Das Zwitschern im Walde - Andreas Reuel - E-Book

Das Zwitschern im Walde E-Book

Andreas Reuel

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Beschreibung

Westfal, Ende des 19. Jahrhunderts. Seit seiner Rückkehr aus Trivess hatte Reginald Vonderlus nichts mehr von seinen Freunden, den Westfal-Chaoten, gehört oder gesehen. Mit der Bitte der Schwester des Zwergs Tolumirantos Luck nach ihnen zu suchen, macht der kleine Halbling sich auf den Weg. Was haben die Chaoten in dieser Zeit getrieben und wo soll Reggie nur mit seiner Suche anfangen? Der einzige Hinweis, den der Inspektor hat, ist die große Eiche auf einer Lichtung im Fallbörnwald. Genau dort beginnt sein neues Abenteuer und es bringt ihn zurück an einen bekannten Ort. Alleine ist er nicht, denn ein magischer Freund begleitet ihn.

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Für all diejenigen, die die Chaoten lieb gewonnen haben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Festgesetzt

Fremdes Land

Der Mittelsmann

Ein Halbling auf Spurensuche

Geraus Hütte

Spuren im Wald

Vom finden und verlieren

In Meanderers Hand

Gefangen im Wolfshort

Meanderers Prozedur

Die Zutaten

Gefahr in den Marschen

Tausch im Trifolium

Erfolg durch Misserfolg

Der Gefangene aus Verlies Nr. 6

Xarfael

Ronan in der Schlinge

Tolus Geheimnis

Die Sumpfbestie

Ein Glücksbrief

Tenebris

Roykoffs Kampf

Rettung in letzter Sekunde

Ärger im Trifolium

Getrennte Wege

Der Weg zum Ziel

Properer Fritz

Kein Ziel verfehlt

Epilog

Ein paar ernste Worte

Prolog

Nordöstlicher Zwyndrinwald, Rhonisch, im Jahr 1888.

Es geschah an einem späten Winterabend, zwölf Tage vor Weihnachten. Leise rieselten die Schneeflocken aus den grauen, dicken Wolken über dem Nachthimmel herab, legten sich auf die knorrigen Äste der laublosen Bäume und die dunkelgrün benadelten Tannen und Fichten nieder. Langsam bildete sich eine dickere Schneedecke auf dem morastigen Boden des Zwyndrinwalds.

Unter einer Eiche machte sich gerade ein Eichhörnchen daran, noch ein paar letzte Eicheln in seinen Backen zu verstauen, als es durch das Knacken im Stamm des breiten und großgewachsenen Baums aufhorchte und inne hielt. Neugierig reckte es schnüffelnd seine Nase vor und beäugte daraufhin die dunkle, rissige Borke aus sicherer Entfernung genauer. Doch ein merkwürdiger Geruch sowie das erneut knackende Geräusch schien ihm zu sagen, dass möglicherweise Gefahr drohte. Mit einem Satz sprang der Waldbewohner erschrocken davon.

Als hätte es das Kleintier geahnt, erwachte der Baum in diesem Moment zum Leben. Seine Wurzeln begannen sich zu bewegen, drückten sich ächzend und knarrend aus dem Erdreich und hoben die alten Eiche einen Klafter weit schräg empor. Krachend und dröhnend. Im Stamm, kurz über dem Erdboden, formte sich aus dem Innern knarzend ein schwarzes Loch und plötzlich fiel die Eiche wieder in ihre Starre.

Stille war eingekehrt. Der Wald schlief. Der Schnee rieselte weiter, als wäre nichts geschehen. Das Eichhörnchen hatte sich offenbar unweit versteckt und wagte sich nun aus purer Neugierde zögerlich aus seinem Versteck hervor. Vorsichtig näherte es sich immer nur ein paar Schrittchen. Seine dunklen Knopfaugen waren hellwach, mit hochgerecktem Näschen erkundete es den weiteren Weg, bis plötzlich ein dicker runder Kopf aus dem Loch im Stamm der Eiche herauskam. Mit ihm ein Oberkörper, ein Fuß, das Bein zum Fuß und auch das andere Bein mit Fuß. Das Eichhörnchen saß nur wenige Schritte entfernt und starrte die Person, die sich aus dem Loch geschält hatte, wie versteinert an. Es war wohl von dem sehr merkwürdigen Anblick so überwältigt, dass es sich nicht bewegen konnte.

»Grüß dich«, sagte der Zwerg mit schwarzem Vollbart sanft und lächelte es an. »Kleiner Freund, kannst du mir vielleicht Auskunft geben, wo ich hier bin?«, erkundigte er sich mit der freundlichsten und lieblichsten Stimme, die er aufbringen konnte. Natürlich wusste er, dass ihm das Nagetier nicht wirklich antworten konnte. Aber er wollte es auch nicht einfach verschrecken.

»Argh!«, seufzte jemand erleichtert, der dem Zwerg auf dem Fuße aus dem Loch gefolgt war.

Prompt war das Eichhörnchen fort.

Tolumirantos schlug seinem Kompagnon hart gegen die Schulter. »Man, sollen wir dich mit einem Spielmannszug ankündigen?«, sagte er enttäuscht.

»Waaaaasss? Warum schlägst du mich, Tolu?«, jammerte der Betroffene, über dessen Augen zusammengewachsene Brauen saßen.

»Monty, ich habe gerade mit einem Bewohner des Waldes gesprochen und gefragt, wo wir sind«, erklärte der Zwerg schauspielerisch verärgert. »Und genau dann kommst du und machst Radau für Zehn.«

»Ich ...«, meinte Monty und reckte seine Nase vor. »Ich kann es riechen. Ein Eichhörnchen? Ernsthaft?«, warf er dem Zwerg einen närrischen Blick zu.

»Ja«, entgegnete Tolu währenddessen er sich im näheren Umkreis der Eiche umschaute.

»Du machst so einen Aufstand, wegen eines Eichhörnchens?«, zog ihn nun der Gestaltwandler auf. Denn Monty Michel Monobraue, ja, so lautete sein vollständiger Name, konnte sich bewusst in einen Streuner verwandeln. »Du weißt aber schon, dass die nicht sprechen können?«

»Argh.« Der nächste Freund zwängte sich durch das kleine Loch im Stamm. Dieser hatte wahrlich Probleme damit, denn er war ein Hüne von Mann. »Hilf mir mal, Monty«, stöhnte der Kerl während des Versuchs, sich heraus zu zwängen. Dabei wirkte es eher, als wolle ihn der Baum wieder verschlingen.

Sogleich eilte der Zwerg herbei und half Monty. Zusammen zogen sie ihren Freund heraus und endlich konnte Medjev sich wieder seiner vollen Größe entfalten. »Warum zofft ihr euch schon wieder?«, strich er sich seine Wollmütze auf den kahlen Kopf. Tolumirantos winkte nur wortlos ab und sah sich um.

Unterdessen kam der Vierte und Letzte der kleinen Hanse aus dem Loch hervor. Tomagril, der blasse und vorlaute Elb. Diesmal halfen ihm die beiden M's, Monty und Medjev, heraus.

»Aaaahh«, seufzte er und atmete tief die frische Luft ein. »Der Duft der Freiheit.«

Gleich darauf begann sich das Portal zu einer anderen Dimension zu schließen. Unter verwunderten Blicken und lautem Knacken und Ächzen setzte sich die alte Eiche zurück in ihre Ursprungsposition. Einzig die aufgewühlte Erde zeugte davon, was mit dem Baum geschehen war.

Eine bedrückende Stille kehrte ein. Ihr Atem stieg in weißen Dunstwolken durch die eisig verschneite Waldluft auf. Sie rieben sich die Kälte aus den Fingerspitzen und zogen ihre Schals und Mäntel enger. Zu dritt standen sie nun da und beobachteten erwartungsvoll ihren zwergischen Freund.

»Zurück können wir jetzt wohl nicht mehr«, stellte Medjev niedergeschlagen fest.

»Wollen wir das denn?, zweifelte Tolu rhetorisch an. »Es war unser Glück, dass Aris mir von dem Spruch auf der Karte erzählt hatte. Ansonsten würden wir noch immer darin festsitzen.«

»Wo sind wir hier?«, wagte Monty zu fragen und beobachtete mit den anderen, wie Tolu unweit die Umgebung ablief und nach etwas Ausschau hielt. Plötzlich blieb der Zwerg wie angewurzelt stehen und schien zu lauschen. Die anderen Männer warfen sich fragende Blicke zu, denn sie sahen nichts Auffälliges, spitzten jedoch die Ohren.

Genau in diesem Augenblick konnten auch sie es vernehmen. Es klang wie ein Lied, der Gesang eines Engelschor. Tolu winkte sie heran und sie folgten ihm auf dem Fuße durch den düsteren Wald. In der Ferne glomm allmählich ein seichtes Licht aus der Dunkelheit hervor.

Offenbar war dort ein Lager, versteckt in einer Senke. Möglicherweise fahrendes Volk, welches sich dort schutzsuchend zu einem Biwak niedergelassen hatte und hier eine Art Messe abhielt.

Während die vier Männer sich näher an das Geschehen heranpirschten, brach der Gesang abrupt ab und eine laute, männliche Stimme begann zu sprechen. Gleich war ihnen gewahr, dass die Unterbrechung mitten im Lied, nichts Gutes verhieß.

Auf der anderen Seite der Senke duckten sich die vier Freunde erschrocken ab und krochen näher heran. Als sie von ihrer Anhöhe herüberspähten, konnte man auf der anderen Seite relativ gut eine Kompanie dunkelgekleideter Soldaten mit Fackeln und manche davon mit Hellebarden erkennen, die dort bereitstanden.

Ein Mann stach aus alldem deutlich hervor. Er stand während seiner Ansprache ganz vorne in einem warmen, schwarzen Schafsfellmantel und gab sich als Anführer zu erkennen.

Wenn er vor Schreck nicht schon erblichen wäre, dann überkam es Tolumirantos bei dem deutlich vernommen Begriff. Ekpyrosis! Dieses Wort schmeckte wie Galle, wenn man es aussprach. Angewidert verzog er seinen Mund. Sein Speichel schmeckte nach Blut, die Zunge brannte und es stach in seinen Ohren.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen kroch Medjev näher zu ihm heran. »War es das, was Aris uns zeigen wollte?«, schlussfolgerte er aus dem Geschehen.

Mitten in einer kurzen Pause zweier Strophen räusperte sich jemand laut. »Guten Abend, guten Abend. Alle mal hergehört!«, sagte eine kräftige, männliche Stimme und applaudierte. »Schön, wirklich schön gesungen. Es stimmt mich untröstlich, dass ich hier und jetzt diese warmherzige Zusammenkunft unterbrechen muss.« Ein Mann in schwerem, schwarzen Mantel gehüllt, mit dunklen, kurzgeschorenen Stoppeln auf seinem Kopf und einem Schnauzbart unter seiner Hakennase trat über den Rand der Senke mitten im Wald und blickte mit blitzenden Augen auf das Lager herab. Die um die Feuerstelle Versammelten sahen alle ehrfürchtig hinauf. Ein weiterer Mann trat mit einer Laterne heran und leuchtete dem Kundgeber. Langsam holte dieser eine Schriftrolle unter seinem Mantel hervor. Er rollte sie auseinander und verlas mit kehlender Stimme die Ankündigung.

»Hiermit tue ich, Rainald Roykoff, erster Neo-Inquisitor, im Namen der Ekpyrosis und laut Gebot des Kaisers von Rhonisch kund, dass niemandem gestattet ist, in den Wäldern seiner Lande eine Versammlung abzuhalten, welche eine Größe von zehn Personen überschreitet. Aus diesem Grunde ist die kaiserliche Armee dazu verpflichtet, hier Ordnung zu schaffen. Ich wurde erhört.«

Gemächlich und mit einem hämischen Grinsen rollte er sein Schriftstück zusammen, während ein nervöses Raunen durch die Versammelten ging. Dann wandte er sich nach hinten um und rief scharf: »Räumt hier auf. Vetreibt sie alle, alle aus dem Wald!« Mit diesen Worten entsandte der Kundgeber seine Soldaten.

Das reinste Chaos brach aus. Panische Schreie, als wüssten alle Anwesenden des Biwaks, was ihnen blühte. Während sie in alle Richtungen auseinanderstoben, rafften sie ihr Hab und Gut zusammen und suchten eilig das Weite.

Eine Hatz. Gleich welchen Alters oder Verfassung. Man ging gnadenlos mit ihnen um, trieb sie mit Knüppeln wie Kleinwild aus dem Wald Richtung Norden, wo karges Land lag, ohne Schutz vor den frostigen Wetterbedingungen. Die Rhoner Marschen. Ein weites, stinkendes Sumpfgebiet. Das Todesurteil für jeden, der es nicht bis in die Stadt, nach Treveriam schaffen konnte. Diese Jagd endete erst, wenn der Kopf der Truppe gefasst würde und alle anderen aus dem Wald vertrieben wären. Der Inquisitor des Ordens der Ekpyrosis würde dafür sorgen.

Grässliche Schreie wurden plötzlich laut, dass einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Etwas Schreckliches war gerade im Gange. Aber was konnten sie tun? Seine Freunde, die linksseitig neben Tolumirantos auf dem harten und eisigen Morastboden lagen, sahen dem Zwerg hilfesuchend in die Augen. Aber auch er war ratlos und erwiderte die Blicke mit Tränen in seinen Augen.

Tomagril und Monty krochen näher heran, während die gellenden Rufe der Soldaten das Klagen übertönten.

»Was sollen wir tun?«, meinte der Elb erschüttert.

Doch plötzlich rief sie eine männliche, autoritäre Stimme. »Ihr da! Habt ihr die Worte unseres Inquisitors nicht vernommen?«, blaffte der Soldat, der sie entdeckt hatte, und winkte seine Kameraden herbei.

Panisch blickten Monty, Tomagril und Medjev ihren zwergischen Freund an.

Augenblicklich richtete sich Tolu auf und knurrte: »Nehmt die Beine in die Hand und lauft!«

Wie auf einen Startschuss hin, spurteten sie los, rannten durchs Unterholz um ihr Leben in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Wir kriegen euch!«, hörten sie den Soldat rufen.

Egal. Sie liefen, was ihre Beine hergaben.

»Anlegen!«, hallte es von hinten.

Jetzt könnte es kritisch werden. Aber sie gaben alles. Sprangen über Äste, die im Weg lagen oder schlugen Haken im Zickzack an den Bäumen vorbei.

»Zielen!«

Alle vier keuchten vor Überlastung. Doch es gab kein Anhalten, kein Gemurre. Es war toternst. Die Furcht vor der Gefahr trieb sie an.

»Feuüüüiaaa!!!«, brüllte der Soldat lauthals und es knallte aus vielen Musketen.

Die vier Männer warfen sich sofort, achtlos was da war, einfach auf den Boden.

»Laaaden!«

Zeit. Sie hatten drei Minuten, maximal fünf.

»Lebt ihr noch?«, rief Tolumirantos herüber, während er sich hastig aufrichtete.

Seine Freunde taten es ihm nach. Ihren Gesichtern zufolge war soweit alles in Ordnung, erkannte Tolu im Zwielicht. Alle waren bäuchlings leicht mit Schnee bedeckt, aber auch das war einerlei.

»Auf geht's, weiter!«, spornte der Zwerg sie erneut an und rannte. »Gleich knallt's wieder.«

»Anlegen! – Feuüüüiaaa!!!«

Prompt flogen die vier Gejagten zu Boden, als es wiederholt aus allen Büchsen schepperte. Manche Kugeln schlugen in die Baumstämme ein oder streiften sie, dass Splitter umher flogen.

»Wir müssen Meter gewinnen. Dann haben sie keine Reichweite mehr«, keuchte Tolu ihnen zu, während sie sich schnaubend aufrichteten.

»Ich kann nicht mehr!«, schnappte Tomagril hastig nach Luft. Aber er lief dennoch weiter.

Es folgte noch ein weiterer Schuss aus den Büchsen der Soldaten. Diesmal hielt das die vier Männer jedoch nicht davon ab, weiter zu rennen. Medjev war am weitesten voraus. Er hatte einfach die längeren Beine und wartete kurz an der großen Eiche auf sie. Doch Tolumirantos war nicht zu bremsen. Der Zwerg lief links um den Baum herum und scheuchte sie gleich weiter.

Die kühle Luft brannte in ihren Lungen. Die Puste ging ihnen allen allmählich aus, weshalb sie letztlich weit hinter der Eiche nicht umhin kamen, stehen zu bleiben, um für einen kurzen Moment zu Atem zu kommen.

»Was war das für eine Scheiße?«, grunzte Tomagril aufgebracht, während er sich mit den Händen auf beide Knie abstützte.

»Ja, Mann. Wieso schießen die auf uns?«, japste Monty nach Luft und hustete mehrmals.

»Woher soll ich das wissen?« Tolu war natürlich auch überfragt, was da vor sich ging.

»Jungs«, machte Medjev sie aufmerksam und deutete auf etwas nahestehendes in der Dunkelheit. »Habt ihr so etwas schonmal gesehen?«

Ein Zaun aus Maschendraht sollte sie von etwas fernhalten. Als sie näher herantraten konnte man die schwarze Schrift auf einem weißen Schild lesen.

»Betreten verboten! Sperrzone!«, las Medjev sogleich davon ab. »Was die wohl dort drin haben?«

Nachdenklich spähte der Zwerg durch den Zaun und beschrieb, was er erkennen konnte. »Ein Bunker und schwere, abgedeckte Gegenstände. Kisten und Haubitzen? Vielleicht ein Waffenlager.«

»Mitten im Wald?«, meinte Monty. »So weit abgelegen?«

Tolu zuckte gleichgültig die Schultern. »Aber nahe an der Grenze«, erwiderte er undeutlich und trieb sie weiter voran.

Jetzt stieg das Terrain des Waldes an und wurde stetig lichter, umso höher sie kamen. Der Wind war hier auf offenerem Gelände stärker und bremste ihr Vorankommen. Obwohl sie einen guten Vorsprung zu den Soldaten aufbauen konnten, schien es dem Zwerg sehr zu drängen, tiefer ins Gebirge zu gelangen und seine Freunde folgten ihm ohne Widerrede. Das war natürlich nicht selbstverständlich. Nein, sie kannten sich seit der Jugend und hatten zusammen viel erlebt, was sie im Grunde verbrüderte. Denn Brüder hatte keiner von ihnen. Eine Gemeinsamkeit mehr.

Vor allem in diesem Jahr hatten sie ein großes Abenteuer zusammen erlebt. Kurz zusammengefasst begann alles, als sie der Magier ihrer Arbeitsstätte im Bergwerk von St. Ohlberg damit beauftragte, nach einem gestohlenen Artefakt zu suchen. Nun, es stellte sich schnell heraus, dass das Aas sie gelinkt hatte. Prompt stand ein Kopfgeld auf sie und ihren Freund Andored aus. Der Magier wollte sie aus dem Weg schaffen, um das Amulett für seine dunklen Machenschaften zu missbrauchen. Na ja, eigentlich wurde das Ding für solche schwarzmagischen Belange geschaffen. Wie dem auch sei, es gelang ihnen auf ihre typische Weise das Blatt zu wenden und der Magier machte sich aus dem Staub. Wortwörtlich. Man glaubte, er sei verbrannt. Wenige Monate später stellte sich dann heraus, dass die Nervensäge sich nur gekonnt verdünnisiert hatte, um einen neuen Plan zu schmieden.

Doch auch diesen konnten die Chaoten vor kurzem vereiteln. Wenn es auch schwieriger war und sie vor neue Herausforderungen stellte. Zusammen schafften sie es, weil sie füreinander da waren und sich gegenseitig unterstützten.

Ein unglücklicher Umstand hatte sie schließlich hier aus dem Loch kriechen lassen. Und jetzt wurden sie auch noch von Soldaten des rhonischen Kaisers im Namen der Ekpyrosis verfolgt, einer Ordenspartei von offenbar Wahnsinnigen.

Keine gute Aussicht. Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten. Eigentlich sollten sie jetzt Zuhause in Nelister sein. Aber was konnte es Schöneres geben, als während eines Schneegestöbers und bei Minusgraden durch ein Gebirge zu flüchten. Davon abgesehen, dass ihnen der Schnee ins Gesicht peitschte und sie dadurch eh nicht weit schauen konnten, kannten sie sich zu allem Übel auch überhaupt nicht aus. Sie waren hier völlig fremd.

Es schneite immer mehr und das Wetter entwickelte sich durch den starken Wind zu einem richtigen Schneesturm. Einen Vorteil hatte es allerdings. Man konnte sie ebenso schwer ausfindig machen und ihre Spuren schlechter verfolgen.

Die Schneedecke lag inzwischen wadenhoch. Aufgeben und sich schnappen zu lassen verneinten sie alle als Lösung, nachdem Tolu sie gefragt hatte. Also ging es weiter und weiter durch die weiße Nacht.

Der Wind hielt an, zerrte an ihren Kräften und entzog ihnen jegliche Wärme. Der Schnee reichte einem durchschnittlichen Menschen nun bis übers Knie. Tolu versank beinahe vollends. Sie hätten wirklich nicht mehr weitergewusst, wenn Tomagril nicht ein Haus entdeckt hätte. Es war schwer auszumachen. Dennoch entschieden sie, nachzusehen. Sie benötigten dringend einen Unterschlupf. Monty und Medjev zogen den Zwerg an den Armen mit. Alleine kam er nicht mehr voran.

Aufgebracht blaffte der Inquisitor seinen Rottenführer an, was die Schießerei sollte. Hatte er nicht ausdrücklich befohlen, keinen Gebrauch ihrer Donnerbüchsen zu machen? Immer musste jemand aus der Reihe tanzen.

»Wir treiben ausschließlich Gruppierungen auseinander und in den Norden«, verdeutlichte er nochmals den Männern, die gerade mit rauchenden Rohren vor ihm standen. »Verfolgt die Männer, koste es, was es wolle«, befahl er umgehend mit kehlender Stimme und fuchtelte drohend mit dem Zeigefinger. »Aber hurtig. Sie dürfen niemals den Wolfshort entdecken.«

Doch dafür war es längst zu spät. Die Soldaten fanden deutliche Fußspuren am Zaun, die davon zeugten, dass sich die Männer wenigstens ein grobes Bild von dem Sperrgebiet machen konnten.

Also sandte Inquisitor Roykoff seine Untergebenen aus, sie weiter bis in die Förlphyden zu verfolge. Wenn es sein musste, sogar bis über die Grenze nach Hildheim in Westfal. Trotz Einwand des Rottenführers, dass das Wetter sich zu einem Schneesturm entwickeln konnte. Roykoff war eben zielstrebiger. Nur deshalb war er so erfolgreich und deswegen würde ihm auch diese Gruppe nicht entkommen.

1. Festgesetzt

Elf Tage vor Heiligabend.

Längst war die Eiseskälte aus ihren Knochen vertrieben. Nur gelegentlich kehrte sie zurück, nachdem man gezwungen war durch den tiefen Schnee zu stapfen, um aufs Örtchen zu gelangen. Dann brauchte man wieder eine Weile vor dem Kaminfeuer der Herberge, in der sie in ihrer Not schließlich Zuflucht gefunden hatten.

Der Schneesturm hatte die vergangene Nacht an Stärke zu genommen und würde noch anhalten. Jedenfalls versicherte ihnen das der Wirt und prophezeite ihnen, dass sich dies auch in Kürze nicht ändern würde. Gut, dass er an Holzscheite vorgesorgt hatte. Obwohl er nicht mit zusätzlichen Gästen rechnete, würde es sehr wahrscheinlich ausreichen. Im Gemeinschaftsraum türmten sich die Stapel, womit sie zumindest allesamt nicht erfrieren würden.

In der Zwischenzeit war das Haus bis auf den Hintereingang und dem kurzen Weg zum Klohäuschen ziemlich eingeschneit. Sie saßen also im Gebirge der Förlphyden vorerst fest. Das hatte auch sein Gutes. Denn somit konnten sich die vier ungleichen Männer von ihrer Verfolgung erholen, die Geschehnisse durch den Kopf gehen lassen und ihre weiteren Schritte genauestens überlegen.

Zu allererst händigte ihnen Konrich, der Wirt des Hauses, eine Karte vom nördlichen Teil Rhonischs aus und zeigte ihnen darauf ihren Standort. Das gab Tolumirantos einen guten Überblick ihrer Lage. Als nächstes überlegte der Zwerg, wie sie vorgehen würden, wenn die Soldaten plötzlich auftauchten. Da gab es eigentlich nur eine Fluchtmöglichkeit, die sich ihnen bot. Dem Zeppler-Pass weiter durch das Gebirge zu folgen, bis sie die Grenze nach Westfal erreichten und so nach Hildheim gelangen konnten. Dem stimmte der Wirt kopfnickend zu. Dennoch befürchtete der Zwerg, dass die rhonischen Männer weniger davor zurückschraken, die Linie nach Westfal zu überschreiten. Das hatten sie in der Vergangenheit unlängst bewiesen.

Wenn jedoch die Soldaten gestern ihre Verfolgung abgebrochen hatten – was bei diesem Schneegestöber sehr wahrscheinlich schien –, dann stand dem Zwerg der Sinn danach, seine beiden Freunde Andored und Aris zu suchen. Am besten sobald es anfing zu tauen. Unterdessen saßen sie zusammen vor dem Kamin und grübelten über das, was Geschehen war.

»Diese Ekpyrosis ist die reinste Seuche«, schimpfte Tomagril berechtigterweise.

Durch diese Fanatiker hatten sie seit langer Zeit etliche Probleme am Hals. Wenn es auch bisher nur von einer einzigen Person ausging, dem Magier Tretenville, der kürzlich sein Leben durch die Hand seines eigens beschworenen Dämons einbüßen musste. Und nun trat schon der nächste Irre in die Fußstapfen des toten Magiers. Es schien eine höhere Macht dahinter zu stecken. Da waren sich die vier Männer alle einig. Ihr Freund und Inspektor namens Reggie, ein Halbling, hatte bereits erwähnt, dass es sich bei der Gruppe um einen hermetischen Orden aus Rhonisch handeln musste.

»Man müsste die Sache an der Wurzel packen«, grübelte Tolumirantos und starrte weiter nachdenklich in die tanzenden Flammen im Kamin. »Die Oberhäupter des Ordens dran kriegen. Dafür müsste man wissen, wo sie ihren Hauptsitz haben.«

Konrich hatte mit halbem Ohr zugehört und erwähnte beiläufig, dass er mit diesen Fanatikern zwar nichts zu tun habe und von ihnen auch nichts wissen wollte, aber wenn sich jemand irgendwo versammelte, dann in Vendryn, der rhonischen Hauptstadt oder eben in Treveriam, der größten Stadt im Lande.

Für den guten Hinweis bedankte sich Tolu, bevor der Wirt sie wieder alleine ließ.

»Was hat uns nur dazu bewogen, hierauf zu laufen?«, moserte Tomagril unterdessen weiter. Seine eisblauen Augen glitzerten wässrig im Licht des Feuers.

»Das weißt du genau«, stellte Medjev klar.

»Medjev, das war eine rhetorische Frage. Darauf antwortet man nicht. Verstehst du das?«, rügte ihn der schimpfende Elb an dessen Stirn sich langsam eine schräg verlaufende Kerbe abzeichnete, was immer geschah, wenn er sich aufgeregte.

Der glatzköpfige Hüne lehnte sich angriffslustig vor. »Wir hätten einfach nicht mit Aris durch den Baum gehen sollen.«

»Genau, Medjev!«, raunzte Tomagril übertrieben zurück, weil er diesen Gedanken ziemlich blöd fand.

»Für das, was letzten Endes passiert ist, konnte Aris gar nichts«, meinte Monty, der Kerl mit den zusammengewachsenen Augenbrauen, um die Lage zu entschärfen.

Jemand rülpste inbrünstig. »Das sage ich zu eurem Anfall«, erwiderte der Zwerg mit dunklem Vollbart und setzte sich Zwecks eines Machtwortes aufrechter hin. »Konrich«, wies er mit seinem dicken Daumen nach hinten, »hat vorausgesagt, dass dieser Schneesturm in den Bergen noch eine ganze Weile anhalten wird. Wahrscheinlich bis nach Neujahr. Wir sind also vom Schnee eingeschlossen und müssen das Beste daraus machen. So lange sitzen wir hier fest und so lange kommt uns niemand hinterher. Aber am Allerwenigsten sollten wir uns jetzt schon nach den ersten Tagen an die Gurgel gehen.«

»Na, toll.« Dem Hünen schien das überhaupt nicht zu gefallen. »Das heißt, wir sind Weihnachten nicht zu Hause?«

»Richtig, Medjev«, bestätigte ihm der Zwerg trocken und blickte vielsagend zu den anderen beiden, denn bis Heiligabend waren es nur noch elf Tage. Selbst mit Pferden und ohne den Schneesturm würden sie es in der Zeit nur von hier bis nach Nelister schaffen, wenn sie Tag und Nacht durchreiten würden. Praktisch unmöglich.

Dennoch bedrückte Medjev etwas und er machte den Eindruck, es los werden zu wollen. »Meint ihr nicht auch, dass es sich anfühlt, als wären wir verflucht? Überlegt mal, das geht seit letztem Jahr so.«

»Woher willst du wissen, wie sich ein Fluch anfühlt?«, wunderte sich Tomagril ruhiger.

»Na ja, wenn man so viel Pech hintereinander hat?«, erwiderte Medjev, als wäre es doch offensichtlich. »Ständig läuft bei uns etwas schief.«

»Schau mal, wir hatten auch verdammt viel Glück«, wollte ihm Tolu eine andere Sichtweise der Dinge deutlich machen. »Durch Tomas Boxkämpfe konnten wir an viel Geld kommen. Uns gelang es, den Zauber des Amuletts zu brechen und so über den Dämon zu siegen. In Tenebris hatte ich Aris Karte noch in meinen Händen, bevor das Portal sich schloss. Dadurch konnten wir uns zurecht finden und gelangten schließlich an einen anderen Ausgang.«

»Aber dann jagten uns diese verrückten Soldaten«, sprang Tomagril an Medjevs Seite. »Und wir gerieten auch noch in einen Schneesturm.«

Medjev nickte, als lege es doch klar auf der Hand, dass sie vom Pech verfolgt würden.

»Und darauf fanden wir eine Herberge«, warf Monty einen positiven Aspekt ein. »Dank deiner guten Augen, Elb. Der Wirt nahm uns auf und jetzt sitzen wir hier im Warmen, während draußen ein Unwetter tobt.«

»Korrekt«, stimmte Tolu dem Gestaltwandler zu. »Uns geht es gut. Obwohl unsere Lage nicht gerade berauschend ist. Aber es könnte definitiv schlimmer sein.«

Monty hob den Zeigefinger und zeigte sein breitestes Lächeln. »Da hilft nur eins.« Verschwörerisch grinsend holte er eine Flasche mit einer goldbraunen und öligen Flüssigkeit darin hervor.

»Immer her damit«, klang der nörgelnde Elb plötzlich gut gestimmt und entriss dem Menschen frech das gläserne Gefäß.

»Langsam, Tomagril«, warnte ihn Monty sogleich. »Das ist hochprozentiger Rum. Den genießt man.«

»Nänönänönäh!«, äffte ihn der Elb prompt nach. »Du weißt auch alles besser.«

Der Zwerg lehnte sich genüsslich zurück, als schien er schon zu erahnen, was gleich geschah.

Medjev wandte sich derweil an Monty. »Wo bist du eigentlich eben gewesen?«

»Sieht man doch«, stichelte Tomagril weiter, der es offenbar mit angehört hatte, während er die entkorkte Flaschenöffnung über seinen Becher hielt und sich großzügig einschenkte. »Der hat herumgeschnüffelt und in Konrichs Lager flüssiges Gold gefunden.«

Der vorlaute Elb steckte seine schmale Hakennase in den Becher und nahm eine Geruchsprobe. »Rauchig und eine Note Honig«, tat er kennerhaft und grinste souverän in sich hinein. Darauf setzte er seinen Becher an und nahm einen großen Schluck vom Rum, als wäre es Wasser. Er seufzte wie ein echter Kerl. Dann verkrampfte sich sein kurzes Lächeln und plötzlich lief er rot an, worauf seine Augen vorquillten.

»Er unterdrückt es«, erriet Monty, schlug sich auf die Schenkel und kicherte vor Freude mit Medjev um die Wette.

»Typisch«, entgegnete ihm Tolumirantos nüchtern und schüttelte resignierend den Kopf.

»Lass es raus!«, rief ihm Monty lachend zu.

Der Elb stand kurz vorm Platzen und hustete abrupt aus, als würde er Feuer spucken. So sehr brannte es in seinem Rachen.

Tolumirantos kannte seine Pappenheimer nur zu gut. Ihm schwante, dass die kommenden Tage mit seinen Freunden heiter werden würden.

»Horcht mal, horcht mal!« Mit großen Augen scheuchte Monty sie plötzlich aufgeregt auf. »Ich habe ein Klopfen gehört.«

Tomagril tat es mit rotem Kopf ab. »Der Wind spielt mit den Fensterläden«, krächzte er.

Wiederum lauschten Tolu und Medjev gespannt.

Und tatsächlich. »Da!«, wies sie Monty drauf hin. »Das meinte ich.« Wenn er jetzt gerade in seiner Hundsgestalt wäre, würde er wahrscheinlich wild mit seiner Rute wedeln.

»Warum freust du dich? Ich ahne nichts Gutes«, hatte der Zwerg seine Bedenken.

Abrupt fiel Monty die Kinnlade runter. »Du meinst doch nicht? Nein!«, schüttelte er ungläubig den Kopf und mit einem Mal schwand unterhalb der Augenbraue aller Farbe aus seinem Gesicht. »Das wäre aber scheiße.«

Es polterte wieder. Doch es war nicht an der Türe, sondern höher. Tadelnd bedachte Tolumirantos seinen Freund mit gezückter Augenbraue.

»Wie hoch ist der Schnee?«, fragte Tomagril sie.

Augenblicklich sprang Tolu vom Sessel. »Ist doch Wurst. Los, versteckt euch!«

Nervös hüpften sie umher und suchten vergeblich ein Versteck. Medjev tauchte letztlich hinter dem Tresen ab und Monty folgte ihm. Dagegen jagte Tomagril dem Zwerg in die Küche nach, wo sich der Wirt aufhielt.

Völlig bedeppert und ahnungslos wurde Konrich von dort hinausbugsiert. Langsam und den Kopf schüttelnd begab er sich zur Haustüre. Er zog den schweren Vorhang zur Seite und rief dann mit einem Ohr an der Türe, ob da jemand sei.

»Hiiilfe!«, vernahm er schwach, warf sein Spültuch endlich fort und öffnete schließlich. Zuerst kam ihm eine ganz Ladung Schnee entgegen und dieser folgte ein Mensch von oben herab. Konrich machte einen Satz zurück und prustete entsetzt.

»Was um Himmelswillen«, stieß er hervor, als er das völlig vor Kälte verkrampfte Bündel vor seinen Füßen betrachtete. »Männer, kommt schnell und packt mit an.«

Sofort eilten sie herbei und Medjev fasste die Beine des jungen Mannes, der am ganzen Körper schlotterte.

Während Tomagril mit seinen Händen den Schnee nach außen schippte, um darauf wieder die Türe zu schließen, machten Tolu und Monty vor dem Kamin alles bereit. Im Handumdrehen lag eine Decke ausgebreitet auf dem Boden und der Gestaltwandler wartete mit einer weiteren Decke, um den Mann darin einzuwickeln. Bis auf die Unterhose entledigten sie ihn seiner Uniform und wickelten ihn schlussendlich in die warme Wolldecke ein. So standen sie im Halbkreis um den Schlotternden und betrachteten ihn mit gebührendem Abstand, als wäre er nicht von dieser Welt.

Unterdessen begab sich Konrich in die Küche und machte Teewasser im Kessel auf dem Ofen heiß. Nach einigen geschlagenen Minuten fand Medjev seine Worte wieder.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte er entrüstet.

Monty schien sichtlich überfordert und flüsterte ebenso: »Verdammt, das ist ...«

»Ich weiß!«, unterbrach ihn Tolumirantos brummend. Während er den rechten Arm vor der Brust verschränkt hatte und den anderen mit dem Ellbogen auf dem Handgelenk stützte, hielt er sich nachdenklich mit der Hand das Kinn.

»Nicht gut«, vollendete Monty nach einigen Sekunden doch noch seinen Satz.

»Ich weiß!«, wiederholte Tolu brummend.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte sie der blasse Elb.

Daraufhin kehrte Konrich aus der Küche zurück, atmete geschafft aus und fuhr sich dabei abwesend durch das längere, graumelierte Haar.

»Ich glaube, ihr seid wirklich verflucht«, kam er zu dem Schluss, nachdem er sie der Reihe nach andächtig betrachtet hatte. Als ihn alle entrüstet ansahen, verteidigte er sich gleich. »Niemand schafft es durch dieses Schneetreiben und findet dann auch noch das fast eingeschneite Haus. Ich meine, dieser Soldat war ganz sicher nicht alleine unterwegs und seine anderen Kameraden sind bestimmt alle da draußen erfroren. Es grenzt an ein Wunder.«

Plötzlich blickte Konrich zu dem Mann hinab. Er war auf einmal merkwürdig still geworden.

»Ist er tot?«, flüsterte Monty mit großen Augen.

Doch man konnte ihn jetzt leicht schnarchen hören.

Erleichtert atmete Konrich aus. »Er schläft. Am besten bringen wir ihn hoch, in eine der hinteren freien Stuben.«

Medjev packte wieder die Beine. Konrich die Schultern. Der Wirt musste rückwärts die Treppe hinauf gehen, da der Hüne ihn um einen Kopf überragte. Sie gingen langsam den Flur entlang und brachten den jungen Soldaten in das linke hintere Zimmer. Dort legten sie ihn ins Bett und deckten ihn zusätzlich mit einer Daunendecke zu. Nachdem die beiden hinausgegangen waren, schloss Tolu unter des Wirts argwöhnischem Blick mit dem Schlüssel gleich die Türe zu.

Mittlerweile musste es kurz vor Mitternacht sein. An Schlaf war irgendwie nicht zu denken. Konrich kam hinter Tolumirantos die Treppe herab.

»Ich habe euch nie gefragt, was euch hierauf verschlagen hat«, sprach er leise zum Zwerg. »Doch könntest du mich jetzt vielleicht einmal aufklären?«, bat der Wirt ihn nun, während sie nacheinander die Stufen hinabstiegen.

Tolu versprach es ihm. Zusammen setzten sie sich wieder vor den Kamin und er erzählte ihm ihre Geschichte. Wenn auch etwas kürzer.

An Heiligabend saßen alle beisammen. Nun, nicht ganz alle. Der Soldat litt unter einer schlimmen Erkältung und ruhte hustend, niesend und mit triefender Nase in seinem Bett. Die vier chaotischen Freunde hatten ihn daher seit zehn Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen und waren auch nicht wirklich erpicht darauf.

Wenigstens konnte Konrich dem jungen Mann seinen Namen entlocken, als er ihm Suppe brachte. Unlängst hatte der aufmerksame Zwerg an der Uniform des Mannes herausfinden können, dass er im Range eines Schützen in der rhonischen Armee stand.

»Schütze Hans Glück also«, nickte Konrich und begab sich kichernd hinter die Theke des Wirtsraumes. »Zur Feier des Tages erfülle ich jedem von euch einen besonderen Getränkewunsch«, verkündete er festlich. »Schließlich ist heute Heiligabend«, betonte der Gastgeber. »Und außerdem haben wir nichts anderes. Einmal vom wärmenden Feuer im Kamin und einem Dach über dem Kopf abgesehen.«

Draußen tobte weiterhin der Schneesturm und gelegentlich klapperten die Fensterläden oder es knarrten die Balken im Dachstuhl durch die starken Windböen.

Im Ofen garten zwei Leberkäsbraten vor sich hin. Dazu sollte es später Kartoffeln und Kohlrabigemüse in Mehlschwitze geben. Nicht gerade ein typisches Festtagsessen, doch für die Vier war das mehr, als sie sich in ihrer Lage erhoffen konnten.

Irgendwie herrschte eine bedrückende Stimmung, fand Monty. Daher wollte er sie mit einer netten Anekdote aus ihrer Stammkneipe in Nelister anheben, an die er sich gerade erinnerte, nachdem jeder der anwesenden dem Wirt gegenüber seinen Wunsch geäußert hatte.

»Wisst ihr noch, als der Breworius einmal Andored fragte, was er trinken möchte?«

»Ach, nichts!«, gab Tomagril schauspielerisch betrübt die damalige Antwort des Elben wieder.

»Richtig. So bescheiden, wie er eben ist«, bestätigte Tolu und kicherte mit roten Wangen.

»Dann habe ich ihm auf die Schulter geklopft«, setzte Medjev die Geschichte fort. »Und habe ihn mit einem ›Na, komm schon‹ aufgemuntert.«

»Ja, genau«, sagte Monty und knüpfte dort weiter an. »Na gut, hat er dann gesagt und bestellte? Na, wisst ihr's noch?«

Tolu überlegte. »Das war so ein spezieller Tee. Ich hab's gleich. Ah, ein Prengel-Anus-Lörres-Tee!«

Seinerseits eine Anspielung auf den bei Magenleiden beliebten Fenchel-Anis-Kümmel-Tee, um die Leute mit seinem eigenartigen Humor zu verwirren.

Prompt prusteten sie um die Wette. Tja, was soll man sagen? Andoreds Humor war eben speziell.

»Tschuldige«, sagte der Wirt mit roten Wangen und tränenden Augen, nachdem er sich gefasst hatte. »Der ist leider aus. Aber der heiße Honigwein wird euch allen guttun.« Kopfschüttelnd begab sich Konrich sogleich in die Küche und kehrte wenig später mit vier dampfenden Krügen heißem Met zurück. Darauf stießen sie gemeinsam an.

Nach einer Weile senkte Medjev niedergeschlagen den Kopf. Bisher hatte er nur einmal an seinem Krug mit Honigwein genippt. »Glaubt ihr eigentlich, dass uns jemand vermisst?«

Seelig trank Tolu einen weiteren Schluck und setzte den Humpen schmatzend ab. »Niemand, Medjev«, sagte er scherzend. »Außer vielleicht Ando.«

Damit lag der Zwerg gar nicht so falsch.

2. Fremdes Land

Treveriam, später Winter 1889.

Ursprünglich wollten sie gar nicht hier sein. Denn ihr eigentlicher Plan war damals ein ganz anderer gewesen, nachdem sie endlich diesen elenden Magier namens

Winfried Solomon Tretenville und seinen Dämon mithilfe des Amuletts das Handwerk gelegt, und Letzteren ins Jenseits befördert hatten. Anstelle direkt von Trivess nach Hause zu marschieren, oder – wie ihr Freund, der Detektiv Reginald Vonderlus –, die Kohletrasse von Largent aus nach Allfaldria zu nehmen, waren sie mit den besten Absichten ihrem neuen Freund, dem Druiden Aris Grünfried, zum Fallbörn gefolgt. Genauer zum Börn, dem höchstgelegenen Punkt dieses bewaldeten Gebirges, an dem seine Enklave lag.

Dort stand auf einer Lichtung eine sehr alte Eiche, die, wie er ihnen schließlich offenbarte, eine seltene und besondere Art ihrer Gattung war. Denn durch diese Bäume war es den Druiden möglich auf kürzerem Wege an weit entfernte Orte zu reisen. Das war natürlich nicht ganz ungefährlich, vor allem, wenn man sich nicht ganz mit der Angelegenheit auskannte.

Nun, Aris hatte durchaus den Durchblick. Als Druide hatte er die Architektur von Dimensionen und Geistesebenen studiert, wusste daher an welcher Stelle und wie man das Portal in eine andere, bestimmte Dimension öffnen konnte und auch, wohin man darin gehen musste, um entsprechende Orte zu erreichen. Denn er besaß eine Karte, in der ihre wichtigsten Ausgangspunkte mit den entsprechenden Namen verzeichnet waren.

Dazu musste man wissen, dass diese Eichen der Gattung quercus petraea flavum, einfacher Gelb-Trauben-Eiche genannt, sehr selten und nicht an x-beliebigen Orten zu finden waren. Sie unterschied sich von den meisten ihrer Schwestern nur durch die auffällig gelbe Verfärbung im Herbst. Viele Jahrzehnte an Studien und Forschung hatten seine Vorgänger bereits darin investiert, um eine relativ gut ausgearbeitete Karte für diese Paralleldimension zu erschaffen, um sich dort zurecht zu finden.

Zuerst gab man ihr einen einfachen und einprägsamen Namen. Tenebris.

Das stand selbsterklärend für die Finsternis an diesem Orte. Daher benötigte man zur Durchquerung dringend eine Lichtquelle. Dazu bestand die Umgebung ausschließlich aus kargem scharfen Schiefergestein. Man brauchte also ausreichend Wegration und am allerwichtigsten, reichlich Wasser. So viel zu den bedeutsamsten Faktoren.

An all das hatten unsere sechs Freunde gedacht, als sie an jenem Tag am Berg Börn durch die Wurzeln des Stammes der alten Gelb-Trauben-Eiche hindurch in diese Dimension namens Tenebris traten, um sich auf den kürzeren Weg an einen ferneren Ort zu begeben. Im Lande Rhonisch, wo sie zuvor schon einmal gewesen waren, nachdem sie in Trivess aus dem Gefängnis ausgebrochen und vor der dortigen Justiz auf einem Fischkutter südwärts den Fluss Paldan hinunter flüchten mussten.

Was war nun der genauere Grund ihrer Reise? Aris Grünfried wollte ihnen dort etwas zeigen. Etwas äußerst Ausschlaggebendes, um es mit den Worten eines bekannten Detektivs zu umschreiben. Dies war aber kein Ding oder keine Sache. Es war allumfassend, wie eine Situation oder ein Umstand. Etwas, dass man den fünf jungen Männern nur begreiflich machen konnte, wenn sie es mit eigenen Augen sahen.

An diesem Tag ahnte der Druide nur nicht, dass jemand genau die Eiche zum Fällen auserkoren hatte, an der sie praktisch ›auszusteigen‹ gedachten.

Leider gelang dies um haaresbreite nur dem vorausgegangenen Druiden und dem Elb Andored.

Ihre vier anderen Freunde mussten zurückbleiben, als der Baum fiel und das Portal sich augenblicklich schloss. Pioniere der rhonischen Armee verjagten sie ungestüm mit ihren Äxten aus dem Wald. Von da an waren ihre Freunde entweder in Tenebris gefangen oder suchten im besten Fall einen anderen Ausgangspunkt.

Da Ando seine Brüder im Herzen sehr gut kannte, war er zuversichtlich, dass sie Letzteres unternahmen. Die Frage war nur, wann und an welchem Ort sie auskommen würden?

Das war zwölf Tage vor Weihnachten im Jahr 1888 geschehen. Mittlerweile waren dreizehn Wochen vergangen. Sprich, es war Mitte März im Jahr 1889, fünf Wochen nach seinem Geburtstag, und viel Schnee war dieser Tage gefallen. Aris und Andored befanden sich zu diesem Zeitpunkt an einem ihnen altbekannten Ort. Der Stadt Treveriam, im Norden von Rhonisch. Dort hatten sie sich im letzten Jahr zufällig kennengelernt und deshalb verschlug es sie in der Not erneut hier her. Ein bekannter Ort in einem fremden Land.

Die Ekpyrosis war auf dem Vormarsch, weitete mehr und mehr ihre Macht aus, trieb das ›andersartige‹ Volk, die ›Nicht-Menschen‹ aus ganz Rhonisch in diese Stadt, die schon immer ein Platz für sonderbares Volk gewesen war. Das war es schließlich auch gewesen, was der Druide den Männern zeigen wollte. Doch dieses eigentliche Ziel war den verschollenen Freunden bisher noch nicht gänzlich klar geworden. In jedem Fall stiftete die Reise unbeabsichtigt Unruhe und Chaos in ihrem Leben.

Die beiden Elben hatten an diesem Tag zweimal Glück gehabt. Eher aus Zufall entdeckte Andored später in Treveriam einen kleinen Hutladen, der offenbar einem Freund gehörte. Der Hutmacher war im letztjährigen Abenteuer mit von der Partie gewesen. Bei Timhold Reidt und seiner Ziehtochter Nola konnten sie beide noch einen Schlafplatz ergattern. Die Stadt quoll seitdem praktisch über vor Flüchtlingen. Überall herrschte Not und der kalte Winter tat sein Übriges. Einige erfroren in den Gassen oder in ihren Zelten in der Umgebung. Doch langsam wurde es milder und man spürte einen leichten Aufschwung in der Luft. Als würde die Stadt zu neuem Leben erwachen, je näher der Frühling kam. Und mit ihm auch der Tratendrang der beiden Elben.

Seither überlegten sie, wie sie einen ortsansässigen Druiden oder Förster fanden, der ihnen andere Gelb-Trauben-Eichen zeigen konnte. Aris wusste bereits, dass die Chance auf Erfolg höher war, mit ihren wenigen Groschen im Kasino einen Gewinn zu erzielen. Daher suchte er einen Mittelsmann, der Beziehungen nach außerhalb der Stadt hatte und vermitteln konnte.

Mit Aris' Tenebris-Karte hätten sie diesbezüglich nicht viel anfangen können. Zudem befand sie sich im Besitz von Tolumirantos, dem Zwerg, als man sie voneinander trennte. Wenigstens war dies ein glücklicher Umstand für die Verschollenen. Denn ohne Karte, konnten sie sich gewiss nicht in dieser kargen und finsteren Dimension zurecht finden.

Nun saß Andored hier in diesem Drecksloch von Taverne, im Hafenviertel Mulbeck fest, anstatt in seiner Werkstatt in Nelister oder bei seinen drei Schwestern mit heißem Tee und leckerem Kuchen. Er starrte an die mit Holz verkleidete Wand und die Erinnerung an eine Frau bildete sich dort vor seinem inneren Auge ab. Ihr Lächeln mit den kleinen Grübchen in ihren Wangen, ihre grünen Augen, das gewellte, brünette Haar mit der weißen Strähne im Stirnbreich. Alexa, dachte er sehnsüchtig. Seine Augen schlossen sich traurig. So viele Tage waren vergangen, nachdem sie ihm den Abschiedsbrief hatte zukommen lassen, bevor sie verschwand. Wieder hatte er den Zeitpunkt verpasst, ihr zu sagen, was er ehrlich für sie empfand. Eine weitere Chance vertan, tadelte er sich selbst. Ihm entfuhr ein schwerer Seufzer. Wahrscheinlich sollte es einfach nicht sein, resignierte er schließlich und erwachte aus seiner Tagschwärmerei über die Frau, nach der er sich sehnte. Manchmal kam ihm der Gedanke, ob er nur so empfand, weil sie ihm immer wieder wie ein nasser Fisch entglitt. Machte es sie genau deshalb so interessant? Konnte es sein, dass sie ihn gar nicht so sehr mochte, wie er es tat? Vielleicht sollte er langsam mal einen Haken an diese Sache machen und damit abschließen, schlussfolgerte er vernünftig.

Langsam und nachdenklich trank er einen Schluck aus seinem Krug und blickte sich um. Dabei fiel ihm besonders auf, wie niemand außer ihm alleine an einem Tisch saß. Die meisten Gäste unterhielten sich ausgelassen oder spielten Karten mit anderen. Freude und Ausgelassenheit. Wenigstens würde auch er nicht lange alleine bleiben, obwohl ihm manchmal die Einsamkeit behagte. Es war ihm wichtig, gelegentlich alleine zu sein, um Kraft zutanken. Denn in Gesellschaft nahm er so viel wahr, dass ihm die Eindrücke und Gefühle oftmals wahrhaftig die Energie raubten. Erwartungsvoll wanderten seine Augen zur Eingangstüre hinüber. Jeden Moment müsste Aris eintreffen. Hoffentlich diesmal mit einer guten Nachricht, dachte er. Dabei spürte er in diesem Augenblick deutlich, wie ihn jemand beobachtete und blickte dorthin. Ertappt wandte sich die Schankmaid abrupt ab. Folglich erlosch sein Lächeln. Was hatte er falsch gemacht?, zweifelte er sogleich.

Auch in dieser bunten Stadt war Anfang März für gewöhnlich der Karneval vorbei. Eine Erlösung, obwohl hier immer etwas Trubel herrschte.

Seufzend lehnte sich Welina gegen den Tresen, während sie auf ihre Bestellung wartete, um sie im Anschluss in der Schankstube des Frachters zu verteilen. Unterdessen lies sie ihren Blick durch den schmalen, sich schlängelnden Raum schweifen und blieb erneut damit an einem Elb hängen, auf den sie schon zuvor ein Auge geworfen hatte. Sie bließ eine lockige Strähne ihres roten Haares aus ihrem Blickfeld und wandte sich ertappt um, als der junge Mann offenbar ihren Blick auf sich ruhen spürte und in ihre Richtung aufschaute.

»Na, haste ein Auge auf den Schönling geworfen?«, sagte ihre ältere und deutlich stämmigere Kollegin hinter der Bar neckisch.

»Ach der«, wandte sich die Rothaarige ihr gänzlich zu und tat es mit einem seitlichen Kippen ihres Kopf ab. »Ist doch so ein Frauenschwarm, der darum weiß.« Sie schüttelte leicht ihren Kopf. »Nee, Dotti«, seufzte Welina. »Der müsste sich bei mir schon verdammt anstrengen.«

Dotti stellte ihr die letzten beiden Krüge auf das Tablett und hielt sie noch einen Moment an den Griffen fest, um ihr noch etwas anzuvertrauen. »Glaubste?« Ihr Lächeln war vielsagend. »Der hat gar kein Interesse. Ist ein Fremder.« Sie trat zurück und nahm das Spültuch zur Hand. »Ist vor ein paar Wochen plötzlich aufgetaucht und trifft sich hier seitdem abendlich mit seinem dunkelhäutigen Freund. Bisher habe ich ihn mit keinem einzigen Weib anbandeln gesehen. Und jetzt hurtig, Welina. Die Kundschaft wartet«, schickte Dotti sie davon.

Mit einem erschöpften Ächzen stämmte die Rothaarige ihr Tablett vom Tresen hoch und machte sich daran, die vollen Humpen mit goldenem Gerstensaft in der Schankstube zu verteilen. Trotz der Kälte und dem Schnee draußen, waren heute viele durstige Gäste anwesend. Später sollte das Fass Met angeschlagen und heiß serviert werden. Sie war nur froh, dass sie dann Feierabend hatte, wenn die Stimmung ausuferte und es im Schankhaus laut werden würde.

Nachdem sie alle Krüge von ihrem Tablett losgeworden war, kam sie nicht umhin, an den Elb heranzutreten. Dieser Mann hatte irgendwie eine merkwürdige Anziehung auf sie. Vielleicht machte ihn seine geheimnisvolle Fremdartigkeit so interessant, obwohl sich hier in Mulbeck ja viel sonderbares Volk herumtrieb.

Möglicherweise lag es auch an seinen grünblauen Augen und dem eigenartigen, fast schon leidvollen Blick. Oberflächlich betrachtet wirkte er aus der Entfernung verträumt oder nachdenklich. Doch mittlerweile war ihr aufgefallen, dass er stets wachsam war. Ihm schien nichts zu entgehen.

»Hey«, sagte Welina zu ihm und lehnte sich mit ihrer Hüfte gegen den Tisch. »Darfs noch etwas sein?« Mit weiten Augen blickte er an ihr hinauf, direkt in ihre Augen und wandte sich ihr ein Stück zu.

Wenige Lidschläge später kehrte die Schankmaid mit seinem Krug Cider zurück, beugte sich an ihm vorbei und stellte ihm das Gefäß auf den Tisch. Dabei streifte sie leicht mit ihrer Hüfte an seiner Schulter. Ando bewegte sich wenige Zentimeter von ihr weg und bedankte sich bei ihr. Sie lächelte aufrichtig und blieb Nahe bei ihm stehen. Während sie sich ansahen fragte sie ihn, ob sein Freund heute Abend auch wieder im Frachter erscheinen würde.

Andored stutzte kurz. Warum fragte sie danach? War sie nur aufmerksam, weil sie ihre Arbeit richtig machte oder wollte sie über ihn an Aris herankommen? Ihm kam es abwegig vor, dass sie es aus Interesse an seiner Person fragte, zog dies jedoch auch in Betracht.

»Ja, ich warte noch auf ihn«, antwortete er ehrlich und schaute kurz umher. Alle Tische waren immer noch voll besetzt, außer seinem. Sicherlich benötigten sie den Tisch, falls er alleine bliebe. »Er muss jeden Moment eintreffen«, versicherte er ihr deshalb.

Glücklicherweise geschah dies gerade. Der Druide kam im wahrsten Sinne mit dem Wind hineingeschneit.

»Ich komme gleich nochmal«, versprach die Rothaarige umgehend und zog davon.

»Schneit es schon wieder?«, erhob sich Andored seinen Freund begrüßend und drückte ihn herzlich. Dabei flogen die Schneeflocken vom Mantel des Druiden. »Was ist mit deiner Unterlippe passiert.«

»Ja, Ando!«, nuschelte Aris mit fast geschlossenem Mund und entledigte sich seines schwarzen Mantels. »Bleib ernst und mach ja keine blöden Witze«, warnte er ihn feixend. »Mir ist von der Kälte die Lippe aufgerissen. Sieht man doch«, lies er sich schließlich seufzend auf den Stuhl neben Andored nieder.

»Ich habe einen kleinen Tiegel mit Melkfett dabei.« Sofort kramte Andored ihn aus einer Manteltasche hervor.

»Immer her damit«, klang Aris erleichtert.

»Uuugh«, meinte Ando dann verschmitzt, nachdem der Druide das Fett aufgetragen hatte, und tat, als sehe sein Freund jetzt mit geschmeidig glänzender und dicker Unterlippe zum anbeißen aus.

Da sie weiter aufreißen würde, verkniff sich Aris angestrengt sein Lachen. »Du Schlitzohr. Habe ich dich nicht gewarnt. Das ist sehr unangenehm. Wirklich«, betonte er eindringlich.

»Sagt der Mann mit der gespaltenen Unterlippe.« Ando konnte es nicht lassen. Nachdem der Druide doch darauf hustend lachte und sich wieder entspannte, wurde sein Gegenüber ernst.

»Hat sich endlich etwas ergeben?«, fragte ihn Ando und vergewisserte sich verstohlen wo die rothaarige Kellnerin abgeblieben war.

»Ja!«, meinte Aris frohgestimmt und boxte ihm gegen die Schulter. »Mein Mittelsmann wird gleich hier erscheinen. Dann wissen wir mehr«, offenbarte er ihm.

Endlich kehrte die Rothaarige zurück und noch bevor sie ihren Tisch erreichte, rief ihr der Druide zu, dass er das gleiche nehme, wie sein Freund. Sie nickte und machte umgehend kehrt.

Sofort wandte sich ihm Aris wieder zu. »Mein Freund«, sagte er mit ruhiger Stimme und kniff dem Elb in die Wange. »Du siehst müde aus. Was ist los?«

»Ach«, wehrte Ando bescheiden ab. »Ich schlafe einfach schlecht«, lautete die simple Erklärung des Elben. Doch der Druide wusste längst von seinen nächtlichen Albträumen. Bisher war er nur noch nicht dahinter gekommen, was im Unterbewusstsein seines Freundes vor sich ging. Aris wollte auch nicht länger herumbohren. Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass sich mit der Zeit etwas ergeben würde. Womöglich diese Nacht oder die Nächste. Ganz nach dem Sprichwort: Kommt Zeit, kommt Rat.

3. Der Mittelsmann

Nachdem auch Aris sein Cider bekommen hatte und er Ando im geheimen darauf hinwies, dass die Rothaarige ein Auge auf ihn geworfen hatte, stießen sie gemeinsam an. Der Druide wusste mittlerweile um die Begriffsstutzigkeit des Elben in solchen Dingen.

»Ich habe einen Handel mit jemandem gemacht, der uns diesmal voranbringen wird«, machte Aris glaubhaft ein Versprechen. Er schien darin all seine Hoffnung zu setzen. Sie suchten jemanden, der ihnen die Standorte besonderer Eichen zeigen konnte. Schließlich waren sie im Norden Rhonischs nicht heimisch und ihre Freunde waren bisher noch nicht in Treveriam aufgetaucht. Deshalb wollten sie sich jetzt auf die Suche nach ihnen begeben. Langsam schaute der Druide sich in den Räumlichkeiten der Kaschemme um und kicherte. »Ist doch ganz nett hier. Weiß gar nicht, was du hast.«

Darauf wollte Ando lieber nichts entgegnen. Andersherum rutschte er näher an seinen Freund heran und vertraute ihm etwas an.

»Sag Aris, spürst du nicht das Knistern in der Luft? Seit unserem letzten Aufenthalt hat sich hier einiges verändert. Die Plakate damals, erinnerst du dich?«, knüpfte der Elb an eine damalige Begegnung in Treveriam an. Es handelte sich dabei um Propagandaplakate gegen nichtmenschliche Humanoide, die wohl diese radikale Partei in der Stadt aufhängen ließ.

Aris nickte ernst. »Sie waren nur der Anfang dessen, was sich nun zusammengebraut hat. Diese fanatische Partei ist auf dem Vormarsch. Die Stadt ist das reinste Pulverfass.«

Der Elb sah seinen Freund noch eindringlicher an. »Wir müssen hier weg!«

»Ja, Ando. Ich weiß. Beruhig dich wieder. Genau das war es ja, was ich euch zeigen wollte. Und wenn wir gleich das bekommen, was ich mir erhofft habe, schaffen wir es auch, die anderen wieder zu finden«, lenkte er ein. »Mein Kontakt müsste jeden Moment erscheinen.« Der Druide war der Meinung, dass Ando mehr in den Lauf des Lebens vertrauen sollte. »Irgendwie wird sich schon irgendwas ergeben und fügen. Denn alles ist miteinander verknüpft.«

Wie von ihm erhofft, traf kurze Zeit später endlich der Mittelsmann ein. Es war ein kleiner, grünhäutiger Kobold mit violettem Zylinder, der ihnen jetzt gegenüber saß. Der Hut gefiel Ando auf Anhieb. Und er erkannte ihn wieder, ebenso seinen Träger. Denn bei seinem ersten Besuch in dieser bunten Stadt im vergangenen Herbst war ihm das Männchen zuallererst auf der Allee begegnet. Hinterher erfuhr er seinen Namen und auch, wem dieser seine Dienste anbot. Nämlich der berüchtigten Babuzi-Bande.

Er nannte sich Fundux.

Am Auffälligsten an ihm war sein diagonaler Überbiss. Wenn sein Mund geschlossen war, stand jeweils nach links unten und rechts oben ein Zahn heraus. Auf dem Stuhl sitzend konnte er gerade über die Tischkante gucken, obwohl er auf seinem gefalteten Mantel saß. Dabei grinste er scheel, da ihm der Umstand nicht gefiel.

»Fundux«, winkte er Ando fast unbemerkt zu, da sein Arm zu kurz war, um ihm die Hand zu reichen. »Wizow Fundux. Mittelsmann und Unterhändler von Treveriam. Kennen wir uns?«

Gegensätzlich tat der Elb, als könne er sich nicht daran erinnern und nannte ihm seinen richtigen Namen. »Andored, treuer Berater meines Freundes hier«, wies er auf Aris und spinkste dabei verstohlen zu den beiden Ogern herüber, die still mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand unweit des Kobolds standen.