Das Zeitalter der Drachen - Jenny-Mai Nuyen - E-Book
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Das Zeitalter der Drachen E-Book

Jenny-Mai Nuyen

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Beschreibung

Drachen, Elfen, Zwerge – und jede Menge Feuer. Der neue Fantasy-Roman von Bestsellerautorin Jenny-Mai Nuyen. Das Leben ist hart in Ydras Horn. Alle paar Monate taucht ein Drache auf und belagert auf unbestimmte Zeit die Zwergenfestung. Die Bestie lauert stets auf eine bestimmte junge Frau, die von Geisterschatten gezeichnet ist. Niemand weiß, wen es als nächstes trifft, und die Versuchung ist groß, die Unglückselige einfach dem Drachen zu überlassen. Manch eine wählt sogar freiwillig den Märtyrertod, denn jede Belagerung bringt hohe Kosten für die Gemeinschaft mit sich. Als Nireka am Geisterschatten erkrankt, tut sie etwas, das noch keine Frau vor ihr getan hat. Sie verbündet sich mit einem Drachen, der geschworen hat, keine Menschen zu fressen. Gemeinsam suchen sie nach einem Weg, die Bestien zu bekämpfen. Der Schlüssel liegt in der Vergangenheit. Denn Drachen waren einst etwas ganz anderes … Für alle Leserinnen von Ursula K. Le Guin, Leigh Bardugo und Christopher Paolini.

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Seitenzahl: 538

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Jenny-Mai Nuyen

Das Zeitalter der Drachen

Roman

FISCHER E-Books

Wen du liebst,

dem lege die Welt zu Füßen,

und wenn deine Liebe unerwidert bleibt,

dann lass es Trümmer sein.

Aus den GESÄNGEN DER ERSTEN NEUN KÖNIGE

Prolog

In der Nacht vor der Schlacht fanden Aylen und Totema kaum Schlaf. Auf ihrem Lager hoch oben in dem ausgehöhlten Berg Faysah beobachteten sie durch eine große Querspalte den wolkenverhangenen Himmel, der ihnen eine trügerische Zeitlosigkeit vorgaukelte. Wie Ertrinkende umschlangen sie einander immer wieder von neuem und liebten sich im Morgengrauen mit einer Verzweiflung, als hätten sie einander bereits verloren.

Dabei rechneten die Hexe und der Zauberer mit einem Sieg. Zwar standen ihnen der Erzmagier der Menschen und auch der Erzmagier der Zwerge mit all ihren Zauberern und dem dreitausendköpfigen Heer des Menschenkönigs gegenüber, doch Aylen und Totema würden sie ebenso besiegen wie zuvor den König der beiden Elfenvölker und dessen Zauberer. Die unausgesprochenen Sorgen, die sie bedrückten, hatten weniger mit ihren Feinden zu tun als mit ihren Verbündeten.

Als sie voneinander ließen, hauchte die Dämmerung kaltes Blau in den riesigen Höhlenraum. Viel zu früh wurde es hell.

»Frag sie noch einmal«, bat Totema. »Ich will nicht, dass du allein mit ihnen ziehst. Ich will mitkommen.«

Aylen hatte befürchtet, dass er sie darum bitten würde. Seit einiger Zeit schon hatte sie ihm nicht mehr erzählt, wie groß die Verachtung, ja, der Hass der drei Drachen auf ihn geworden war, so dass er nicht wissen konnte, dass seine Bitte vollkommen aussichtslos war.

Hätte Aylen die Zuneigung der drei mit ihm teilen können, hätte sie mehr davon ihm gegeben als für sich behalten. Aber sie hatte in Wahrheit schon lange keine Macht mehr über die Drachen von Faysah.

Dennoch nickte sie. »Ich werde fragen.« Die Lüge ließ sie frösteln. Sie wusste, dass ihre Liebe an Lügen zugrunde gehen würde, wenn sie nicht … ja, was? Was konnte sie tun, damit die drei Drachen ihren unbändigen Hass ablegten und Totema wieder als Quelle akzeptierten?

»Ich will dich an meiner Seite haben.« Unter der Felldecke suchte sie seine Hand, drückte sie und führte sie an ihre Lippen, um seine Finger zu küssen. Manchmal fragte sie sich, ob sie seine große, schwere Hand genauso lieben würde, wenn er die andere noch hätte.

Er zog sie zu sich heran, an seinen hochgewachsenen, knochigen Körper. Sie spürte, dass er etwas sagen wollte – die Wahrheit womöglich, die sie sich beide nicht eingestehen wollten, erst recht nicht voreinander. Vielleicht hatte er sich auch überlegt, was sie tun könnten, um die Kontrolle über die drei Drachen wiederzugewinnen.

In diesem Moment erregte eine unerwartete Bewegung Aylens Aufmerksamkeit. Besen, der verzauberte blattlose Ast, der sie auf Schritt und Tritt begleitete und so aussah, wie er hieß, hatte sich aus seiner Ecke bewegt und wirbelte in wilden Achten durch den Raum.

»Sie kommen«, sagte Aylen.

Schon rauschten jähe Böen herein und bliesen Aylen die dunklen, kurzen Locken aus dem Gesicht und Totema die feinen, silbrigen Strähnen. Der Fels knackte, als etwas Massives mehrfach mit der Außenwand des Berges kollidierte. Dann wurde es dunkel in dem Höhlenraum, denn durch den Felsspalt krochen nacheinander drei riesige Gestalten und sperrten das Licht aus.

Jeder der Drachen war ein wenig anders geformt. Einer lang und dünn wie eine Schlange auf vier Tatzen – eine Schlange, die vier Pferde samt einem Wagen hätte hinunterschlingen können –, einer breiter und kürzer, fast wie eine gigantische Kröte mit einem längeren Hals, einem Schwanz und einem wie mit einer Krone gehörnten Schädel, und einer stämmiger, wie ein monströser, langer Büffel mit kurzen Klauen. Auch die Farben ihrer glänzenden Schuppenhaut unterschieden sich. Sabriel, die Schlangenhafte, war golden und tiefbraun, Odriel, die Krötenhafte, blauschwarz, und Irosal, die Büffelartige, schimmerte in allen Farben von Glut. Sie glichen einander nur darin, dass sie Flügel hatten und ein Maul voller dunkler, transparenter Reißzähne, aus dem Rauch quoll und manchmal Feuer.

Aylen, kleine Tochter, raunten ihre Stimmen in Aylens Kopf.

Aylen war inzwischen sicher, dass sie sich nur in ihr Gehör verschafften und Totema in Stille ließen.

»Guten Morgen, Mütter«, sagte sie laut, um wenigstens ihrerseits Totema nicht auszuschließen.

Die Drachen füllten den Höhlenraum fast ganz aus, wobei sie mit ihren Leibern um- und übereinander strichen. Das Sirren von Schuppen, die über Schuppen schrammten, erinnerte Aylen immer an Klingen, die gezogen wurden. Nüstern, in denen ein ausgewachsener Mann hätte verschwinden können, strichen über ihr Schlaflager hinweg und tauchten sie in warmen, rauchigen Atem. Angst kroch Aylen den Rücken herauf, als sie Totema so nah kamen.

Es ist Zeit aufzubrechen, raunte Irosal und neigte den Schädel mit den beiden langen, krummen Hörnern, damit Aylen in ihrem Nacken aufsitzen konnte.

Ich zieh mich an, sagte Aylen und schlüpfte unter den Fellen hervor, um ihre Tunika, ihren Umhang und ihre Beinkleider vom Boden aufzuklauben. Besen hielt sich so dicht bei ihr, dass sie sich kaum ankleiden konnte und ihn sanft beiseiteschieben musste. Sie spürte auch Totemas Unsicherheit wie einen klammen Geruch im Raum. Ob die drei Drachen es wahrnahmen? Aylen war ziemlich sicher, dass sie ihn im Stillen verhöhnten.

Sie nahm ihren Mut zusammen und fragte, obwohl sie die Antwort bereits kannte: Darf ich ihn mitnehmen?

Gurgelnde Geräusche drangen aus den Kehlen der Drachen, und Rauchwölkchen entstiegen ihren Nüstern. Totema, der ebenfalls nach seinen Kleidern gegriffen hatte, um sich anzuziehen, zuckte kaum merklich zusammen.

Du glaubst, du brauchst den Zauberer an deiner Seite?, spottete Sabriel.

Wann lernst du endlich, auf eigenen Beinen zu stehen?, knurrte Irosal.

Odriel zog ihren krötenhaften Kopf noch tiefer zwischen die Schultern, während sie Totema musterte. Wir wollen den Mann nicht bei uns haben. Aus seiner stinkenden Quelle nicht schöpfen.

Du liebst ihn, Tochter, sagte Sabriel sanft. Aber er will nur Macht. Er will dich beherrschen wie uns … Wach auf!

Totema riss seinen Blick von den Drachen los und sah Aylen an. Er wusste, dass sie miteinander sprachen, wo er es nicht hören konnte, und sicher ahnte er, dass sie über ihn redeten.

Aylen stand auf, hob ihren Brustpanzer vom Ständer und legte ihn an. Sie erwiderte Totemas Blick, während sie die Lederriemen an den Seiten zuzog, und hoffte, dass er wusste, dass sie auf seiner Seite stand. Immer.

Wach auf!, hörte sie Sabriel in sich widerhallen, und sie war sich nicht sicher, ob der Drache erneut gesprochen hatte oder nur in ihrer Erinnerung.

»Wir sind bald wieder da, Totema. Bewache du so lange den Berg«, sagte sie, bemüht, nicht mitleidig zu klingen, obwohl sie den Drang verspürte, sich zu entschuldigen.

Er beobachtete sie, seine Kleider als Knäuel vor sich im Schoß. Schließlich nickte er. »Pass auf dich auf«, sagte er mit belegter Stimme.

Aylen konnte seinen Anblick nicht ertragen. Oder vielmehr das, was sie dabei empfand. Sie zog sich den breiten Helm mit dem Lederschirm auf, warf sich den Umhang über und kletterte über Irosals Tatze hinauf in deren Nacken, wo sie sich zwischen zwei knubbelige Hörner setzte. Besen schwebte dicht neben sie, und sie hörte sein Reisig leise klappern. Er war immer angespannt in der Nähe der drei.

Die Drachen glitten einer nach dem anderen aus dem Höhlenraum, stießen sich vom Boden ab und stiegen mit gespreizten Flügeln in den Himmel empor.

Aylen drehte sich nicht noch einmal zu Totema um. Sie wollte nicht, dass er ihre Erleichterung bemerkte. Die Drachen hatten ihm nichts angetan. Aber wie lange würde es noch gutgehen? Aylen ließ die Schultern sinken, schloss einen Moment die Augen und gab sich dem Rauschen des Windes hin.

In einem Winkel ihres Herzens wünschte sie sich, dass sie nicht siegreich heimkehrten. Um Totemas willen.

*

Der Zauberberg des Menschenvolks lag mehr als fünfzig Tagesmärsche weit nordöstlich von Faysah, dem Zauberberg der Elfen, doch auf Drachenschwingen erreichten sie Gothak schon am übernächsten Abend. Sie überflogen zuerst die weiten, tiefen Wälder der Weißen Elfen, aus deren dichten Baumkronen hier und da Kaminrauch drang, dann das hügelige Grenzgebiet zwischen Elfen- und Menschenreich, aus dem Aylen stammte. Das Land wurde karger. Bis in die Ferne erstreckten sich Klippen und trockenes Grasland, und sie konnten an einem Horizont Gewitter wüten sehen, während in der anderen Richtung die Sonne glühte. Hier, in der Hochebene, führten die Grauen Elfen noch das alte Leben auf Wanderschaft, doch Aylen sah keinen einzigen Stamm; zu groß war das Reich. Schließlich stiegen die Klippen höher an, und alles Grün verschwand. Unter ihnen entfaltete sich die Wüste Uyela Utur mit ihren eisengrauen, glattpolierten Felsen und aschefarbenen Feldern, auf denen nichts gedieh außer blitzförmigen Rissen jahrelanger Dürre.

Jenseits dieses riesigen, leeren, unwirklichen Landes lagen die Küstenstädte des Menschenvolks, so schwer vorstellbar es auch sein mochte, dass Uyela Utur je endete und dahinter etwas lebte. Doch am Horizont begann sich ein Gebirge abzuzeichnen. Darin erhob sich ein Berg weit über alle anderen, schlank und krumm wie ein Säbel.

Im Näherkommen änderte sich die Luft. Der Staub der Wüste wurde von Feuchtigkeit und der scharfen Süße von Gräsern verdrängt. Wolkenbänke trieben um den Zauberberg und erweckten den Eindruck, als schwebte der weiße, schroffe Gipfel losgelöst im Himmel. Wogen aus Nieselregen fielen in Vorhängen herab. Das Gebirge unter ihnen wurde von der Nässe schraffiert.

Die Drachen und Aylen hielten Ausschau nach dem Heer der Menschen, doch sie entdeckten nichts. Vermutlich hatten die Menschen aus der Schlacht um Faysah gelernt, bei der die Drachen das Heer des Elfenkönigs und dessen zweihundert Ritter vernichtend geschlagen hatten. Nur der Regen wurde dichter, als sie sich Gothak näherten. Es war gut möglich, dass die Zauberer dafür sorgten, um sich vor dem Feuer der Drachen zu schützen.

Versuchsweise stieß Sabriel einen Strahl aus, als sie in Spiralen aufwärts flogen, hoch zum Gipfel des Zauberbergs. Eine kurze, rote Fahne wehte aus ihrem Maul. Nun probierten auch Irosal und Odriel ihr Feuer aus. Tatsächlich behinderte der Regen sie und sorgte dafür, dass der Flammenstrahl kürzer ausfiel. Sie würden also näher an ihre Feinde herankommen müssen. Aber sie hatten ohnehin vor, in den Berg einzudringen, und spätestens dort konnte der Regen ihnen egal sein.

Je höher sie stiegen, umso eisiger peitschten die Schauer. Eigentlich hätte hier Schnee fallen sollen, doch ein Zauber ließ die Tropfen zu langen, dünnen Eisnadeln werden. Sie klirrten gegen Aylens Rüstung und die Schuppen der Drachen und zerbarsten zu Splittern. Nebel hüllte den Berg ein. Bald sahen sie nichts mehr im dichten, vor Eisnadeln flimmernden Weiß. Doch es war ein kläglicher Versuch der Zauberer, sich vor ihnen zu schützen. Aylen wirkte gegen den Zauber, indem sie die Dunkelheit des Abendhimmels herabbeschwor, und Finsternis sank ins Weiß nieder und verlieh den Dingen graue Umrisse. Da sahen sie den Berg Gothak wieder.

Mit Totema an meiner Seite wäre es einfacher, auf die feindlichen Zauber zu reagieren, dachte Aylen gerade laut genug, dass die drei Drachen es wahrnehmen konnten.

Doch keine Antwort kam.

Der Regen wurde stärker. Obwohl Besen sein Reisig schützend über Aylen spreizte, spürte sie, wie die Splitter sich in ihre Wangen bohrten, und winzige rote Schrammen erschienen auf ihren Händen.

Eine Öffnung klaffte in dem Berg wie ein riesiges Maul. Der Eingang. Konnte es so leicht sein? Hatten die Erzmagier und ihre Zauberer wirklich nicht mehr zuwege gebracht als ein wenig Nebel und Regen? Aylen wagte es nicht zu hoffen.

Die Drachen flogen zu der Öffnung und spuckten Feuer hinein. Innen erhellte sich eine weitläufige Halle ähnlich jener in Faysah und in Tahar’Marid, den beiden anderen Zauberbergen, in denen Aylen bereits gewesen war. Niemand war darin zu sehen. Schließlich landeten die Drachen auf den Hängen des Bergs und kletterten hinein.

Feuchte Finsternis empfing sie, zurückgedrängt vom rot glosenden Atem der drei Drachen.

Haben die Feiglinge ohne Kampf aufgegeben?, höhnte Irosal.

Vielleicht dachten sie, dass wir die Namen unserer Schwestern nicht kennen, und wenn sie sich verstecken und die Namen nicht preisgeben, werden wir unsere Schwestern nicht wecken können, überlegte Odriel.

Seht. Sabriel hauchte ihren Feueratem in eine Richtung.

Die drei Drachen und Aylen wandten die Köpfe. Eine Seite der Halle schien in die Tiefe abzufallen, als wäre der Boden eingestürzt. Sie kamen näher und spien gleichzeitig ihr Feuer hinab. In dem Moment, in dem sie es sahen, ertönte ein Schmerzensschrei, durchdringender und entsetzlicher, als eine sterbliche Kreatur ihn ausstoßen konnte: Ein Drache hing in der Tiefe und wand sich im Feuer seiner drei Artgenossen.

Der Drache hing an Ketten. Sie waren durch seine Wangen gebohrt und fixierten seinen Schädel, umwickelten seine Klauen und spreizten sie auseinander. Jemand hatte Stäbe durch seine Flügel getrieben, seinen Schwanz und sogar seine Tatzen. Er war bei lebendigem Leibe aufgespießt. Auch sein Maul war durch Stäbe und Ketten aufgerissen, so dass er nicht sprechen konnte, nur schreien.

Und Feuer spucken.

Sabriel, Irosal und Odriel wichen fauchend zurück, als die fremden Flammen zu ihnen emporschossen. Drachen waren nur gegen ihr eigenes Feuer immun. Der Flammenstrahl der armen Bestie hätte ihre Schuppen zum Schmelzen gebracht, wären sie nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen. Und Aylen blieb nur unversehrt, weil Irosal die Flügel schützend um sie hob und sich dafür die empfindlichere Haut darunter versengen ließ. Dennoch spürte Aylen die Hitze, die die Luft zum Kochen brachte und ihre Lungen verätzte. Besen, der neben ihr schwebte, schüttelte Funken aus seinem Reisig.

Was um Himmels willen …, stieß sie aus.

Weder Irosal noch Sabriel oder Odriel antworteten. Die drei flatterten wie wild durch die Halle, fauchten und zischten. Aylen ahnte, dass sie die angekettete Schwester hörten, wo Aylen sie nicht hören konnte. Aber das musste sie auch nicht, um zu verstehen, was ihr angetan worden war. Der Erzmagier des Menschenvolks hatte offenbar einen der Drachen, die seit Jahrhunderten in Gothak gebannt wurden, schlüpfen lassen. Doch die Gefangenschaft im Ei war nur durch eine neue in Ketten ersetzt worden. Warum? Um die drei Drachen von Faysah zu erschrecken? Nur für den einen versehentlichen Feuerangriff? Erneut stieß der Drache in Ketten ein Heulen aus, das den Berg zum Beben brachte. Sein Feuer stieg in Wolken auf und verrauchte im Kuppeldach des Zauberberges.

In diesem Moment waren Aylens Zweifel an den drei Drachen wie weggeblasen. Sie erinnerte sich wieder daran, warum sie den Erzmagiern und ihren Zauberern überhaupt erst den Krieg erklärt hatte: um die Wesen zu befreien, auf deren Qualen die Macht der Zauberer gründete.

Schließlich landeten die drei und lugten vorsichtig zu ihrer Schwester in die Tiefe hinab. Im aufgeregten Gedankenwirbel der drei schnappte Aylen Fetzen auf: Müssen sie befreien. Ihre Ketten sind in unserem eigenen Feuer gehärtet worden!

Die Erzmagier mussten das Feuer der drei bei der letzten Schlacht eingesammelt haben, um damit Fesseln zu schmieden, die stark genug waren, einen Drachen zu halten. Solche Tücke sah den Zauberern ähnlich.

Sabriel wagte sich als Erste vor, um der Gefangenen zu helfen. Lass mich versuchen, deine Ketten zu zerreißen. Wenn sie mit meinem Feuer gehärtet wurden, kann ich sie vielleicht …

Doch bevor Sabriel zu Ende gesprochen hatte, fauchte der gefangene Drache ihr Flammen entgegen. Sabriel wand sich und floh zurück in Deckung.

Sie ist blind und taub vor Schmerz, keuchte Irosal. Und dachte zu der Gefangenen hinab: Wer bist du? Atehsa? Gorekane? Tahrika?

Bei einem der Namen versiegte das Feuer des angeketteten Drachen. Und dann hörte Aylen so laut in sich, dass ihr Körper vibrierte: Tahrika war mein Name.

Aylen spürte förmlich die Erleichterung der drei Drachen von Faysah. Nun konnten sie mit ihrer Schwester sprechen – nun erinnerte sich diese nach ihrer unvorstellbar langen Marter wieder daran, wer sie war.

Es kam zu keinem Gespräch. Von draußen, aus dem dunkelnden Himmel, rasten Lichter, als würden Sterne auf die Erde krachen. Doch es waren keine Sterne. Es waren Bälle aus weißglühendem Feuer.

Aus Tahrikas Drachenfeuer.

Die meisten Geschosse gingen daneben und prallten an den Steinwänden ab, um wie leuchtende Murmeln zu Boden zu stürzen. Doch die, die Sabriel, Irosal und Odriel trafen, ließen die Drachen vor Schmerz aufheulen. Die Zauberer mussten das Drachenfeuer auf eine Weise geballt haben, die es unvergleichlich intensiver machte. Entsetzt flogen die drei auf und versuchten, den Geschossen zu entgehen, doch es regneten immer mehr herein. Auch von oben rasten nun Feuerbälle herab. Sie wurden durch Ritzen im Gestein geschleudert.

Der Boden der Halle füllte sich mit rollenden, leuchtenden Kugeln. Odriel wurde im Flug mehrfach getroffen und stürzte ab. Sie kreischte, spuckte Feuer, das um ein Haar Irosal und Aylen getroffen hätte, und hüpfte in der Glut, die ihre Tatzen verbrannte. Sie mussten raus – durch den Feuerregen, der ihnen entgegenprasselte.

Aylen schrie, als das Feuer über sie hinwegzischte wie glühende Klingen. Irosal geriet ins Trudeln, stieß gegen die Felswand und schlitterte kreischend hinaus, dem Abgrund entgegen. Aylen verlor den Halt. Der Lederriemen, mit dem sie sich an den Hörnern des Drachen festgemacht hatte, schmorte durch, und sie stürzte ins Nichts.

Für einen Moment wirbelte die Welt um sie, zischendes Feuer, schlagende Flügel und Eisregensplitter in schwimmender Finsternis. Sie spürte einen Stock, der zwischen ihre Arme und Beine stocherte – Besen. Aber er konnte sie nicht auffangen. Dann prallte sie auf etwas auf, was nicht der Erdboden war, aber fast genauso hart: Sabriels Kopf. Der Drache war blitzschnell unter sie getaucht, um Aylens Sturz in den Abgrund abzufangen. Aylen purzelte über den Drachen, klammerte sich an den Hörnern in seinem Nacken fest und schaffte es, ihre Beine um den Hals zu klemmen. Manche von Sabriels Schuppen waren heiß und schmorten. Auch sie war schlimm getroffen worden. Doch sie hatte es aus dem Berg geschafft, und hier draußen, im Eisregen, verfolgten sie nur noch wenige Geschosse aus der Tiefe.

Aylen konnte nun sehen, wer sie abfeuerte: Überall in den Falten des Gesteins und versteckt unter Schneedecken waren Katapulte errichtet. Gestalten kletterten darauf herum, schrien sich Befehle zu und richteten die Werfer immer wieder neu aus. Sobald die Drachen die Angreifer entdeckt hatten, wendeten sie scharf in der Luft und stürzten sich auf sie.

Aylen schloss die Augen und spürte, wie Sabriel, Odriel und Irosal in sie hineingriffen und aus ihr schöpften. Sie hatte sich an das Gefühl bereits gewöhnt. Es machte ihr nichts aus, sich völlig zu öffnen und den Drachen alles von sich preiszugeben. All ihre zauberische Kraft. Doch die Gefühle der Drachen schwemmten dabei wie bitteres Gift in sie herein, und Aylen musste alles hinunterschlucken: nicht nur den rasenden Hass der Drachen, sondern auch … neuerdings auch ihre Lust am Töten.

Sie hatte versucht, es zu verdrängen, solange sie konnte. Aber es ging nicht mehr. Sie spürte die Freude, die kribbelnde Aufregung der drei, während sie aus Aylen schöpften, um die Feinde mit unvorstellbaren Feuerstrahlen zu vernichten.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Aylen wirklich feige. Sie vergrub den Kopf unter ihrem Arm und sah nicht hin, versuchte, nichts zu fühlen, versuchte, nicht da zu sein.

»Da ist die Hexe!«, brüllte irgendwo eine Stimme, verzerrt von Wind und Regen. »Auf die Hexe!«

Sie blickte auf und sah einen Kreis von Zauberern zwergischer und menschlicher Herkunft auf einem Felsplateau stehen. Der Regen stürzte in einer hohen Glocke um sie herum und verriet, dass sie einen Schutzbann um sich gelegt hatten, vermutlich einen Invertierungszauber – das zu erkennen hatte Aylen von Totema gelernt. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihn bei sich zu haben. Seine Hand zu halten, seine Stimme zu hören.

Zerbrich ihren Schutzbann!, befahl Sabriel.

Aus einer Schlucht direkt unterhalb der großen Öffnung im Berg schossen Pfeile herauf. Sabriel brüllte erschrocken auf, als sie nicht alle an ihren Schuppen abprallten, sondern manche sich hindurchbohrten. Auch die Pfeile mussten in dem Feuer des angeketteten Drachen gehärtet worden sein, den die Zauberer wohl nur hatten schlüpfen lassen, um eine Waffe gegen die drei zu haben.

Sabriel drehte ab und flog trudelnd um die Bergspitze, wo die Pfeile sie nicht erreichen konnten. Doch aus anderer Richtung kamen weitere, und auch sie durchdrangen ihre Flügel und ließen sie vor Schmerz aufheulen.

Aylen duckte sich vor den Geschossen und konzentrierte sich darauf, den Schutzbann der Zauberer zu brechen. Aber sie war unkonzentriert. Unter sich sah sie Odriel durch die Schlucht fegen und Hunderte Bogenschützen mit einem Feuerstoß verkohlen. Irosal klammerte sich an einen verschneiten Hang und schöpfte aus Aylen, um ihre Wunden zu heilen. Ein Pfeil schlug gegen Aylens Helm und riss ihren Kopf zur Seite. Um Haaresbreite hätte er ihr Gesicht getroffen.

Der Schutzbann. Ein Invertierungszauber. Totema hätte sofort gewusst, welche Varianten davon es gab und womit man jede davon am besten aufhob. Aber Aylen hatte nie eine Ausbildung wie er genossen. Sie hatte sich bisher immer auf ihren Instinkt und ihr natürliches Talent verlassen. Und sie hatte damit bis jetzt immer Erfolg gehabt. Erst seit dem Erwachen der drei Drachen von Faysah fühlte sie sich in Gefahrensituationen so gelähmt wie jetzt.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Denk nach. Invertierungszauber bricht man, indem …

Aber sie konnte sich nicht erinnern, was Totema ihr erzählt hatte. Totema, den sie vielleicht nie wiedersehen würde. Und aus falschem Stolz und vor Siegesgewissheit hatte sie nicht einmal von ihm Abschied genommen …

Sie verdrängte den Gedanken an Totema und schaute hinab auf die Zauberer. Sieben Menschen und Zwerge in grauen, windverzerrten Roben standen unter der Glocke, die den Regen abhielt, und es schien, als würde keiner von der Stelle rücken. Als wären sie in Formation. Vermutlich war jeder von ihnen eine Art Anker für den Schutzbann. Aber wie waren sie verankert? Sie standen einfach da, auf dem Felsplateau. Der Wind zerrte an ihren Kleidern. Der Schutzbann war also luftdurchlässig.

Aylen atmete tief durch. Sie ließ einen heftigen Wind aus der Tiefe aufsteigen, über die Hänge heraufrasen und über das Felsplateau peitschen.

Drei der Zauberer verloren den Halt, verhedderten sich in ihren Umhängen, taumelten ihren Hüten nach, stürzten auf die Knie. Das genügte. Die Glocke schien zu erzittern, Regen prasselte auf die Männer nieder.

Sabriel sah ihre Chance gekommen, legte die Flügel an und schoss auf sie herab. Doch sie verbrannte die Zauberer nicht, wie Aylen erwartet hatte, sondern landete auf ihnen, packte sie mit ihren Klauen und fraß sie.

Ein Schrei blieb Aylen in der Kehle stecken. In ihr bebte das Echo von Sabriels Gelächter.

Zaubererfleisch, kreischte Irosal und schwang sich schwerfällig zu ihnen herauf. Sie riss Sabriel einen Mann aus den Klauen, oder jedenfalls die Hälfte eines Mannes, um ihn selbst zu verschlingen.

Auch Odriel kam dazu, schubste Sabriel beinah von dem Plateau und stopfte sich lachend einen Zauberer ins Maul. Aylen sah ihn in ihrem Schlund verschwinden, eine Hand ausgestreckt, die schon nicht mehr an ihm hing.

Von da an wurde ihr Kampf leichter. Katapulte und andere Zauberer, die bis jetzt unsichtbar gewesen waren, erschienen im Schnee als leichte Beute für die Drachen. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Nacht, und Ruß schwärzte den Nebel. Die drei Drachen kletterten an den Klippen entlang und fanden eine Reihe hoher Fensteröffnungen, die sie zerschmetterten, um ins Innere des Berges zu gelangen. Sie fanden einen weiteren Saal, darin einen langen Steintisch mit Stühlen und einem Thron. Hier musste Salemandra, der Erzmagier des Menschenvolks, sich mit seinen Lehrlingen und hohen Gästen beraten haben. Breite Steintreppen führten tiefer in den Berg hinab.

Die drei Drachen folgten ihnen und ließen Glut in ihrem Atem aufleuchten, um in der warmen Finsternis ihren Weg zu erkennen. Die Treppe schien sich endlos in die Tiefe zu winden … Es war ein Zauber. Ein letzter, verzweifelter Zauber, mit dem der Erzmagier sie in die Irre führen wollte.

Doch Aylen erkannte darin den Versuch des Erzmagiers, sich vor ihnen zu verstecken. Die endlosen Stufen waren in Wahrheit wie die Finger eines Kindes, das sich die Augen zuhielt, um von niemandem gesehen zu werden. Manche Stufen entpuppten sich tatsächlich als die magischen Finger des Erzmagiers, und über diese gelangten sie direkt zu ihm.

Salemandra verbarg sich in einer Grotte, zusammen mit Toraldin, dem Erzmagier des Zwergenvolks. Beide trugen die silberdurchwirkten Gewänder und spitzen Hüte, die den drei Erzmagiern der drei Völker vorbehalten waren, doch das war alles, worin sie einander glichen. Toraldin war dick und untersetzt, mit fleischigen Wangen, zwischen denen die kleine Nase fast erdrückt wurde, und einem krausen blonden Bart, Salemandra war groß und hager, mit schütterem Haar und glattrasiertem Gesicht. Toraldin hüpfte vor Panik, als die Drachen hereinglitten und sie umzingelten, während Salemandra das Kinn vorschob und sie hasserfüllt beäugte – vor allem Aylen.

Salemandra war der erste Erzmagier gewesen, den Aylen um eine Ausbildung gebeten und der sie abgelehnt hatte. Vielleicht dachte er in diesem Moment daran, wie fatal seine Entscheidung damals gewesen war. Aber obwohl Aylen sich den Augenblick ihrer Rache so oft und so lange schon ausgemalt hatte, empfand sie jetzt keine Genugtuung, sondern nur ein flaues Grauen vor dem, was passieren würde.

»Wen haben wir denn hier?«, fauchte Sabriel und zog immer engere Kreise um die beiden Männer. »Wenn das nicht die letzte Generation unserer Herren und Meister ist!«

»Sabriel!«, schrie Salemandra plötzlich, und seine Stimme fuhr wie eine Peitsche durch den Raum. »Sabriel, ich beschwöre dich, erinnere dich daran, wer du vor deiner Unsterblichkeit warst!«

»Irosal«, stammelte Toraldin, angestoßen von Salemandra. »Odriel! Erinnert euch!«

Die Drachen lachten schwarzen Qualm. »Wir erinnern uns, wir erinnern uns sehr gut. Unsere Namen sind verwahrt in unserer Tochter Aylen, unserer Quelle«, zischten sie im Chor.

»Eure Worte sind machtlos«, sagte Odriel mit gespieltem Mitleid.

»Selbst wenn sie wahr sind«, sagte Sabriel mit ebenso vor Häme triefender Stimme. »Wie ging doch gleich die Geschichte, die ihr über unsere Unterjochung erzählt?«

»Alles Unheil der Welt beginnt mit dem Neid einer Frau«, zitierte Irosal.

»Oder ihrer Eifersucht«, fuhr Odriel fort.

»Oder ihrer Unersättlichkeit«, sagte Sabriel.

Auch Aylen kannte die Geschichte, die so verbreitet war, dass die einfachen Leute aller drei Völker sie aufsagen konnten. Im Stillen dazu aufgefordert von den drei Drachen, sprach sie den nächsten Satz mit: »Sie, die sich nicht mit dem ihr zugeteilten Platz zufriedengibt, wird mit ihrem Blut die Erde vergiften und den Himmel mit Rauch verdunkeln.«

»Wollen wir ihre Worte wahr machen? Nicht, dass die Zauberer jahrhundertelang Lügen verbreitet haben.«

Mit fauchendem, zischendem Gelächter stürzten die Drachen sich auf die Erzmagier. Aylen klammerte sich an Sabriels Nacken fest, doch als die drei begannen, sich um das Fleisch der Männer zu balgen, ließ sie sich seitlich fallen und floh zwischen Klauen und Schwänzen hindurch bis an den Rand der Grotte. Sie drückte sich in eine Spalte im Gestein und beobachtete schwer atmend, wie die Drachen miteinander rangen. Sie stritten bis zum letzten Fetzen. Bis von den beiden Männern nicht ein Tropfen übrig geblieben war.

Schon fürchtete Aylen, dass die drei Drachen ihr Feuer gleich gegeneinander einsetzen würden, doch da beruhigten sie sich, als würden sie sich auf ihren Genuss besinnen. Fast versöhnlich strichen sie auseinander, und in der Dunkelheit, die nur ihr glühender Atem unterbrach, schien sich jeder Drache zu recken und zu strecken. Aylen presste sich beide Hände vor den Mund, als sie begriff, was geschah: Sie wuchsen. Tatsächlich. Ihre Schädel wurden größer, die Hörner und Krallen länger. Mit Sirren und Knacken schoben sich ihre Schuppen auseinander.

Dann Stille. Es dauerte einen Moment, ehe Aylen begriff, dass es eine innere Stille war. Sonst hörte sie immer die Gefühle und Gedanken der drei summen, und sei es noch so unverständlich. Doch jetzt war da nichts, gar nichts, und Aylen fühlte sich wie ein Brunnen, dessen Oberfläche von nichts erschüttert wurde. Sie fühlte sich … allein. Zum ersten Mal seit dem Schlüpfen der drei Drachen.

Nach einer Weile war die Veränderung der Drachen offenbar abgeschlossen, und sie sahen sich um, als fiele ihnen erst jetzt wieder ein, wo sie sich befanden. Ihre Blicke landeten auf Aylen.

Es kostete Aylen Überwindung, aus der Felsspalte zu steigen, in der sie sich versteckt hatte. »Wir haben gesiegt. Lasst uns die anderen Drachen befreien«, schlug sie vor. Sie wagte nicht, es in Gedanken zu sagen, aus Angst festzustellen, dass die Verbindung nicht mehr existierte.

Die drei Drachen schlichen zum Ausgang. Sabriel hielt inne und neigte fast unwillig den Kopf, damit Aylen aufsteigen konnte. Wie viel größer sie geworden war, merkte Aylen erst jetzt. Sie bekam ihre Beine kaum noch um ihren Nacken!

Sie schlichen die Treppe empor und hinaus aus dem Berg, wie sie eingedrungen waren. Inzwischen war der Eisregen versiegt. Es fielen große weiche Schneeflocken.

»Was ist mit den gefangenen Drachen?«, rief Aylen gegen das Schneegestöber an, als sie sich in die Lüfte erhoben und mit kraftvollen Flügelschlägen in die Nacht segelten. »Was ist mit Tahrika? Sie liegt noch in Ketten!«

Sie hat uns angegriffen. Sie ist eine Gefahr, murmelte Irosal. Ihre Stimme hallte merkwürdig fern in Aylen wider.

»Aber …« Aylen nahm ihren Mut zusammen und rief in Gedanken: Das ist doch, warum wir hergekommen sind! Um die Schwestern zu befreien!

Die drei Drachen wirbelten auseinander, rauschten in die Höhe und schossen in die Tiefe, wild wie Laub im Sturm. Aylen musste sich festklammern. Im Brüllen des Windes schien Gelächter zu liegen. Die drei Drachen freuten sich. Sie tanzten.

Wir sind nicht gekommen, um andere Drachen zu befreien, dachte Sabriel leise, fast nur für sich, sondern um die Zauberer zu fressen.

1

Nireka war keine besonders leidenschaftliche Tänzerin. Sie sah lieber zu, wie andere zur Musik umeinander wirbelten. Mit einem Becher Apfelwein in der Hand lehnte sie an der Brüstung eines Balkons, der aufs Sonnendeck hinausging, und wippte mit dem Fuß. Die Freude der anderen stimmte auch sie fröhlich.

Ganz Ydras Horn drängte sich auf dem Sonnendeck zusammen, und die Schatten von mehr als zweitausend Männern und Frauen flogen über die hohen Felswände. Das Sonnendeck war zwar der tiefste Punkt der Untergrundfestung, doch der Name passte. Denn nirgendwo sonst war man bei den Zwergen von Ydras Horn unter freiem Himmel.

Weit oben, fast hundert Meter über den Feiernden, glänzte der Himmel durch eine runde Öffnung, und an klaren Winterabenden wie diesem konnte man die Mondsichel sehen. Die Öffnung lag versteckt zwischen den Felsen an der Küste, und selbst wenn sie entdeckt wurde – was schon vorgekommen war, wie die verkohlten Wände bewiesen –, reichte das feindliche Feuer nicht herab. Ein uraltes Festungsgeschütz verrottete weiter oben im salzigen Wind. Speere von unvorstellbarer Größe mussten einst damit abgefeuert worden sein, aber wie der Mechanismus funktionierte, verstand niemand mehr. Die Kurbeln waren zu riesig, die Ketten zu schwer, um durch Muskelkraft betrieben zu werden. Und selbst wenn es ihnen gelungen wäre – aus welchem Material sollten sie die Speere fertigen? Weder Eisen noch Feuer noch sonst eine bekannte Substanz konnte den fürchterlichen Drachen an der Oberfläche etwas anhaben.

Wie überhaupt ein so tiefes Loch in den Fels gehauen und Ydras Horn mit seinen stufenförmig angeordneten Sälen, hohen Bogengängen und Balkonen unter der Erde errichtet worden war, ließ sich von seinen heutigen Bewohnern nicht mehr nachvollziehen. Die unterirdische Festung musste durch Zauberei erschaffen worden sein, als es noch Zauberer gab. Alle Versuche, den Bau zu erweitern, waren gescheitert, denn der massive Fels ließ sich mit Hacken und Schaufeln so gut wie nicht bearbeiten.

Ein Teppich aus blassem Moos und Farnen und winzigen hellrosafarbenen Blumen wucherte hier an den Wänden und um die Balkone. Die Zwerge pflegten die Pflanzen mit so großer Sorgfalt wie ihre Haare und Kleider, denn sie galten als Schmuck von Ydras Horn. Das Grün war eine Wohltat fürs Auge, wenn man die meiste Zeit unter der Erde verbrachte, im Dämmerschein von Fettlampen.

Hier, auf dem Sonnendeck, gab es aber noch eine andere Lichtquelle. Kugeln, manche so groß wie eine Faust, andere klein wie eine Perle, schwebten durch den Schacht. Ein geheimnisvolles Leben erfüllte sie, ein Funke Ewigkeit, den die Zauberer von einst ihnen eingehaucht haben mussten. Jede Kugel war eine winzige Nachahmung der Sonne, ein kleiner Stern – ein Trostpreis dafür, dass der echte Himmel bis auf den einen, fernen Ausschnitt über dem Sonnendeck hinter meterdickem Fels verborgen lag. Manche der Sternlichter kreisten umeinander, andere schlafwandelten von oben nach unten in einem endlosen Kreislauf. Sie änderten nie ihren Kurs, und ihr Licht nahm nie ab, seit Beginn der Geschichtsschreibung in Ydras Horn vor dreihundertdreiundzwanzig Jahren.

In ihrem goldenen Glanz entdeckte Nireka Kani, die auf sie zukam. Kani war zehn Jahre jünger als Nireka, gerade einmal sechzehn, und noch pausbäckig wie ein Kind. Vor allem jetzt, da sie kaum aufhören konnte zu grinsen.

»Nireka!« Das Mädchen rannte die letzten Schritte auf sie zu, einfach im Überschwang, so dass sein rotes Kraushaar, das zu zwei hoch angesetzten Zöpfen zusammengefasst war, hüpfte. »Du hast dich … ja geradezu herausgeputzt!«

»Geradezu?« Stirnrunzelnd sah Nireka an sich herab. Sie hatte ihre übliche Kluft aus einem Leinenkittel, ledernen Beinkleidern und einem wollenen Kapuzenüberwurf gegen ein Kleid ihrer großen Schwester Patinka getauscht. Es war aus blau gefärbtem Leinen, das, wie Patinka versichert hatte, gut zu Nirekas kinnlangen blonden Locken passte.

»Na ja«, sagte Kani und zupfte an dem Kleid herum, »es würde besser mit einem Gürtel aussehen, der die Taille betont, und ohne den Kittel darunter, der so aus dem Ausschnitt hervorquillt.«

Nireka lachte nervös. »Das wäre unbequem. Und kalt.«

Kani bedeutete ihr mit einem Blick, dass sie die Ausrede nicht gelten ließ. Auch wenn es stimmen mochte, es war nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte, die Nireka verschwieg, war, dass sie sich in allzu weiblicher Kleidung unwohl fühlte. Da sie von Zwergen und von Menschen abstammte, die Ydras Horn im Laufe der Zeit immer wieder als Flüchtlinge aufgenommen hatte, war sie für eine Zwergin ziemlich groß und dünn, mit kantigen Schultern und flacher Brust, und tiefe Ausschnitte und ein schmaler Taillenschnitt schienen nur zu betonen, wie gering ihre Reize ausgeprägt waren. Seit ihrer Jugend hatte sie nach und nach immer seltener Kleider getragen und sich angewöhnt, ständig so herumzulaufen, als würde sie gleich zur Oberfläche aufbrechen. Vor allem die Frauen von Ydras Horn schüttelten darüber die Köpfe, und bei Festen wurde ihre Kleidung immer wieder zum Thema, ganz gleich, ob sie sich den Gepflogenheiten beugte und ein Festgewand anlegte wie heute oder ob sie in ihrem praktischen Aufzug blieb.

Aber abgesehen von ein paar gut gemeinten Sticheleien, akzeptierte man in Ydras Horn ihre Absonderlichkeiten. Vielleicht, weil sie Patinons Tochter war, der Stimme von Ydras Horn, und weil sie wie er die meiste Zeit in der Kammer der Weisen mit Schriften arbeitete. Es zeichnete sich ab, dass sie nach ihm seinen Platz einnehmen würde, um das Gedächtnis von Ydras Horn zu hüten. Mit dieser Sonderstellung wurden auch einige Abweichungen von normalem Verhalten toleriert.

»Willst du einen Keks?«, fragte Nireka versöhnlich und schlug das Tuch auf der Balkonbrüstung auf, in dem sie sich ein paar Taler aus Kastanienmehl, Zimtrübensirup, Haselnüssen, Gewürzen und getrockneten Kirschen eingepackt hatte. Zur Feier des Tages hatten sie die Sparsamkeit aufgegeben und aus ihren Vorräten Leckereien gebacken, die es seit Wochen nicht gegeben hatte. Denn jetzt war die Belagerung vorbei, das Monstrum weitergezogen. Und das lag an Kani.

Der Fluch, der auf dem jungen Mädchen gelastet hatte, war von Kani abgefallen. Sie war nicht mehr von Geisterschatten besessen, und somit war auch das Interesse des monströsen Drachen an ihr verschwunden. Kein Wunder also, dass sie strahlte.

Sie nahm sich einen Keks. »Morgen gehst du mit nach oben, oder?«, fragte sie mit vollem Mund.

»Natürlich. Sonnenlicht! Das lasse ich mir nicht entgehen«, antwortete Nireka und nahm sich ebenfalls eines der Plätzchen.

Kani seufzte. Aus Sicherheitsgründen musste sie noch mindestens zwei Wochen unter der Erde bleiben, um zu beobachten, ob die Geisterschatten auch wirklich weg waren. Bis vor kurzem war ihre Besessenheit so schlimm gewesen, dass man sich ihr nicht ohne Gefahr hatte nähern können und sie die meiste Zeit allein in einer Zelle hatte verbringen müssen.

Niemand wusste, was Geisterschatten waren. Vielleicht ein Dämon – vielleicht eine ganze Schar von Dämonen. Wer befallen war, gleich wie alt oder welchen Geschlechts, um den loderten hin und wieder Schatten wie schwarze Flammen auf, und unheimliche Lichter glitten über die Haut, durch die Augen und den Mund. Dinge geschahen, die eigentlich nicht geschehen konnten. Gegenstände gingen zu Bruch. Manchmal wurde jemand verletzt. Es war ein Fluch, der unerklärlich kam und fast immer auch wieder verschwand. Manche hatten ihn für Jahre, andere für Wochen, manche immer wieder, andere nie. Warum Geisterschatten auftraten und warum nur Besessene die Drachen anlockten, wusste keiner.

»Ich kann es kaum erwarten, auch wieder oben zu sein.« Kani wippte auf den Füßen. »Erzähl mir ganz genau, wie es war, ja? Wie warm es war, wie es gerochen hat und wie das Meer aussah. Oh, ich vermisse den Meereswind so!«

»Ich werde dir alles genau beschreiben.« Nireka freute sich dermaßen auf morgen, dass kaum Raum für Mitleid mit Kani blieb. Zum ersten Mal seit zwei Monden würde sie an die Erdoberfläche gehen und sich ansehen, wie es um die Felder, Obstwiesen und Schafherden stand. Solange sie es nicht wusste, hielt sie an ihrer Hoffnung fest, dass es so schlimm nicht sein würde.

»Ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken«, murmelte Kani. »Für alles.«

»Es gibt nichts, wofür du dich bedanken musst«, sagte Nireka und meinte es auch so. Sie klopfte sich die Krümel von den Händen und tippte Kani auf die Nasenspitze, damit diese den Kopf nicht mehr hängen ließ. Kani blickte mit einem traurigen Lächeln wieder auf.

»Es passiert oft, dass junge Mädchen von Geisterschatten befallen werden«, rief Nireka ihr in Erinnerung. »Ihr seid die Mütter der nächsten Generation, die wichtigsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Keine Sekunde haben wir erwogen, ob wir dich hergeben sollten. Das weißt du doch, oder?«

Kani nickte, aber sie schien sich dazu zwingen zu müssen. Zweimal hatte sie während ihrer Besessenheit versucht, sich an die Oberfläche zu schleichen und sich dem Drachen preiszugeben, damit die Belagerung endete. Zum Glück hatte Nireka sie einmal aufhalten können, das andere Mal Kedina.

»Wie tragisch wäre es gewesen, wenn du dich geopfert hättest«, murmelte Nireka, »wo deine Besessenheit doch nun so schnell von allein verschwunden ist. Deshalb ist es so wichtig, immer abzuwarten und nicht freiwillig in den Tod zu gehen.«

»Ich glaube, ich wäre viel länger von Geisterschatten besessen geblieben, wenn nicht …« Kani senkte wieder den Kopf. Sie legte die Hände auf ihren Bauch. »Ich glaube, ich weiß, was mich geheilt hat …«

»Kani«, unterbrach Nireka sie. »Suche keine Erklärungen dafür, warum jemand von Geisterschatten besessen ist oder sie wieder abschüttelt. Man kann es nicht beeinflussen. Du darfst dir keine Schuld geben, hörst du?«

Diesmal konnte Kani sich nicht zu einem Nicken durchringen. Allerdings erregte etwas hinter Nireka ihre Aufmerksamkeit, und sie beugte sich über die Brüstung des Balkons. »Da ist Kedina. Kedina!«

Sie winkte einem Mann, der die stufenförmigen Sitzbänke erklomm, die vom Sonnendeck zu den höheren Stockwerken führten. Kedina blickte auf, entdeckte sie und winkte zurück. Er war in Nirekas Alter, aber immer noch hell und fein wie ein Blatt Papier: weizenfarben das Haar, rosig und weich die Lippen, still und dunkel die Augen. Er sah von Kani zu Nireka, und Nireka spürte, wie sie rot anlief.

Die Leute sagten Kedina nach, in sie verliebt zu sein. Vermutlich, weil Kedina ebenso wie sie ein Gehilfe Patinons war. In der Kammer der Weisen hatten sie seit ihrer Jugend viel Zeit zusammen verbracht, in alten Schriften geforscht, neue verfasst und auch sonst alles getan, worum Patinon sie bat. Aber ob es stimmte, was die Leute sagten, wusste Nireka nicht. Kedina galt als zurückhaltend, und sie konnte so schüchtern sein, dass sie in einem Gespräch über Nichtigkeiten ins Stammeln geriet. Nur wenn es um wichtige Dinge ging oder wenn sie vor vielen Leuten sprechen musste, war sie ruhig und selbstbewusst wie ihr Vater.

»Ich muss zu Kedina«, sagte Kani und drückte Nirekas Arm. »Wir sehen uns später!« Schon lief das Mädchen los, rief aber noch über die Schulter: »Blau sieht schön aus an dir, trag das öfter!«

»Mal sehen … Na gut!« Nireka hatte sich eigentlich darauf eingestellt, dass Kedina zu ihnen hochkommen würde, aber so war es ihr auch recht. Sie war oft befangen in seiner Gegenwart, wenn sie nicht gerade zusammen an etwas arbeiteten.

Sie leerte ihren Becher, und der Wein breitete sich in ihrem Bauch und ihrem Kopf aus wie heißer Dampf. Die Trommeln unten wurden schneller, zwei Flöten taten sich hervor, schnell und nervenaufreibend, als wollten sie einander übertönen. Jubel erscholl. Plötzlich bekam Nireka doch Lust, sich zu bewegen. Zu dieser Musik bildeten sich nicht unbedingt Paare, sondern jeder konnte für sich zappeln. Sie ging an Grüppchen von Leuten vorbei, die an den Balkongeländern lehnten und redeten, an Kindern, die mit von Sirup verschmierten Mündern Fangen spielten, an eng umschlungenen Paaren und dann die halbkreisförmigen Sitzbänke hinab aufs Sonnendeck. Die Sternlichter zogen schwebend ihre trägen Bahnen durch den tiefen Schacht, unbeeindruckt von der wilden Menge am Grund.

Nireka blieb am Fuß der Sitzbänke stehen. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Musik und begann sich im Takt zu wiegen. Aber sie fühlte sich beobachtet und öffnete die Augen wieder.

Niemand schien sie zu beachten. Alle waren dabei zu tanzen oder zu musizieren. Sie senkte den Kopf und versuchte, sich der Musik hinzugeben. Aber sie kam sich wie immer irgendwie albern vor, so als versuchte sie nur, etwas zu sein, was die anderen wirklich waren.

Schief und stürmisch endete das Flötenspiel, und die Menge applaudierte. Selika und Gandred, die gespielt hatten, verbeugten sich, nahmen Becher aus der Menge an, um zu trinken, und kippten sich im Überschwang gegenseitig Wasser über die schweißnassen Gesichter. Wer von beiden nun den anderen mit seinem Flötenspiel übertroffen hatte, ließ sich nicht entscheiden – die Leute jubelten der älteren Frau und dem jungen Mann gleichermaßen zu. Eine kurze Pause entstand, in der man auf die nächsten Musiker wartete, die auftreten wollten. Nur Emita, Reynard, Othenon und Mirak trommelten gemächlich weiter.

Doch nicht Musiker traten auf das Podium, sondern Kani und Kedina. Nireka bemerkte, dass sie sich an den Händen hielten.

»Ich möchte etwas verkünden«, rief Kani.

Die Leute jubelten und klatschten so laut, dass sie nicht fortfahren konnte.

»Du hast es geschafft! Lang lebe unsere Kani! Geheilt für immer!«, riefen alle durcheinander.

»Danke«, rief Kani zurück. Sie lachte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ich danke euch! Danke … Hört mich an!«

Endlich wurde es etwas ruhiger.

»Ihr alle habt lieber gehungert und unser Land aufs Spiel gesetzt, als mich dem Tod preiszugeben. Das kann ich euch niemals genug danken«, sagte Kani mit bebender Stimme. »Zweimal wurde meine Verzweiflung so groß, dass ich … dass ich versucht habe, an die Oberfläche zu gehen. Nireka hat mich das erste Mal aufgehalten.« Sie suchte sie in der Menge, fand sie und deutete auf sie. Die Leute drehten sich zu Nireka um und klatschten.

Nireka hob scheu die Hand, um zu winken. Was auch immer das bedeuten sollte.

»Sie hat mich festgehalten, obwohl ich gestrampelt und geheult habe wie ein bockiges Kind«, sagte Kani und musste sich wieder die Tränen von den Wangen wischen. »Danke, Nireka. Ohne dich wäre ich tot.« Sie wandte sich nun Kedina zu. »Und beim zweiten Mal hat mir Kedina den Weg versperrt. Er hat nicht zugelassen, dass ich mich für Ydras Horn opfere. Auch gegen ihn habe ich angekämpft. Aber er hat mich nicht losgelassen, und ich … ich habe mich in ihn verliebt.«

Seufzen erscholl und erneutes Klatschen und Freudenrufe. Nireka schluckte hart. Mit gerade einmal sechzehn Jahren hatte Kani sich nicht nur getraut, ihr Herz dem Mann zu öffnen, den sie liebte, sondern sich auch vor ganz Ydras Horn dazu bekannt.

Kedina legte die Arme um sie. Er wirkte nicht überrascht. Nireka begriff, dass er es längst gewusst hatte. Dass er mit ihr vor das Volk von Ydras Horn getreten war, um sich ebenfalls zu seiner Liebe zu bekennen.

»Wir werden ein Kind bekommen«, rief er.

Der Jubel wurde ohrenbetäubend. Aber Nireka hörte nichts mehr. Nur seine Worte hallten in ihr nach. Ein Kind. Deshalb waren die Geisterschatten von Kani abgefallen. Große Veränderungen wie eine neue Liebe oder Mutterschaft konnten Geisterschatten nicht nur anlocken, sondern manchmal auch vertreiben.

Wie laut Kedina gerufen hatte … Nireka hatte ihn bisher nie lauter sprechen hören als so, dass man die Ohren spitzen musste. Irgendwie schockierte sie diese ungewohnte Lautstärke an ihm mehr als alles andere.

Zögerlich begann auch sie zu klatschen. Wie glücklich die beiden aussahen. Sie sprangen von dem Podium hinunter in die Menge und ließen sich umarmen und beglückwünschen. Sie waren ein schönes Paar. Das sah jeder.

Wie hatte sie es nicht sehen können?

Musik setzte ein, und die alte Farula sang mit ihrer rauen Stimme ein langsames Liebeslied zu Ehren der beiden. Die Menge stimmte mit ein, und die aberhundert Stimmen erfüllten alle zweiundvierzig Stockwerke von Ydras Horn, das in der Tat wie ein Horn in die Erde ragte und den Hall von unten bis hinauf in die obersten Stockwerke trug.

Nireka fühlte, wie sich ein Lächeln in ihren Wangen festbiss. Sie verließ das Sonnendeck und erklomm mit großen Schritten die Sitzbänke. Sie brauchte etwas zu trinken.

Als sie auf den Ausschank zusteuerte, entdeckte sie ihren Vater, der gerade aus einem der Fässer zapfte. Sie wollte umkehren, doch zu spät. Schon drehte Patinon sich um und fing ihren Blick auf. Er begriff sofort, dass Kanis und Kedinas Eröffnung sie überrumpelt hatte. Mitleid trat in seine Miene. Hämisches Gelächter wäre ihr lieber gewesen. Oder ein Kinnhaken.

»Nireka«, sagte er. Dann wusste er zum Glück nicht mehr, wie er weitermachen sollte.

»Amüsierst du dich?«, fragte sie und zapfte sich etwas vom Apfelwein, als wäre nichts.

Patinon hielt seinen Becher zwischen den langen Fingern. Er war inzwischen ein betagter Mann, sein Kopf fast haarlos und sein geflochtener Bart schon eher weiß als grau. Aber er war immer noch eine imposante Erscheinung: groß und drahtig, ohne gebrechlich zu wirken, mit tiefliegenden, klaren, hellblauen Kinderaugen. Seine Mutter war menschlichen Geblüts gewesen und hatte bei den Zwergen von Ydras Horn Zuflucht vor der Gefahr an der Oberfläche gefunden. Trotz seines gemischten Bluts war er Hüter der Kammer der Weisen und Stimme von Ydras Horn geworden: Er leitete die Geschichtsschreibung der Untergrundfestung und legte die Schriften der untergegangenen Welt aus. Auch die Unterweisung der Kinder in die Kunst des Lesens und Schreibens fiel ihm zu. Nireka half ihm dabei, seit sie zwölf Jahre alt war, und in Wahrheit blieb es immer öfter an ihr hängen.

»Ich wusste nicht, dass Kedina und Kani sich ineinander verliebt haben«, sagte Patinon sanft.

Nireka umklammerte ihren Becher so fest, dass sie glaubte, das Holz knirschen zu hören.

»Hätte er es mir erzählt, hätte ich dir sofort …«

»Warum denn?«, fragte Nireka und atmete tief aus. Gut, sie konnte ihrem Vater nichts vormachen. Aber musste sie das überhaupt? Sie hatte nie durchblicken lassen, dass sie etwas für Kedina empfand – ebenso wie er allerhöchstens sehr zaghafte Andeutungen gemacht hatte. Es waren immer nur Mutmaßungen anderer gewesen, dass sich zwischen ihnen Gefühle entwickeln könnten. Weil wir einander so ähnlich sind, so gut zusammenpassen. Ja, je mehr Nireka jetzt darüber nachdachte, umso sicherer war sie, dass sie ihre vagen Hoffnungen eher von außen übernommen als im Herzen entwickelt hatte.

Das hätte sie ihrem Vater sagen können. Aber es anzusprechen machte es bedeutsamer, als es war. Und ein Teil von ihr fürchtete, dass Patinon ihr nicht glauben würde.

»Jetzt wissen wir, wie Kani so schnell ihre Geisterschatten verloren hat«, sagte sie und spürte, dass sie sich zumindest darüber aufrichtig freuen konnte. Es war ein gutes Gefühl, und darauf wollte sie sich konzentrieren.

Patinon musterte sie einen Moment forschend, bis ihm klarzuwerden schien, dass sie darunter litt. Er ließ den Blick zu den Balkonen schweifen, an denen im fröhlichen Lärm des Festes die Sternlichter vorbeischwebten.

»Niemand weiß, warum Geisterschatten kommen oder gehen«, erinnerte er.

»Ich werde morgen in unseren Archiven nachsehen, wie viele Fälle von spontaner Heilung verzeichnet wurden, die mit einer ersten Schwangerschaft einhergingen«, beschloss sie stur.

»Wolltest du morgen nicht mit an die Oberfläche, um dir ein Bild von der Lage zu machen?«, fragte Patinon, ehe er rasch hinterherschob: »Ach, was. Ich denke auch, dass du dich auf deine Arbeit in der Kammer der Weisen konzentrieren solltest. Andere können an die Oberfläche, aber niemand kennt sich mit den Schriften so gut aus wie du. Bleib besser unten.«

Sie lächelte über diese schlechte Ausrede dafür, dass sie sich nicht in Gefahr begeben sollte. In Patinons Augen würde sie immer ein kleines Mädchen sein. Mit sechsundzwanzig ebenso wie mit sechzig. Vom kleinen Mädchen direkt zur kinderlosen Alten. Normalerweise dachte sie nicht darüber nach, dass sie keine Kinder hatte – es störte sie nicht wirklich, außer wenn sie dafür schief angeschaut wurde. Aber in diesem Moment erfüllte es sie mit einer namenlosen Angst, so als sei der Tod in ihr. Als sei sie eine Tote unter Lebenden.

Sie schüttelte die Vorstellung ab. »Ich gehe morgen an die Oberfläche«, sagte sie. »Und danach komme ich in die Kammer der Weisen.«

Patinon seufzte verhalten.

»Ich vermisse das Sonnenlicht«, fügte Nireka entschuldigend hinzu. Aber zu sehen, wie sich die Sorgenfalten in Patinons Gesicht vertieften, erfüllte sie mit Schuldbewusstsein. Würde sie sterben, wären Schuldgefühle gegenüber ihrem Vater wahrscheinlich ihre letzte Regung – nicht Bedauern über den Verlust ihres Lebens, sondern über seinen Verlust der Tochter.

Nun seufzte auch sie. »Kani ist geheilt. Uns droht oben keine Gefahr.«

»Das weißt du nicht«, sagte er leise und trank von seinem Apfelwein. »Durch die Drachen droht Ydras Horn immer Gefahr.«

2

Nireka war schon wach, als Ydras Horn noch in tiefer Nachtstille versunken lag. Sie erinnerte sich nicht, zu sich gekommen zu sein, so seicht war ihr Schlaf gewesen. Gedankenfäden waren ununterbrochen durch ihr Bewusstsein geribbelt und hatten verhindert, dass sie tiefer als in ein Dösen absank. Heute würden sie zum ersten Mal seit zwei Monden an die Oberfläche gehen und sich ansehen, was während der Belagerung durch den Drachen passiert war.

Sie stand auf, schlüpfte in ihre Beinkleider und Stiefel und ihren Kapuzenüberwurf. Noch während sie den Gürtel festzog, schlich sie aus dem dunklen Quartier, das sie sich mit ihrem Vater teilte. Patinon schlief im Nebenraum; sie hörte ihn tief und pustend atmen. Im Kamin des Vorzimmers glomm noch ein wenig Glut. Leise schloss sie die Holztür hinter sich. Der Waschsaal mit seiner hohen, gewölbten Decke lag am Ende des Korridors und wurde von den Bewohnern aller sieben Quartiere auf dieser Seite des sechsunddreißigsten Stockwerks geteilt. Nireka ging hin und wusch sich das Gesicht im Schein einer einsamen Fettlampe. Dann stieg sie die schier endlose Treppe empor, die vom Sonnendeck tief unten bis hinauf zum ersten Stockwerk führte. Sie kam an Korridoren links und rechts mit Quartieren vorbei, die so identisch waren wie Waben in einem Bienenstock. Nichts regte sich. Alles schlief, als würde die Untergrundfestung den Atem anhalten, und ein gleichmäßiger hohler Widerhall erfüllte die Luft, der von feinsten Windströmungen aus den Schächten kommen musste.

Als Nireka sich warm gelaufen dem ersten Stockwerk näherte, kam ihr ein Duft entgegen. Sie war also nicht die Einzige, die schon auf war. Sie bog links in den offenen Korridor ab, der breiter war als alle unteren, und trat in den hohen Saal, in dem Licht glomm. Lange Tische waren hier aufgebaut, an denen rund zwanzig Männer und Frauen in Schürzen Teig mischten und zu verschiedenen Brotlaiben formten. Viele der Bäcker waren Mischlinge wie Nireka. Sie waren etwas größer als die Zwerge, hatten nicht das typische krause, helle Haar und die quadratischen Gesichter mit den großen Mündern und rundlichen Nasen.

Die Kunst des Brotbackens hatten die Menschen mitgebracht, die in Ydras Horn Zuflucht gefunden hatten. Luftige gesäuerte Weißbrote, leicht wie Wolken, und dunkle, mit Malz gesüßte Schrotziegel, süße Nusskringel und weiche Milchkuchen waren allesamt Erfindungen der Menschen, die nun ein fester Bestandteil von Ydras Horn geworden waren. Dreiback, das einzige Brot, das die Zwerge traditionell herstellten, war dünn, hart und – wie der Name schon sagte – dreifach gebacken, was es lange haltbar machte. Denn die Zwerge waren ursprünglich ein Volk von Seefahrern gewesen, und das merkte man ihrer Küche an, obwohl es heute kein Fischer mehr wagte, weiter als eine Feldlänge von der Küste wegzurudern.

»Na, wer kommt da reingetrapst?«, begrüßte Rignan sie, der in der Bäckerei arbeitete, seit Nireka denken konnte. Der große, schwere Mann mit der Halbglatze stemmte die Fäuste in die Hüften, wobei Mehl seine Schürze umwölkte. »Für Diebe ist es aber noch zu früh. Die erste Fuhre ist noch im Ofen.« Rignan deutete auf die zwei Dutzend eisernen, in die Wand eingelassenen Öfen hinter ihm. Angenehme Wärme strahlte von ihnen ab, die gerade erst zu duften begann.

Nireka stützte die Hände auf den alten Holztisch. »Ich bin ein geduldiger Dieb und kann warten.«

»Dann mach dich nützlich, und hol mir zwei Säcke Weizenmehl aus dem Lager, das einfach gesiebte!«, befahl Rignan.

»Wird gemacht.« Sie holte das Mehl. Es auch nur das kurze Stück vom Lager zu den Werktischen zu tragen brachte sie bereits ins Schwitzen. Rignan gab ihr noch weitere Aufgaben und ließ sie sogar ein paar Roggenschnecken formen.

»Sehen fast wie Roggenschnecken aus«, urteilte er mit einem einzigen schnellen Blick.

»Ich werde sie selbst essen«, versprach Nireka.

Die ersten Brote wurden aus den Öfen gezogen. Sie dufteten köstlich, und der einzige Grund, weshalb Nireka sich zusammenreißen konnte und nicht tatsächlich zur Diebin wurde, war der, dass sie sich gestern Abend beim Fest pappsatt gegessen hatte und eigentlich nicht sehr hungrig war. Sie half, die Brote in die Speisesäle im dritten Stockwerk zu tragen, wo sich Ydras Horn morgens zum Frühstücken versammelte oder die Leute sich ihre Brotration abholten. Helfer aus den Küchen waren schon dabei, Schafskäse, Räucherfisch und Asip, einen Aufstrich aus Schafsrahm, Kartoffelbrei und Knoblauch, auf die Tische zu stellen. Bald trafen auch die ersten Hungrigen ein, jedoch merklich weniger als sonst. Schließlich war es eine lange Nacht gewesen.

Nireka hielt Ausschau nach ihrem Vater und ihrer Schwester Patinka und deren Kindern, aber niemand kam außer ihrer kleinen Nichte, die ebenfalls Nireka hieß. Sie holte Brot für die Familie, die heute unter sich frühstücken wollte. Nireka aß daher mit Rignan und den Bäckern. Rignan tauschte eine seiner perfekt geformten Roggenschnecken gegen eine, die Nireka gemacht hatte.

»Schmeckt sogar fast wie eine Roggenschnecke!«, sagte er lobend.

Nireka grinste und verpasste dem Bäcker einen Knuff, der ihn nicht einmal ansatzweise ins Schwanken brachte.

Nach dem Frühstück versammelte sich eine kleine Gruppe vor dem Speisesaal. Es waren die Freiwilligen, die sich gemeldet hatten, um an die Oberfläche zu gehen. Nireka gesellte sich zu ihnen. Sie besprachen, wer wohin gehen würde: Die Felder und Obstwiesen mussten überprüft werden, auch die Lichtungen im Wald, auf denen sie jährlich neue Pappeln und Birken für Brennholz pflanzten, und die Schafweiden. Nireka erklärte sich bereit, nach den Bäumen zu sehen, die am weitesten von der Untergrundfestung entfernt lagen.

Sie holten sich Äxte und entzündeten Fackeln, dann machten sie sich auf den Weg. Nireka und ihre Gruppe folgten dem Tunnel, der zum Wald führte.

Eine halbe Ewigkeit folgten sie ihm geradeaus und nur leicht bergauf durch die Finsternis, in der ihr Atem und ihre Schritte weit hallten. Dann tauchten Ecken auf, die den geraden Weg unterbrachen, um Feuer abzuhalten, das von außen hineingeblasen werden mochte. Sie waren dem Ausgang nah.

Über schmale, steile und verschachtelte Treppen stiegen sie aufwärts. Die Luft veränderte sich, wurde frischer, bewegter. Laub raschelte unter ihren Füßen, und Wurzeln zeigten sich wie Adern in den Wänden. Schließlich schimmerte ein weißer Lichtfleck vor ihnen auf. Nirekas Herz schlug schneller. Sie löschten ihre Fackeln und lehnten sie gegen die Wand, dann stiegen sie die letzten knorrigen Holzstufen empor und hinaus aus einer ausgehöhlten Eiche.

In der zerfurchten Rinde war der Eingang kaum zu sehen. Der Baum war riesig und schon lange tot, sofern er überhaupt je gelebt hatte und nicht die Schöpfung eines Zauberers war. Kein Blatt hing an den Zweigen, doch es war schier unmöglich, einen abzureißen – das Holz war hart wie Metall.

Sie kletterten über die Wurzeln der Eiche, legten die Köpfe zurück und seufzten.

Luft.

Sonnenlicht.

Es war so ungewohnt hell, dass Nireka die Augen zusammenkneifen musste. Sie nahm tiefe Atemzüge. Der Frühlingswald war voller Düfte. Die milchige Schärfe von Trieben, von jungen, noch weichen Tannennadeln und von dicken Dotterblumen waberte über den warmen Aromen des Waldbodens. Vor kurzem musste Regen gefallen sein, denn auch totes Holz und welkes Laub verströmten ihre dunkle Süße.

Sie wanderten quer durch den Wald, den Markierungen in den Baumstämmen folgend, die ihnen den Weg zu den Lichtungen wiesen. Nireka genoss es, mit den Stiefeln im weichen Moos und in dem Teppich alter Tannennadeln zu versinken. Warm strichen die Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und über ihr Gesicht. Die ersten Schmetterlinge flatterten über sumpfigen Blumenwiesen, und im Gezweig zwitscherten und sangen unzählige Vögel um die Wette. Nireka hatte das Gefühl, der Wald erfülle sie mit jedem Atemzug ein bisschen mehr, mache sie zu einem Teil dieser herrlichen, hellen, duftenden Welt. Fast wurde ihr ein wenig schwindelig, so viel Gutes wirkte auf sie ein.

Nach einiger Zeit erreichten sie einen Hain junger Pappeln, die mit silbrigen Blättern in der Brise winkten. Nireka atmete auf. Auch die anderen klopften sich erleichtert auf die Schultern und inspizierten die Bäume, die sie vor drei Jahren gepflanzt hatten. Keiner war beschädigt. Sie wanderten weiter, über einen Hügel und zu Hängen, die mit Birken bepflanzt waren. Kein Anzeichen von Feuer. Alles wuchs, wie es sollte.

Da sie in den letzten zwei Monden ihre Vorräte nicht hatten auffüllen können, fällten sie fünf Bäume, die das richtige Alter hatten. Während sie die Stämme zuschnitten und für den Rückweg schnürten, hielt immer einer Ausschau. Über den Pflanzungen war der Himmel offen. Sie wären sofort sichtbar, wenn der Lärm der Äxte und fallenden Bäume sie verriet.

Als Nireka eine Pause vom Holzhacken brauchte, behielt sie eine Weile mit klopfendem Herzen und verschwitzt den Himmel im Blick. Die zartesten Wolken wanderten über das Blau. Sonst regte sich nichts. Doch bei jeder Brise, die durch die Wipfel der Bäume strich, spannten sich ihre Muskeln an.

Plötzlich bewegte sich etwas Weißes im Unterholz. Nireka hob instinktiv die Axt, aber dann erscholl ein langgezogenes, vorwurfsvolles »Määäähhhh«.

Ein Schaf. Zerzaust und grimmig stand es zwischen den Wurzeln der Bäume und beäugte die Zwerge. Nireka senkte ihre Axt. Es war ein Schaf von Ydras Horn. So weit von den Weiden und Unterständen entfernt …

»Was machst du denn hier, Freundchen?«, murmelte Nireka. Sie schob die Axt in ihren Gürtel und ging auf das Schaf zu. Erst wich es verängstigt zurück, aber schließlich ließ es sich von Nireka kraulen.

»Bist du ganz allein hier?«, fragte Nireka und untersuchte das Schaf auf Verletzungen. Doch abgesehen von Zweigen, Laub und Erde in seinem Fell, schien es unversehrt. »Bist in den Wald geflohen, hm? Das hast du ganz richtig gemacht.«

Inzwischen waren die anderen auf sie aufmerksam geworden. Nireka wandte sich zu ihnen um. »Ich bringe es zurück zu den Weiden. Wahrscheinlich sind mehrere in den Wald geflüchtet, vielleicht finde ich auf dem Weg noch weitere.«

Die anderen warfen unsichere Blicke in den Himmel, nickten aber.

Nireka brach auf. Von der verzauberten Eiche aus, in die der Tunnel von Ydras Horn mündete, kannte sie den Weg zu den Schafweiden. Sie würde ein gutes Stück unter freiem Himmel über Wiesen laufen müssen. Aber sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass auch der Wald, durch den sie zuerst musste, im Grunde keine Sicherheit bot.

Dennoch hatte sie ein mulmiges Gefühl dabei, als die Axthiebe der anderen hinter ihr immer leiser wurden. Was für einen Unterschied es machte, ob man allein war oder zusammen, auch wenn die Gefahr dieselbe war! Wenigstens hatte sie das Schaf an ihrer Seite.

Nachdem sie die verzauberte Eiche passiert hatten, änderte sich der Wald. Pinien mit schirmartigen, hohen Baumkronen standen hier in weitem Abstand zueinander, und die Landschaft war viel offener. Die Luft wurde salziger. Schließlich endete der Wald. Vor Nireka lagen sanfte Hügel mit Büschen und Heidekraut, das seine kleinen, violetten Blüten im Wind schüttelte. Die Sonne strahlte auf das Land herab, und einen Moment konnte Nireka sich nicht rühren, so sehr überwältigte sie die schiere Weite der Insel, die ihre Heimat war. Von einem Horizont zum anderen erstreckten sich die Hügel, und der Himmel war endlos.

Das Schaf wollte wieder in den Wald zurücklaufen. Nireka musste es festhalten und mit sich zerren.

»Ich weiß, du hast Angst«, murmelte sie. »Aber jetzt wird alles gut.«

Sie fragte sich, was das Schaf gesehen haben musste, dass es sich jetzt so vor dem offenen Land fürchtete. Bang erklomm sie den nächsten Hügel. Als sie auf eine Anhöhe gelangte, sah sie vor sich in der Ferne den graublauen Streifen Wasser, der hinter den schroffen Klippen die Grenze ihrer Welt markierte. Sie atmete tief durch. Der Wind wehte ihr nicht nur den Geruch des Meeres entgegen. Da war etwas Verbranntes.