Das Wochenende - Bernhard Schlink - E-Book + Hörbuch

Das Wochenende E-Book

Bernhard Schlink

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Beschreibung

Nach 20-jähriger Haft hat ihn der Bundespräsident begnadigt. Zum ersten Wochenende in Freiheit lädt seine Schwester die alten Freunde ein. Für sie ist das Leben weitergegangen. Und für ihn? Was bleibt von der Zeit der Gewalt? Legenden? Bewältigung? Sprachlosigkeit?

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Seitenzahl: 251

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Bernhard Schlink

Das Wochenende

Roman

Die Erstausgabe erschien 2008

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Max Liebermann,

›Landhaus in Hilversum‹,

1901 (Ausschnitt)

Copyright © Bildarchiv

Preußischer Kulturbesitz/

Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

Foto: Jörg P. Anders

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23965 2 (3.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60331 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Freitag

[7] 1

Kurz vor sieben war sie da. Sie hatte erwartet, am frühen Morgen rascher voran- und früher anzukommen. Als noch eine und noch eine Baustelle kam, wurde sie nervös. Würde er durch das Tor treten, vergebens nach ihr Ausschau halten und als erstes enttäuscht und entmutigt sein? Im Rückspiegel ging die Sonne auf – sie wäre ihr lieber entgegengefahren als vor ihr davon, auch wenn es sie geblendet hätte.

Sie parkte, wo sie immer geparkt hatte, und ging den kurzen Weg zum Tor so langsam, wie sie ihn immer gegangen war. Sie räumte alles, was ihr eigenes Leben betraf, aus ihrem Kopf und machte Platz für ihn. Zwar hatte er immer einen festen Platz in ihrem Kopf; es verging keine Stunde, ohne daß sie sich fragte, was er wohl gerade mache, wie es ihm wohl gerade gehe. Aber wenn sie ihm begegnete, gab es für sie nur ihn. Jetzt, wo sein Leben nicht mehr auf der Stelle trat, sondern wieder in Bewegung kam, brauchte er erst recht ihre Aufmerksamkeit.

Der alte Sandsteinbau lag in der Sonne. Wieder berührte es sie eigentümlich, daß ein Gebäude einem so häßlichen Zweck dienen und dabei so schön sein konnte: die Mauer mit dem wilden Wein, wiesen- und waldgrün im Frühling und Sommer, gelb und rot im Herbst, die kleinen Türme auf [8] den Ecken und der große in der Mitte, dessen Fenster an die Fenster einer Kirche erinnerten, das schwere Tor, abweisend, als wolle es nicht die Bewohner ein-, sondern deren Feinde aussperren. Sie sah auf die Uhr. Die da drin ließen einen gerne warten. Oft war es ihr passiert, daß sie vergebens einen zweistündigen Besuch beantragt hatte und nach der bewilligten Stunde einfach nicht abgeholt wurde und noch eine halbe oder dreiviertel Stunde bei ihm saß, ohne wirklich mehr bei ihm zu sein.

Aber als die Glocken der nahen Kirche das Sieben-Uhr-Geläut begannen, ging das Tor auf, und er trat heraus und blinzelte in die Sonne. Sie lief über die Straße und umarmte ihn. Sie umarmte ihn, ehe er die beiden großen Taschen absetzen konnte, und er stand in ihrer Umarmung, ohne sie zu erwidern. »Endlich«, sagte sie, »endlich.«

»Laß mich fahren«, sagte er, als sie am Auto standen, »ich habe so oft davon geträumt.«

»Du traust dich? Die Autos sind schneller geworden und der Verkehr dichter.«

Er bestand darauf und fuhr auch weiter, als ihm vor Anstrengung der Schweiß auf die Stirn trat. Sie saß angespannt neben ihm und sagte nichts, wenn er in der Stadt beim Abbiegen und auf der Autobahn beim Überholen Fehler machte. Bis eine Raststätte angezeigt wurde und sie sagte: »Ich muß frühstücken, ich bin seit fünf Stunden auf.«

Sie hatte ihn alle zwei Wochen im Gefängnis besucht. Doch als er mit ihr an der Theke entlangging, das Tablett belud, an der Kasse stand, vom Klo kam und ihr gegenübersaß, war ihr, als sähe sie ihn nach langer Zeit erstmals wieder. Sie sah, wie alt er geworden war, älter, als sie bei [9] ihren Besuchen wahrgenommen oder sich eingestanden hatte. Auf den ersten Blick war er immer noch ein gutaussehender Mann, groß, kantiges Gesicht, leuchtendgrüne Augen, volles graubraunes Haar. Aber die schlechte Haltung betonte den kleinen Bauch, der nicht zu den dünnen Armen und Beinen paßte, der Gang war schleppend, das Gesicht grau, und die Falten, kreuz und quer auf der Stirn und steil und lang in den Wangen, zeigten nicht Konzentration an, sondern ein diffuses Überfordertsein. Und wenn er redete – sie erschrak über die Schwerfälligkeit und Zögerlichkeit, mit der er auf ihre Worte reagierte, und über die zufälligen, fahrigen Handbewegungen, mit denen er seine Worte unterstrich. Wie hatte sie das bei ihren Besuchen nicht bemerken können? Was, das mit ihm und in ihm vorging, hatte sie sonst nicht bemerkt?

»Wir fahren zu dir?«

»Wir fahren übers Wochenende aufs Land. Margarete und ich haben in Brandenburg ein Haus gekauft, in schlechtem Zustand, ohne Heizung, ohne Elektrizität, und Wasser gibt’s nur draußen an der Pumpe, aber mit einem großen alten Park. Jetzt im Sommer ist es dort wunderschön.«

»Wie kocht ihr?«

Sie lachte. »Das interessiert dich? Mit dicken roten Gaskartuschen. Für das Wochenende habe ich zwei extra; ich habe die alten Freunde eingeladen.«

Sie hatte gehofft, er werde sich freuen. Aber er zeigte keine Freude. Er fragte nur: »Wen?«

Sie hatte hin und her überlegt. Welche alten Freunde würden ihm guttun, welche würden ihn nur verlegen oder verschlossen machen? Er muß unter Menschen, sagte sie [10] sich. Außerdem braucht er Hilfe. Von wem, wenn nicht von den alten Freunden? Am Ende setzte sie darauf, daß die, die sich über ihren Anruf freuten und kommen wollten, auch die richtigen seien. Bei manchen von denen, die absagten, spürte sie aufrichtiges Bedauern; sie wären gerne dabeigewesen, wenn sie es früher gewußt und nicht schon anders geplant hätten. Aber was sollte sie machen? Die Entlassung war überraschend gekommen.

»Henner, Ilse, Ulrich mit neuer Frau und Tochter, Karin mit Mann, natürlich Andreas. Mit dir, Margarete und mir sind wir zehn.«

»Marko Hahn?«

»Wer?«

»Du weißt schon, er hat mir lange nur geschrieben, mich vor vier Jahren das erste Mal besucht und seitdem verläßlich immer wieder. Neben dir ist er…«

»Du meinst den Verrückten, der dich beinahe die Begnadigung gekostet hat?«

»Er hat nur getan, worum ich ihn gebeten habe. Ich habe das Grußwort geschrieben, ich kannte die Adressaten und den Anlaß. Du hast ihm nichts vorzuwerfen.«

»Du hast nicht wissen können, was du anrichtest. Er hat es gewußt und dich nicht abgehalten, sondern reingeritten. Er benutzt dich.« Sie war wieder so wütend wie an dem Morgen, an dem sie in der Zeitung las, daß er an einen obskuren linken Kongreß über Gewalt eine Grußbotschaft geschrieben hatte. Damit habe er seine Unfähigkeit zu Einsicht und Reue offenbart – so einer dürfe nicht begnadigt werden.

»Ich rufe ihn an und lade ihn ein.« Er stand auf, suchte [11] und fand in seiner Hosentasche Münzen und ging zum Telephon. Sie stand auch auf, wollte ihm nachlaufen und ihn festhalten, setzte sich. Als sie sah, daß er im Gespräch nicht weiterwußte, stand sie wieder auf, ging zu ihm, nahm den Hörer und beschrieb den Weg zu ihrem Haus. Er legte den Arm um sie, und das tat ihr so wohl, daß sie versöhnt war.

Als sie weiterfuhren, saß sie am Steuer. Nach einer Weile fragte er: »Warum hast du meinen Sohn nicht eingeladen?«

»Ich habe ihn angerufen, und er hat einfach aufgelegt. Dann habe ich ihm einen Brief geschrieben.« Sie zuckte die Schultern. »Ich wußte, daß du ihn gerne dabeihaben würdest. Ich wußte auch, daß er nicht kommen würde. Er hat sich schon vor langem gegen dich entschieden.«

»Das war nicht er. Das waren sie.«

»Was für einen Unterschied macht das? Er ist der geworden, den sie aufgezogen haben.«

[12] 2

Henner wußte nicht, was er von dem gemeinsamen Wochenende halten und was er erwarten sollte: vom Wiedersehen mit Jörg, von dem mit Christiane und mit den anderen alten Freunden. Als Christianes Anruf gekommen war, hatte er sofort zugesagt. Weil er ein Flehen in ihrer Stimme gehört hatte? Weil frühe Freundschaft ein Recht auf lebenslange Loyalität hat? Aus Neugier?

Er kam früh. Er hatte auf der Landkarte gesehen, daß Christianes Haus an ein Naturschutzgebiet grenzte, und wollte vor dem Wiedersehen gerne noch laufen. Laufen, durchatmen, abschalten. Er war erst am Mittwoch von einer Konferenz in New York unter das Gesetz seines übervollen Schreibtischs und übervollen Terminkalenders zurückgekehrt.

Erstaunt sah er, wie stattlich das Anwesen war: steinerne Mauer, eisernes Tor, hohe Eiche vor dem Haus und weiter Park dahinter, das Haus ein mehrere hundert Jahre alter Landsitz. Alles war heruntergekommen. Das Dach war mit rostigem Wellblech gedeckt, der Verputz des Hauses bröckelte und schimmelte, und die Wiese, zu der sich die Terrasse an der Rückseite einst geöffnet hatte, war mit Gesträuch und Gehölz zugewachsen. Aber die Fenster waren neu, vor dem Haus war frisch gekiest, auf der Terrasse stan[13] den hölzerne Biergartenmöbel, ein Tisch und vier Stühle aufgeschlagen, weitere Tische und Stühle zusammengefaltet, und die Wege in den Park waren vom Bewuchs freigeräumt worden.

Henner nahm einen der Wege und tauchte in eine stille, grüne Waldwelt ein; über sich sah er keinen Himmel, sondern sonnenhelles Blattwerk, und auf den beiden Seiten des grasbewachsenen Wegs schien es durch das Dickicht von Stämmen und Büschen kein Durchkommen zu geben. Eine Weile hüpfte ihm auf dem Weg ein Vogel voraus; er verschwand so plötzlich, daß Henner nicht hätte sagen können, wohin er verschwunden und ob er davongehüpft oder -geflogen war. Henner begriff, daß die vielen Windungen des Wegs daher rührten, daß der Architekt den Park weitläufig erscheinen lassen wollte. Trotzdem fühlte er sich wie in einem Zauberwald, als sei er verwunschen und sei ihm verwehrt, wieder nach draußen zu finden. Als er dachte, daß er auch gar nicht mehr nach draußen finden wolle, war die Waldwelt zu Ende und stand er vor einem breiten Bach, am anderen Ufer lagen Felder und in der Ferne ein Dorf mit Kirchturm und Getreidesilos. Immer noch war alles still.

Dann sah er bachab eine Frau auf einer Bank sitzen. Sie hatte geschrieben, Heft und Stift auf den Schoß sinken lassen und beobachtete ihn. Er ging zu ihr. Eine graue Maus, dachte er, unscheinbar, unbeholfen, unsicher. Sie sah ihm entgegen. »Du kennst mich nicht mehr?«

»Ilse!« So oft passierte es ihm, daß er einem ihm vertrauten Menschen gegenüberstand und einfach nicht auf den Namen kam – er freute sich, daß er auch einmal sofort den [14] Namen zu einem Gesicht fand, das er fast nicht mehr wiedererkannt hätte. Als er Ilse irgendwann in den siebziger Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war sie eine hübsche junge Frau gewesen, Nase und Kinn ein bißchen spitz, der Mund ein bißchen streng, die Haltung immer ein bißchen gebeugt, damit ihre großen Brüste keine Blicke auf sich zogen, aber sie leuchtete hellhäutig, blauäugig, blond. Jetzt fand Henner das Leuchten nicht mehr, auch wenn sie mit freundlichem Lächeln auf das Wiedersehen und Wiedererkennen reagierte. Er war verlegen, als sei, daß sie nicht mehr war, was sie damals zu sein und zu bleiben versprochen hatte, peinlich. »Wie geht’s dir?«

»Ich mache frei. Drei Stunden Englisch – meine Freundin ist für mich eingesprungen und hat es sicher gut gemacht, aber wenn sie mich anrufen würde oder ich sie erreichen könnte, wäre mir wohler.« Sie sah ihn an, als könne er ihr helfen. »Ich habe das noch nie gemacht: einfach freimachen.«

»Wo bist du Lehrerin?«

»Ich bin geblieben. Als ihr weg seid, habe ich den Referendar fertiggemacht, die erste Stelle gefunden und dann an meiner alten Schule die zweite. Ich habe sie immer noch: Deutsch, Englisch, Kunst.« Als wolle sie’s hinter sich bringen, fuhr sie fort: »Ich habe keine Kinder. Ich habe nicht geheiratet. Ich habe zwei Katzen und eine Eigentumswohnung am Berg mit Blick auf die Ebene. Ich bin gerne Lehrerin. Manchmal denke ich, daß dreißig Jahre genug sind, aber das geht wohl jedem so mit seinem Beruf. Ist ja auch nicht mehr lange.«

Henner wartete auf die Gegenfrage. Und wie geht es dir? [15] Als sie nicht kam, fragte er weiter. »Warst du mit Jörg und Christiane immer in Kontakt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Christiane habe ich vor ein paar Jahren zufällig auf dem Frankfurter Bahnhof getroffen; der Schnee hatte den Fahrplan durcheinandergebracht, und wir warteten auf unsere Anschlüsse. Seitdem haben wir ab und zu telephoniert. Sie hat gesagt, ich soll Jörg schreiben, aber ich habe mich lange nicht getraut. Als er den Antrag gestellt hat, habe ich’s schließlich getan. ›Ich flehe nicht um Gnade. Ich habe diesen Staat bekämpft, und er hat mich bekämpft, und wir schulden einander nichts. Wir schulden Treue nur dem eigenen Anspruch.‹ Erinnerst du dich? Die Ankündigung, er habe den Antrag auf Begnadigung gestellt, war so stolz – auf einmal war Jörg wieder der Junge, den ich kennengelernt habe. In den ich mich verliebt habe.« Sie lächelte. »Er hat es damals nicht gemerkt und ihr erst recht nicht. Ihr wart alle… Ich hatte immer Angst vor euch. Weil ihr so genau wußtet, was richtig und was falsch und was zu tun ist, weil ihr so entschlossen wart, unbedingt, unbeugsam, furchtlos. Für euch war alles einfach, und ich schämte mich, daß es für mich schwierig war und ich nicht wußte, wie das mit dem Kapital war und dem Staat und den Herrschenden, und wenn ihr von den Schweinen redetet…« Sie schüttelte wieder den Kopf, verloren an ihre damalige Scham und Angst. »Und ich mußte rasch fertig werden und Geld verdienen, und ihr hattet alles Geld und alle Zeit der Welt, und eure Väter – Jörgs und Christianes war Professor, deiner Rechtsanwalt, der von Ulrich Zahnarzt mit großer Praxis und der von Karin Pfarrer. Mein Vater hatte in Schlesien seinen kleinen Bauernhof verloren, der ihn kaum ernährt, [16] ihm aber gehört hatte, und arbeitete in einer Molkerei. ›Unser Milchmädchen‹ habt ihr mich manchmal genannt, und es war lieb gemeint, denke ich, aber ich habe nicht zu euch gepaßt, und ihr habt mich mehr so geduldet, und wenn ich verschwunden wäre…«

Henner versuchte, Erinnerungen zu finden, die zu Ilses Erinnerungen paßten. Hatte er sich als jemand gegeben, der alles genau wußte und alle Zeit der Welt hatte? Hatte er von Polizisten, Richtern oder Politikern als Schweinen geredet? Hatte er Ilse ›unser Milchmädchen‹ genannt? Es war alles weit weg. Er erinnerte sich an die Atmosphäre der durchdiskutierten Nächte mit zu vielen Zigaretten und zu viel billigem Rotwein, an das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein und die richtige Analyse, die richtige Aktion finden zu müssen, an die Hochgestimmtheit bei gemeinsamen Planungen und Vorbereitungen und an das intensive Erlebnis, den intensiven Genuß der eigenen Stärke, wenn ihnen der Hörsaal gehörte oder die Straße. Aber worüber diskutiert und wonach eigentlich gesucht wurde und warum Hörsäle und Straßen erobert werden mußten, kam in seinen Erinnerungen nicht vor und schon gar nicht, wie es Ilse gegangen war. Hatte sie ihnen die Zigaretten geholt und den Kaffee gekocht? Sie unterrichtete Kunst – hatte sie die Plakate gemalt? »Ich finde gut, daß du dich um Jörg gekümmert hast. Ich habe ihn besucht, als er verurteilt wurde, und keinen vernünftigen Satz mit ihm wechseln können. Das war’s – bis zu Christianes Anruf vor einer Woche. Hat er sich sehr verändert?«

»Oh, ich habe ihn nicht besucht, ihm nur geschrieben. Er hat mich nie eingeladen.« Sie sah ihn prüfend an, er wußte [17] nicht, ob sie sein langes Desinteresse an Jörg nicht verstand oder sein jetziges Interesse daran, wie Jörg sich verändert haben mochte. »Wir werden es bald sehen, nicht wahr?«

[18] 3

Als Henner gegangen war, schlug Ilse das Heft auf und las, was sie geschrieben hatte.

Die Beerdigung fand an einem warmen, sonnigen Tag statt. Es war ein Tag, an dem man hätte an einen See fahren mögen, baden, eine Decke ausbreiten, Rotwein, Brot und Käse auspacken, essen und trinken, den Blick in den Himmel richten und die Gedanken mit den Wolken ziehen lassen. Kein Tag zum Trauern, kein Tag zum Totsein.

Die Trauergäste warteten vor der Kirche. Sie begrüßten einander, erkannten sich wieder oder stellten sich vor, waren verlegen. Jedes Wort war falsch. Die Äußerungen der Anteilnahme waren bemüht, die ausgetauschten Erinnerungen blaß, und fragte einer nach dem Warum, wurde die Frage hilflos und irritiert abgewehrt. Jedes Wort war falsch, weil Jans Tod falsch war. Er hätte sich nicht umbringen, seine drei kleinen Kinder nicht zu Waisen und seine Frau nicht zur Witwe machen dürfen. Wenn man’s mit Frau und Kindern nicht mehr aushält, läßt man sich scheiden. Sich umbringen, sich davonstehlen und Frau und Kinder mit Schuldgefühlen zurücklassen – es gehört sich nicht.

Da, wo die alten Freunde zusammenstehen, sagt es [19] einer. Ein anderer schüttelt den Kopf. »Jan hat Ulla geheiratet, als sie schwanger wurde, er hat sich nach dem ersten Kind noch auf die Zwillinge eingelassen, damit sie nicht merkt, daß er sie nicht liebt, er hat die Universität aufgegeben und ist Rechtsanwalt geworden, damit Ulla und die Kinder es gut haben, er hat sich zu Hause abgemüht, damit Ulla fertigstudiert – alles, weil es sich so gehört. Wie lange schafft man das? Sich verleugnen, weil es sich so gehört? Und wenn man’s schafft – ist man dann nicht schon so gut wie tot?« Ein dritter stoppt ihn. »Ulla kommt.«

In der Kirche spricht Jans Vater. Er erzählt, wie unfaßlich das Geschehene ist: Jans Verschwinden und einige Tage später sein Auftauchen in der Normandie, vergiftet von den Abgasen, die er in sein Auto geleitet hat, das Auto mit Blick auf das Meer in der Nähe eines Orts geparkt, in dem er vor Jahren einmal besonders glücklich war. Er spricht von der unfaßlichen Heftigkeit des depressiven Schubs, der Jan zur Flucht nicht nur aus Familie und Beruf, sondern in den Tod getrieben hat. Er ist das weißhaarige Oberhaupt einer Familie mit vielen Kindern und Enkeln, ein Pfarrer im Ruhestand, und spricht vom depressiven Schub mit einer Autorität, die auch die Freunde beeindruckt, die sich nicht erinnern, Jan jemals depressiv erlebt zu haben. Wissen sie’s besser als der Vater?

Ilse sah die Beerdigung wieder deutlich vor sich. Es war das letzte Mal, daß sie mit den Freunden, mit denen sie das Wochenende verbringen würde, zusammen war. Jörg war [20] wenig später untergetaucht. Bei der Beerdigung hatte er für Jan nur Verachtung; man wirft sein Leben nicht wegen bürgerlicher Dusseleien weg, wenn es einen großen Kampf gibt, für den es eingesetzt werden kann. Christiane hatte gespürt, was sich bei Jörg vorbereitete, war viel um ihn und bestätigte seine verächtlichen und revolutionären Ansichten, als wolle sie ihm zeigen, daß er mit ihnen einen Platz in der Welt habe und also ihretwegen nicht untertauchen müsse. Auch die anderen zerstreuten sich wenig später in alle Winde. In gewisser Weise hatte Jörg getan, was damals für alle anstand: die Weiche seines Lebens gestellt.

Aber nicht das bevorstehende Wiedersehen mit den Freunden hatte ihr die Beerdigung in Erinnerung gerufen. Es hatte ihr nur den Anstoß gegeben, mit dem Schreiben anzufangen. Sie hatte sich ein großformatiges, pappgebundenes, dickes Heft gekauft und einen grünen Stift mit langer Bleistiftmine, wie ihn, so wurde ihr erklärt und so gefiel’s ihr, Architekten benutzen. Sie war am Donnerstag nach der Schule aufgebrochen und mit Zug und Bus und Taxe hergekommen, um am nächsten Morgen am fremden Ort zu wagen, was ihr am vertrauten wie eine Anmaßung vorkam: schreiben.

Nein, die Beschäftigung mit der Beerdigung hatte schon vor Jahren begonnen. Sie hatte sich damals mit einem Theaterstück beschäftigt, auf das sie aufmerksam geworden war, weil ein Bild des 11.September sie nicht losließ. Nicht das Bild der Flugzeuge, die in die Türme flogen, nicht das Bild der rauchenden, nicht das der einstürzenden Türme, nicht das Bild der staubbedeckten Menschen. Was sie nicht losließ, war das Bild der fallenden Körper, manche einzeln, [21] manche zu zweien, sich beinahe berührend oder sogar an den Händen haltend. Sie konnte es nicht von ihren Augen abtun.

Ilse hatte gelesen, was sie finden konnte. Daß die Schätzungen über die Zahl der fallenden Körper zwischen fünfzig und zweihundert schwankten. Daß viele sprangen, einige aber an die Fenster geflüchtet waren und, wenn die Scheiben barsten, von anderen Flüchtigen hinausgedrängt oder vom Luftsog hinausgezogen wurden. Daß von denen, die sprangen, die einen sich angesichts der ausweglosen Lage zum Sprung entschieden hatten, die anderen von der unerträglich schmerzenden Hitze einfach hinausgetrieben wurden. Daß die Hitze über fünfhundertfünfzig Grad stieg und die Menschen erreichte, bevor die Flammen sie erreichten. Daß die Fallhöhe über vierhundert Meter betrug und der Fall bis zehn Sekunden dauerte. Daß die Aufnahmen der fallenden Körper zu unscharf waren, um Gesichter erkennen zu können. Daß Angehörige manchmal meinten, einen fallenden Körper immerhin an seiner Kleidung zu erkennen, und davon teils getröstet, teils erschreckt wurden. Daß unter den Toten die, die gefallen waren, nicht zu identifizieren waren.

Aber keine Information berührte sie so wie das Bild. Die fallenden Körper, stets beide Arme und oft alle Glieder weit von sich gestreckt. Vielleicht hätte Ilse statt der einzelnen Aufnahmen, die sie in Büchern fand, auch Filmaufnahmen finden und die Körper tatsächlich fallen sehen können, fuchteln, zappeln. Aber sie hatte Angst davor. Manche fallenden Körper sahen auf den Aufnahmen aus, als schwebten sie zu Boden oder sogar als flögen sie davon. Ilse hoffte [22] und zweifelte. Kann einer das? Kann einer in dieser Situation springen, um zu schweben, zu fliegen, sei es auch nur für die letzten zehn Sekunden? Kann er diese zehn Sekunden, die durch einen plötzlichen und schmerzlosen Tod beendet werden, noch mal mit der ganzen Freude genießen, mit der wir Leben zu genießen fähig sind?

In dem Theaterstück sollte ein Mann am Morgen des 11.September in einem der beiden Türme bei der Arbeit sitzen, verspätete sich aber und sah die Chance, für alle Welt tot zu sein, sich aus seinem alten Leben davonzustehlen und ein neues zu beginnen. Ilse hatte das Theaterstück nicht gesehen und nicht gelesen. In ihrer Vorstellung hat der Mann die Bilder der fallenden, schwebenden, fliegenden Körper gesehen und ist dadurch darauf gekommen, davonfliegen zu wollen – das hat ihr eingeleuchtet und genügt. Und es hat ihre Phantasie beschäftigt und ihr Jans Beerdigung in Erinnerung gerufen und mit ihr die Frage, ob er sich tatsächlich umgebracht und nicht vielmehr aus seinem alten Leben davongemacht hat, um ein neues zu beginnen. Alles, was Ulla und sie im Jahr nach Jans Tod umgetrieben hat, war wieder gegenwärtig, von der Beerdigung bis zu dem mysteriösen Anruf, den fremden Kleidungsstücken, den fehlenden Akten, dem Obduktionsbericht.

[23] 4

Als Henner nach einem großen Bogen über die Felder zum Haus zurückkam, parkte ein weiterer Wagen vor dem Tor, ein großer silberner Mercedes mit Hamburger Kennzeichen. Die Tür zum Haus stand auf, Henner ging hinein, und als sich seine Augen an den Dämmer gewöhnt hatten, sah er links eine Treppe zum nächsten Geschoß und auf eine Galerie führen, die an beiden Seiten in Türen endete. Treppe und Galerie waren mit einem Metallgerüst abgestützt, von den Wänden blätterte wieder der Putz, und im Boden waren viele Natursteinplatten durch Zementkleckse ersetzt. Aber alles war sauber, und gegenüber dem Eingang stand auf einem alten Tisch eine große Vase mit bunten Tulpen.

Oben wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, kurz klangen Reden und Lachen aus dem Zimmer dahinter. Henner sah hoch. Mit langsamem, schwerem Schritt, die linke Hand am Geländer, kam eine Frau die Treppe herunter. Als habe sie Schmerzen in der linken Hüfte oder im linken Bein, dachte Henner, und daß sie zu dick sei. Er gab ihr fünfzig, ein paar Jahre weniger, als er selbst zählte. Sie war zu jung, um schon an Arthrose zu leiden. Hatte sie einen Unfall gehabt?

»Sind Sie auch gerade angekommen?« Mit dem Kopf [24] zeigte er in die Richtung, in der vor dem Haus der Mercedes parkte.

Sie lachte. »Nein.« Auch sie winkte mit dem Kopf kurz zum Mercedes. »Das ist Ulrich mit Frau und Tochter. Ich bin Margarete, Christianes Freundin, und gehöre hierher. Ich muß wieder in die Küche – kommst du mit und hilfst mir?«

Die nächste Stunde stand er in der Küche, pellte Kartoffeln, schnitt sie in Scheiben, würfelte Senfgurken, hackte Schnittlauch und ließ sich sagen, was in die Salatsoße gerührt gehörte. »Gerührt, nicht geschüttelt« – er versuchte einen Witz. Margaretes Leichtigkeit, Gelassenheit, Fröhlichkeit irritierten ihn. Es war die Fröhlichkeit der Einfältigen und die Gelassenheit der Glückspilze, die in der Welt zu Hause sind, ohne dafür arbeiten zu müssen – Henner mochte beide nicht. Auch ihre körperliche Ausstrahlung irritierte ihn. Es war eine erotische Ausstrahlung, die ihm doppelt unbegreiflich war; er mochte keine dicken Frauen, seine Freundinnen waren immer schlank wie Models, und Margarete, von seinem Charme überhaupt nicht beeindruckt, war womöglich mehr als nur eine Freundin von Christiane. Womöglich wußte sie auch mehr über ihn, als eine Freundin sonst weiß. Wenn er an die eine Nacht vor Jahren mit Christiane zurückdachte, fühlte er sich wieder benutzt und war wieder verletzt. Zugleich blieb Christianes damaliges Verhalten so sonderbar, daß er wieder das Gefühl hatte, er habe etwas nicht verstanden, und die Angst, er habe versagt. War er deshalb gekommen? Hatte Christianes Anruf den Wunsch geweckt, endlich zu wissen, was damals passiert war?

[25] »Magst du die Bowle versuchen?« Sie hielt ihm ein Glas entgegen, und er sah ihr an, daß sie ihn schon einmal gefragt hatte. Er wurde rot.

»Entschuldigung.« Er nahm das Glas. »Gern.« Es war Bowle von weißen Pfirsichen, und der Geschmack erinnerte ihn an seine Kindheit, in der es keine gelben, sondern nur weiße Pfirsiche gab, und daran, wie seine Mutter im Garten zwei Pfirsichbäume gepflanzt hatte. Er gab Margarete das leere Glas zurück. »Ich bin mit dem Kartoffelsalat fertig. Kann ich noch etwas tun? Weißt du, wo ich schlafe?«

»Ich zeig’s dir.«

Aber auf der Treppe kam ihnen Ulrich mit Frau und Tochter entgegen. Der kleine Ulrich mit großer Frau und großer Tochter. Henner ließ sich begrüßen und umarmen und auf die Terrasse mitnehmen. Das Quirlige und Poltrige an Ulrich war ihm zuviel, wie früher, und ihn störte, daß die Frau sich darin gefiel, beim Lachen den Kopf zurückzuwerfen, und daß die Tochter mit langen, übereinandergeschlagenen Beinen, kurzem Rock, knappem Top und Schmollmund gelangweilt und herausfordernd posierte.

»Keine Elektrizität – wir müssen uns in mein Auto setzen, wenn wir den Bundespräsidenten hören wollen. Vorhin kam in den Nachrichten, daß er am Sonntag die Berliner Domrede halten wird, und ich wage jede Wette, daß er Jörgs Begnadigung verkünden wird. Sehr anständig, muß ich sagen, sehr anständig, daß er’s tut, nachdem Jörg schon raus ist und sich einen Fleck suchen konnte, wo ihn kein Reporter und keine Kamera finden.« Ulrich schaute sich um. »Kein schlechter Fleck, kein schlechter Fleck. Aber ewig kann er sich hier auch nicht verstecken. Weißt du, was er [26] vorhat? In Kunst und Kultur nehmen sie solche wie ihn, als Assistenten fürs Bühnenbild oder für die Beleuchtung oder zum Korrekturenlesen. Er kann gerne in einem meiner Dentallabors anfangen, aber das wird ihm nicht schick genug sein. Nichts für ungut, aber dafür, daß ich das Studium abgebrochen habe und Zahntechniker geworden bin, habt ihr mich immer ein bißchen verachtet.«

Wieder erinnerte Henner sich nur mühsam. Auf Demonstrationen war Ulrich regelmäßig dabeigewesen, und bei einem Buttersäure-Anschlag auf einen Politiker hatte er die harmlose, aber stinkende Flüssigkeit besorgt. Verachtung? Einen werktätigen Ulrich würden sie damals eher bewundert als verachtet haben. Er sagte es Ulrich.

»Schon gut, schon gut. Ich lese manchmal deine Sachen – erste Sahne. Und die Blätter, für die du schreibst, Stern, Spiegel, Süddeutsche – erste Adressen. Das Intellektuelle ist ja nun nicht so meines geworden, will sagen, ich verfolge es, halte mich aber letztlich raus. Aber was das Ökonomische angeht – ich glaube, mit meinen Dentallabors schlage ich euch Intellektuelle um Längen. So macht jeder seines, ich, du, Jörg. Das habe ich mir auch gesagt, als Christianes Anruf kam. Jeder macht seines, habe ich mir gesagt. Ich urteile nicht über andere. Jörg hat Scheiß gebaut, hat bezahlt, und jetzt ist gut und soll er sein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Leicht wird es ihm nicht werden. Er hat früher nicht gewußt, wie man arbeitet und mit Menschen zurechtkommt und mit der Welt im Frieden lebt – wie soll er es jetzt können? Ich glaube nicht, daß einer das im Gefängnis lernt – was meinst du?«

Henner kam nicht dazu zu sagen, er wisse es nicht. Karin [27] und ihr Mann traten aus dem Haus auf die Terrasse. Henner freute sich über das vertraute Gesicht und darüber, daß er wieder sofort auf den Namen kam. Sie war Pfarrerin gewesen und Bischöfin einer kleinen Landeskirche geworden, und er hatte sie vor ein paar Jahren über Kirche und Politik interviewt und im letzten Jahr mit ihr in einer Talkshow gesessen. Beidemal hatte er erfreut festgestellt, daß es kein Zufall war, daß er sie im Studium gemocht hatte. Sie hatte eine Klugheit, die ihm gefiel und über der er ihr das betont Sanfte und Getragene in Stimme und Rede nachsah. Pfarrer werden eben salbungsvoll, sagte er sich, so wie Journalisten großspurig werden. Und auch wenn man bei Pfarrern nie weiß, wie weit ihre Freundlichkeit dem Beruf geschuldet oder in Sympathie gegründet ist, hatte Henner den Eindruck, sie sei auch ihm gerne wieder begegnet. Ihr Mann Eberhard, ein pensionierter Kustos eines süddeutschen Museums, war viel älter als sie, und die liebevolle Fürsorglichkeit, mit der er ihr, als es kühler wurde, eine Stola holte und umlegte, und die Anschmiegsamkeit, mit der sie ihm dankte, ließen Henner denken, daß sich in dieser Liebe die Sehnsucht einer Tochter und eines Vaters erfüllte. Der Mann durchschaute die Konstellation am Tisch, noch ehe er sich setzte, plazierte seinen Stuhl zwischen Ulrichs Frau Ingeborg und Tochter Dorle und verstand, die beiden in ein Gespräch zu ziehen, bei dem sogar der gelangweilte und herausfordernde Schmollmund gelegentlich fröhlich lachte.

Als Margarete Andreas auf die Terrasse begleitete, verkündete sie, Jörg und Christiane hätten von unterwegs angerufen, sie träfen in einer halben Stunde ein. Um sechs gebe es auf der Terrasse den Aperitif und um sieben im [28] Salon das Abendessen – wenn sich einer vor dem Abend noch die Beine vertreten wolle, jetzt sei dafür die Zeit. Sie werde um kurz vor sechs mit der Glocke rufen.