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Alle scheinen alles über Sex zu wissen, und dennoch hat nicht jeder den Sex, der ihn glücklich macht. In unserer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft sind die wahren Tabus das Schweigen, die Unsicherheiten und die Wissenslücken in unseren privaten Beziehungen. Ann-Marlene Henning hat es mit ihren beiden Ratgebern, ihrer TV-Sendung, vor allem aber mit der Arbeit in ihrer Praxis geschafft, diese Tabus zu durchbrechen: explizit, ohne pornographisch zu sein; empathisch, ohne aufdringlich zu wirken; manchmal witzig, niemals peinlich. In ihrem Buch tauchen wir mit der Sexologin in ihre Arbeit ein, in die «typischen» sexuellen Probleme und Defizite unterschiedlicher Paare zwischen 20 und 100, deren Ursachen oft vielschichtig sind.
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Seitenzahl: 360
Ann-Marlene Henning
Liebespraxis
Eine Sexologin erzählt
Ihr Verlagsname
Alle scheinen alles über Sex zu wissen, und dennoch hat nicht jeder den Sex, der ihn glücklich macht. In unserer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft sind die wahren Tabus das Schweigen, die Unsicherheiten und die Wissenslücken in unseren privaten Beziehungen.
Ann-Marlene Henning wurde 1964 in Viborg geboren und studierte in Hamburg Neuropsychologie und in Dänemark Sexologie, ein Fach, das an skandinavischen Universitäten angeboten wird. Anschließend führte sie diese Ausbildung in der Schweiz mit dem Sexocorporel-Konzept fort. Sie bietet heute als niedergelassene Psychotherapeutin in ihrer Praxis in Hamburg Paar- und Sexualtherapie an.
Vor einiger Zeit habe ich im Rahmen einer Fortbildungswoche für Kieferorthopäden auf Sylt einen Vortrag über Sexualität gehalten. Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Was bitte hat Kieferorthopädie mit Sex zu tun? Eine ganze Menge! Denn der Beckenboden, der das Geschlecht umschließt und für guten Sex unentbehrlich ist, arbeitet eng mit dem Kiefer zusammen. Beide sind Teil des Angriffs- und Fluchtsystems des Menschen. Und wenn jemand verbissen ist oder «sich durchbeißen» muss, ist es wahrscheinlich, dass er auch unten zusammenkneift. Genau deswegen macht uns ein gutes Sexleben so viel entspannter – auch im Job!
Bei blauem Himmel und herrlich sommerlichen Temperaturen traf ich auf der Nordseeinsel ein – genau in der Mittagspause. Die Teilnehmer der Fortbildung speisten gerade gut gelaunt auf der großen Terrasse des Tagungshotels, blinzelten mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne oder genossen im Strandkorb auf meerblau gestreiften Kissen «den Kaffee danach». Und an den kleinen Stehtischen wurde fröhlich geplaudert. Als ich meinen Teller beladen hatte und mich an einem der Tische dazwischenklemmte, verstummte das Gespräch plötzlich: «Die Sexologin» war eingetroffen. Da war es, das gewisse Prickeln: «Oh, jetzt geht es um Sex!»
Die Woche verlief insgesamt gut, ich konnte meine Themen unterbringen, und die vier Vorträge, die ich gehalten hatte, waren gut besucht gewesen. Am ersten Tag hatte ich alle Tagungsteilnehmer gebeten, mit dem Handy von ihrem Sitznachbarn ein Ganzkörperporträt zu machen. Wie sieht euer Körper aus? Wie steht ihr? Es ging um Zentrierung und darum, mit sich im Lot zu sein. Für den letzten Vortrag hatte ich mir nun vorgenommen, dass wir ihn alle stehend und in Bewegung beenden würden – ich wollte, dass wir gemeinsam sangen und erotisch tanzten. Aber würden die Damen und Herren Kieferorthopäden da mitmachen?
Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen: Keine zehn Sekunden nachdem das Playback eingesetzt hatte, stand die ganze Truppe. Die Teilnehmer warfen ihre Blazer und Pullover über die Stuhlrücken, schaukelten genüsslich mit dem Becken und sangen mit mir «Ich hab Sex-Appeal» (ein Georg-Danzer-Song). Siebenunddreißig singende und schunkelnde Kieferorthopäden und Zahnärzte auf einem Kongress auf Sylt, eine wahre Ohren- und Augenfreude!
Zu sehen, wie viel Spaß und positive Energie Sexualität freisetzen kann, ist für mich immer wieder schön. Oft beginnt es mit einem kichernden Vergnügen, doch kurze Zeit später lacht es meist tief aus dem Becken, das gut durchblutet und pures Leben ist. Diese Freude versuche ich ins Fernsehen zu tragen, wenn ich in einer Talkshow Stoßtechniken und vorführe, und in meinen Film-Blog, in dem ich schon mal in Socken auf dem Tisch sitze und erkläre: «Ich habe heute Menopause» – und in die tägliche Arbeit in meiner Praxis. Die Menschen kommen zu mir, weil sie ihre Probleme lösen wollen, weil sie lernen wollen, über ihre Lust zu sprechen, oder weil sie neue Energie in den Sex und die Beziehung bringen wollen. Fast jeder meiner Klienten ist überrascht, wie viel noch möglich ist.
Geht es dabei auch um Liebe? Grundsätzlich: Ja. Ich spreche beim Thema Sex gern von «Liebespraxis», weil Liebe für mich erst dann Relevanz bekommt, wenn sie auch praktisch gelebt und nicht nur darüber geredet wird. «Praxis» ist ein Wort griechischen Ursprungs und bedeutet unter anderem Tat, Handlung, aber auch Durchführung, Vollendung und Förderung. Es ist also ein Wort, das zum Sex passt, weil er eine unsere wichtigsten Praktiken ist, um Liebe und Beziehung in die Tat umzusetzen.
Leider trauen sich viele Menschen nicht, über ihre Liebespraxis zu sprechen, ob mit einer Therapeutin oder mit ihrem Partner. Mir scheint, wir leben immer noch (oder wieder?) in einer sehr verklemmten Gesellschaft. Letztes Jahr schrieb mir ein Pastor, dass er das Thema «Verantwortliches Handeln in Bezug auf Liebe und Partnerschaft» im Religionsunterricht einer neunten Gymnasialklasse behandelt hatte. Er wurde daraufhin mit sofortiger Wirkung vom Unterricht suspendiert. Dazu bedurfte es keiner Nacktbilder, einige Bibelstellen aus dem Hohelied der Liebe und das Gedicht «Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund» von François Villon hatten gereicht.
Ich selbst habe etwas Ähnliches erlebt: 2013 flatterte mir eine Vorladung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Bonn ins Haus. Es sollte verhandelt werden, ob mein erstes Buch MAKE LOVE – ein Aufklärungsbuch für Jugendliche gefährdende Inhalte verbreite. Inzwischen habe ich zum Glück Brief und Adlerstempel darauf, dass dies nicht der Fall ist. Absurd: Das Buch war zur gleichen Zeit für den Jugendliteraturpreis nominiert.
Aber auch meine ZDF-Sendungen und die dazugehörige Website sind staatlich reglementiert – sie dürfen erst ab 22:00 Uhr im vollen Umfang gezeigt bzw. besucht werden. Anscheinend ist es leichter, Pornographie oder Gewalt im Fernsehen unterzubringen als tatsächliche Informationen über Sex.
Diese Hemmungen und Blockaden, wenn es ums Thema Sex geht, erlebe ich auch in meiner Praxis. Zwar sind die Medien voll von sexuellen Botschaften, in der Werbung ist der Sex omnipräsent, nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen? – haben sich die Menschen noch nicht an einen ungezwungenen Umgang mit dem Thema gewöhnt. Viele Menschen schämen sich. Und manche so sehr, dass es mich an vergangene Jahrhunderte erinnert – wenn zum Beispiel Klienten in meiner Praxis davon erzählen, wie unwohl sie sich in ihrem Körper und mit ihrer Lust fühlen. Einzig kleine Kinder leben ihre Lust entspannt und natürlich. Und genau das ist für mich auch die Krux. Sexuelle Dinge werden früh im Leben eines Menschen angelegt und bilden sich im Laufe der Jahre immer weiter. Es ist mir daher ein großes Anliegen, für etwas Entspannung in diesem Bereich zu sorgen. Gleich von Anfang an. Es geht um Aufklärung auf der ganzen Linie. Wenn Eltern entspannt sind, können sie auch entspannt mit der sexuellen Neugierde ihrer Sprösslinge umgehen.
In Skandinavien ist, so scheint mir, der Umgang mit Sex weniger verklemmt. Als Dänin wuchs ich quasi «nebenbei» mit dem Thema auf. Gegenüber unserer Schule war ein Kiosk. Wollten wir uns Eis kaufen, mussten wir an einem Porno-Automaten vorbei, der sich gleich rechts neben dem Eingang befand. Ein rechteckiger Kasten mit lauter quadratischen Glasfächern; man steckte Geld in den Schlitz, machte eine Klappe auf und zog ein Heft heraus. Wir taten das nie, dafür hatten wir kein Geld, aber die locker zusammengerollten Hefte in den Fächern ließen manchmal einen direkten Blick in den Schritt oder auf einen Blowjob zu, je nachdem, wie der Zubringer das Heft hineingelegt hatte. Wir fanden nichts Besonderes dabei, es war uns gleichgültig. Geschadet hat es mir nicht. Und verboten war es auch nicht. Pornographie war in Schrift und Bild in Dänemark Ende der sechziger Jahre freigegeben worden, dieses kleine Land war damit das erste auf der Welt.
Mit diesem Buch möchte ich Ihnen einen Eindruck vermitteln, was es heißt, Sexologin zu sein, und meine Arbeit mit meinen Klienten vorstellen. Ich bin überzeugt: Die Probleme, Wünsche und Sehnsüchte, mit denen sie zu mir kommen, sind vielen Menschen vertraut. Ich möchte mit einer Sprache über Sexualität sprechen – ob für Jung oder Alt –, nämlich entspannt und fachlich, mit einer Prise Humor. Und ich hoffe, Sie mit diesem Buch nicht nur für das Thema Sex zu begeistern, sondern Ihnen auch Wege aufzeigen zu können, in Ihrem Sexleben den nächsten Schritt zu gehen. (Keine Sorge: Alle vorkommenden Personen wurden so verfremdet, dass sich nicht mal Betroffene selbst erkennen werden.)
Wer nicht über Sex reden möchte, muss nicht! Wer Probleme hat, möchte aber manchmal. Denn Sexualität ist uns allen angeboren. Und diese Vorstellung verunsichert viele Menschen. Müsste es dann nicht von selbst laufen im Bett? Und wenn es bei mir gerade nicht so gut klappt, stimmt dann womöglich grundsätzlich etwas nicht mit mir? Das ist höchst selten der Fall, wie dieses Buch hoffentlich zeigen wird. Das Schöne ist: Jeder kann dazulernen – ein Leben lang, das hat die Gehirnforschung gezeigt. Und: Miteinander reden hilft dabei.
Fast alle meine Klienten sind körperlich und geistig gesund. Auch wenn sie selbst davon überzeugt sind, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimmt, sie völlig anders sind als andere und oftmals Diagnosen von Ärzten erhalten haben, die dies zu bestätigen scheinen. Nach dem Erstgespräch verlassen sie die Praxis jedoch meist mit dem Wissen und der Vorfreude darauf, dass sie über sich dazulernen werden – und mit dem Gefühl, so normal wie jeder andere zu sein. Mit ihrem Körper ist alles in Ordnung. Falsch sind die Vorstellungen in ihren Köpfen.
Ein Beispiel: Eine junge Frau, die keine Orgasmen erlebte, fragte mich einmal, ob man überhaupt etwas dagegen machen könne, wenn man nicht kommen würde. Der Fehler bei ihr sei wohl angeboren. Alternativ schlug sie als Ursache vor, sich als begeisterte Reiterin in ihrer Kindheit «etwas kaputt geritten zu haben».
Vorweg: Keine Frau reitet ihre Fähigkeit, Orgasmen zu bekommen, auf einem Pferd «kaputt». Im Gegenteil. Beim Reiten kommt das Geschlecht durch die Beckenbewegungen in Wallung, wird gut durchblutet, und im Gehirn werden Synapsenwege ausgebaut, die auch beim Sex geschaltet werden.
Dennoch: Frauen, die bislang nicht gelernt haben, einen Höhepunkt zu haben, sind oft schier verzweifelt. Sie berichten, dass sie deshalb verlassen wurden oder keinen Partner mehr finden, weil ihnen «das gewisse Etwas» fehle. Viele Männer und Frauen sind der festen Überzeugung, dass es leicht und normal sei, einen Orgasmus zu bekommen.
Eine Frau, die nicht kommt, wird daher nach wie vor gern als «frigide» abqualifiziert, sie ist wie eine defekte Uhr, die dann jahrelang in eine dunkle Schublade gelegt wird. Dabei könnte der Uhrmacher sie ganz einfach wieder zum Ticken bringen.
Der Begriff «frigide» steht für «Geschlechtskälte». Der Ausdruck ist vor langer Zeit von Ärzten erfunden worden, die die weibliche Sexualität weder verstanden noch ergründen wollten. Ich benutze dieses Wort nie, es hat ausgedient. Was darunter genau zu verstehen ist, ist ohnehin unklar – die Fähigkeit, zum Orgasmus zu kommen, jedenfalls nicht. Ein Klient, der nur einmal in meiner Praxis war, sagte zu mir: «Meine Freundin kann nicht kommen, sie ist frigide.» Als ich genauer nachfragte, meinte er: «Na ja, sie kann schon kommen, wenn sie es sich selbst macht, aber beim Sex nie!» Ich wollte dann wissen, was er unter «Sex» verstehe, und er erklärte, ach ja, sie käme grundsätzlich beim Lecken oder Fingern, aber nie einfach so, beim Verkehr. Sie sei eben frigide. Aha, offenbar galten bei diesem Mann nur vaginale Orgasmen als «richtige» Orgasmen. Noch eine falsche Vorstellung. Nur ein kleiner Prozentsatz von Frauen kommt allein durch Penetration beim Geschlechtsverkehr. In der Vorstellung jenes Mannes würde das im Umkehrschluss bedeuten, dass ein großer Prozentsatz aller Frauen frigide wäre.
«Bei mir sind bisher alle Frauen gekommen», sagte er dann. Ob er wusste, dass 90 Prozent aller Frauen laut eigenen Angaben schon mindestens einmal einen Orgasmus vorgespielt haben? Besagter Mann hatte übrigens nie eine längere Beziehung gehabt – er wurde immer verlassen. Ich schlug ihm ganz unverblümt vor (ich konnte gar nicht anders), seine Vorstellungen in Bezug auf Frauen zu überdenken. Im Stillen fragte ich mich, ob er mit derart limitierenden Überzeugungen ein guter, das heißt empfindsamer Liebhaber sein konnte.
Mein Klient hatte immerhin einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht, als er die Praxis verließ – und kehrte natürlich nie wieder. Denn aus seiner Sicht war ja nicht er das Problem. Manchmal aber liegt die Verkrampftheit ganz woanders als vermutet!
Eigentlich vereinbare ich alle Termine in meiner Praxis per Mail, meine Assistentin Anika regelt die dazugehörigen Formalitäten. Viele Paare denken, dass sie mich vor dem ersten Treffen auf ihr Problem vorbereiten müssten, als bräuchten wir ein kleines Vorspiel. Je weniger ich allerdings weiß, desto unvoreingenommener und somit besser kann ich meine Anamnese beim Erstgespräch in der Praxis machen. Deswegen lasse ich die Hände vom Telefon.
Andrea, eine Klientin, die bald ihr erstes Gespräch mit mir haben sollte, rief kurz vor ihrem ersten Termin dennoch an, weil ihr etwas dazwischengekommen war. Aus Versehen hob ich ab, weil ich im selben Moment einen Anruf machen wollte.
«Ich bin Andrea Schulz», sagte sie. «Ich bin noch nie bei Ihnen gewesen, der Ersttermin ist erst nächste Woche, doch den muss ich leider schon absagen.» Ihre Stimme klang jung, dennoch hatte sie nach meiner Einschätzung die dreißig bereits überschritten. In ihrem Tonfall war Unsicherheit, aber nicht nur, manche Worte sprach sie so aus, als wäre sie es gewohnt, Anweisungen zu erteilen. Ich stellte sie mir als Mutter vor. Mütter müssen ihren Kindern dauernd etwas erklären, ihnen zu verstehen geben, was sie dürfen und was nicht. Andererseits sind sie nicht so bossy wie eine Managerin. «Hätten Sie noch einen anderen Termin frei?» Da ich wohl einen Tick zu lange geschwiegen hatte, fragte Andrea nach.
«Ja, klar», erwiderte ich. «Kommen Sie alleine oder mit Partner?» Ich fragte, um zu erfahren, ob ich eine Stunde oder neunzig Minuten eintragen sollte. In derselben Sekunde wurde mir klar, dass das Ganze lieber Anika hätte machen sollten.
Kurze Pause. Schließlich sagte Andrea mit leiserer Stimme: «Mit Holger.»
«Holger ist Ihr Mann?»
«Ja, und der Vater unserer beiden Kinder. Wir wollen eine Paartherapie.» Da hatte ich gar nicht so falschgelegen: Andrea war Mutter, sogar zweifache Mutter. Und durch die Art, wie sie das Wort «Paartherapie» aussprach, gewann ich den Eindruck, dass sie es sich mit Nachdruck angeeignet hatte. Was für mich bedeutete, dass sie nicht wirklich überzeugt war von dem, was sie gerade tat – nämlich den Anruf tätigen –, dass sie den Termin eigentlich lieber abgesagt hätte, als ihn zu verlegen, aber letztlich dann irgendwie doch nicht. Etwas trieb sie, den Weg einzuschlagen, den sie begonnen hatte.
«Würden Sie sich wieder per Mail melden», bat ich. «Meine Assistentin mag es nicht, wenn ich mich in Terminangelegenheiten einmische!» Ich lachte. «Sie hat mich gut erzogen. Außerdem haben wir dann alles schriftlich.»
Andrea entschuldigte sich auf der Stelle, obwohl sie gar nichts falsch gemacht hatte, während ich mir, und nicht gerade zum ersten Mal, versprach, das Praxistelefon nicht mehr anzufassen. Zugleich war ich gespannt, um welches Thema es sich bei diesem Paar handeln würde. Sexualität? Liebe? Oder vielleicht, wie so oft, beides?
Liebe und Sex: Die meisten denken, das gehört zusammen – nicht selten deshalb, weil sie sich weder mit dem einen noch mit dem anderen so richtig auseinandersetzen wollen. Das würde bedeuten, sich mehr mit der eigenen Person und dem eigenen Liebes- und Sexleben zu beschäftigen. Dies jedoch ist vielen nicht angenehm.
Lange war die Vorstellung weit verbreitet, dass vor allem Frauen, gleichsam ihrem Wesen nach, nicht in der Lage seien, Sex von Liebe zu trennen, Männer dagegen schon, was auch der Grund sei, warum sie häufiger fremdgingen. Das widerspricht jedoch den Fakten: Frauen gehen ebenfalls fremd – und zwar genauso oft. Zahlenmäßig gibt es keine prägnanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Es ist also ein selten dummes Klischee, wenn behauptet wird, dass Frauen nur Sex haben könnten, wenn auch Liebe im Spiel ist. Unzählige Male habe ich in meiner Praxis von Frauen gehört: «Würde mein Mann wenigstens einmal einfach nur Sex wollen! Ich möchte dieses ewige Ei-Ei nicht mehr, bei dem ich ei-ei-einschlafe.» Diese Frauen wünschen sich nichts weiter, als von dem Kerl endlich mal wieder rangenommen zu werden, dass er endlich mal was macht, endlich mal wieder mit ihr vögelt, sie will. Liebe hin oder her.
Pünktlich um neunzehn Uhr klingelten sie an der Eingangstür meiner Praxis: Andrea und Holger. Seltsamerweise hatte ich mir Andrea blond vorgestellt, doch ihr Haar hatte einen kastanienbraunen Farbton und legte sich in sanften Wellen um ihren Kopf. Ihr Gesicht war blass, das frische Rot auf den Wangen aufgepudert. Sie war schmal und mittelgroß. Holger war mit seinen blonden, kurzen Haaren auch nicht gerade der kernige Typ. Er war zwar weniger bleich als seine Frau, aber eindeutig spielte er mit seinen Kindern nicht so häufig im Freien, wie es manch andere Väter tun. Ich tippte auf IT-Branche. Im Alter hatte ich mich bei Andrea leicht verschätzt, sie war, den Falten nach zu urteilen, Ende dreißig, älter also, als sie am Telefon gewirkt hatte. Holger schätzte ich auf Mitte vierzig.
Ich bat die beiden einzutreten, was sie vorsichtig taten. Ein kurzer, schneller Blick durch den großen Raum, der sich vor ihnen öffnete. Die meisten Klienten bleiben erst einmal stehen, schauen sich um und drehen sich dabei auf der Stelle – gleichsam ein Sinnbild ihrer Situation. So auch bei Holger und Andrea. Ich las Erstaunen in ihren Gesichtern. Ein rotes Samtsofa und gemusterte Kissen hatten sie wohl nicht erwartet. Das große Bild dreier Frauen in einer sanften, sehr erotischen Bondage-Szene auch nicht. Im Raum verteilt hingen darüber hinaus Plakate zum Thema Beckenboden oder Gehirn, dazu gab es eine Wand voll mit Büchern – meine Bibliothek. Daneben der große Spiegel für die Körperübungen.
«Die rote Wand ist toll!», sagte Holger und zeigte Richtung Sofa, das vor einer weinroten Wand steht. Alle anderen sind in schlichtem Beige gestrichen.
«Wohnen Sie hier auch?», fragte Andrea.
Diese Frage überrascht mich jedes Mal. Zwar sieht es gemütlich und persönlich aus in meiner Praxis, aber es liegt ansonsten nichts Privates herum. Insgesamt wirkt es aufgeräumt und übersichtlich, aber anscheinend nicht wie in einer herkömmlichen Praxis.
«Ich möchte eine warme Atmosphäre, damit wir uns wohl fühlen», erklärte ich. «Schließlich besprechen wir ja hier nicht Ihre nächste Einkaufsliste!» Obwohl – genau das tun wir manchmal, wenn es etwa um Gleitgel oder Kondome geht, da wird schon mal das eine oder andere mitgeschrieben.
«Nehmen Sie Platz», bat ich. Die zwei identischen lilafarbenen Sessel luden Holger und Andrea förmlich dazu ein, sich zu setzen. Das Paar blieb aber vor mir stehen, beide sahen mich fragend an, ganz synchron, registrierte ich. Ich begann zu überlegen, ob ich wohl ein symbiotisches Paar vor mir hatte.
«Sie können sich hinsetzen, wo Sie wollen», fügte ich hinzu.
Dennoch fragte Holger: «Wo ist denn Ihr Lieblingsplatz, Frau Henning?»
Ich lächelte. Das fragen mich viele. «Alle Plätze sind für mich in Ordnung», sagte ich.
Nun musste dieses etwas unentschlossene Paar eine Entscheidung treffen. Wie ich es erwartet hatte, fragte Holger, zuvorkommend wie der perfekte Kavalier, nun Andrea: «Liebling, wo möchtest du denn sitzen?»
Andrea antwortete sofort: «Und du, Schatz?» Nachdem sie mich kurz angeschaut hatte, fügte sie strahlend hinzu: «Lass uns das Sofa nehmen, das findest du doch am besten, oder?»
Ich schmunzelte, Andrea hatte längst gespürt, wo ihr Partner gerne sitzen würde – ganz ohne Worte.
«Natürlich.» Holger strahlte zurück. Mir wurde schon ganz heiß von all dem Strahlen.
Nicht selten sagt die Platzwahl eines Paares bei der Erstsitzung bereits einiges aus. Sie gibt mir Gelegenheit, erste vorsichtige Vermutungen anzustellen: Harmonieren die beiden, setzen sie sich nah zueinander? Oder streben sie weit auseinander? Lässt sich der Mann etwa sofort aufs Sofa oder in einen der Sessel fallen, ohne zuvor Augenkontakt zu seiner Partnerin aufzunehmen – verzieht sie dann ihr Gesicht? Hätte sie es gern mehr gentlemanlike gehabt, so wie sie es aus den alten Hollywoodfilmen mit Rock Hudson oder Robert Redford kennt? Dann hätte ihr Partner sich erst setzen sollen, wenn sie sich selbst für eine Sitzgelegenheit entschieden hat. (Und wenn sie später zur Toilette geht, soll er sich bitte bei ihrer Rückkehr höflich erheben. Hat er aber nicht. Und jetzt?) Vielleicht findet sie es aber auch genau richtig, wenn er auf sie keine Rücksicht nimmt. Soll er doch, sie ist eh wütend auf ihn.
Oder: Beide stehen ratlos da, zögern, gelangen zu keiner Entscheidung, warten auf Anweisungen, weil sie partout nichts falsch machen möchten. War das im Bett bei den beiden auch so? Ich tippte auf ja. Wenn jeder fürchtet, der andere könnte etwas nicht mögen, traut sich keiner, etwas Neues zu versuchen – man würde sich womöglich aufs Glatteis begeben. Und das tun manche eben schon, wenn sie den Platz auswählen sollen, der ihnen am besten gefällt. Andere überspielen ihre Überforderung mit Flapsigkeit: «Na, dann setze ich mich eben hin, ist ja eigentlich egal, wo.»
All das sind nur Eindrücke, die ich später verifizieren muss. Dennoch können gerade sie oft wichtige Hinweise über das Sex- und Liebesleben eines Paares liefern!
Holger und Andrea wirkten weder sehr entschlossen noch überaus unentschlossen. Sie schienen auf eine spezielle Art emotional voneinander abhängig zu sein, und ich würde aufpassen müssen, dass ich diese Abhängigkeit durch mein Vorgehen nicht bestärkte. Ich wollte die beiden als eigenständige Personen betrachten. Nur so würde es mir möglich sein, ihnen bestimmte Vorgänge aufzuzeigen, die ihnen selbst vielleicht nicht bewusst waren.
Andrea hatte für beide die Entscheidung getroffen, auf der Couch Platz zu nehmen. Nachdem sie sich gesetzt hatten, konnte ich beobachten, wie Holger seine Hand in die von Andrea legte. Eine Geste der Beruhigung, die Andrea beantwortete, indem sie seine Hand kurz drückte.
Man hätte denken können: Ein liebendes Paar, das füreinander da ist. Man konnte aber auch denken: Das ist ein Paar, das sich aneinander festhalten muss. Das eine muss das andere nicht ausschließen. Wichtig war jedoch, dass Holger und Andrea in einen Modus kamen, in dem sie ihre Entscheidungen unabhängig von ihrem Partner trafen, ohne Angst davor, den anderen zu enttäuschen.
Die beiden machten sich gerade darüber Gedanken, wer von ihnen wohl zuerst etwas sagen müsste. Hinter ihren Stirnen arbeitete es, bei Holger konnte ich sogar kleine Schweißperlen entdecken. Andrea knetete jetzt seine Hand.
«Schön, dass Sie da sind», sagte ich. «Sie empfinden dies sicherlich als eine ungewöhnliche Situation. Ich bin ja eine Fremde für Sie …»
Holger und Andrea nickten dankbar.
«Also, was möchten Sie loswerden?»
Holger drehte sich zu seiner Frau. «Willst du anfangen?», fragte er, formvollendet und zuvorkommend.
«Nein», erwiderte Andrea, die plötzlich leiser wurde. «Beginn du lieber.»
Würden Sie sich trauen, in meiner Gegenwart offen und ehrlich zu reden? Würden Sie in der Lage sein, etwas zu sagen, was den anderen womöglich verletzte? Ohne ihn durch körperliche Berührungen zu bestätigen? Symbiotische Paare haben nämlich ein großes Problem: Demonstriert einer der beiden Unabhängigkeit, zum Beispiel indem er eine Meinung vertritt, die der andere womöglich nicht teilt, wird dieser unsicher. Ihn beschleicht das mulmige Gefühl, dass sein Partner die gemeinsame Nähe verlassen, aus der Beziehung ausscheren könnte. Angst und Besorgnis spielen hier eine große Rolle. Auf das Gefühl der Angst werde ich noch häufiger zurückkommen, sie ist entscheidend in unserem Liebes- und Sexleben. So viel vorab: Finden Sie jemanden sexy, der andauernd Angst hat, Sie könnten ihn verlassen?
Je länger ich die beiden beobachtete, desto klarer wurde mein Gefühl, dass mir auf dem Sofa ein symbiotisches Paar gegenübersaß. Doch das behielt ich erst mal für mich. Mein Konzept ist es, immer zwei Schritte hinter den Klienten zu sein, sie sollen mir sagen, wo der Schuh drückt. Auf diese Weise bin ich mit ihnen auf Augenhöhe.
«Wir haben fast keinen Sex mehr», sagte Holger schließlich wie mechanisch, und Andrea nickte dazu. Holger war aber anzumerken, dass er noch etwas hinzufügen wollte – deswegen schwieg ich. Er sprach dann auch tatsächlich weiter, wobei er sehr vorsichtig in seiner Ausdrucksweise war: «Wir haben beide keine Lust.»
«Und was heißt bei Ihnen: Wir haben fast keinen Sex mehr?», fragte ich nach.
«Wir schlafen höchsten ein-, zweimal im Jahr miteinander.»
«Wie lange geht das schon so?»
Holger blickte zu Andrea: «Nachdem die Kinder auf der Welt waren, oder? Was würdest du sagen?»
Andrea nickte abermals: «Ja, nachdem Stella geboren wurde. Von da an wurde es immer weniger.»
«Wie alt ist Stella?», fragte ich.
«Im Sommer wird sie acht.» Auf ihren Gesichtern breitete sich Überraschung aus, als würden sie es selbst kaum glauben wollen.
«Eine lange Zeit», kommentierte ich ihre Mienen. «Das ist aber nichts Ungewöhnliches», beruhigte ich sie. «Das passiert bei längeren Partnerschaften.»
Zu Beginn einer Partnerschaft, wenn man verliebt ist, schüttet das Gehirn massenweise Sexual- und Glückshormone wie zum Beispiel Dopamin aus. Wir werden süchtig danach, fast wie bei einer Droge. Der Stoff, den wir unbedingt wollen, das ist der andere Körper, von ihm können wir gar nicht genug bekommen. Nur ist das kein Dauerzustand. Man könnte sagen: leider. Doch Sex nonstop ist auch nur bedingt entspannend. Ein Vergleich: Wer isst schon gerne jeden Tag Schnitzel, selbst wenn es das Lieblingsgericht ist?
«Aber wieso?», fragte Andrea.
«Es wird Ihnen wohl eine Menge dazwischengekommen sein», versuchte ich eine erste Erklärung.
«Dem kann ich nur beipflichten», fing Holger an. «Wir haben ein Haus mit einem großen Garten, der viel Zeit erfordert. Wir haben einen Langhaar-Collie, Kaninchen, zwei Kinder, die auch ihre Hobbys haben, ich muss mich um meine Mutter kümmern, die sich mit jedem anlegt, sogar mit Andrea ist sie zerstritten. Und Andreas Eltern wohnen 500 Kilometer entfernt, da müssen wir schon ab und zu hin, damit die Kinder Kontakt zu ihren Großeltern haben.» Holger holte kurz Luft, um durchzuatmen. Ich war mir sicher, dass er seine Aufzählung noch weiter vervollständigen könnte. Sicher ratterten ihm all diese Dinge durch den Kopf, wenn er nachts neben Andrea im Bett lag und sich fragte, warum sie eigentlich nicht mehr intim miteinander waren.
«Wann haben Sie Zeit für sich?», fragte ich.
Erstaunt blickten sie mich an, dann sagte Andrea: «Fast nie. Immer wird nur organisiert. Zum Glück sind wir meist einer Meinung, sodass wir uns wenigstens nicht streiten.»
Da war es wieder! Das Symbiotische. Manchmal fehlt Paaren etwas sehr Wichtiges, was es zum Sex braucht: Verlangen! Verlangen nach dem anderen, nach etwas, das so anders ist, dass es einen reizt. Damit Verlangen entstehen kann, braucht es ein Gegenüber, das zwar nicht komplett fremd ist, aber vielleicht doch ein bisschen. Denn dann kann man dieses Fremde erforschen, erkunden, der Abenteurer in einem ist gefordert. Die Neugierde erwacht. Wenn man verliebt ist, geschieht dies ganz natürlich, wie von selbst. Doch nach und nach lässt das Verlangen nach. Der Partner wird immer vertrauter. Das Fremde verschwindet – und mit ihm das Begehren. Am Ende steht ein Paar, das sich wie Geschwister oder gute Freunde fühlt. Und nicht wie leidenschaftlich Liebende.
Ich ertappte mich dabei, wie ich dachte: Würden sie doch bloß streiten, denn dann gäbe es zwischen ihnen eine größere Reibungsfläche. Aber Streit ist nicht das, was wir bei Paartherapien am Ende suchen.
Plötzlich sprach Holger im Flüsterton mit seiner Frau: «Darf ich es sagen … wir müssen es nicht … aber …»
Holger musste keine weitere Überzeugungsarbeit leisten, Andrea war sofort mit seinem Vorschlag einverstanden. «Natürlich. Wenn du es möchtest, kannst du es Frau Henning sagen.»
Ihr Mann schien besorgt, aber zugleich erleichtert. Ohne Scheu gab Holger kund: «Meine Frau kann nicht kommen. Da scheint was nicht in Ordnung zu sein.» Andrea schaute betreten zu Boden. «Auch mit früheren Partnern nicht», fügte Holger hinzu.
Sofort überlegte ich: Kann sie wirklich keinen Orgasmus kriegen? Oder … (Sie erinnern sich?) Ich nickte Andrea kurz zu und sagte ihr, dass ich sie gleich nach ihrer Sicht der Dinge fragen würde, vorher aber noch bei Holgers Äußerung bleiben wolle, er hatte das Thema schließlich auf den Tisch gebracht. Ich fragte Holger: «Warum war es Ihnen wichtig, mir das über Ihre Frau zu erzählen?»
«Es ist doch normal», erwiderte Holger.
«Was ist normal?», hakte ich nach, während ich darauf achtete, Andrea weiterhin im Blick zu haben. «Dass Frauen kommen können oder dass ein Mann für seine Frau spricht?»
Er war überrascht über meine Bemerkung und musste kurz nachdenken. Schließlich sagte er: «Es war nur lieb gemeint.»
«Das lasse ich mal so stehen», konstatierte ich. Holger schien gut auf seine Frau aufpassen zu wollen – sexy machte das weder ihn noch sie, fand ich.
«Weiß Ihre Frau, wie wichtig dieses Thema für Sie ist?»
Holger zögerte. «Ich möchte sie nicht verunsichern», sagte er dann.
«Ist Ihre Frau so schwach, dass Sie das nicht aushalten würde?»
Das war ein Vorstoß, um herauszufinden, ob mein Symbiose-Verdacht stimmte, und um beiden zu verdeutlichen, welche Bilder im Kopf sie voneinander hatten. Es war Holger anzusehen, dass ich einen Treffer gelandet hatte. Die Situation wurde klarer: Andrea fühlte sich unter Druck, ihr war wichtig, dass sie für ihren Mann einen Orgasmus bekam. Und er hatte ein schlechtes Gewissen, etwas von ihr zu wollen. Gleichzeitig wäre er natürlich gern ein so toller Liebhaber, dass er ihr einen Höhepunkt verschaffen konnte. Und weil dies alles sehr vertrackt war, vermieden beide das «Problemgespräch» dazu.
Meine Beobachtung formulierte ich wie folgt: «Ich denke, dass Sie ein sehr symbiotisches Paar sind und genaue Vorstellungen davon haben, wie Ihr Partner über dieses Thema denkt – Sie können einander gut lesen.» Beiden schauten erstaunt, als hätte ich ein Geheimnis verraten.
«Ja, wir sind uns von Anfang an sehr nahe gewesen», sagte Andrea, die zuerst die Sprache wiedergefunden hatte.
«Wir werden darüber noch reden, denn man kann einander auch zu nah sein», fuhr ich fort, während ich weiter auf Holger einging. «Ich möchte nochmals auf das Wort ‹normal› zurückkommen: Was ist für Sie beim Sex normal?»
«Dass Frauen kommen können.»
«Ist das wirklich normal?»
«Ist es das etwa nicht?»
Während Holger seine Sicherheit verlor, richtete sich Andrea auf und strich sich eine ihrer braunen Locken aus dem Gesicht. War ganz Ohr. Offenbar tat sich für sie gerade eine Möglichkeit auf, etwas von ihrer Last abzugeben. Sie sah aus, als hätte sie einen Powerriegel gegessen. Die Verwandlung ihres Körpers wollte ich nicht unkommentiert lassen: «Sie sehen verändert aus», sagte ich. Sie lächelte schüchtern. Immerhin wusste sie jetzt, dass ich sie nicht aus dem Blick verlor, auch wenn ich mich mit ihrem Mann beschäftigte. Meine Unterredung mit Holger war nämlich noch nicht beendet.
«Viele Frauen bekommen keinen Höhepunkt», sagte ich zu ihm.
Mein Gegenüber schaute mich ungläubig an, versuchte dann, vorsichtig zu widersprechen.
«Tja, ein paar Frauen werden es doch wohl hoffentlich können», sagte Holger mit leicht bissigem Unterton, während ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie Andrea schlagartig wieder an Körperspannung verlor.
Es war an der Zeit, sich ihr zuzuwenden. Sie gehörte für mich nicht zu den Frauen, die sich damit arrangiert hatten, keinen Orgasmus zu erleben. Von ihnen hatte ich einige in meiner Praxis gehabt. Sie gingen nach einer Weile entspannt damit um, sahen es nicht als Notwendigkeit an, den Höhepunkt zu erlangen, der Sex war auch ohne gut. Sie hatten für sich entschieden, dass ihnen letztlich nichts fehlte. Andrea war jedoch weit entfernt davon: Sie wollte gern kommen.
Ich wandte mich an sie: «Möchten Sie den Orgasmus als Geschenk für Ihren Mann, weil Sie wissen, wie wichtig es ihm ist? Oder für sich selbst?»
«Mir persönlich wäre es nicht so wichtig.» Andrea vertrat – immerhin – eine andere Meinung als ihr Mann, aber ich wollte sie trotzdem noch nicht in die Kategorie der «Glücklich ohne Orgasmus»-Frauen entlassen.
Ich nahm ihre Meinung zum Anlass, um bei Holger nachzufassen, denn er hatte eine deutliche Reaktion auf ihre Worte gezeigt.
«Ist es Ihnen besonders wichtig, dass Ihre Frau kommt?» Holger zögerte etwas.
«Ja, es ist mir besonders wichtig.» Seine Stimme hatte einen seltsam traurigen Unterton angenommen, und er fügte hinzu: «Aber sie will darüber nicht reden …»
Aha. Endlich traten seine Gefühle zum Vorschein. Andrea saß in sich gekehrt da, hatte die Haltung einer Schutzbedürftigen angenommen. Seine Empfindungen mussten noch deutlicher werden, deshalb fragte ich: «Sie können wahrscheinlich leicht kommen?»
Eindeutiges Nicken.
«Und aus diesem Grund glauben Sie, dass die meisten Frauen das auch können – nur eben Ihre nicht. Und Sie denken, wenn sie darüber nicht sprechen will, kann es für sie auch keine wirkliche Bedeutung haben.»
Holger schwieg, als kämpfte er innerlich mit sich. Ich hielt die Pause aufrecht.
«Ich würde gerne mit ihr darüber sprechen.» Mit diesen Worten drehte er sich langsam zu seiner Frau.
Andrea schaute ihn für einen Moment an, dann aber blickte sie wieder weg. Holger seufzte resigniert.
«Warum schauen Sie Ihren Mann nicht an?», fragte ich Andrea.
Eine Weile war es still im Raum, ich hörte, wie der Abendverkehr draußen vor den Fenstern meiner Praxis vorbeifloss. Andreas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, in denen von Holgers konnte ich kurz Genugtuung sehen, im Sinne von «na endlich». Dann jedoch wich dieses Empfinden einer Mischung aus Mitleid, schlechtem Gewissen und Bewunderung. Bewunderung dafür, dass sie ihr vermeintliches Versagen, das in diesem Raum so ehrlich verhandelt wurde, aushielt. Er machte Anstalten, Andrea beruhigen zu wollen, beugte sich zu ihr hinüber. Ich legte einen Finger an die Lippen und signalisierte ihm mit einem unhörbaren «Schhh», dass er noch warten solle.
Andrea sagte jetzt leise, als würde sie zu sich selbst sprechen, ihre Locken verdeckten nahezu ihr zartes Gesicht: «Es tut mir leid … Ich habe Angst, dich zu verlieren, wenn ich es nicht bald schaffe … ich weiß nur nicht, wie.» Sie schluckte. «Ich schäme mich so. Was, wenn es nie funktionieren wird, egal was ich anstelle?» Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Ich reichte ihr ein hübsch gemustertes Stoffetui mit Papiertaschentüchern, das Behältnis war ein Geschenk einer früheren Klientin, die während der Therapie auf dem Sofa sehr viele Tränen vergossen hatte. Andrea nahm eines heraus und weinte immer heftiger. Ihre Schultern bebten, mit ihren Händen knetete sie das Taschentuch. Holger litt mit seiner Frau, wollte ihr in irgendeiner Weise helfen – was er auch tat, indem er ihren Kummer aushielt und einfach seinen Arm um sie legte. Nach einer Weile küsste er sie sanft aufs Haar. Ohne Worte. Doch diese Geste reichte, damit sie sich langsam wieder beruhigte.
Ich sagte: «Frauen können lernen, zu einem Orgasmus zu kommen … Nur ganz selten gibt es Ursachen neurologischer Art, die einen Höhepunkt unmöglich machen. So selten, dass ich diesen Fall bei Ihnen auf keinen Fall in Betracht ziehen würde.» Anschließend wollte ich von Andrea wissen, ob sie sich selbst befriedige. Nach einigem Zögern gestand sie, dass sie einen gewissen Ekel davor empfinde. Es sei auch eher selten, dass sie «da unten» etwas spüre, und wenn, ignoriere sie es. Sie erzählte, dass Holger dazu übergangen sei, Pornos anzuschauen, und Sex mit sich selbst hätte. Als sie dies sagte, bekam ich das Gefühl, dass nun sie etwas Wichtiges zurückhielt, und schrieb dazu eine kleine Notiz in das Büchlein, in dem ich mir schon im Verlauf des Gesprächs einige Stichworte notiert hatte. Andrea sagte, sie sei sich sicher, dass Holger aus dem Grund Pornos schaue, weil sie ihn nicht mehr errege. In ihren Augen war dies auch der Grund dafür, dass es beim seltenen gemeinsamen Sex mit Holgers Erektion manchmal nicht so klappte. Andrea nahm also alle Schuld auf sich – und Holger widersprach nicht. Ich sagte ihnen, dass ich darauf zurückkommen würde, es war mir wichtig, dies nicht als Tatsache stehen zu lassen.
Damit war die erste Sitzung fast zu Ende – und das nächste Problem (Erektionsstörungen!) lag auf dem Tisch. Mir war bewusst, wie komplex Andreas und Holgers Geschichte war, das war aber nichts Außergewöhnliches. Immerhin hatten sie es geschafft, ihr Problem vor mir auszusprechen, wenn es auch einige Überwindung gekostet hatte.
Zum Abschluss der Stunde fragte ich, wie es den beiden gehe.
«Sehr gut. Erstaunlicherweise», antwortete Andrea ruhig und schaute diesmal nicht zur Absicherung ihren Mann an, sondern saß einfach nur da, den Blick auf mich gerichtet.
«Ich freue mich, dass wir endlich loslegen», sagte Holger, und die unterschwellige Ungeduld in seiner Stimme zeigte nicht nur mir, dass es ihm viel zu lang gedauert hatte, bis sie so weit waren. Andrea fing sofort wieder an, das zerknüllte weiße Papiertaschentuch in ihren Händen zu kneten; bis eben hatte es ganz locker in ihrem Schoß gelegen. Sie bemerkte, dass ich es registrierte. Meinen Impuls, dazu etwas zu sagen, unterdrückte ich – bis zum nächsten Mal!
Für die folgenden Sitzungen verabredeten wir, dass jeder von ihnen einzeln erscheinen solle. Durch diese Vereinbarung vermag jeder, alles zu sagen, was er möchte, ohne Rücksicht auf den anderen. Es gibt Paartherapeuten, die Paare nur im Kombi-Pack behandeln. Als Sexualtherapeutin aber stelle ich die Sexualität jedes Einzelnen ins Zentrum. Wer erzählt schon gern von seinem Masturbationsverhalten, von seinem ersten Sex oder von seinen geheimsten sexuellen Wünschen, wenn der andere danebensitzt und genau zuhört? Das kann alles später dazukommen, aber erst einmal ist hier eine natürliche Scham richtig am Platz.
2011 war ich zu einem Philosophischen Salon eingeladen, einer Veranstaltungsreihe, die der Philosoph Robert André moderierte. Sie fand in einem Spa-Resort in Travemünde statt. Das Thema lautete «Liebe und Selbstachtung». Ich war Ehrengast und saß auf dem roten Hotelsofa, vor mir ungefähr sechzig Zuhörer. Die erste Frage von Robert André lautete:
«Was ist denn für Sie, Frau Henning, die größte Gefahr für die Liebe?»
«Wenn Sie jetzt glauben», erwiderte ich, «dass Sie eine lange Antwort von mir bekommen, dann muss ich Sie enttäuschen. Meine Antwort fällt kurz und knapp aus: Es ist die Angst.»
Das Publikum wurde unruhig und begann zu tuscheln. Einige Stimmen wurden laut. Doch am Ende hatten alle verstanden: Ich meinte die Angst vor der Reaktion des anderen. Wer sich ganz zeigt, wie er ist – mit allem, was dazugehört –, kann auch leichter vom Partner abgelehnt werden, Er macht sich also verletzbar.
Ist Liebe durch Ängste gesteuert – und sie ist es allzu oft –, verändern sich Beziehungen. Menschen behalten Dinge, die eigentlich gesagt werden müssten, lieber für sich. Aus Sorge, anzuecken und abgelehnt zu werden, oder um den anderen nicht zu verletzen, wird geschwiegen. Denn Eigenständigkeit und Unabhängigkeit (auch schon in Form eigener Meinungen) gefährden die Symbiose – und das löst Unwohlsein aus. Zwei Menschen aber, die sich nicht aus sich herauswagen, sich nicht auf eigene Bedürfnisse konzentrieren, sondern lieber darauf achten, was der andere möchte, schweben zusammen wie in einer fragilen Seifenblase, die wunderschön aussieht, manchmal sogar kleine Regenbogen aufweist, sich aber bei jeder Erschütterung in Luft auflöst.
Als Kinder haben wir mit Seifenblasen gespielt – tagelang. Irgendwann haben wir herausgefunden, dass die größten und stabilsten Blasen entstanden, wenn man zur Produktion ein Gemisch aus Spülmittel und einem Löffel voll Zucker benutzte. Mit diesen speziellen Zuckerblasen konnte man sogar vorsichtig Ball spielen oder einen Finger in sie hineinstecken. Doch irgendwann zerplatzten auch diese – und der schillernde Schein war verschwunden.
Symbiotische Beziehungen sind solche, in denen Paare wie mit Zuckerguss aneinanderkleben. Das oberste Gebot: Einander bloß nicht verunsichern, sondern immer gegenseitig bestätigen! So dämmen sie ihre Angst vor Trennung und dem Alleinsein ein. Paare, die in derart engen Bindungen leben, bekommen Probleme, weil sie nicht mehr ausreichend zwischen sich und dem Partner differenzieren, sich nicht als zwei unterschiedliche Menschen wahrnehmen, sondern – entschuldigen Sie den Ausdruck – als einen Brei. Das hat eigentlich immer Auswirkung auf den Sex.
Das urtypische Bild der Symbiose – und auch das einzige, das wirklich Sinn macht – ist die Mutter mit ihrem Säugling auf dem Arm. Oder noch deutlicher: das ungeborene Kind im Bauch der Mutter. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Stirbt die Mutter, stirbt auch das Kind. Befindet sich ein Paar in einer symbiotischen Beziehung, hat es permanent mit archaischen Ängsten zu kämpfen, die jener frühkindlichen Zeit der Mutter-Kind-Bindung entstammen. Und wenn ich mit Paaren an der Unabhängigkeit der Partner arbeite (der Fachterminus dafür lautet Differenzierung, dazu später mehr), werden diese Ängste aktiviert. Das kann herausfordernd sein. Trotzdem bin ich hochgradig entschlossen, Symbiosen bei Erwachsenen, wie zum Beispiel bei Holger und Andrea, ein Stück weit aufzubrechen. Damit sie sich als individuelle, eigenständige Wesen mit eigenen Bedürfnissen, Sehnsüchten, Meinungen, Phantasien und, ja, auch Ängsten erleben können – ganz ohne Seifenblasen.
Viele Paare verwechseln die Liebe mit höflichem Benehmen. Mein Liebes-Knigge lautet etwas anders: Hören Sie auf, alles für sich zu behalten, und denken Sie nicht länger, dass Ihr Partner es nicht abkann, wenn Sie ihm bestimmte Dinge sagen. Lassen Sie es wichtig genug sein, um es zu sagen. Passen Sie nicht auf Ihren Partner wie auf ein kleines Kind auf. Die Elternrolle ist nicht sexy, wenn das unbeholfene Kind Ihr Partner ist. Trauen Sie sich!
Als ich weiter über Andrea und Holger nachdachte, fiel mir die Geschichte vom Teufel ein, die ich während meines ersten Sexologiestudiums gelesen hatte, verfasst vom dänischen Autor Tim Ray. Sie stand im Prolog zu einem Buch mit dem schönen Titel 101 Mythen über Beziehungen, die uns wahnsinnig machen. Ray beginnt damit, dass der Teufel in seinem kochend heißen Hauptquartier sitzt und auf seine Höllenwand starrt, von der ihm die frisch eingebrannten Worte entgegenleuchten: «Hauptziel: So viele Menschen wie möglich so unglücklich wie möglich für so lange wie möglich zu machen.» Er schaut auf die Worte und hat das Gefühl, dass er in eine Depression schlittert. Trotz seiner insistierenden Bemühungen, die Menschheit fertigzumachen, kann er nur konstatieren, dass seine Mission bislang erfolglos geblieben ist. Die Menschen wirken glücklich, schlendern auf der Erde herum, lieben sich und andere, fühlen sich zufrieden und im Reinen mit allem.
Der Teufel seufzt. Er weiß, dass er sich etwas einfallen lassen muss, sonst droht ihm eine Versetzung oder gar eine Kündigung. Er muss die Menschen dazu bringen, sich wirklich unglücklich zu fühlen.
Er gibt sich einen Ruck – und in diesem Moment seiner großen Not kommt ihm eine brillante Idee, ein wirklich genialer Einfall. «Eine Beziehung», so sagt er sich, «ist der direkte Weg in die Hölle.» Aufgeregt beginnt der Teufel, seinen üblen Plan schriftlich auszuarbeiten. Damit der Mensch in Beziehungen so richtig schön unglücklich wird, entscheidet er, muss er mit ihnen Unwahrheiten verbinden. Er notiert: «Die vier Lügen über Beziehungen. Lüge Nummer eins: ‹Die Liebe, die ich suche, ist außerhalb von mir selbst.›» Der Teufel hüpft auf seinem Höllenthron auf und ab, er sieht eine florierende Firma vor sich, die schon bald einen Börsengang hinlegen wird. Diese Geschäftsidee ist einfach genial. Um dem Ganzen noch mehr Nachdruck zu verleihen, formuliert er Lüge Nummer zwei: «Die Liebe, die ich suche, hängt von einer anderen Person ab.»
Nachdem der Teufel das festgehalten hat, ist er beeindruckt von seiner Kreativität, so sehr, dass er als Nächstes notiert: «Ich kann die Liebe, die ich suche, nur mit einer einzigen Person erleben.» Ein breites Grinsen überzieht des Teufels Antlitz. Vor seinen Augen flammen Internetkampagnen auf: «Die wahre Liebe» oder «Immer nur du». Sofort spürt er bis in den letzten Zeh, wie Millionen und Abermillionen Menschen sich verzehren, sich einsam fühlen, leiden werden, weil sich diese Sehnsucht, die in ihnen brodelt, nie erfüllen kann. Wenn die Liebe nur mit einer einzigen Person zu erfahren ist – wie finde ich sie? Und was ist, wenn diese gewisse Person mich nicht zurücklieben kann? Vielleicht sogar in einer anderen Beziehung lebt? Der Teufel lacht sich ins Fäustchen.