hineingehen.« Paul deutete auf den schwarzen Fluss. »Eine Anakonda hätte dich fressen können.«

»Ich bin der Fledermaus gefolgt. Sie hat mich gerufen. Leider kann ich unsere alte Sprache nicht. Ich muss mamãe bitten, sie mir beizubringen.« Taya seufzte. »Ich muss nach Hause. Kennst du den Weg nach Norden?«

Paul runzelte die Stirn. »Du schwimmst einer Fledermaus hinterher? Du bist verrückt.« Er lachte.

Taya verzog das Gesicht. Tallulah glaubte auch nicht mehr an die Fledermäuse.

»Sie hat mit mir geredet!« Taya stierte Paul an. Sie war felsenfest davon überzeugt.

Nun lachte er noch ausgelassener.

»Du findest mich witzig? Du bist ein Junge und traust dich nicht ins Wasser. Pah. Tohon und Yumah würden dich auslachen, weil du ängstlicher als ein Mädchen bist.« Taya streckte ihm die Zunge heraus.

»Ich bin mutig.« Paul wehrte sich. Unsicher sah er zum Wasser.

Taya schnaubte über diesen Jungen. Er sah zwar aus wie einer ihres Stammes, schien aber komisch zu sein. »Ich klaue mir etwas zu essen und laufe nach Hause.« Sie schlich sich an die Seite, wo die Orchideen standen.

»Man stiehlt nicht. Das ist unanständig.« Paul folgte ihr.

Unanständig?

»Was bedeutet das Wort?« Sie senkte ihre Stimme. Dort hinten war eine Frau auf die Veranda gekommen, die so dunkle Haut hatte wie der Mann auf dem Einbaum. Sie trug eine riesige weiße Schürze.

Taya hockte sich hinter die Orchideen, um sich zu verstecken.

Paul blieb direkt neben ihr stehen und schaute zu ihr herunter.

Taya ärgerte sich über ihn. »Sieh woanders hin. Du verrätst mich.«

»Warum kniest du dich zu den Blumen?«, fragte er.

»Weil mich sonst die escravo sieht. Nachher bringen sie mich in ein Hurenhaus wie Potira.« Taya krabbelte vorwärts.

Paul folgte ihr. »Was ist ein Hurenhaus?«

»Das weiß ich nicht.« Taya zischte. »Aber wir glauben, dass es nicht schön ist.«

»Du machst dein Kleid schmutzig.«

Taya konnte es nicht fassen. Sie drehte sich entgeistert zu Paul, der ihr folgte. Seinetwegen würde sie jeden Moment entdeckt werden.

»Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das auf dem Boden krabbelt.«

»Und ich habe noch nie einen Jungen gesehen, der Angst vor Schmutz und vor dem Fluss hat.« Sie spähte über die Orchideen zur Veranda. Die Frau mit der Schürze war verschwunden.

Taya atmete auf. Sie hatte noch nichts gegessen und war schrecklich hungrig. »Kannst du von mir weggehen? Ich möchte mir was zu essen klauen.«

Paul schüttelte den Kopf über sie. »Wir können reingehen. Emefa gibt dir was zu essen.«

Taya weitete die Augen. »Reingehen?«

»Komm schon mit, Taya.« Es klang schön, wenn er ihren Namen sagte. Paul steuerte die Veranda an.

Sie biss sich auf die Lippe. Sollte sie dem seltsamen Jungen folgen? Er bewegte sich frei im gezähmten Dschungel, als würde er hier wohnen. Durfte sie mitgehen?

»Taya!« Er winkte sie zu sich.

Sie riskierte es und huschte ihm nach.

Paul ging über die Veranda nach drinnen und hielt Taya die Tür auf. »Emefa?«, rief er.

Schon kam die Frau mit der Schürze.

Taya konnte nicht anders als zu starren. Was war das für ein Zimmer? Alles glänzte vor Sauberkeit, und Möbel standen hier. Diese Familie hatte viel Geld.

Tohon würde ihr nicht glauben, was sie erlebt hatte. Sie musste ihm erzählen, wie die Fremden wohnten.

Die weißen Tränen vom Kautschukbaum mussten sehr wertvoll sein. Warum konnten die Fremden sich sonst solche Dinge kaufen?

Taya starrte auf die Stühle, die mit leuchtenden Stoffen überzogen waren und so weich aussahen, dass sie sich am liebsten hineingeworfen hätte.

»Das ist Taya. Kannst du ihr was zu essen bringen?«, fragte Paul.

»Woher kommen diese Mädchen? Nix Schuhe. Ameisen beißen. Krank sein.«

»Sie hat Hunger, Emefa.«

»Ich holen. Du Mama rufen. Helfen.«

Taya starrte ein Ding an, das sie magisch anzog. »Was ist das?« Sie wollte es berühren, wagte es aber nicht. Es stand auf einem Tisch am Fenster.

»Das ist Mamas Schreibmaschine. Sie drückt die Tasten und schreibt Wörter. Sie erfindet Geschichten und liest sie dann Karl und mir vor«, erzählte Paul strahlend und kam zu Taya. Er zeigte ihr ein weißes Kunstwerk mit schwarzen Zeichen drauf.

Sie sah ihn mit großen Augen an. »So was kann deine mamãe?«

Paul nickte. »Gehst du nicht in eine Schule, um lesen und schreiben zu lernen?«

Taya schüttelte den Kopf.

»Wie alt bist du?«

»Sieben«, antwortete Taya. Sie wusste nicht, was eine Schule ist, aber sie verstand lesen und schreiben, wenn sie es auch nicht beherrschte.

»Ich bin auch sieben. In welchem Monat bist du geboren?« Pauls Augen leuchteten.

»Das weiß ich nicht. Mamãe sagte, es war während der Regenzeit. Deswegen war papai dabei. Wenn der Kautschukbaum weint, sehen wir ihn viele Monde nicht.«

»Essen für Mädchen«, sagte Emefa und stellte einen Teller auf den Tisch.

Taya weitete die Augen. Das war alles für sie?

Sie stürzte an den Tisch und schlang den Eintopf in sich hinein.

Paul setzte sich neben sie und beobachtete sie aufmerksam. Er wartete einen Moment, während Taya gierig die Bohnen kaute. Da war sogar Fleisch drin. Sie konnte es nicht glauben.

Im Lager konnten sie sich das nicht leisten und aßen es nur selten.

»Warum weint der Kautschukbaum?«, fragte Paul, sobald Taya aufgegessen hatte.

Emefa stellte ihr ein Getränk hin.

Taya leerte die Köstlichkeit.

»Mama rufen. Mädchen von Wald nix bleiben. Papa böse sein.« Emefa mahnte Paul.

Er antwortete Emefa nicht, sondern sah Taya abwartend an.

Wusste er denn nicht, warum alle so traurig waren?

Taya seufzte und erzählte es ihm. »Im Dschungel gibt es Bäume, die weiße Tränen weinen, wenn du sie mit der Machete schneidest. Papai muss die Tränen im Eimer fangen und auf dem Feuer eine Kugel machen.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Paul. »Warum muss er das?«

»Weil die Fremden das wollen. Sie haben Gewehre und schießen einen tot«, erklärte Taya.

»Wer sind die Fremden?« Pauls Augen weiteten sich.

Ein Räuspern brachte Taya dazu, sich umzudrehen.

Erschrocken sprang sie vom Stuhl auf und rannte aus dem Haus. Da war eine von ihnen gewesen. Eine Fremde.

»Taya!« Paul stolperte ihr nach. Sie nahm ihn aus dem Augenwinkel wahr.

Sie wollte nichts riskieren und lief zu den Booten. Vielleicht konnte sie einen Einbaum klauen und wegpaddeln.

Am Steg angekommen, sah sie sich hektisch um.

Zwei Boote waren mit einem Seil befestigt, aber Taya war solche nie gefahren. Im Lager teilten sich die Bewohner nur einen Einbaum, um Fische zu fangen.

»Warum läufst du weg?« Paul kam hechelnd neben ihr zum Stehen. Er hielt sich die Seiten. »Du bist schneller als jeder Junge.«

Taya grunzte. »Tohon ist flink wie ein Puma, aber du bist anders.« Sie spähte an ihm vorbei und entdeckte die Fremde, die auf sie zugeeilt kam.

»Porcaria!«, stieß Taya fluchend aus.

»Das sagt man nicht.« Paul sah sie streng an.

»Paul? Schatz, wer ist das?«, rief die Fremde.

Taya suchte nach einem Ausweg. Es gab keinen Einbaum. Im Wasser käme sie nicht weit, bevor ihr wieder die Puste ausging. Der gezähmte Dschungel war mit einem Zaun geschützt.

Kurzerhand hechtete sie an Paul vorbei zum nächsten Baum und kletterte nach oben.

Sie beobachtete durch die Äste und Blätter, was da unten vor sich ging. Paul wich vor der Fremden nicht zurück, sondern redete mit ihr. Es waren Laute, die Taya nicht kannte.

Schließlich kamen die beiden zu ihrem Baum und schauten hinauf. »Hallo, Taya, ich bin Luise. Du musst keine Angst haben.«

Die Fremde redete in Portugiesisch.

»Hast du eine Familie? Ich lasse dich sicher nach Hause bringen.«

»Mama, kann sie nicht noch bleiben?« Paul mischte sich ein.

Die Fremde war seine mamãe? Wie war das möglich?

»Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand tut dir etwas.« Wieder wandte sich die Fremde an sie.

Taya biss sich auf die Lippe. Was sollte sie machen? Sie war eingesperrt. Unruhig bemerkte sie zwei Männer, die Geräte trugen. Sie streckte sich, um zu sehen, was sie taten.

Sie kümmerten sich um die Zähmung des Dschungels.

»Meine mamãe ist nett. Komm runter.« Paul winkte ihr.

Taya verstand nun, dass Paul eine Mutter aus der anderen Welt hatte.

»Warum kommst du nicht rauf? Kannst du etwa nicht klettern?«, rief sie zu ihm hinunter und verzog das Gesicht. Warum war er so ruhig?

Sie begann den Abstieg.

Die Fremde musterte Taya interessiert. »Du bist ein Mädchen der Einheimischen«, sagte sie und beugte sich näher zu ihr. »Wie bist du denn in unseren Garten gekommen?«

»Ich bin der Fledermaus gefolgt«, erklärte Taya.

Die Fremde schluckte sichtbar. »Fledermaus?«

»Mama, kann Taya noch bleiben? Ich will ihr mein Zimmer zeigen.« Paul bettelte seine mamãe an.

Taya spürte den Blick der Fremden auf sich.

»Meine Familie macht sich Sorgen. Ich muss nach Hause gehen.«

Die Fremde nickte. »Ich kümmere mich darum. Wie lautet denn deine Adresse?«

»Ich wohne im Lager der Familien der Seringueiros von Senhor Lorenz«, antwortete Taya. Es handelte sich um einen eingezäunten Bereich, der streng kontrolliert wurde.

Der Fremden entglitten die Gesichtszüge. Trotz der vielen Sonne am Rio Negro war die Haut der Frau bleich.

»Das verstehe ich nicht, Mama«, mischte Paul sich ein.

»Das erkläre ich dir, wenn du älter bist. Ich organisiere die Kutsche, Taya.« Die Fremde lächelte ihr zu, aber es war nicht echt. Taya merkte, dass Pauls mamãe sich schlecht fühlte. Sie sah der Fremden nach, die in das reiche Haus eilte.

»Was machen wir jetzt?« Paul musterte sie mit leuchtenden Augen.

»Du fängst mich, damit du lernst, schneller zu laufen.« Taya streckte ihm die Zunge heraus und rannte los.

Paul ließ sich auf ihr Spiel ein. Er jagte sie quer durch den gezähmten Dschungel. Allerdings hatte er keine Chance, sie zu erwischen. Taya war flink. Bei Tohon hatte sie da kein Glück, weil er der Schnellste von allen war.

Als sie bemerkte, dass Paul außer Puste geriet, ließ Taya sich freiwillig fangen, damit er sich freute.

Paul lachte sogleich auf. »Ich bin auch schnell.«

»Nun fange ich dich.« Taya kicherte, als Paul losstolperte. Sie gab ihm einen Vorsprung und folgte ihm.

»Was macht ihr da?«

Taya blieb stehen und drehte sich zu der Stimme herum. Auf der Veranda stand ein anderer Junge. Er gehörte zu den Fremden. Taya sah es auf den ersten Blick.

»Wir spielen fangen. Willst du mitmachen?«, rief Paul.

»Okay«, antwortete der andere Junge und lief zu ihnen.

»Wenn ich einen von euch gefangen habe, versteinert er.« Taya zeigte, was sie meinte, und stellte sich breitbeinig hin. »Der andere kann ihn befreien, indem er zwischen den Beinen durchkrabbelt.«

Die Jungs nickten und rannten davon.

Taya stürzte sich zuerst auf Paul, weil sie wusste, dass er langsamer als sie war. Bei dem anderen Jungen musste sie es herausfinden.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie beide gefangen, und der andere Junge, er hieß Karl, musste Paul und sie jagen.

Nach einer Weile bemerkte Taya die mamãe der Jungs. Sie saß auf den Stufen der Veranda und sah ihnen beim Spielen zu. Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie hatte sich außerdem umgezogen und trug ein weniger auffälliges Kleid.

Prompt wurde Taya von Paul gefangen, weil sie abgelenkt war. Lachend hielt Paul ihre Hand fest. Seine Augen funkelten so, wie Taya sich die klaren Wasserfälle der Andyrá vorstellte.

»Paul, träumst du? Du musst mich fangen.« Karls Stimme schallte zu ihnen herüber.

Emefa brachte ihnen von dem leckeren Limettengetränk.

»Der Kutscher ist bereit. Ich begleite dich nach Hause«, sagte die Senhora nach einer Weile.

Sofort widersprach Paul. »Mama, kann sie nicht noch bleiben?«

»Ihre Familie wird sich sorgen. Sie wissen nicht, wo Taya ist.«

»Sie kann morgen zu uns kommen, damit wir weiterspielen können«, schlug Karl vor und trat neben Paul.

Taya musste bei der Arbeit helfen und konnte nicht den ganzen Tag spielen. Ehe sie sich erklären konnte, hatte die mamãe der Jungs es schon verboten. »Ihr habt morgen Schule.«

Die Kinder folgten der Senhora.

Mit großen Augen entdeckte Taya bald darauf die Kutsche. Sie hatte in der Stadt schon darüber gestaunt, aber war nie so nah herangekommen.

»Verabschiedet euch von Taya.«

»Tchau, bis bald«, sagte Karl und lächelte freundlich.

Sie lächelte auch. Karl war der erste Junge der Fremden, den sie gesehen hatte, und er war nett.

Paul blickte unglücklich drein. Er fummelte nervös an seinem Hemd und guckte sie nicht an. »Tchau, Taya«, murmelte er und küsste sie auf eine ihrer Wangen.

Im nächsten Augenblick rannte er davon.

Taya fasste sich an die Stelle. Kein Junge hatte ihr je einen Kuss gegeben, außer Tohon, aber der war ihr Bruder.

Die Senhora räusperte sich und deutete Taya, in die Kutsche zu steigen.

Das war verrückt. Sie wurde durch dieses Erlebnis von Paul abgelenkt. Es war seltsam, neben der bleichen Senhora in der Kutsche zu sitzen und herumgefahren zu werden.

Sie musste Tohon davon erzählen. Er würde staunen.

»Weißt du denn, wo mein Lager ist?«, fragte Taya nervös.

»Ja«, antwortete die Senhora knapp. »Die Fledermaus, von der du gesprochen hast – hat sie eine besondere Bedeutung für dich?«

Taya wunderte sich, dass die Fremde sich für die Andyrá interessierte. Sie wusste nicht, ob sie ihr davon erzählen durfte. Schließlich waren die Fremden böse zu ihrem Stamm gewesen. Taya schwieg.

»Hast du eine Tätowierung mit einer Fledermaus?«, bohrte die Senhora.

Taya spielte unglücklich mit ihren Fingern. Diese Fragen behagten ihr nicht.

Sie rückte so nah wie möglich an den Rand, um Abstand herzustellen.

»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verängstigen.« Die Senhora seufzte und fragte nicht länger nach.

Als sie das Lager erreichten, bemerkte Taya erst die Männer, die die Senhora begleiteten und offensichtlich für ihren Schutz sorgten.

»Das Mädchen kann einfach hineinlaufen. Sie wird ihre Familie finden«, erklärte ein Mann am Tor.

»Ich möchte ihre Mutter sprechen«, erwiderte die Senhora.

Der Mann nickte und fragte Taya nach dem Namen ihrer Mutter. »Ich lasse sie herbringen.«

Taya harrte nervös neben der Senhora aus.

Wie Taya es befürchtet hatte, reagierte ihre mamãe aufgelöst. Ihr Gesicht war von Tränen aufgequollen. Taya hatte ein schlechtes Gewissen. Ihre mamãe schloss sie in die Arme und presste sie an sich. Sie murmelte kaum hörbare Worte in der alten Sprache.

Taya würde ihre mamãe anbetteln, sie ihr beizubringen.

»Ihre Tochter hat sich verirrt, aber es geht ihr gut.« Die Senhora adressierte mamãe. »Kommen Sie bitte kurz zu mir in die Kutsche. Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

Mamãe wies zu Tohon, der hinter dem Tor stand und wartete. »Lauf zu deinem Bruder und wartet, bis ich komme.«

Taya rannte durch das Tor ins Lager und fiel Tohon in die Arme. Angespannt hielt er sie fest und starrte zu mamãe. »Bestrafen sie mamãe?«

Ängstlich sah Taya zur Kutsche.

Bitte nicht meinetwegen.

Mamãe war in die Kutsche gestiegen, zusammen mit der Senhora. Sie kamen einige Minuten nicht heraus.

Tohon und Taya klammerten sich aneinander, voller Angst, dass ihre mamãe nicht zu ihnen zurückdurfte.

Als sie endlich aus der Kutsche stieg, hielten die Kinder den Atem an.

Mamãe trat durch das Tor zu ihnen. Sofort fielen Tohon und Taya ihr um den Hals.

Während Taya sich an ihre Liebsten schmiegte, sah sie zu der Senhora herüber. Sie beobachtete sie traurig. Die Senhora sagte etwas zu den Wächtern, das Taya nicht verstand.

Danach ging sie zu ihrer Kutsche und fuhr davon.

2

Paul saß auf dem Bootssteg und starrte auf die Stelle, an der er Taya das erste Mal wahrgenommen hatte. Flink wie ein Fisch war sie geschwommen und auf den Steg geklettert.

Paul hatte noch nie so ein unerschrockenes Mädchen gesehen, geschweige denn mit einem gespielt.

Sie war erst vor Kurzem mit Mama in die Kutsche gestiegen, und Paul war schrecklich traurig, weil Taya fort war.

Er ballte entschieden seine Hände zu Fäusten, denn er fasste einen Plan. Er musste schwimmen, klettern und schnelles Laufen üben. Wenn er Taya das nächste Mal sah, sollte sie staunen, wie flink er sie fangen konnte. Er würde mit ihr auf einen Baum klettern.

Paul rannte zum Haus. Er schlüpfte ins Wohnzimmer und eilte schließlich die Treppen nach oben in sein Zimmer. Dort suchte er bequemere Kleidung, um zu klettern.

Karl erschien im Türrahmen. »Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, dass so schnell ist.« Er trat ins Zimmer. »Was machst du denn?«

»Ich ziehe mich um und klettere auf einen Baum«, antwortete Paul.

Karl lachte auf. »Du spinnst. Du hast sie sogar auf die Backe geküsst. Das war peinlich.«

Paul zuckte bei der Erinnerung zusammen. Karl hatte recht. Dieser Kuss war das Peinlichste gewesen, was er je gemacht hatte.

»Jungs küssen keine Mädchen. Das ist eklig.« Karl verzog das Gesicht.

Paul stimmte seinem Bruder zu. Nur bei Taya war das anders. Bei ihr war es nicht eklig, sondern toll. »Ich küsse keine Mädchen, nur Taya, weil ich sie heirate, wenn ich groß bin«, erklärte Paul überzeugt.

Karl lachte so laut, dass Paul wütend wurde. Er zog sich seine Schuhe an und schob sich an seinem Bruder vorbei.

»Was machst du jetzt? Kinder heiraten nicht.« Karl folgte ihm auf dem Fuß.

»Das weiß ich, du Blödmann. Ich übe klettern, damit Taya staunt.«

Paul steuerte den Baum an, den Taya eben erklommen hatte. Er hielt sich an den abstehenden Ästen fest.

Verwundert bemerkte er, dass Karl ihm folgte. Was sollte denn das? »Ich klettere, nicht du«, schimpfte Paul.

Karl schüttelte den Kopf. »Über mich soll Taya auch staunen.«

Das gefiel Paul nicht. Karl wurde immer von Papa bevorzugt. Wenn Taya ihn auch noch lieber mochte, wäre Paul furchtbar traurig.

»Was machen Kinder in Baum?« Emefa lief schnaufend herbei.

Paul entdeckte sie unten auf dem Rasen. Er beeilte sich, höher zu klettern, damit sie ihn nicht erreichen und herunterziehen konnte.

Für Karl war es zu spät. Emefa erwischte ihn und holte ihn vom Ast. »Nix gut. Senhor Lorenz böse sein.«