Daseinsanalyse. Schriften 2 - Ulrich Sonnemann - E-Book

Daseinsanalyse. Schriften 2 E-Book

Ulrich Sonnemann

3,0

Beschreibung

Phänomenologische Psychologie und Daseinsanalyse Der Spezialist als ein psychologisches Problem Die Menschenwissenschaften und die Spontaneität Das Leib-Seele-Problem im Lichte phänomenologischer Anthropologie Die Daseinsanalyse in der Psychotherapie Unterwegs zu sich selbst Der Spezialist als moralisches Problem.

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Ulrich Sonnemann

Schriften in 10Bänden

Herausgegeben von Paul Fiebig

Band2

mit einem Geleitwort von Hermann Schweppenhäuser

zu Klampen

Ulrich Sonnemann

Daseinsanalyse

›Existence and Therapy‹

Wissenschaft vom Menschen

Erste Auflage 2011

© 2011 zu Klampen Verlag, Springe

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

Umschlagphotographie: Privat

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-866743-56-4

Die Schriften Ulrich Sonnemanns werden gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Ulrich Sonnemann-Gesellschaft.

Die Übersetzungen von ›Handwriting Analysis‹ und ›Existence and Therapy‹ wurden von der Universität Kassel im Rahmen eines Forschungsprojekts der DFG über die Vorstudien zur ›Negativen Anthropologie‹ von Ulrich Sonnemann ermöglicht, das von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Rolf-Peter Warsitz unter Mitarbeit von Claus-Volker Klenke u.a. durchgeführt wurde.

Wir leben in einer Heidegger-Zeit, wie man seinerzeit in einer Hegel-Zeit gelebt hat, und es geht mir […] nicht darum, mich von diesem selbstverständlichen Einfluß abzusetzen, sondern darum, ihn (und freilich nicht nur ihn) in der Anwendung auf die heutigen Menschenwissenschaften zu erproben, die Heidegger selbst ja einfach als philosophisch unwürdig abtut– mit einer einzigen ziemlich launenhaften Ausnahme (Boss); und ferner darum, mich bei dieser Anwendung und Erprobung vom Heideggerschen Vokabularium möglichst freizumachen oder wenigstens Möglichkeiten, ohne es auszukommen, sichtbar werden zu lassen.

Daß mein Denken ohne Heidegger sich anders entwickelt hätte? Nein, kann ich nicht mit völliger Sicherheit sagen. Daß das, was an meinem eigenen Denken, Philosophieren, eventuell wirklich eigenständig, authentisch ist, sich wesentlich anders dargeboten hätte, kann ich mir jedenfalls kaum vorstellen. Es hätte im einzelnen vielleicht verschlungenere oder jedenfalls andere Pfade gegeben, andere Brücken und Stege, aber keine Hauptrichtung des Gedankens, die wesentlich anders gewesen wäre als die, die herausgekommen ist.– Auch von der Begegnung mit Adorno her stellt sich das nicht anders dar. Ich würde eher sagen, ich nahm Heidegger ihm gegenüber ein bißchen in Schutz.

Ulrich Sonnemann1958/1993

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Geleitwort

Erste Abteilung

Erkennen und Sein

Existenz und Therapie– Eine Einführung in die phänomenologische Psychologie und die Daseinsanalyse

Einleitung

I Die Krise des Wissens und der Aufstieg der Phänomenologie

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

II Das Gespenst des Nichtseins und das Janusgesicht der Reflexion

Kapitel 5

III Die Gefahr für den Menschen und die Psychotherapie: die Freiheit zu sein

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Daseinsanalyse– Eine Einführung in ihre Theorie und Methode

Die Menschenwissenschaften und die Spontaneität

Anhang zur ersten Abteilung

Der Spezialist als psychologisches Problem

Der Spezialist als moralisches Problem

Zweite Abteilung

Der Gestaltwandel der Wissenschaft und der Mensch

Das Leib-Seele-Problem im Lichte phänomenologischer Anthropologie

Die Daseinsanalyse in der Psychotherapie

Vorbemerkungen zur Einführung der phänomenologischen Anthropologie

Das daseinsanalytische Menschenbild und sein dimensionaler Grundriß

Das Theorie-Praxis-Verhältnis und das Problem der Psychotherapie

Der Daseinsanalytiker als Therapeut

Schlußwort

Schrifttumshinweise

Ludwig Binswanger ist achtzig

Drei Rezensionen

Zum Problem des Massenmenschen

Der Mensch in der Gesellschaft

Angewandte Psychoanalyse

Anhang zur zweiten Abteilung

Ad Heidegger

»Seinsvergessenheit– Sit venia verbo«

Heidegger-Ringvorlesung. Kritische Retrospektive

Das Geschichts- als ein Sprachproblem

Heidegger, Lévinas und das philosophische Problem der Alltäglichkeit

Editorische Nachbemerkung

Glossar

Personenregister

Fußnoten

Geleitwort

Die Veröffentlichung des Sonnemannschen Frühwerks ›Existence and Therapy‹ im zweiten Band der Gesamtausgabe der ›Schriften in zehn Bänden. Herausgegeben von Paul Fiebig‹ in der definitiven Übersetzung des Herausgebers bietet die willkommene Gelegenheit, hinzuweisen auf den, aus der wirkungsgeschichtlichen Distanz zur Entstehungszeit und Erst-Veröffentlichung des Werkes 1954, deutlich hervorgetretenen spezifischen epistemologischen Charakter der Schrift, die der Etablierung eines vernunftkritisch-humanistisch verantworteten und wissenschaftstheoretisch von Grund auf revidierten Lehrbegriffs einer »differentiellen Psychologie« als des existenzialphilosophisch-phänomenologisch und psychoanalytisch legitimierten Fundaments psychopathologischer, psychotherapeutischer Praxis dient.

Der Relektüre von ›Existence and Therapy‹ in der überaus sorgfältigen, dem hermeneutisch-vernehmenstheoretisch geprägten Sprachverhalten Sonnemanns zutiefst affinen Übersetzungsstil Fiebigs erschließt sich der spezifische Werk-Charakter der Schrift als der eines selbstreflexiven, die »Erfahrung des Bewußtseins« auf jeweils erreichter Reflexionsstufe in erneuerter reflexiver Brechung und Prüfung des bis dahin entwickelten Wissens traktatartig aufnehmend und artikulierend: ein Werk der penibelsten Rechenschaftslegung, der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung der vom Autor vertretenen und professionell ausgeübten Psychologie– die kritische und selbstkritische Vergewisserung über Möglichkeit, Gültigkeit, Wirksamkeit dieser »Wissenschaft von der Seele, dem Seelischen« (seiner Normalität und Anomalität) und ihre Grenzen.

Wer die Schrift– ursprünglich eine gründliche streng fachgerechte und sachgerichtete psychologische und psychotherapeutische Monographie– unter dem Aspekt der von sich selbst gnoseologisch und epistemologisch Rechenschaft fordernden, selbstkritisch ihre rationale und humanitäre Verantwortlichkeit prüfenden, die philosophische Grundeinstellung erwägenden Untersuchung liest, dem eröffnet sich ein überaus eindrucksvolles geistiges Panorama der ihrer selbst bewußt werdenden, sich ihrer theoretischen und praktischen (moralischen und politischen) Konsequenzen überhaupt erst recht verstehen lernenden Reflexion und Referenz auf sich, das Selbst und die Welt, das Sein und das Andere, das Erwartete und Unerwartete– ein Universum von Einsichten und Aussichten– erinnernd an den umgreifenden und zugleich eindringenden universalistischen Gestus der Hegelschen phänomenologischen Betrachtungsweise einer »Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins« (des sinnlich-natürlichen, des geistigen, reflexiv-kritisch sich ändernden, des als absolutes sich wissenden, spekulativen, metaphysischen Bewußtseins)– ein (nicht wie bei Hegel fatal optimistisch und ideologisch-affirmatives) »System« von Einsichten und Aussichten, die die Kritik am gewachsenen und temporär erlangten epistemischen Status und die Reform, ja Revolutionierung des erst herzustellenden verbesserten künftigen idealiter und realiter zu erreichenden Status geistigen und von der befreiten Seele (der integralen Leib-Geist-Seele) durchdrungenen Lebens absehbar machen; Zustand einer ideal-realen und real-idealen Ganzheit des Lebens, freien Daseins und Wohlseins des Lebendigen, in dem Sein aktuiert und dynamisiert wäre und dies nicht mehr und nur um des Fortschritts des Geistes, des Fortschritts der Aufklärung, der Wissenschaft per se, als ihres Idols– sondern um des real-humanen Gelingens des Fortschritts, des Spezifizierens des Fortschrittlichen im Fortschritt willen: des Gelingens der »Humanisierung der Natur und der Naturierung des Menschen«.

Der aufmerksamen Relektüre der Sonnemannschen Frühschrift offenbart sich ihr eigentlicher Text: der von dem ursprünglichen Text verdeckte Subtext, die eigentlich intendierte, jetzt deutlich hervortretende fortschrittskritische und fortschrittsselbstkritische Reflexionsart in ihrer latenten, noch nicht vollbewußten dialektischen– struktur-prozessual figurierten und konstellierten– Kategorialität. In einem gewissen Sinne theoretisch-ungewollt, unbeabsichtigt treten (gestehen sich sozusagen) die Sonnemannschen Reflexionsfiguren, ja die zentralen Denkformen und -gehalte– erfahren am Paradoxalen, Konstellativen, Interrelationalen, Komplementären, am Polar-Extremen, intellektiv und– bei deutlichem Bewußtsein von der Distinktheit von »Spontaneität« (als höchster Potenz von Noesis, Intuition) und »Impulsivität« (als triebmechanischem Agens und Reagens)– »spontan-impulsiv« erfaßt (»verständig« erfahren), undialektisch-unmittelbar– als präfigurativ-dialektische hervor; sie enthalten den kategorial erscheinenden dialektischen Status noch unentwickelt, den der Vermitteltheit des Unmittelbaren noch unentfaltet, gewissermaßen ganz rudimentär vor. Das charakteristische Sonnemannsche– vom Fichteschen Apriori des »Spontanen« stets noch deutlich verschieden; das spontane Apriori Sonnemanns ist das unentfaltete dialektische ›Apriori-Aposteriori‹: die gesättigt-konstruktive, konstitutiv-rezeptiv substantiierte Erfahrung, die subjektiv und objektiv, geistig, seelisch und physisch-materiell durchgearbeitete »inhaltliche«, je spezifizierte und entwickelte Dialektik der Geschichte und Natur. Gleichsam im hellwachen Zustand des Noktambulismus realisiert Sonnemannsches rudimentär-dialektisches Denken an der brillanten geistvollen, so leuchtend-erleuchteten wie tief- und abgründig nächtigen demonstratio und ausdrucksmächtigen repraesentatio und performatio der noetisch-aisthetisch (insonderheit) ›musikalisch‹ bestimmten Figurationen, Gestalten und (ontisch-ontologischen) Phänomene: die Gestalten des dialektisch präfigurierten Seienden, Werdenden, Gegebenen von der Strukturart spontaner Rezeptivität, rezeptiver Spontaneität; noetisch durchdrungener Aisthesis, aisthetisch/​ästhetisch prägender Noesis; formierter Materialität, materiell disponierter Formalität.

Und dies vollzieht sich in eigentümlich-vorbewußt zielsicherer Weise an den charakteristischen, aus dem gesamtdialektischen logischen Gefüge (apologetisch: dem »System der logischen dialektischen Bestimmungen«) gewissermaßen herausgebrochenen und als für sich seiend und geltend gemachten: hypostasierten, also reduktiv-residual geratenen »prädialektischen« Bestimmungen.

Der ureigentlich-dialektische Grundtext der Sonnemannschen kritischphilosophischen, negativ-anthropologischen Fundamentaltheorie kommt der Relektüre des existenzial- und tiefenpsychologischen Frühwerks in seiner latenten und legitimatorischen Prägnanz deutlich vor Augen– in der frappanten Analogie der kritischen und kriteriellen Dignität der »phänomenologischen Reflexionsart« der Hegelschen »Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins« wie der Husserl-Heideggerschen auf die »Sachen selbst« bezogenen ontologischen »Wissenschaft von den Seins- und Zeitigungsweisen des (absoluten) Seins« (also der vormaligen idealistischen absoluten ›Substantialität‹ sive ›Naturalität‹ sive ›Deität‹) im Sinne des Spinozismus– der wahrhaft archetypischen Urform prinzipieller und geschichtlicher Überwindung des epochalen Dualismus von geistig-seelischer und stofflich-körperlicher Substanz; der Subjekt-Objekt-Spaltung; des das Sein und Leben des Geistes verheerenden Risses zwischen moderner Geistes- und Naturwissenschaft und noch der »post-historischen« Inter-Opposition zwischen neo(-abstrakt-)idealistischen und offen- wie krypto-materialistischen philosophischen Theorien.

Im Sinne progredierter Fortschrittskritik, selbst sich aufklärender Aufklärung ist die Sonnemannsche Schrift ein weiteres signifikantes Zeugnis epochaler neuzeitlicher– diesfalls seelen- und lebenswissenschaftlicher– Selbstvergewisserung, psychologischer Selbstverständigung nach dem Muster »philosophischer Selbstverständigung« im Nachhegelianismus; oder– später– der Sozialphilosophen der ›Dialektik der Aufklärung‹. Wie als das »aufgelöste Rätsel der Theologie« der Feuerbachschen Kritik die Philosophie sich erwies; als das der Metaphysik das Physische, die Physik: die vielfach defizitäre Kompensation herausfordernde Physizität, corporeitas– so erwies sich dem über seine Wissenschaft aufs skrupulöseste selbst sich vergewissernden psychologischen Theoretiker und therapeutischen Praktiker Sonnemann als das aufgelöste Rätsel der Dogmatik der Unendlichkeit, Übermenschlichkeit, Überzeitlichkeit die Wissenschaft vom endlichen, vergänglichen, seine Sterblichkeit »ideologisch« kompensierenden Menschen: die Anthropologie (als das aufgelöste Rätsel nicht zwar einer ›positiven‹ Wissenschaft und Theorie des ›wirklichen‹, ›sinnlichen‹ (sinnenhaft lebensbejahenden) Menschen (des sozusagen ›vergöttlichten leiblichen‹ (statt des ›verleibten göttlichen‹), also des idolisierten, vergötzten Menschen): sondern vielmehr der Anthropologie als einer ›negativen‹ Theorie und Wissenschaft vom Menschen: dem unvergötzt, »authentisch wirklichen« Menschen, nämlich dem »elenden, verlassenen, erniedrigten, entrechteten, gequälten«, dem geschundenen, quälbaren, zur Empörung, zum Kampf um das Leben, das bloße Überleben verurteilten, ›todgeweihten‹ Menschen). Es ist der Mensch in der Geschichtszeit der Entfremdung des Menschen, seiner Verdinglichung, der epochalen Dehumanisierung und Denaturierung der Humanität; im Fortgang der Epoche versteckt unter der Maske des zum Naturbeherrscher, Herren über die Kreatur, die Welt vergötzten, zum homme machine gemachten, funktionalen, intern und extern manipulierten, manipulierbaren, ausschlachtbaren, zum Geschöpf nicht der freien spontanen Kreativität sondern des technischen Zwangs, der brauchbaren Konstruktion gemachten, um- und ummontierten Menschending entstellten ›entmenschten Menschen‹. Hier entdeckt sich der Sonnemannschen Selbstbesinnung die Auflösung des Rätsels der Anthropologie, der Theorie, Wissenschaft des Menschen als der des radikal seiner selbst entfremdeten Menschen: des neuzeitlichen Un-Menschen; des unter den Zwängen und Fügungen seines Seinsgeschicks »Nicht-Lebenden, Nicht-Sterbenden« und in der Unterdrücktheit seiner ureigentlichen Naturalisierung, seiner Wesens-Werdung durch die gewordenen und beständig gewordenen gesellschaftlichen Verhältnisse aufs schwerste gehemmten und an Ausdruck und ›Darstellung‹ der realgeschichtlich gebotenen Empörung und Sabotage dieses Geschicks, Schicksals durch die Initiation einer Beherrschung des Verhältnisses des Menschen zur Natur, zum Seienden und Daseienden: zur Solidarisierung der »in der gnadenlosen Ewigkeit des Seins« verlorenen und verlassenen Menschen und Kreaturen, aufs skandalöseste und schikanöseste immer wieder behinderten, der Herstellung seiner Humanität harrenden Menschen. Hier und so entdeckt sich dieses aufgelöste Rätsel der Anthropologie– Wissenschaft vom Menschen als einer kritisch-negativen: einer negativen Anthropologie– jener »traurigen«, doch mitnichten trost- und hoffnungslosen »Wissenschaft vom beschädigten Leben«, wie sie bei Adorno, der »dialektischen Anthropologie«, wie sie bei Horkheimer, der ›Negativen Anthropologie‹, wie sie schließlich bei Sonnemann heißt.

Resultierte die sozial- und staatsphilosophische und die ihr gesellschaftlich korrespondierende »ökonomische« Selbstverständigung des (Links-) Hegelianismus in der Konzeption einer »Kritik der politischen Ökonomie« und einer Kritik der Verabsolutierung, der Versachlichung der etatistischen Institutionen gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen der existierenden und ihr wie das Leben der Gesellschaft produzierenden und reproduzierenden Menschen– also in der Ausarbeitung sozialgeschichtskritischer Abhandlungen, die den wesentlichen kritischen und selbstkritischen theoretischen Gehalt in Titeln faßten wie ›Die deutsche Ideologie‹; um einen konstitutiv-regulativen Terminus zentrierten, der die– dialektische– Korrelativität der Denkbewegung der »Selbstvergewisserung« und der dieser komplementären Innewerdung der »Selbsttäuschung« zwingend fixiert. Es ist das das kritisch und kriteriell entscheidende konstitutiv-regulative Begriffselement einer kritischen Theorie der Gesellschaft– gleich ob der Marxschen, der Horkheimer-Adornoschen oder der Sonnemannschen (ob der sozialistisch-soziologischen oder der wissenssoziologischen Provenienz); das kriterielle Grundelement zureichender Erklärung und Deutung des »notwendig falschen Bewußtseins«, das sie von sich hat: die Kategorie des objektiven (manifestierenden) Scheins in seiner Differenz vom täuschenden (verschleiernden) Schein.

Ideologie als der objektiv »falsche« Schein ist realdialektisch unabtrennbar vom »echten« authentischen Sein und dessen realer Erscheinungsweise im »System« des gesellschaftlichen Ganzen, das komponiert (gefügt, »konstruiert«) ist aus den »perspektivischen« Aspekten der Teile, denen die »Orte« der Lage (der Konstellation dieser Orte und Teile zueinander) »situativ«, »limitativ« entsprechen. Die situative Perspektivik und die von ihr objektiv, in und von der Sache generierte Limitation sind Objektivationen, Modi der subjektiv-objektiv-dialektischen kategorialen Qualifizierungs(Wertungs-)Art der »bestimmten Negation« (des limitierenden Negierens), wie sie sensu stricto in den Artikulationen einer »negativ-anthropologischen« Theorie wie der Sonnemannschen eigentlich nicht vorkommen dürfte. Daß sie es aber– heimlicherweise, implicite– dennoch tut, ist angesichts der vom Autor schon des Frühwerks, namentlich aber des Spätwerks deutlich bekundeten Aversion gegenüber dem Hegelianismus, seiner Kritik des Systemdenkens, namentlich der verklärenden Geschichtsphilosophie Hegels einigermaßen verblüffend– doch nur so lange, wie der Betrachter während der Relektüre des Sonnemannschen Frühwerks der untergründigen Verbindung mit dem Spätwerk– der hier waltenden Dialektik von Kritik und Negation, namentlich und besonders der Dialektik der »bestimmten Negation«– nicht innegeworden ist.

Zufolge der Erörterungen des Symposions zu ›Genese und Perspektiven Negativer Anthropologie nach Ulrich Sonnemann‹1, die der Erwägung des Zusammenhangs von Früh- und Spätwerk Sonnemanns gewidmet waren, kann, ja muß von einer theoretischen inneren Einheit beider– bei gleichzeitiger Berücksichtigung epistemologischer Heterogenität der Frühschrift von 1954 und des Anthropologiewerks der sechziger und siebziger Jahre–, also der Dialektizität dieser Einheit in der Diversität ihrer Teile gesprochen werden, damit auch von dem rudimentären (Vilfredo Pareto würde gesagt haben: residualen) Status der Dialektik-Konzeption von ›Existence and Therapy‹ und dem (im Sinne ›negativer Dialektik‹ und ›negativer Anthropologie‹ entwickelteren) Status der ›Negativen Anthropologie‹. Von jenen Erörterungen hat sich als höchst belangreich die Einlassung von Peter Warsitz erwiesen, der darauf hinwies, daß bei der Konzeption des Theorems von der negativen Anthropologie (also der negativen Attribuierung der Wissenschaft vom Menschen) eine ausschlaggebende Rolle das intensive Studium Heideggerscher existenzialontologischer Seins-Interpretation unter dem Aristoteles-hermeneutischen Gesichtspunkt des Seins-Phänomens als wesentlich steretischen– und damit seiner kategorialen Berührung mit dem Hegelschen (dialektischen) Zentralbegriff der »bestimmten Negation« –spielte.

In diesem ist impliziert jener negativ-kritische Sinn, den Sonnemann beim Dialektiker Hegel vermißt (vielmehr verkehrt findet in den positiv-vernünftigen einer ›ideologischen‹ Verklärung), und der dies ominöse Theorem einer bestimmten Negation für nicht mehr gehalten hat als eine Variante des logisch-mathematischen Taschenspielertricks jener »doppelten Negation«, die die Position als Resultat haben soll. Zu unrecht: denn die bestimmte Negation ist Limitation: doppelte Abgrenzung bestimmten Seins (des Daseins) gegen das, was Sein nicht mehr und das, was es noch nicht ist. Es ist negative Bestimmung hinsichtlich dessen, als was es gewesen, vergangen, untergegangen, ›genichtet‹ ist (οὐσία τὸ τί ἧν εἷναι) und hinsichtlich dessen, was einmal2 (oder was überhaupt) sein kann; was zukünftig ist, d.h. entwickelt, entfaltet (oder sich zu entfalten gehindert, verkümmert, unterdrückt ist). Und genau in diesem letzteren Sinn ist die kritische, negativ-anthropologische Bestimmung bei Sonnemann gefaßt. Im Hegelschen Begriff der Negation ist soviel Steresis bedeutet (Defizit, Beraubtheit, Mangel an Sein, »Nichtsein«) wie im dialektischen (antithetischen) Grundbegriff »Werden« impliziert ist, und wie ihn der anthropologische (thetische) Grundbegriff »Sein« ausschließt. Das heißt aber epistemologisch: Sonnemann hat eben die dialektische Denkbewegung vollzogen, die er bei Hegel bestreitet und die doch einzig durch den Aufweis ihrer Ideologizität kritisierbar wird, d.h. durch ihre kriterielle Bestimmung der Differenzbestimmung der Vorspiegelung eines Einen im Ganzen in der Indifferenzierung von Positivität und Negativität: durch Ignorierung, Verfehlung der Limitation: der steretischen Bestimmtheit von Position und Negation: von Sein und Werden; schließlich– philosophisch (und das macht das große Gewicht, das kritisch-hermeneutisch Folgenreiche der kategorialen Vergegenwärtigung der »bestimmten Negation« aus)– von Substanz und Subjekt; Konstanz und Veränderung; Überzeitlichkeit und Geschichtlichkeit; Ruhe und Bewegung;– soziologisch– von Un-Tat (Untätigkeit, Trägheit, Stofflichkeit) und Tat (Aktivität, Formieren, Projektieren, Entwurf, Engagement, Produktivität, Kraft); und– existenzialistisch– von Tod und Leben; Indolenz und Entschiedenheit (Entweder– Oder!, Du mußt dich entscheiden!); Konfrontation, Streit, Krieg und Verhandlung, Kommunikation, Netzwerkerei; Dialektik (Kritische Theorie) und Existenzdialektik (Praxis, Pragmatik).

Die Interdependenz, das Interpolare, die untergründige Dialektik in ihren intermediären, intermittenten »gespürten« bipolaren, dualistischen, zum Dualismus3, zum gebrochenen, unglücklichen, zerrissenen Bewußtsein und Sein gleichsam verführenden Manifestationen und Emergenzen: sie bilden die treibende Kraft zur kritischen Selbstvergewisserung als dem Prozeß der Selbstgewinnung, Selbstaufklärung der Aufklärung, der geistigen (und in deren Folge: moralisch-politischen) Autonomie: der Gewinnung der Vernunft in der insistenten Vergegenwärtigung der Irrationalität von Ratio selber.

Wenn Sonnemann die Psychoanalyse aufbieten kann als immanenten komplementären Korrektor der Gestaltpsychologie, auch des ganzheitlichen Konzepts existenzialer »Sinnganzheit« (als der des objektiv gespaltenen und gebrochenen existierenden Menschen– des Menschen en situation) und den Existenzialismus des Existierens in situ (mit den Entscheidungszwängen des Aufbegehrens und der Revolte), dann nutzt er diese Rudimentärform materialistischer und tiefenpsychologischer Dialektik im präfigurativen, präjudiziellen Sinn der interkorrektiven Konstituentien dialektisch-materialistischer Kritik im Sinne »Kritischer Theorie« und »Negativer Dialektik«, gegen die er in seiner (professionellen) Situation Vorbehalte hat.

Im Prozeß der Selbstvergewisserung, der im Sonnemannschen Denken sich abspielt zwischen der Phase intensivster Arbeit und Anstrengung des Begriffs in der Entfaltung des Frühwerks und der der skrupulösesten Selbstverständigung in den Etappen der Etablierung des Spätwerks, erleben wir bei der Relektüre des Frühwerks die Genese der Leittheoreme und treibenden Hauptmotive des negativ-kritischen Spätwerks mit seinen hochbedeutenden vernunft- (vernehmens-)kritischen Revisionen und Basiskorrekturen rationalistischer, transzendentaler, szientistischer und systematischer Verständnis- (Verstehens-)Kritik.

Hermann SchweppenhäuserDeutsch Evern, im Februar 2010

Erste Abteilung

Erkennen und Sein

(1939/​40)

Ohne die im folgenden abgedruckte ›Betrachtung‹ ausdrücklich beim Namen zu nennen– freilich kommt allein sie in Frage–, teilt Ulrich Sonnemann in seinem 1992 veröffentlichten Text ›Autobiographisches, tabellarisch‹ für seine Exil-Station Brüssel (August 1939 bis März 1940) mit: »Arbeit an Gedankengängen, die viel später in ›Existence and Therapy‹ eingehen.« Seinem Inhalt nach kurz skizziert hat Sonnemann den Aufsatz seinerzeit, in einem Brief an Siegfried Kracauer vom 20.November 1941, dahingehend, daß er »Hegel und den Historismus des neunzehnten Jahrhunderts [behandelt], die verschiedenen Versuche, die durch ihn geschaffene Bewußtseinslage zu überwinden und den Widerspruch in diesen Versuchen. Es wird aufgezeigt, wie und warum die Entwicklung beide ad absurdum führen muß: den Psychologismus der gegenwärtigen Mythus-Doktrinen, dessen romantische Wurzel klargelegt wird, und den ›Historischen Materialismus‹. Beide wurden als komplementäre Irrtümer erkannt und Vermutungen für die Zukunft, hieraus sich ergebende, ausgesprochen. Der geschichtsphilosophische Bannkreis wurde insofern überschritten, als Rückschlüsse auf das allgemeine Verhältnis von Sein und Bewußtsein gezogen, Versuche einer neuen Deutung des Kausalbegriffs gemacht wurden. Auch wurden Möglichkeiten völkerpsychologischer Einsichten, die in der Entwicklung des Gegenstandes lagen, genutzt.«

I Die Atomforschung unserer Zeit kennt Prozesse, deren fotografische Beobachtung, da sie ihren Ablauf störend beeinflußt, zu keiner Aufhellung ihrer physikalischen Natur führt. Dies ist ein Gleichnis und vielleicht mehr. Man möchte meinen, die äußerste Anstrengung unserer Erkenntnis, die Sinneswelt zum Gegenstandsein, d. i. dazu zu zwingen, ihr entgegenzustehen, mache deren entgegengesetztes Bestreben: unsrer Erkenntnis nämlich davonzulaufen, recht eigentlich sichtbar, und es sei die beobachtete Erscheinung, wiewohl nirgends so nackt wie an den äußersten Kanten ihres Aktionsbereichs– etwa in dieser Sphäre des Allerkleinsten– zutage tretend, notwendiges Schicksal aller Erkenntnis überhaupt.

Ein Dilemma aber, ängstigender als das, worein Determinismus jeder Art, spreche er von Rassenseele, Klassenbewußtsein oder irgendwelchen Triebschichten, den menschlichen Geist stürzt, würde solcher Einsicht erwachsen. Man bemerkt, daß beiden Formen der Enthüllung, jener dem neunzehnten Jahrhundert eigentümlichen, die nicht allein (was kraß ist) Bewußtsein für eine Funktion des Organischen ausgab, sondern (was krasser ist) sein Wesen in solchem Funktion-Sein sich erschöpfen ließ, und einer worauf immer sich stützenden Lehrmeinung, die grundsätzliches und durchgängiges Fehlgehen dieses gleichen Bewußtseins in der Erkenntnis der Außenwelt (wenn auch vielleicht nur in minimem Grade) behauptete, die Verneinung der »Gültigkeit«, d.h. des Wahrheitsanspruches gemeinsam wäre, der aller Erkenntnistätigkeit innewohnt und den sie offenbar aus einer in der Ebene der bloßen Funktionalisierung nicht unterzubringenden Dimension ihrer selbst bezieht. Soviel vom Gemeinsamen beider Lehrtypen; ihr Unterschied würde zunächst darin zu suchen sein, daß, denkt man Erkenntnisakte unter der Form von Bewegungen, der eine Entwertungsversuch ausschließlich am Bewegungsursprunge, der andere ausschließlich am Ziele anzusetzen scheint; während jener die Legitimität empirischer Erkenntnis in Zweifel zieht, dieser ihren Erfolg, kümmern umgekehrt den Atomforscher erkenntnistheoretische Fragen (im traditionellen, eben die »Legitimität« meinenden Wortsinn) so wenig wie, abermals umgekehrt, einen Metaphysiker etwa der Nachfolge Hegels die Frage bekümmert haben würde, ob seine Apperzeption der Erscheinungswelt sie nicht schon durch ihren bloßen Vollzug so verändere, daß das gewonnene Bild nicht ihren »eigentlichen« Zustand zeige… Doch bleibt denkbar, daß der Atomforscher recht tut, sich um Erkenntnistheorie nicht zu bekümmern, während jener Metaphysiker– ich habe Karl Marx im Auge– sicher unrecht getan hat, jene Frage nicht zu stellen. Man könnte vereinfachend sagen, daß sein Theorem nächstkünftiger Entwicklung falsch wurde, weil es unter den in dieser Entwicklung wirkenden Elementen das des Marxismus (und damit auch die Reaktion auf diesen) nicht voraussah; noch paradoxer, daß seine Voraussage eingetroffen sein würde, hätte er sie nicht gemacht.

Dies könnte ironisch klingen; doch war, wenn mir recht ist, in diesem Fall die Wirklichkeit selber ironisch, und nicht um politisch-polemische Ironie handelt es sich, die scheinbarer Gegenpol der romantischen und ihr nächster Verwandter ist, sondern um jene ganz andere, weltimmanente, dem Übermute griechischer Götter verwandte, deren Verständnis immer noch das beste Kriterium innerer Freiheit und deren jüngster Träger immer noch Mephisto ist… Steckt nicht aber eine Menge »Gaukelei«, »Fopperei«, Apaturidentum, athenisch geredet, auch in jenem Fall aus der Atomphysik? Die Wirklichkeitsverfehlung, um die es sich hier handelt, scheint auf den ersten Blick freilich eine andersartige als diejenige der Lehre von Karl Marx. Bei dieser macht die Apperzeption als Akt– durch dessen Folgen– der Apperzeption als intentionaler Inhalt einen Strich durch die Rechnung, bei jener ergibt bereits die Ausführung des Apperzeptionsaktes seine Unmöglichkeit durch Veränderung der Prämissen. Doch ist beiden Fällen gemeinsam, daß Ausübung von Erkenntnis (als Vorgang) die »Situation des erkenntnistheoretischen Subjekts« im kantischen und nachkantisch-idealistischen Verstande als Ergebnis einer Selbsttäuschung erweist.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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