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Die Sexologin und erfolgreiche Autorin Ann-Marlene Henning erkrankt im November 2021 an Covid-19. Ein paar Tage nach den ersten Symptomen verschlechtert sich ihr Zustand so, dass sie ins Krankenhaus kommt. Auf der Intensivstation verschlimmert sich ihre Situation schnell, sie bekommt schwerste Atemnot und muss ins künstliche Koma versetzt und beatmet werden.
Schließlich entwickelt sie während des Komas auch noch eine Sepsis und kommt nur ganz knapp mit dem Leben davon. Von der schweren Erkrankung und dem, was sie im Krankenhaus erlebt hat, aber auch ihrem Kampf zurück ins Leben berichtet sie in diesem Buch. Ann-Marlene Henning erzählt nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern erläutert auch medizinische Hintergründe . Während der schweren Zeit im Krankenhaus und auch beim Erzählen hilft ihr ihre direkte Art und ihr Humor – so entsteht ein ehrliches, berührendes und erkenntnisreiches Buch über die neue Volkskrankheit.
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Cover & Impressum
Corona – haben oder nicht haben, das ist hier die Frage
Irgendetwas stimmt nicht
Ab ins Krankenhaus –ein wortwörtlich intensives Erlebnis
Stechen mit Ultraschall
Hautnaher Nähkurs
Große Einöde
Unsatz des Jahres
Und täglich grüßt das Murmeltier …
Positionswechsel, Frau Henning!
Maske auf!
Der Druck erhöht sich
Der langsame Untergang zum Dunklen
Akutes Lungenversagen
Abgerutscht
Komatöse Zustände mit Albträumen – aus einer anderen Welt
Triggerwarnung?
Komatöse Tatsachen in Verbindung mit COVID-19
Fünfzig-fünfzig
Wie viele werden beatmet?
Ich bin wieder wach!
Das Koma – die Träume
Absurdes oder doch nicht?
Ein Gittertraum
Mein Todestraum
Die Beerdigung
Mein Leichnam
Sexueller Missbrauch
Meine Bonusfamilie
Der reiche Spanier
Aha-Effekt
Hallo, wach! Alles wieder normal? Nö!
Ein böses Erwachen?
Klingelsturm
Beweglichkeit in jeder Hinsicht
Schläfrige Tatsachen
Hilfe!
Ein gewichtiger Grund
Körperliche Engpässe
Taube Stellen und Dellen, Nägel wie Krallen
Was war da im Koma passiert?
Fieberschub
Ein grässlicher Schock!
Schwarz auf weiß
Wieder schlucken lernen
Mein erstes Mal
Das zweite Mal
Schöne Weihnachten
Verabschiedung
Trübsal blasen pur – auf der Normalstation
Ekelpaket
Mein Körper – ein Schlachtfeld
Verstellung pur
Unterhaltung vom Feinsten
Hand- und Beinsport
Die grünen Leute
Ein weiteres erstes Mal
Atemlos essen
Was so auf dem Teller liegt
Facts zur Bettkante
Frisch geduscht
Wie ich meine Bergluft loswurde
Slips, Sportsocken, Joggingschuhe und große Taschen
Reif für die Reha – die am Ende gar keine war!
Neblige Irrfahrt
Tarnklamotten pur
Doch noch Reha?
Vorbereitungen zur Flucht
Ein langer Weg in mehrerlei Hinsicht
Endlich nach Hause – in die Home-Reha mit Louis
Wieder in Kontakt
Tischmanieren
Der Waldscheißer
Aus dem Gleichgewicht
Eine letzte Sache noch
Die Kraft zum Leben
Auf dem Boden der Tatsachen
Weitergekommen
Long Covid – sind meine Schmerzen jetzt für immer da?
Long Covid?
Podcast mit Folgen
Immer dieses Kratzen im Hals
Haarige Sachen
Schnipp, schnapp – ab!
Tropfunfälle
Schnappatmung
Ein Hoch auf die Birke
Eine bunte Tüte
Mäusegehirne
Das autonome Nervensystem
Chronische Fatigue
Mentale Diagnosen
Wenn der Körper sich selbst angreift
Sorgen über die Zukunft
Unangenehme zehn Prozent
Genesung bei Hospitalisierten
Rückbildung möglich
Rückwärts parallel einparken
Ich verliere immer noch Haare
Was war es eigentlich genau? Blutgruppe, Mandeln oder Vitamin-D-Mangel?
Impfen nach Genesung oder nicht? Es gibt für mich keine gute Antwort
Abgabe von Rollen
Hereinspaziert!
WhatsApp von einer Traumatherapeutin
Ab zum Arzt
Schreckensmeldungen
Tabu! Tabu!
Ein Risiko ohnegleichen
Das Ärzteblatt!
Eine Impfung, die es buchstäblich in sich hat
Impfpflicht?
Das Leben ist endlich – genießen Sie es ab sofort!
Ein Blick in die Zukunft
Gesundheitssystem und Co.
E-Mail von einem älteren Bekannten
Ein gutes Gespür
Gefühle
Trauma und dessen Erinnerung im Körper
Wertvolle Hilfe bei Long Covid
Das haarige Ende
Der kleine Rest
Danksagung
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
5. – 12. November 2021
»Frau Henning, da sind Sie ja wieder, wir nehmen Ihnen gleich den Tubus raus.« Die weibliche Stimme drang ruhig und fest zu mir durch. Mein erster Gedanke: Ach, das war es gewesen – ein Koma! Die Einsicht war erleichternd. Hinter mir lagen, wie ich gleich erfahren würde, zwölf Tage im Koma, mit den schlimmsten Albträumen meines Lebens, wie in einer Endlosschleife, und von denen ich gedacht hatte, sie seien echtes Leben. Das störende Gefühl im Hals, das in fast allen Träumen eine Rolle gespielt hatte, war der Tubus gewesen.
Nun würden sie gleich mit dem Entfernen des Tubus loslegen. Ich bin eine nervöse Patientin, wie mir immer wieder gesagt worden war. Ich stelle mir das Heftigste vor und reagiere auf die kleinste Körperempfindung höchst aufmerksam. Eine »Entfernung« würde eher nicht zum Angenehmen gehören und konnte auch schiefgehen. Bevor ich aber einen weiteren Gedanken fassen konnte, ging es schon los. Ich hätte eh keine Kraft gehabt, mich zu wehren. Mein Trost: Dieses blöde Ding in meinem Hals würde endlich entfernt werden.
»Husten Sie, Frau Henning, toll machen Sie das. Husten Sie noch mal!« Die Ärztin schien über mein Mitwirken höchst begeistert. Dann war überall Schleim im Mund, sodass ich nicht atmen konnte.
Eine zweite Ärztin meinte: »Ich helfe Ihnen kurz, Frau Henning …« Sie steckte irgendetwas Langes in meinen Mund und meinen Hals und bewegte es hin und her wie ein Staubsauger. Das war es, ich war befreit. Mein Hals fühlte sich aber noch rau an, sie sagten, das sei normal und würde bald verschwunden sein.
Drei Personen standen um mich herum, wie ich jetzt sah. Da war noch ein Arzt.
Heiser fragte ich: »Ich war im Koma?« Sie nickten alle drei, und ich begann vor Erleichterung zu weinen. »Sie haben mir wohl damit mein Leben gerettet.«
Der Arzt meinte, das sei tatsächlich der Fall.
»Sie grinsen alle so«, sagte ich.
»Ja, wenn jemand wieder aus dem Koma zurückkommt, ist es immer ein besonderes Gefühl. Ein sehr gutes«, antwortete der Arzt.
»Danke!« Ich weinte noch immer, auch weil die Albträume eben nur Träume gewesen waren und nicht die Hölle auf Erden – oder nach dem Tod. Zwischendurch hatte ich das vermutet, während ich »schlief« …
Es war Anfang November 2021, als ich von einem Dreh für einen Privatsender zum Thema sexuelle Erwachsenenbildung gegen siebzehn Uhr nach Hause in meine Praxis-Wohnung im fünften Stock kam. Ich fühlte mich »anders« als sonst. Irgendetwas ging in meinem Körper vor, weshalb ich mich gleich nach dem Abendessen ins Bett legte; ohnehin war es eine wilde Woche gewesen. Ich war wieder mal von Dänemark zum Arbeiten nach Hamburg gekommen. In Haderslev, gut fünfzig Kilometer von Flensburg entfernt, hatten mein Lebensgefährte Louis und ich zusammen ein Haus gekauft und renoviert, seit genau zehn Monaten hatte ich also zwei Wohnsitze, Louis war komplett nach Dänemark gezogen. Ich rief ihn an, spürte aber nach wenigen Minuten schon, dass ich nicht lange telefonieren konnte, ich sagte ihm, ich müsste jetzt schlafen. Kurz schoss es mir durch den Kopf, ob ich mich vielleicht mit Corona infiziert haben könnte. Ich spürte ein Kratzen im Hals.
Schnell schlief ich ein, und am nächsten Morgen war mir sofort klar, dass ich die Fortsetzung des Drehs würde absagen müssen: Mein Hals tat spürbar weh, und ich fühlte mich merkwürdig schlaff im ganzen Körper. Als ich die Produzentin anrief, wusste ich, dass es nicht leicht werden würde. Die Produzentin informierte alle Beteiligten, die mit mir zu tun gehabt hatten, das waren an die fünfzehn Personen, die jeden Morgen vor den Dreharbeiten getestet worden waren, so wie ich auch. Wir mussten nun alle einen offiziellen PCR-Test absolvieren.
Wirklich überzeugt, dass ich mir COVID-19 eingefangen hatte, war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Dann klingelte es auch schon an meiner Praxistür, und ein Arzt im weißen Schutzanzug kam herein. Er führte den PCR-Test durch, dann ließ er mich allein zurück. Dieser Style, von Kopf bis Fuß »schutzgekleidet«, würde eine Woche später für längere Zeit in meinen Alltag einziehen. Der Arzt in meiner Praxis hatte wie ein Polarforscher ausgesehen, aber vielleicht war ich zu dem Zeitpunkt schon im Fieberwahn?
Meine Praxis, in der ich auch wohne, wenn ich in Deutschland arbeite, liegt in Hamburg, im schönen Eppendorf, umgeben von Parks und Wasser. Ich fühle mich dort, gerade als Dänin, sehr wohl. In meiner ganzen Kindheit war ich innerhalb einer Viertelstunde am Wasser oder unter Bäumen.
Die Praxis eröffnete ich 2006, bis heute arbeite ich dort als Paar- und Sexualtherapeutin. Als Sexologin[1] hatte ich eine eigene Fernsehsendung: Make Love – Liebe machen kann man lernen. Ich schreibe Bücher, gebe Fortbildungen, halte Vorträge und entwickelte zwei Spiele über Liebe und Sexualität. Mittlerweile betreibe ich auch zwei Podcasts: »Beziehungsweise« und »Ach, komm! – Der Sexpodcast«. Die Arbeit in meiner Praxis bleibt jedoch die Grundlage für mein Tun als Sexologin. Ich führe dort psychotherapeutische Gespräche und liebe den direkten Kontakt zu Menschen. Dadurch treffe ich aber auch in kürzester Zeit auf viele Personen, und ebendies sollte mir jetzt zum Verhängnis werden.
Ich lag krank auf dem Sofa in der Praxis-Wohnung.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatte ich noch keine Antwort vom Polarforscher-Test, sondern nur meine gefühlte Gewissheit, eine Infektion zu haben. Als ich wieder Louis anrief, sagte ich: »Wenn es Corona ist, hoffe ich auf einen milden Verlauf. Mir geht es nicht gut, aber es ist erträglich. Ich muss nur viel schlafen und mich gut auskurieren.«
Der Arzt, der die Filmproduktion versicherungsbedingt betreute, sorgte dafür, dass mir einiges aus der Apotheke gebracht wurde: ein Thermometer, ein Nasenspray, Cortison und ein Sauerstoffsättigungsmessgerät – alles nur »für den Fall der Fälle«, dann wäre schon alles Nötige da. Das hatte mich beruhigt, ich dachte aber nicht, dass ich es brauchen würde. Die Sachen wurden mir auf die Matte vor der Praxis gelegt, ich sah den Menschen, der es brachte, nicht. Ein böses Omen.
Mehrfach loggte ich mich in die offizielle Corona-Test-Website ein und suchte nach meiner Testnummer. Sie war noch immer nicht aufgeführt. Ich konnte aber erkennen, wie viel Prozent der Getesteten positiv waren: Es waren viele, und die Zahl wuchs!
Inzwischen waren drei Tage vergangen, und meine Situation hatte sich nicht verschlimmert. Ich war okay, wenn auch angeschlagen. Dann klingelte am Nachmittag das Telefon.
»Sind Sie Frau Henning? Ich rufe Sie an, weil Ihr Test positiv war …« Es war das Labor.
»Das hat aber gedauert«, lautete meine Antwort.
Der Labormitarbeiter erklärte, dass sie schnell gewesen seien, sie hätten den Test gerade erst am Morgen erhalten. Der Arzt, der mich getestet hatte, hatte offenbar das Wochenende abwarten wollen.
Das positive Ergebnis war emotional ein unangenehmes Ereignis, aber ich glaubte nach wie vor an einen milden Verlauf.
Besonders viel Wissen hatte ich über die neuartige Krankheit nicht. Dass Gefäße und Lunge, bei meiner Virusvariante Delta, beteiligt sind, klar, aber dass häufig auch das Gehirn angegriffen wird, fand ich erst später heraus.
Mittlerweile war zu dem Halskratzen eine unangenehme Übelkeit hinzugekommen. Ich musste mich nicht übergeben, aber Schlaf und Erholung waren kaum möglich. Da lag ich also: mit Übelkeit, Halskratzen und COVID-19-positiv. Es war schon Dienstag. Der Tag begann und endete wie die anderen. Ich sagte Louis am Telefon: »Mir geht es schlecht, aber es wird bald vorbei sein.« Was ich nicht wusste: Die Delta-Infektion hatte ihre pulmonale Phase noch nicht erreicht … die Lungenphase.
Täglich maß ich meine Temperatur, sie war normal oder leicht erhöht. Meine Sauerstoffsättigung lag meist um die 99 Prozent, ich konnte gut und entspannt atmen. Das war beruhigend. Ich habe aber kaum noch gegessen und fühlte mich immer erschöpfter.
Mittlerweile hatte ich meinen Hausarzt angerufen, der auch Internist ist. Er legte mir eine Thromboseprophylaxe nahe und telefonierte mit meiner Apotheke. Eine Freundin deponierte mir die Spritzen vor der Tür. Meine erste Reaktion war eine wohl ganz normale: Nein, ich spritze mich nicht selber! Am Abend jagte ich mir aber, zu meiner großen Verwunderung, die erste – zugegeben ausgesprochen dünne – Kanüle ins Bauchfett, so wie es Diabetiker mit Insulin machen. Meine Angst, eine Thrombose zu bekommen, war größer als jede andere Alternative. Das Ganze konnte allerdings auch als Vorgeschmack dienen auf das, was noch kommen sollte.
Am Mittwochmorgen ging es mir merklich schlechter, ich war ziemlich ermattet, und als mir meine Mutter am Telefon sagte, ich solle gegen die Übelkeit Haferschleim kochen, war meine Antwort ernüchternd: »Ich kann nicht.« Sie wollte mich überzeugen, ich blieb bei meiner Aussage, wurde fast wütend, weil das Gespräch so anstrengend war: »Hörst du, was ich sage, ich kann nicht.« Warum nicht? Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich war zu schwach und unkonzentriert für den kurzen Weg in die Küche, und ich begann mich zu fragen, ob diese Infektion einen anderen Verlauf als erhofft nehmen würde.
Der Mittwoch verging, ich aß nichts, da war kein Hunger, sondern nur Übelkeit. Meine Sauerstoffsättigung pendelte zwischen 92 und 94 Prozent. Das beunruhigte mich, aber das Atmen ging noch gut.
Als ich am Donnerstagmorgen aufwachte, spürte ich sofort, dass etwas anders war. Es war, als würde auf meinem Brustkorb etwas Schweres lasten. Ich nahm das Sauerstoffmessgerät und klemmte das kleine Ding um einen Finger. Es piepte: nur noch 88 Prozent Sauerstoff. Zu Louis, den ich anrief, sagte ich: »Ich traue mich nicht mehr, hier allein zu liegen, ich brauche ärztliche Hilfe.« Nach unserem Gespräch wählte ich die 112.
12. – 25. November 2021
Als der Krankenwagen am 12. November zwanzig Minuten später eintraf, musste ich liegend gefahren werden, denn sobald ich auch nur kurz versuchte, mich aufzusetzen, bekam ich Luftnot. Man brachte mich in ein Klinikum im benachbarten Stadtteil.
Nun lag ich abwartend in der Notaufnahme des Krankenhauses. Ein junger Pfleger kam herein, von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung und mit Maske. Ich sah nur Augen. Er stellte sich kurz vor und entnahm mir eine Blutprobe. Besser gesagt: Er wollte mir eine entnehmen. Er tat sein Bestes, aber es wollte nicht klappen. Wahrscheinlich lag das Problem darin, dass ich in den letzten Tagen sehr wenig getrunken hatte. Während der Versuche, eine zusammenarbeitswillige Ader zu finden, stieß ich immer wieder ein verkniffenes »Autsch« aus. Eine kurze Pause trat ein, als eine Ärztin vorbeischaute und mich fragte, wie es mir ginge.
»Nicht besonders«, sagte ich. »Ich kann nur schwer atmen.«
»Sind Sie geimpft?«, wollte sie wissen.
Ihre Antwort, als ich verneinte: »Selber schuld, Sie hätten sich ja impfen lassen können.«
Ja, da war was dran. Sie schien aber kein Interesse daran zu haben, herauszufinden, ob ich gute Gründe für meine Entscheidung gehabt hatte. Ich hatte. Und zwar gesundheitliche Gründe, denn ich hatte Aneurysmen im Gehirn gehabt, dabei geht es um eine Gefäßwandschwäche, und ich war deshalb noch sehr verunsichert bezüglich der Impfung.
Die deutlich unfreundliche Person machte sich einige Notizen und verschwand wieder. Daraufhin ging die Pikserei von vorne los, bis der Pfleger aufgab, er fand keine tauglichen Adern.
»Dann müssen sie das eben auf der Station machen«, sagte er erschöpft.
Ich hätte gern vor Erleichterung tief durchgeatmet, wenn es denn gegangen wäre.
Bald darauf wurde ich von einem Mann mit einem riesigen dunklen Bart abgeholt. Der junge Pfleger und der hünenhafte Neuzugang manövrierten das sperrige Bett aus dem kleinen Zimmer, dann übernahm der Bärtige. Er rollte mich durch das halbe Haus, rein und raus aus Fahrstühlen, ohne ein einziges Wort, obwohl ich die ganze Zeit versuchte, in Kontakt mit ihm zu treten. Irgendwann las ich auf einer Tür »Intensivstation« – meine Endstation. Nahezu buchstäblich. Fast wäre ich dort nicht herausgekommen, jedenfalls nicht lebend.
Mein Zimmer hatte einen Ausblick durch mehrere Fenster und sollte für den nächsten Monat mein Zuhause sein, um für weitere elf Tage auf die Normalstation verlegt zu werden. Diesen Zeitraum kann ich im Nachhinein nennen, aber als ich da frisch lag, dachte ich keinesfalls, dass es so lange dauern würde.
Wie es mir ging? Im Liegen konnte ich ganz gut atmen, und auf der Station fühlte ich mich um einiges sicherer als zu Hause. Vor allem aber hatte ich in jedem Nasenloch einen Schlauch, der mich mit angereichertem Sauerstoff versorgte. Ich war sicher, mit der richtigen Hilfe würde es mir bald gut gehen. Ich hatte Vertrauen in Krankenhäuser, und auf der Intensivstation konnte es nur besser werden. Keinen Moment hatte ich mich gefragt, warum ich nicht auf einer Normalstation lag. In Zeiten der Pandemie schien es mir nicht ungewöhnlich zu sein.
Auf der Station sollten, wie man mir erklärte, als Erstes Zugänge gelegt werden, danach wäre auch die Blutentnahme ein Leichtes. Ich nickte, kannte ich das doch alles von früheren Klinikaufenthalten. Es gab vor Jahren eine Notentfernung meiner Mandeln, kurz danach eine Kiefer- und sogar eine Gehirnoperation.
Die Ärztin und die Krankenschwester holten erst einmal alles, was sie brauchten, dann sagten sie, sie würden jetzt mit dem Legen der Kanülen beginnen. Da keine halbe Stunde vorher an mir herumgestochen worden war, wagte ich noch zaghaft einzuwenden, um das Unvermeidliche zu vermeiden: »Es ging unten in der Aufnahme gar nicht … gibt es keine andere Möglichkeit?«
»Es wird schon gehen«, meinte die Ärztin freundlich. »Wir machen es sonst mit dem Ultraschallgerät.«
O ja, dachte ich. Das hörte sich weniger brutal an. Tatsächlich wurde, nach einigen erfolglosen Stechversuchen, das Ultraschallgerät geholt, mit dem die Ärztin den Eintritt der Nadel in meinen Arm und in den Hals wunderbar verfolgen konnte. So war die Prozedur kurz und fast schmerzlos. Währenddessen klingelte nonstop das Mobiltelefon im Kittel der Ärztin, sie trug es offenbar bei sich, unter ihrer Schutzhülle. Sie witzelte darüber, ließ sich aber nicht in ihrer Konzentration stören. Für mich war das Klingeln irritierend, ich war definitiv davon gestört. In Angstsituationen muss ich mich immer konzentrieren, um so gut wie möglich durch die Angst zu kommen. Kennen Sie das?
»Das hat ja gut geklappt«, sagte die Ärztin. »Jetzt müssen wir die beiden Zugänge nur festnähen. Dann war’s das!«
Wie bitte? Festnähen? An der Haut?
Mit dem Festnähen lernte ich, dass ich Dinge über mich ergehen lassen musste. Zum Teil lebenswichtige Dinge. Vorher wurde die Hautstelle mit einem Desinfektionsmittel eingesprüht. Das kühlte zwar schön, aber es betäubte nicht. Ich spürte das Nähen, und ich dachte dabei an einen Thriller, in dem der Serienkiller an seinen Opfern bei vollem Bewusstsein herumnäht, bevor er sie umbringt. Ach ja, sie mussten insgesamt zwei Zugänge annähen, es waren also vier Stiche, zwei am linken Arm und zwei im rechten Halsbereich. Die beiden Frauen erzählten mir auf meine Nachfrage hin, dass es dabei um Sicherheit ginge. Bewegte ich mich zum Beispiel im Schlaf und würde dabei versehentlich den Schlauch herausreißen, oder es entzündete sich etwas, könnte es gefährlich werden.
Aus der »Leitung« am linken Arm, aus den Arterien, wurden täglich Blutproben entnommen; es war ein Ausgang. Über die rechte Halsseite wurden Medikamente, Vitamine und später flüssige Nahrung in meinen Körper (in die Venen) gespült; es war ein Zugang.
Während meines gesamten Krankenhausaufenthalts musste ich diese schmerzhafte Nähprozedur mehrere Male über mich ergehen lassen, denn die Zu- und Abgänge durften wegen der Infektionsgefahr nie zu lange an einer Stelle sein. Es hatte aber auch für Verwirrung gesorgt. Im Koma bekam ich eine starke Infektion, und man legte mir beide Kanülen frisch. Jedoch auf jeweils anderen Seiten! Von diesem Festnähen habe ich nichts mitbekommen, mich aber sehr wohl darüber gewundert, als ich aus dem Koma aufwachte. Kleine, eigentlich unwichtige Dinge bekommen manchmal Bedeutung, denn wir brauchen immer wieder Bestätigung, dass wir uns auf die eigene Wahrnehmung verlassen können. Es bringt uns ein Gefühl der Sicherheit, wenn wir die Welt verstehen.
Nach dem Nähen musste geklärt werden, ob ich einen Blasenkatheter wollte oder nicht. Da ich mit einem kurzen Aufenthalt rechnete und den Gedanken absolut nicht mochte, noch einen Schlauch tolerieren zu müssen, zumal an einer solch empfindlichen Stelle wie der Harnröhre, lehnte ich dankend ab.
Musste ich pinkeln, drückte ich fix den Klingelknopf, dann kam jemand mit einem Becken, stellte es unter meinen Hintern und verließ den Raum. Ich klingelte dann noch mal, wenn ich meine »Notdurft« erledigt hatte. Das Becken wurde abgeholt und die Menge notiert. Dass es manchmal arg lange dauerte, bis jemand nach dem Klingeln kam, besonders am frühen Morgen, daran gewöhnte ich mich. Ich begann einfach früher zu klingeln. Kein einziges Mal ging das schief.
Warum ich nicht einfach zur Toilette gegangen bin? Angenähte Schläuche! Mittlerweile klebten drei weitere Kabel an meinem Oberkörper, Verschiedenes wurde gemessen. Ja, sie klebten, sie waren nicht angenäht. Welch bleibenden Eindruck doch dieses Annähen hinterlassen hatte!
Sah ich aus dem Fenster, konnte ich ein Fußballfeld erkennen. Zu fast allen Tageszeiten war man dort sportlich unterwegs. Täglich schaute ich interessiert zu, es hatte eine fast meditativ beruhigende Wirkung auf mich. Einmal trainierte auf dem Rasenplatz eine Truppe von jungen Mädchen, ansonsten kickten auf dem Feld männliche Ballverrückte. Am Wochenende spielten Teams in farbigen Trikots gegeneinander. Später, nachdem ich aus dem Koma erwacht war, sah ich wehmütig und traurig auf diese Leute, erinnerten sie mich doch daran, wie bewegungslos ich selbst geworden war.
Hinter meiner Schulter befand sich ein Bildschirm, sämtliche Vitalparameter wie Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Puls und anderes mehr konnten auf ihm abgelesen werden. Auch von mir! Verrenken brauchte ich mich dazu nicht, die großen Zahlen spiegelten sich mir gegenüber im Fenster.
Diese Überwachung beruhigte mich anfangs, wobei jegliches Piepen sofort meinen Puls hochjagte. Einmal erzählte mir eine Krankenschwester, wie junge Ärzte und Ärztinnen nachts zu Hause schweißgebadet aufwachten, weil sie ein imaginäres Piepen hörten. Sie waren in Dauerbereitschaft, auch in der Freizeit. Ja, der Monitor gab Sicherheit, aber manchmal schlugen die Apparate aus, wenn etwas nicht stimmte. Puh! Meist war aber nichts Besonderes los, irgendein Beutel auf der rechten Seite war leer oder eines der drei Messkabel abgefallen. Letzteres passierte häufiger. »Es ist das grüne! Es ist wieder abgefallen«, witzelte ich, wenn jemand in mein Zimmer stürzte, gerufen durch das Piepen. Die Antwort von den Fachkräften: »Es ist immer das grüne!« Es war, bis auf einmal, tatsächlich immer das grüne.
Bevor ich komplett mit Kabeln und Kanülen versehen war, wurde ich zur Computertomografie gebracht. Ich fürchtete mich seit meiner Hirn-OP vor diesen Geräten, weil damals durch die Aufnahmen drei Aneurysmen gefunden wurden. Aneurysmen sind Blutbomben, die jederzeit platzen, also »hochgehen« können. Durch die geriet mein Leben aus den Fugen. Ich wurde operiert, bekam hinterher Angstattacken, wurde von Tabletten abhängig, wodurch wiederum meine Ehe zerbrach. Nie wieder wollte ich in so einem Gerät liegen.
Als ich nun mit COVID-19 zum CT gefahren wurde, hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Der nächste grüne Mann lächelte mich nur freundlich-humorvoll an und sagte, dass er ein Kontrastmittel spritzen würde. Ich müsste nur ganz ruhig liegen, sie bräuchten ein Bild von meiner Lunge, es wäre schnell erledigt. So war es dann auch, er verabreichte mir das Kontrastmittel, während er noch sprach. Die Art von diesem Mann ließ keine Zweifel zu, das hat mir geholfen. Hier lief alles zackig! Angenehm. Anschließend ging es zurück in die Isolation.
Die Tage vergingen. Ich fühlte mich in meiner Isolation ausgesprochen einsam, besonders am Morgen. Ich gehöre zu den Menschen, die wenig Schlaf benötigen, aber wenn ich erst liege, kann ich, egal, wie stressig alles gerade ist, gut einschlafen. Ich gehe eben spät genug ins Bett. Im Krankenhaus entstand jedoch bald ein Gefühl der Langeweile, und ich stellte fest, dass ich fast durchgehend hellwach war. Ich begann daraufhin, die halbe Nacht Serien zu schauen. Dafür musste mein Computer geladen sein. Ob eine Steckdose in der Nähe war? Nein. So bat ich manchmal nachts darum, dass er an den Strom gehängt wurde. Gerne doch. Ich müsste nur klingeln, wenn ich ihn wiederhaben wolle. Meist führte die Aktion aber dazu, dass ich geladen war! Denn das Wiederbringen dauerte und dauerte! Ich störte deswegen nur ungern und hatte deshalb andauernd ein schlechtes Gefühl. Ich konnte mich eh kaum daran erinnern, was ich geschaut hatte. Die Medikamente machten alles nebelig.
Die Probleme mit dem Laden galten auch für das Handy, mein wichtigster Draht zur Außenwelt. Meine Familie holte sich täglich Updates über meinen Zustand. Weil mein Handy-Akku aber andauernd leer war (und ehrlich gesagt, fühlte ich mich oft auch zu schwach zum Telefonieren), begann Louis zweimal täglich in der Klinik anzurufen, morgens und abends. Er störte sicher damit den Betrieb, aber die Ärzte und Ärztinnen gaben Louis, der Amerikaner ist, in ihrem besten Englisch liebevoll und ausführlich die tagesaktuellen Neuigkeiten über mich preis. Als ich ins Koma gelegt wurde, weil es mir immer schlechter ging, riefen sie sogar von sich aus bei ihm an und informierten ihn. Die ganze Situation war schwierig für ihn, er konnte nichts machen, musste aus verschiedenen Gründen in Dänemark bleiben. Ohnehin hatte ich ihn gebeten, nicht zu kommen. Er war ebenfalls nicht geimpft und hätte sich auf der Reise oder im Krankenhaus anstecken können. Zudem haben wir in unserem neuen Haus eine sehr alte Katze, sie musste betreut werden, und bislang kannten wir durch die Pandemie niemanden, der das hätte übernehmen können.
Später erzählte Louis mir, er hätte sich große Sorgen um mich gemacht und hätte, gerade während ich im Koma lag, tagelang nur geweint, er hätte sich wie »ausgetreten« gefühlt – aus seinem eigenen Leben. Während meiner ganzen Zeit im Krankenhaus hätte er unentwegt Familie und Freunde per Anruf oder SMS über meinen Gesundheitszustand informiert. Wie sehr sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Krankenhaus um ihn und mich kümmerten, wurde besonders deutlich, als ich später hörte, wie ein Pfleger am zweiten Tag meines Komas Louis am Telefon vorgeschlagen hatte, zu mir zu sprechen. Louis hatte zugestimmt, und der Pfleger nahm mein Telefon an sich, Louis gab ihm die Zugangsdaten, und eine Facetime-Verbindung wurde hergestellt. So sah er mich da liegen und konnte seine Worte an mich richten. Er hat zu mir gesprochen. Mehrfach. Auch versuchte er meinen Sohn James, der in Wien lebt, nach Hamburg zu fliegen, um mich im Koma zu »besuchen«. Beides sollte mir helfen, durchzukommen, leben zu wollen. Sowohl Louis als auch der Pfleger waren sich sicher, die vertrauten Stimmen würden zu mir durchdringen. Interessanterweise tauchten beide, Louis und James, auf einmal in meinen wilden Träumen auf. Mein Bruder Brian telefonierte auch einmal mit James, als er gerade bei mir auf der Intensivstation war, und bat ihn, von mir ein Foto zu machen. Daher weiß ich, wie ich im Koma aussah. Brian sagte mir dazu, als es mir wieder besser ging: »Tot hast du ausgeschaut.« Dabei weinte er und erzählte, dass er für mich durchs Telefon gesungen hätte. »Half A Man« von Dean Lewis.
Als Louis mir diese Dinge nach meinem Aufwachen aus dem Koma per Facetime erzählte, brach er förmlich vor dem Bildschirm zusammen. Es war schwer auszuhalten. Dieser emotional ausgesprochen stabile Mann hatte seiner inneren Anspannung freien Lauf gelassen. Ich spürte seine tiefe Trauer darüber, wie leid es ihm tat, dass mir, seiner Liebsten, so etwas widerfahren musste. Ich spürte seine Hilflosigkeit in der Zeit des Wartens. Zum Glück hatte ich Freundinnen, die Louis tröstende Worte und Fotos schickten, auch von den Kerzen, die sie mir ins Fenster stellten.
Zurück zur Nacht. Trotz aller Schwäche war ich seltsamerweise so gut wie nie müde und bekam dann wie alle anderen Patienten und Patientinnen auf der Intensivstation eine Einschlafhilfe in Tablettenform. Sie half wenigstens etwas.
Ein typischer Abend, eine alltägliche Nacht sah wie folgt aus: Ab etwa zwanzig Uhr schaute ich unkonzentriert auf den Bildschirm. Gegen dreiundzwanzig Uhr wurde ich leicht müde und schlief ein. Erholt wachte ich auf, froh darüber, dass ich endlich gut und lange geschlafen hatte. Erst einmal ein geniales Gefühl, aber nur, um mit einem Blick auf die Uhr festzustellen, dass es kurz nach Mitternacht oder mit Glück auch mal drei Uhr morgens war. An ein Weiterschlafen war nicht mehr zu denken, ich konnte nur daliegen und die nächsten vielen Stunden die Decke anstarren.
Gefühlt hatte jede Nacht zwölf bis fünfzehn Stunden, obwohl es nur etwa sieben waren. Es sollte zur Tortur werden, vor allem nach dem Koma. Studien belegen, dass es Menschen gibt, die eindeutig weniger Schlaf als die meisten brauchen. Für sie wären acht Stunden Schlaf eher ungesund. Der Witz ist, dass diese »Wenig-Schlaf-Menschen« intelligenter sein sollen und mehr Sex haben! Na dann!
Zum Unwort des Jahres (2021 war es »Pushback«, das Zurückdrängen von Flüchtlingen an Grenzen) kam der persönliche Unsatz in der Zeit meiner Corona-Erkrankung: »Frau Henning, wollen wir auf die Bettkante?«
»Neeeeein«, hätte ich am liebsten jeden Tag geschrien. Wer stimmt schon freiwillig Bettkanten-Minuten zu, bei denen augenblicklich gefühlte Erstickungsgefahr besteht? Und wie ging das überhaupt? Erst einmal wurde das Kopfteil des Betts fast in die Senkrechte gefahren, ich saß dann automatisch aufrecht, fast gemütlich angelehnt, wobei bei mir der Atem schon merkbar beeinflusst war, als würde jemand fest von außen gegen den Brustkorb drücken. Es fehlten dann nur wenige Zentimeter zum freien Sitzen an der Bettkante. Die Beine mussten über die Kante gehängt werden, danach musste ich mir nur noch einen kleinen letzten Ruck geben, schon saß ich da. Auf der Bettkante. Mehrfach am Tag. Mit dem Dauerbegleiter: Kaltschweiß. Ich machte trotzdem mit, weil ich es musste, so wurde es mir andauernd gesagt. »Das ist Teil der Therapie, wir müssen Ihre Lunge beanspruchen.«
Mein Lieblingspfleger, ein drahtiger Mittdreißiger mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen, ein richtiger Norddeutscher, fuhr mir dabei einen kleinen Tisch zum Bett rüber, zum Abstützen der Ellenbogen, das hat geholfen, wodurch die Aktion aber nicht mehr in die Kategorie »freies Sitzen« passte! Wir machten trotzdem weiter. Er cremte in dieser Position meinen Rücken mit einer Eukalyptussalbe ein, sie war kühlend und wirkte zugleich aktivierend. Wurde sie einmassiert, fühlte sich das Atmen für einige wenige Minuten leichter an. Vorher hatte er mich gewaschen und ein sauberes Hemd bereitgelegt. Sogar meine Haare bürstete er und band sie auf dem Kopf mit einem Gummiband zusammen. Ich war ihm sehr dankbar, dass er es tat, denn ich hielt den Gedanken und das Gefühl kaum aus, mit nass geschwitzten Haaren im Bett zu liegen. Sie klebten nach dem Kaltschweiß am Nacken und waren schon lange nicht mehr gewaschen worden, mittlerweile waren es über zwei Wochen. Als ich später auf der Normalstation endlich duschen durfte, waren sechs Wochen rum! Sechs Wochen mit Katzenwäsche und muffeligen Strähnen. Meine Haarpracht (der Ausdruck ist vielleicht etwas übertrieben!) war so ekelig, dass ich sie durchgehend zusammenband. Auch nachts. Immerhin waren da aber noch alle Haare dran. Denn später sollte ich sie fast alle verlieren …
Einmal am Tag kamen zwei Physiotherapeuten für etwa zwanzig Minuten an mein Bett. Auch sie wollten jedes Mal, dass ich mich an die Bettkante setzte. Ich versuchte es, wirklich. Manchmal durfte ich sie auch wörtlich mit Füßen treten und mit Händen nach ihnen schlagen. Oder meine Arme wurden in Kreisbewegungen über den Oberkörper herumgeführt. Das war angenehm, dabei konnte ich ja liegen bleiben. Ich fragte mich aber, ob so wenig Betätigung überhaupt etwas brachte. Vielleicht schon. Einmal massierte mir eine Physiotherapeutin den Bauch, mit dem Resultat, dass alles zu rumoren begann. Das war grenzwertig, weil ich gerade das tägliche »Stuhlgangserleichterungspulver« aufgelöst getrunken hatte. Ich hielt die Luft an, damit das Unterfangen nicht wörtlich in die Hose ging, na ja, in die Windelhose, die ich trug.
»Entspannen Sie sich, Frau Henning«, sagte die Therapeutin, die raspelkurze graue Haare hatte.
Wie lustig! Schließlich brach ich vorzeitig die Massage ab, nachdem sie auf mein deutliches Unbehagen fortwährend nicht reagierte. Das zum Thema Körpersprache.
Immer mehr war ich die nervöse, schroffe Patientin, die ihre Selbstbestimmung nicht aufgeben wollte und bestimmte Dinge deutlich ablehnte.
Eine kleine Abwechslung gab es, wenn Personen mit einem riesigen Gerät ins Zimmer rollten, um Röntgenbilder von meiner Lunge zu machen. Das geschah zum Glück nur zwei- oder dreimal. Diese Klinikmitarbeiter waren rigoros und korrigierten das Kopfteil des Betts ungefragt, platzierten mich grob für die Aufnahme und stießen dabei einiges auf dem Nachttisch um. Sie merkten absolut nicht, wie unsensibel sie gerade mit mir, der Patientin, umgingen. Auch unter dem Personal herrschte darüber Einigkeit, dass mehr Empathie angebracht wäre.
»Einige Menschen haben wohl nicht ohne Grund einen Beruf gewählt, wo sie lieber mit Maschinen als mit Menschen arbeiten«, witzelte mein Lieblingspfleger. Ich sah ihm an, dass es ihm leidtat, wie sie mit mir umgingen. Mir half es, dass er auf meiner Seite war.
Die Tage verliefen auf der Intensivstation ansonsten ziemlich eintönig. Morgens begann der Stress mit waschen, auf der Bettkante sitzen und dem kleinen Frühstück im Sitzen. Nahezu atemlos musste ich essen und trinken. Danach: Blutproben, Atemmasken tragen, zu Mittag essen, auf das Abendbrot warten und die Dunkelheit draußen, im Wissen, dass irgendwann eine lange Nacht beginnen würde. Manchmal kam eine Infektion dazu, die mit Antibiotika behandelt wurde. Oder es fehlten Vitamine und Mineralien, wie Blutproben zeigten, dann gab es einen »Schuss« mit entsprechendem Inhalt, oder die »Goodies« wurden in meine Blutbahn durch den gelegten Zugang eingetröpfelt.
Bevor ich ins Koma gelegt wurde, wurde ich immer wieder aufgefordert, mich auf die Seite oder den Bauch zu legen. Gerade Letzteres, die Bauchlage, war für mich fast ein Ding der Unmöglichkeit, da mein Rücken, mein Nacken, ja, gefühlt mein ganzes Skelett in der Position so »aneckte«, dass keine Entspannung möglich war. Auf der Seite zu liegen war erträglicher, so schlief ich zu Hause jede Nacht. Während der COVID-19-Erkrankung war meine Atmung jedoch, besonders wenn ich auf der linken Seite lag, sehr beschwerlich. Ich blieb deshalb am liebsten auf dem Rücken liegen.
So langsam verbesserten sich in dieser Zeit meine Werte, es ging bergauf. Ich war erleichtert, ich würde es bald geschafft haben. Dann aber, nach zwei Wochen, veränderte sich etwas.
Mehrfach täglich bekam ich eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht gelegt, um so leichter zu atmen. Sie wurde an beiden Seiten fest zugezogen, sodass Nase und Mund komplett »eingesperrt« waren. Für mich wurde es dadurch aber nur schwerer mit dem Atmen. Ein einziges Mal ging es gut, ich entspannte mich und spürte, wie wohltuend es war. Alle anderen Male atmete ich nicht mit dieser Maske, sondern gegen sie an. Vorgesehen waren fünfundvierzig Minuten bis zu einer Stunde, drei- bis viermal am Tag. Immerhin: Meine Sauerstoffwerte verbesserten sich. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie das möglich war, denn ich musste mich durch diese Dreiviertelstunde förmlich kämpfen.
Kam jemand durch die Tür und fragte: »Frau Henning, wollen wir wieder die Maske aufsetzen?«, reagierte mein ganzer Körper mit Ablehnung. Und ein zweiter Unsatz war gebildet, denn eigentlich war gemeint: »Maske aufsetzen, Frau Henning!« Irgendwann gab es Abhilfe, indem ich nämlich jedes Mal vor der Maskentherapie zur Beruhigung Morphium in meinen Zugang gespritzt bekam. Ich mochte es nicht, wenn das Medikament »zuschlug«, denn es löste einen sofortigen Schwindel im Kopf aus wie kurz vor einer Narkose. Danach wurde zwar alles im Körper ruhiger, aber die Angst war, unter der aufgesetzten Maske, immer noch da. Ich hechelte nach Luft.
Apropos Maske! In meinem Beruf geht es immer wieder darum, »die Maske abzunehmen«, die viele von uns tragen. Mir ist es ein Anliegen, die Menschen dazu aufzufordern, ihre psychologischen Schutzmasken loszuwerden. Wir verstecken uns hinter ihnen, unsere Ansichten, unsere Meinungen, Empfindungen und Sehnsüchte. Wir tun so, als wäre alles immer in Ordnung, und zeigen kaum, wie es wirklich um uns steht. Meist rührt dieses Verhalten aus unserer Kindheit. Wir lernten, dass es wehtut, wenn wir zeigen, wer wir sind. So müssen viele Erwachsene erst entdecken, dass es einen Mehrwert für sie bringen kann, wenn die Maske »fällt«. Ich stelle fest: Masken sind zum Runternehmen da! Ha!
Spaß beiseite! Denn auf einmal wurde das Sitzen fast unmöglich, das Drehen auf die Seiten auch. Ich spürte, wie meine Kräfte schwanden, und wechselte meine Position nur durch das Hoch- und Runterfahren des Bettkopfteils oder indem ich die Beine aufstellte und dann wieder ausstreckte.
Die bekümmerten Gesichter vor mir gaben mir den Rest. Mein Lieblingspfleger sagte: »Frau Henning, Sie müssen schon mitmachen. Wir müssen Ihre Lunge beanspruchen, sonst können wir kaum noch etwas für Sie tun. Unsere Möglichkeiten sind bald ausgeschöpft.«
Ende der Leseprobe