Das weiße Haus mit den weißen Dachziegeln - Theodoros Iatridis - E-Book

Das weiße Haus mit den weißen Dachziegeln E-Book

Theodoros Iatridis

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Beschreibung

Irgendwann werden wir aufwachen und nichts wird mehr so sein, wie es gewesen ist. Ich schaue nach links und dort steht ein türkisfarbenes Haus mit türkisfarbenen Dachziegeln und blauen Fensterläden. Ich verlasse meinen Trampelpfad, öffne die türkisfarbene Tür und trete ein. Es ist ein Café und es fühlt sich an, als wäre das Heute ein Gestern und alles, was ich gerade tue, ist bereits vollbracht worden. Folgt Thomas auf seiner absonderlichen Abenteuerreise und werdet Zeugen einer grotesken Welt. Eine Geschichte über die Liebe eines Mannes, an einem bizarren Tag, der kein Ende zu finden scheint. "Der falsche Weg von was?", erwidere ich und nun wispern wir beide. "Der falsche Weg durch den Wald der Guten Hoffnung." "Irre, Wahnsinn, einfach völlig neben der Spur"

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Für meine Schwester

Vorwort

Manchmal erschafft uns der Verstand ganz wundersame Welten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Hinten auf dem Dachfirst des Nachbarn reihen sich die Tauben. Sie blicken alle hoch in den Himmel, dann runter in den Garten, stoßen sich ab und fliegen los. Schöne graue Artgenossen drehen immer und immer wieder unnachgiebig ihre Kreise. Sie scheppern an meinem Fenster vorbei, hinterlassen schallende Flügelschläge und landen eine nach der anderen wieder auf dem Dachfirst meines Nachbarn. Sie sind Tänzerinnen, breiten ihre Flügel aus, drehen sich im Gleichschritt einmal um sich herum, stoßen sich ab und fliegen ihre nächste Runde.

Ein wolkenloser Himmel ebnet der Sonne ihren Auftritt. Wie kann etwas so Simples immerzu wunderschön bleiben? Ein Wiedersehen, das einem ein Schmunzeln ins Gesicht treibt. Ein hey, schön, dich wiederzusehen oder ein hat dir schon mal jemand gesagt, wie bezaubernd du ausschaust? Ich möchte hierbleiben, für immer und ewig. In meinem Haus, mit Hannah, meiner Frau.

Sie wird unten sein, durch das Haus schlendern und Lieder summen. Das tut sie immer und irgendwann komme ich runter und sie lächelt mich an und ich lächle zurück. Weil ich glücklich bin.

Ich kann aber nicht für immer bei meiner Hannah in meinem Haus bleiben. Der Morgenhimmel bleibt auch nicht immer der Morgenhimmel. Die Erde dreht sich und irgendwann begrüßt mich der Mittagshimmel, dann der Abendhimmel und schließlich der Nachthimmel.

Ich muss gleich zur Arbeit, Geld verdienen. Ob die Sonne auch Geld verdienen muss? Wohl eher nicht. Scheint ein menschliches Problem zu sein. Das Leben eines Menschen überfordert den Menschen. Ich wünsche mir, für immer hier am Fenster zu stehen, keinen Hunger und Durst leiden, keine wandernde Sonne, keine Regenwolken, die mir das süße Erlebnis verderben, kein Altern, kein Sterben – für immer hier bleiben, in meinem Haus, bei meiner Hannah, neben den Tauben des Nachbarn. Flattert, ihr schönen Flugmeister, gurrt mir ein Liedchen und tanzt dazu.

Wenn ich nicht runtergehe, wird Hannah hochkommen und nach mir sehen. Sie wird viermal klopfen. Das tut sie immer, denn vier ist ihre Glückszahl und dann kichert sie, weil ich die Augen verdrehe. Ich halte nichts von Aberglauben. Einmal fragte ich mich, ob sie nur viermal klopft, um mir dabei zuzusehen, wie ich die Augen verdrehe. Seitdem verdrehe ich die Augen erst dann, wenn wir uns gegenüberstehen. Ich liebe ihr verschmitztes Kichern.

Ich halte eine leere Flasche Wein in meiner rechten Hand. Wie sie dort gelandet ist, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wie ich hier hochgekommen bin. Ich fühle mich benommen, also habe ich die Flasche geleert und bin betrunken. Ich lache. Hier auf dem Dachboden in meinem Arbeitszimmer lache ich. Nicht laut und eigentlich ist das kein richtiges Lachen, eher so ein tragikomisches Seufzen, das einem Lachen gleichkommt. Ich habe es schon wieder getan, mich besinnungslos betrunken. Die Kurzfassung lautet also: Ich stehe betrunken in meinem Arbeitszimmer, beobachte die Tauben durchs Fenster bei ihrem Tagesgeschäft, denke an Hannah und kann mich nicht erinnern, wann und wie ich hier hochgekommen bin. Kürzer: Ich bin betrunken in meinem Zimmer und schaue aus dem Fenster. Relevant: Ich bin mal wieder betrunken.

Hinter mir an der Wand steht ein kleiner weißer Tisch. Davor ein brauner Sessel und auf dem Tisch ein Monitor mit einer Tastatur und einer Maus und unter dem Tisch ein grauer Rechner. Spartanisch eingerichtetes Zimmer soll nicht ablenken. Spartanisch eingerichtetes, weiß gestrichenes Zimmer ist mit einem roten Teppich ausgelegt. An den Wänden hängen Bilder von mir und Hannah. Sie lächelt. Rotes, langes, leuchtendes Haar. Sommersprossen im Gesicht. Sie ist die Hauptattraktion auf jeder Fotografie und ich nur ein Nebendarsteller. Wir waren jung, neunzehn Jahre alt. Viele Bilder aus ihrer Zeit im Krankenhaus auf dem Krankenbett.

Ich halte die leere Flasche Wein hoch und flüstere: „Auf dich, Hannah, und darauf, dass wir auch diese schwere Zeit überstanden haben.“

Jeden ersten Donnerstag eines jeden Monats leere ich eine Flasche Rotwein zum Frühstück, ohne jegliche Erinnerung daran, wie es sich zugetragen hat. Immerzu stehe ich vor dem Fenster und beobachte Tauben.

Ich rufe meinen Chef an.

„Was gibt’s, Thomas?“, fragt er.

„Einen Tag Urlaub, Chef“, erwidere ich.

„Du hörst dich betrunken an“, stöhnt er und ich lache.

„Du musst das in den Griff bekommen. Das geht so nicht weiter. Such dir Hilfe.“

„Ich brauche keine Hilfe, mir geht es gut. Kriege ich nun Urlaub oder soll ich zur Arbeit fahren?“

„Ich würde dich ohnehin wieder nach Hause schicken. Dich bei der Polizei und der Berufsgenossenschaft melden. Herrgott, Thomas, was ist bloß los mit dir?“

„Du bist nicht mein Psychiater, Chef. Du bist nur mein Chef, Chef. Also, geht klar?“

„Bleib zu Hause und morgen sprechen wir.“

„No Problem. Morgen Gespräch. Ist notiert.“

Ich lege auf. Gedanken sind klarer als Sprache. Sprechen fällt schwer, doch die erste Hürde ist überwunden. Jetzt folgt die nächste – Hannah ausweichen und losgehen. Spazieren. Den Tag vertrödeln und dem Leben beim Leben zuschauen.

Ich öffne die weiß gestrichene Tür, gehe langsam die weiß gestrichenen Stufen der weiß gestrichenen Treppe hinunter, gelange ins erste Obergeschoss, halte mich am weiß gestrichenen Geländer fest und gehe hinunter ins Erdgeschoss. Unten am Fußende steht meine schöne Hannah. Das Ausweichen hat sich erübrigt. Sie lächelt und ihre Sommersprossen wandern, zeichnen Sternbilder auf ihrem Gesicht und ich liebe es, wenn sie das tun. Nun lächle ich auch, wie immer, wenn ich sie sehe, und irgendwie sind wir noch dieselben Kinder, die sich vor ihrem Elternhaus das erste Mal begegnet sind. Sie in kurzer Hose mit zwei geflochtenen Zöpfen unter dem wolkenlosen frühsommerlichen Himmel und ich mit meinem rostigen gelben Tretroller und einem Kaugummi im Mund. Es ist wie damals. Wir lächeln und wir wissen, was wir damals schon wussten – wir gehören zusammen. Bis die Welt auseinanderbricht.

Sie greift mit ihren beiden Händen nach meinen und ihre linke Hand ist kalt und ihre rechte ist warm. Sie ist ein Wärmetauscher.

„Komm“, sagt sie und ich folge ihr. Ich widerspreche ihr nie. Seit sie im Krankenhaus gelegen hat, widerspreche ich nicht.

„Du hast getrunken, nicht wahr?“

„Ja“, antworte ich, weil ich sie nie belüge. Wir setzen uns ins weiße Wohnzimmer auf das weiße Sofa. Unsere Hände greifen einander. Alles in diesem Haus ist weiß – Fernsehwand, Couchtisch, Kommoden, Vasen, Bilderrahmen. Doch hier unten hängen nur leere Bilderrahmen. Keine Bilder von einer lächelnden Hannah mit einem komischen Nebendarsteller an ihrer Seite.

„Erzähl mir von deinem Rausch.“

„Mir ist schwindelig“, antworte ich.

„Und was noch?“

„Mir ist schlecht.“

„Fühlst du dich gut?“

„Nein.“

„Hat es geschmeckt?“

„Ich denke schon.“

„Alkohol ist giftig.“

„Das weiß ich.“

Sie runzelt die Nase und ein Stern wird in mir geboren, wenn sie das tut. Die Sommersprossen wandern von rechts nach links und von links nach rechts und ich erkenne einen Bogenschützen, der einen Pfeil gespannt hat.

„Ich wollte nicht zu diesem Mittel greifen.“

„Zu welchem?“, frage ich

„Hör auf, dich zu betrinken. Tu es für mich.“

„Einverstanden.“

Ich weine. Ihre Stimme klingt melodisch wie plätscherndes Quellwasser. Sie duftet nach einer Mischung aus Flieder und trockenem Kieferholz. Ich weine, weil ich sie liebe und dass ich trinke, missfällt ihr. Ich bin ein schlechter Ehemann. Da ich aber ein guter Ehemann sein möchte, werde ich mit dem Trinken aufhören. Es ist beschlossen. Ihre Sommersprossen formen sich zu einer Waage und ihre Wangen erröten.

„Wie wirst du deinen Tag heute gestalten? Es ist der letzte Alkoholrausch deines Lebens. Das muss gefeiert werden. Wie wäre es mit einem langen Spaziergang?“

„Ja, so habe ich es geplant.“

„Und wenn du wiederkommst?“

„Machen wir, was auch immer du möchtest.“

„Lass uns heute reden, wenn du zurück bist. Ich denke, das ist lange überfällig, meinst du nicht auch?“

Ich schaue aus der Terrassentür in den Himmel und sehe die Tauben ihre Kreise drehen. Sehe den blauen Himmel und die Sonne hinter den Baumwipfeln des angrenzenden Waldes leuchten. Der Tag verspricht mir ein ganz besonderer zu werden. Ich werde mit dem Trinken aufhören, halleluja. Versprochen ist versprochen und ich breche keine Versprechen, die ich Hannah gegeben habe.

Ich stehe auf, löse unsere verbundenen Hände, hole mir einen Abschiedskuss ab und verlasse das Haus. Die Sonne ist nicht warm, der Tag nicht kalt. Es ist, als würde man sich im lauwarmen Meerwasser auf dem Rücken mit geschlossenen Augen treiben lassen – von der Strömung, von der Leichtigkeit. Ich bin betrunken, doch wenn der Rausch vorübergestrichen sein wird, werde ich diese Leichtigkeit annehmen und über diesen wundervollen Tag hinweggleiten. Ich freue mich darauf und ich stehe draußen, doch das Draußen, das ich kenne, hat sich verändert. Mein Haus steht nicht dort, wo es immer stand. Ein Weizenfeld hat sich wie ein Teppich über das Dorf gelegt und es unter sich begraben. Die Sonne strahlt es golden an und eine Weizenwelle wird von weit her zu mir hinübergeweht. Es ist, als wolle das Leben sagen, es fühlt sich nicht nur nach Leichtigkeit an, es ist das pure Vergnügen und allein für dich erschaffe ich einen Tag, der alle bisherigen in den Schatten stellt – und wenn ich dafür dein Haus entführen muss.

Am Weizenfeld geht ein Trampelpfad entlang. Ein Pfahl mit zwei Pfeilen ist aufgestellt. Der eine Pfeil zeigt nach links: Abenteuer. Und der andere Pfeil zeigt nach rechts: Schutz.

Ich blicke zurück zu meinem weißen Haus mit den weißen Dachziegeln und den blauen Fensterläden.

Der Himmel ist blau, die Tauben drehen ihre Kreise, das Nachbarhaus ist verschwunden und sie setzen sich auf meinen Dachfirst. Am Fenster steht Hannah, meine rothaarige Schönheit, und winkt mir zu. Sie wundert sich nicht, dass unsere Nachbarschaft nicht weiter unsere Nachbarschaft ist. Sie wundert sich nicht über das Weizenfeld, das goldig in alle Richtungen strahlt. Wundert sich nicht, dass ich nach links spaziere und das Abenteuer wähle. Ich bin nie ein Abenteurer gewesen, doch vielleicht sieht sie es ganz anders. Ich winke ihr zu, bis sie immer kleiner wird und wir uns nicht mehr sehen.

2

Die Füße schmerzen nicht. Ich gehe immer weiter. Stunden schon. Mein weißes Haus mit den weißen Dachziegeln, ich habe es gebaut. Damals, nachdem Hannah aus dem Krankenhaus entlassen worden war, fuhr ich täglich nach der Arbeit zum Haus und errichtete die Innenwände, verlegte Elektroleitungen und die Fußbodenheizung. Zwei linke Hände wurden zu zwei rechten. Jeden Tag nach der Arbeit arbeitete ich und abends, wenn ich zu Hannah fuhr, entspannte ich: Wir aßen zusammen, lachten, ich massierte sie, wir liebten uns.

Kannst du dich noch an das Gefühl erinnern, Hannah, als du das Haus gesehen hast? Ich sagte Jetzt ist alles gut. Deine Krankheit sei überstanden, unser Traumhaus sei fertig und nun könnten wir das Leben führen, das wir uns vorgestellt hatten. Du und ich bis ans Ende unserer Tage. Ich führte dich durch die Zimmer und du fragtest mich, warum alles so weiß sei und ich antwortete Weil Weiß die Farbe der Reinheit ist, so rein wie meine Liebe zu dir, und dir hat es gefallen. Also blieb alles weiß und es wurde zu deiner Lieblingsfarbe. Ich zeigte dir unseren langgezogenen Garten. Er wirkte auf dich wie eine Laufbahn. Es würden nur noch die Markierungen fehlen und ich lachte. Die falschen Zypressen an den Seiten haben dir sehr gefallen. Du meintest, sie würden dich an die Toskana erinnern, die du so gern auf Bildern bestaunt hast und ich entgegnete dir, dass wir dann wohl einmal in unserem Leben in die Toskana fahren sollten. Du küsstest mich und dann sahen wir uns in die Augen und ich strich dir über das Gesicht. Deine Sommersprossen explodierten wie Feuerwerksraketen und Sommersprossensplitter formten mehrere Herzen. Hinten am Ende des Grundstücks stand ein Apfelbaum. Es war Herbst und Früchte hingen an ihm und wir kosteten.

Glück ist unbezahlbar, sagtest du, unsere Mission lautet also, dieses Haus mit Liebe auszufüllen. Dann kommt Glück von ganz allein. Meinst du nicht auch?

Unser Haus ist zwar schon lange nicht mehr zu sehen, doch die Tauben kreisen noch immer über mir. So, als hätte ich mich nicht fortbewegt. So, als wäre nur mein Haus gewichen und das mir endlos erscheinende Weizenfeld ist überhaupt nicht endlos, der Weg auch nicht und die Tauben gurren dort, wo sie schon immer gegurrt haben, über mir. Sie erzählen mir Geschichten. Nur kann ich sie nicht verstehen. Sie machen keine Rast, fliegen seit Stunden ohne Pause.

„Es tut mir leid, dass ich euch nicht verstehe“, sage ich und blicke dabei hoch zu ihnen. Im nächsten Augenblick brülle ich: „Stopp!“

Ich bin nach links marschiert, um ein Abenteuer zu erleben. Ist die Ruhe selbst und diese goldene Idylle rechts von mir bereits ein Abenteuer? Etwas, was man den Enkelkindern erzählen kann? Hört, ich bin Stunden gelaufen und das Weizenfeld war ein Weizenfeld, von dem man sagt, es gäbe kein Ende. Also trottete ich heim zu eurer wunderschönen Großmutter zurück.

Die Tauben begleiten mich. Treue Seelen. Flugmeister.

„Schrei hier nicht so rum.“

Eine Frau sitzt auf einer Parkbank am Weizenfeld. Sie ist jung und alt zugleich. So, als würde sie sich stets verändern, so als könne sie sich aussuchen, was sie gern sein wollte.

„Möchtest du etwa alt sein?“, frage ich.

„Du tust so, als sei es etwas Grauenhaftes. Schrei hier nicht so rum und setz dich zu mir auf die Bank.“

„Ich habe keine Zeit.“

„Wieso nicht?“

„Ich bin ein Abenteurer.“

Die Frau lächelt. Sie ist blond. Nein, silbrig. Sie ist blond und silbrig im Wechsel.

„Du bist nicht mehr der Jüngste. Hast du es versäumt, auf den Abenteuerzug aufzuspringen?“