David Ben Gurion - Tom Segev - E-Book
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David Ben Gurion E-Book

Tom Segev

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Beschreibung

Die große Biographie des Staatsgründers David Ben Gurion

Er ist eine der großen politischen Gestalten des 20. Jahrhunderts: David Grün, geboren 1886 im Russischen Reich, der sich seit seiner Ankunft in Palästina 1906 Ben Gurion nannte. Schon früh engagierte er sich für den Zionismus und die Unabhängigkeit eines jüdischen Staates in Palästina. Als er 1948 schließlich den neuen Staat ausrief, setzte er die Interessen Israels um jeden Preis durch, nicht zuletzt auf Kosten der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der international renommierte Journalist und Bestsellerautor Tom Segev (»Die siebte Million«) widmet sich in seiner großen Biographie dem Leben und Wirken des Gründers des Staates, der aus Palästina hervorgegangen ist – und erzählt zugleich eine Weltgeschichte Israels im 20. Jahrhundert.

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Seitenzahl: 1478

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Das Buch

Er ist eine der großen politischen Gestalten des 20. Jahrhunderts: David Grün, geboren 1886 im Russischen Reich, der sich seit seiner Ankunft in Palästina 1906 Ben Gurion nannte. Schon früh engagierte er sich für den Zionismus und die Unabhängigkeit eines jüdischen Staates in Palästina. Als er 1948 schließlich den neuen Staat ausrief, setzte er die Interessen Israels um jeden Preis durch, nicht zuletzt auf Kosten der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der renommierte Journalist und Bestsellerautor Tom Segev widmet sich in seiner großen Biographie dem Leben und Wirken des Gründers des Staates, der aus Palästina hervorgegangen ist – und erzählt zugleich eine Weltgeschichte Israels im 20. Jahrhundert.

Der Autor

Tom Segev, geboren 1945 in Jerusalem, ist Historiker und einer der bekanntesten Journalisten Israels, dessen Bücher alle weltweit große Beachtung finden. In Deutschland wurde er durch sein Buch »Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung« (1995) bekannt. Für »Es war einmal ein Palästina« (2005) wurde er mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Siedler seine viel gerühmte Geschichte des Sechstagekrieges »1967. Israels zweite Geburt« (2007), »Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates« (2008) und »Simon Wiesenthal« (2010). Segev lebt in Jerusalem.

TOM SEGEV

DAVID BEN GURION

Ein Staat um jeden Preis

Aus dem Hebräischen vonRuth Achlama

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Meinen Enkeln Liya, Ben und Lior und ihren Eltern Shira und Itay

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Medina be col mehir: sipur hajav shel David Ben Gurion bei Keter, Jerusalem

Copyright © 2018 by Siedler Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg Umschlagabbildung: Ben Gurion © Ricarda Schwerin und Alfred Bernheim, 1963. Mit freundlicher Genehmigung des Israel-Museums, JerusalemLektorat und Satz: Peter Palm, BerlinISBN 978-3-641-15981-8V005www.siedler-verlag.de

INHALT

Vorwort

TEIL I DER WEG AN DIE MACHT

KAPITEL 1 Der Schwur

KAPITEL 2 Die Flammenrolle

KAPITEL 3 Vögel

KAPITEL 4 Fremdarbeit

KAPITEL 5 Sedschera

KAPITEL 6 Vertreibung

KAPITEL 7 Eine neue Welt

KAPITEL 8 Führungsstärke

KAPITEL 9 Skandale

KAPITEL 10 Einheit

KAPITEL 11 Gespräche

KAPITEL 12 Kriegsgefahren

KAPITEL 13 Zionistische Spannkraft

KAPITEL 14 Holocaust und Spaltung

TEIL II GRENZEN DER MACHT

KAPITEL 15 Landkarten

KAPITEL 16 Teilung

KAPITEL 17 Krieg

KAPITEL 18 Neue Israelis

KAPITEL 19 Ängste

KAPITEL 20 Peinliche Angelegenheit

KAPITEL 21 Die zweite Runde

KAPITEL 22 Ja zum Alten

KAPITEL 23 Lavon-Affäre

KAPITEL 24 Lebensabend

KAPITEL 25 Ein anderer Jude

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildteil

VORWORT

Ein Platz in der Geschichte

An einem Wintertag des Jahres 1940 fuhr David Ben Gurion hinab zum Hotel Kalya am Toten Meer, und dort, am tiefsten besiedelten Punkt der Erde, wälzte er die Frage, wie er wohl dargestellt sein würde in dem Buch, das ein Biograf einst über seine Lebensgeschichte schreiben würde. »Ich stelle mir vor, all unsere Leute sterben plötzlich einer nach dem anderen, sagen wir innerhalb eines halben oder ganzen Jahres«, schrieb er und zählte sie namentlich auf, die Mitbegründer des zionistischen Aufbauwerks im Land Israel, die damals alle noch lebten. Eines Tages würde »ein kluger und guter junger Pionier« ihre Lebensgeschichte erforschen, träumte er weiter. Er würde die Nachrufe und Biografien, Würdigungen und Erinnerungen lesen, die nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, und sehr bald erkennen, dass diese frühen Anführer »Schwächen, Fehler und Mängel« gehabt hatten und keineswegs »Dienstengel, Seraphim und Cherubim« gewesen waren. Ben Gurion fragte sich, ob der zukünftige Biograf vielleicht bedauern würde, nicht selbst in jenen Gründerzeiten des Staates Israel gelebt zu haben: Wie schön wäre es gewesen, wenn die Gründer schon zu Lebzeiten Anerkennung gefunden hätten, dachte er, aber würden sie sie wenigstens nach ihrem Hinscheiden erhalten?1 Er beschäftigte sich häufig mit dem Tod.

Wie viele andere Staatsmänner auch verwandte er viel Mühe auf die Gestaltung der historischen Erzählung seiner Epoche und seiner selbst. Beim zehnten Jubiläum des Staates Israel sah er im Geist einen Archäologen 3000 Jahre später Ausgrabungen auf dem Territorium des Landes vornehmen. Er fände vielleicht ein Buch von Jigael Jadin, der den erkrankten Generalstabschef Jaakow Dori von 1947 an im Feld ersetzte, und erführe daraus vom Sieg Israels im ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948/49. Aber er könnte auch Zeitungsfetzen aus Ägypten und Syrien, Jordanien und Irak freilegen, die ihm vom Sieg der Araber berichteten. Wem würde der Archäologe im Jahr 4958 Glauben schenken?, überlegte der Ministerpräsident.2

Ben Gurions Tagebücher, Aufsätze, Bücher, Briefe und Reden enthalten Millionen von Wörtern; fast täglich schrieb er mehrere Stunden lang. »Zuweilen staune ich selbst, dass ich so viel geschrieben habe«, bemerkte er einmal.3 Vieles zielte darauf, künftige Generationen für sich zu gewinnen, weshalb er auch versuchte, die Schriften anderer zu beeinflussen. Einmal mischte er sich ein, als das Verteidigungsministerium eine Publikation zum Unabhängigkeitskrieg vorbereitete. Ben Gurion wollte seine Bemühungen um die Waffenbeschaffung, die den Sieg erst ermöglicht hatte, hervorgehoben wissen. »Waffen fallen nicht vom Himmel«, erklärte er dem Autor. Über ein Buch von Militärs, die nicht zu seinen Verehrern zählten, schrieb er: »Die Herausgeber haben den Unabhängigkeitskrieg und den Tod von Tausenden Gefallenen entweiht.«4

Er las gern Biografien und versuchte, die Motive der Verfasser zu entschlüsseln: »Plutarch scheint Marius nicht gemocht zu haben«, schrieb er über ein Buch, das er in jenem Winter nach Kalya mitgenommen hatte, »er hat keine Mühe gescheut, ihn zu erniedrigen und zu schmähen, und doch konnte er dessen ehrwürdige Männlichkeit nicht verhehlen«.5 Gaius Marius war ein römischer Feldherr und Staatsmann, der Ben Gurions Interesse vor allem wegen der Widersprüche in seinem Wesen und der Höhen und Tiefen in seiner Karriere wecken konnte.

Zu Lebzeiten kooperierte Ben Gurion verschiedentlich mit Biografen, die ihn als Staatsgründer feierten. Aber es gab auch andere. Anfang 1967 entbrannte ein Streit um das Stichwort »Ben Gurion« in der Hebräischen Enzyklopädie. Der Verfasser war deren Chefredakteur Jeschajahu Leibowitz, Professor an der Hebräischen Universität und ein alter Gegner Ben Gurions. »Ich denke, Ben Gurion ist das größte Unheil, das dem Volk und Staat Israel widerfahren ist«, erklärte der Professor der Abendzeitung Maariv, und diese Auffassung fand Eingang in die Enzyklopädie. Ben Gurion gab sich gelassen: »Mich schert nicht, was Professor Leibowitz schreibt, aber mich schert, ob es gut ist oder nicht, was ich tue.« In Wahrheit wurmte der Beitrag ihn sehr. »Leibowitz steckt voller Hass«, schrieb er an den Verlag, in dem die Enzyklopädie erschien. Hier war er Gaius Marius, und Leibowitz war Plutarch. Verständlicherweise freute er sich, als einige Jahre später ein Bildhauer bei ihm vorsprach und den Plan unterbreitete, in Haifa ein »Pantheon« mit Büsten der »Großen der Nation« zu errichten: Staatsmänner, Schriftsteller, Künstler, Militärs, Wissenschaftler, Sportler und andere. »Ich habe gesagt, die Idee gefiele mir«, notierte Ben Gurion, »aber mehr werde ich ihm nicht sagen.«6

Golda Meir schrieb einmal: »Man betete inbrünstig, der Mann möge in all seinem Glanz in die Geschichte eingehen, alles andere würde einem im Herzen wehtun. Es wäre schade um ihn und schade um uns.«7 Sie gehörte zu den Staatsgründern, über deren Nachruhm Ben Gurion sich Gedanken machte. Doch als sie sich über sein Bild in der Geschichte äußerte, waren bereits Unstimmigkeiten zwischen den beiden aufgetreten. Ben Gurions Biograf findet also eine immense Fülle an Archivmaterial vor, das sein Urteil in positiver wie negativer Richtung zu beeinflussen vermag, denn es beleuchtet Ben Gurions Stärken, Vorzüge und Leistungen, aber auch seine Fehler, Schwächen und Misserfolge.

»Ben Gurion war ein Mann, der sich nicht änderte«, befand einer seiner Weggefährten: Von Jugend an verfolgte er ideologische Ziele und erwarb sich Respekt bei seinen Mitmenschen.8 All sein Sehnen, Streben und Trachten galt dem zionistischen Traum. »Die Auferstehung verlangt uns Menschenopfer ab«, schrieb Ben Gurion mit achtzehn Jahren auf Hebräisch, »und wenn nicht wir jungen Menschen, die das Leiden unseres Volkes schmerzlich empfinden, unser Leben opfern, dann sind wir verloren.«9 Das glaubte er bis zu seinem letzten Atemzug. In seinen Augen verkörperte vor allem er selbst die Geschichte – und viele andere sahen das ebenso. Er dachte systematisch und zielstrebig, und selbst wenn er sich widersprach, hatte man den Eindruck, seine Worte beruhten auf langen, tiefschürfenden, folgerichtigen Überlegungen ohne Zaudern und Zweifel. Es schien, als wisse er in jeder Lage, was zu tun ist.

Er wollte gerne Anführer sein und erstrebte alles, was eine Führungsstellung zu bieten hat: Erfüllung des Traums, den er träumte, was für ihn auch Selbsterfüllung bedeutete, Verantwortung, Macht und ein Platz in der Geschichte. Er berief sich oft auf die Bibel und auf das jüdische Schicksal, aber die nationale Vision tatsächlich zu verwirklichen bedeutete vor allem ermüdende Kleinarbeit und winzige, teils nervenaufreibende Schritte. Viele teilten seine Vision, aber nur wenige waren von Jugend an so politikversessen, wenige so eifrig und detailbewandert wie er. All das machte ihn zum unersetzbaren, aber nicht allmächtigen Anführer.

Es gab aufwühlende Momente in seinem Leben, etwa als er in seiner polnischen Geburtsstadt jüdische Kapitalisten mit der Pistole bedrohte, oder als er über Stunden im Keller einer Oxforder Buchhandlung herumstöberte; er hütete Schafe und Ziegen in der Wüste, genoss den Hauch der Macht im Weißen Haus und erwartete Lenins Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau; er machte Politik und traf schicksalhafte Entscheidungen; er schickte Menschen in den Krieg und stand vor den Leichen gefallener Fallschirmjäger; er war gebannt vom grandiosen Zauber der Niagarafälle und suchte Frieden unter der ältesten Eiche Palästinas. All dies und mehr hat er eindringlich beschrieben, zuweilen mit lyrischen Anwandlungen, die kaum einer bei ihm vermuten würde.

Aber unter den Tausenden von Bildern, die ihn über die Jahre zeigen, ist keines, das seine Lebensgeschichte besser auf den Punkt und seine Persönlichkeit präziser zum Ausdruck bringen würde als die kurze Filmszene vom Freitagnachmittag, dem 14. Mai 1948, in der Tel Aviver Rothschild-Allee: Ein untersetzter Mann mit weißer Haarmähne springt aus einer schwarzen amerikanischen Limousine vom Typ Lincoln. Seine Frau Paula ist bereits ausgestiegen und steuert auf das städtische Kunstmuseum zu. Eine große Menschenmenge umringt das Gebäude. Ben Gurion trägt einen dunklen Anzug, die Krawatte ist mit einer silbernen Nadel befestigt, in der linken Hand hält er einen Hut und unter dem rechten Arm trägt er eine dünne Aktenmappe. Er wirkt eher wie ein gewiefter Rechtsanwalt und nicht wie ein kühner Revolutionär. Beim Aussteigen wirft er den Wagenschlag heftig zu. Neben der Limousine steht ein junger Mann in der Uniform eines noch nicht existenten Staates stramm, sichtlich unsicher, was er zu tun hat. Ben Gurion bleibt spontan vor ihm stehen, biegt das Rückgrat durch und legt die rechte Hand zu einem formvollendeten staatsmännischen Salut an die Stirn. Für einen Moment scheint er in dem verlegenen jungen Mann die Helden des jüdischen Volkes aller Zeiten zu erblicken.

Er war damals 62 Jahre, wirkte älter und etwas pummelig. Gleich würde er im Museum den Staat Israel ausrufen und die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnen. Er würde der erste Ministerpräsident des neuen Staates werden und diesen fast fünfzehn Jahre lang durch seine schwierigen Anfänge führen. Fast im Laufschritt stürmte er die Stufen des Kunstmuseums hoch, als fürchte er, den historischen Augenblick zu verpassen.

*

Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich; er arbeitete schwer, sorgte sich viel und schlief wenig. Die meiste Zeit verbrachte er mit den Truppenführern, von denen einige unzufrieden waren, zum Teil so sehr, dass sie sogar politische Einwände äußerten. Der Krieg um Palästina hatte vor einem halben Jahr begonnen und stellte eine große Herausforderung dar. Jerusalem stand unter anhaltender Belagerung, der Zugang zur Stadt war blockiert; einige jüdische Ortschaften hatten sich den arabischen Streitkräften ergeben müssen. Manche Feldzüge waren gescheitert; es gab bereits über 1500 jüdische Todesopfer, zumeist Truppenangehörige, aber auch zahlreiche Zivilisten.10 Ben Gurion notierte eine lange Liste von Fragen, die zu entscheiden waren. »Araber vertreiben?«, war eine von ihnen.11 Einige Städte waren bereits von Hunderttausenden arabischen Einwohnern geräumt, darunter Haifa und Jaffa. Es war das erste Stadium der Nakba, der arabischen Katastrophe. Noch nie war Ben Gurion seinem Ziel so nahe gewesen wie jetzt – eine jüdische Mehrheit in einem unabhängigen Staat im Land Israel.

In der Nacht zuvor hatte er an der Endfassung der Unabhängigkeitserklärung gefeilt. Mehrere Entwürfe lagen vor; Mosche Scharet, der damals noch Mosche Schertok hieß und Außenminister des neuen Staates werden sollte, hatte daraus eine Vorlage erstellt. »Ich habe einen perfekten Entwurf ausgearbeitet«, erzählte Schertok später. »Ich habe ihn im Stil von ›angesichts dessen und dessen und dessen‹ formuliert, und dann kommt die Schlussfolgerung: ›deshalb!‹« Er tat das in der Überzeugung, dieser dem englischen Vertragsrecht entlehnte Aufbau schaffe »eine innere Spannung«. Aber Ben Gurion wollte keinen Mietvertrag, sondern eine sprachgewaltige historische Deklaration, die Generationen begeistern würde. Er nahm den Entwurf mit nach Hause und schrieb ihn vollkommen um. Scharet verzieh ihm das nie.12

Ben Gurions Fassung unterstrich die zionistische Erzählung der jüdischen Geschichte: Der erste Satz – »Im Land Israel entstand das jüdische Volk; hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen« – spielte den Beitrag der Diasporajuden herab. Scharets Fassung hatte mit dem Auszug in die Verbannung begonnen; Ben Gurions Text betonte die staatliche Unabhängigkeit, die der Zerstörung des Tempels vorausgegangen war. Die Juden, die sich – wie er selbst – seit Beginn des Jahrhunderts im Land Israel angesiedelt hatten, bezeichnete er als »Pioniere, Verteidiger und Einwanderer«, womit er zugleich die Verbindung des zionistischen Aufbauwerks zur Arbeiterbewegung herstellte. Und während Scharets Entwurf den UNO-Teilungsbeschluss vom 29. November 1947 als solchen erwähnte, unterschlug Ben Gurion, dass dieser Beschluss die Aufteilung des Landes zwischen Juden und Arabern vorsah. Seine Unabhängigkeitserklärung versprach Gleichberechtigung für alle und eine Verfassung. Es sollte sich um einen » jüdischen Staat« handeln, aber kein Mensch wusste so recht, was das bedeutete, auch Ben Gurion nicht.

Der Festakt wurde hastig abgewickelt, denn er sollte noch vor Anbruch des Sabbats beendet sein. Im letzten Moment wäre beinah alles an der Frage gescheitert, ob Gott im Text erwähnt werden sollte oder nicht. Die Vertreter der religiösen Parteien bestanden darauf, einige Linke lehnten es ab. Ben Gurion überredete alle, sich auf die biblische Wendung Zur Israel (Fels Israels) zu einigen. Da die Kalligrafie nicht rechtzeitig fertiggeworden war, unterschrieben alle auf dem unteren Teil eines leeren Streifens Pergament.13 Ben Gurion sah in der Erklärung einen Schritt auf dem Weg, von dem das jüdische Volk 2000 Jahre zuvor abgekommen war. Die hebräische Unabhängigkeit sollte erneuert werden, und er hätte guten Grund gehabt, die Deklaration in optimistischer Stimmung zu unterzeichnen. Aber in seinem Tagebuch notierte er, er fühle sich wie ein »Trauernder« unter Feiernden: Die Existenz des Staates war noch nicht gesichert. »Staaten werden den Völkern nicht auf einem goldenen Teller dargereicht«, sagte er einmal mit Bezug auf einen talmudischen Begriff; einen Monat später erklärte Chaim Weizmann, sie würden nicht auf einem »Silbertablett« serviert.14 Ben Gurion konnte es auch schlichter ausdrücken: »Der Staat Israel wird kein Picknick werden.«15 Sein Pessimismus schützte ihn vor Illusionen. »Ich muss das Schlimmste, was geschehen kann, vor mir sehen«, meinte er einmal. »Das tue ich seit jeher. Wenn es nicht eintritt, umso besser, aber man muss auf den schlimmsten Fall gefasst sein. Der Mensch ist kein rationales Wesen; man weiß nicht, welche Kräfte wirken, was in gewissen Momenten erwacht.«16 Damals, im Jahr 1947, fürchtete er, arabische Streitkräfte könnten ins Land eindringen und es zerstören. Ben Gurion glaubte, dass die Israelis sie besiegen würden; er glaubte auch an seine Fähigkeit, sie zum Sieg zu führen. Und er glaubte, dass es den hohen Preis lohnte. Er sah in der Staatsgründung nicht zuletzt »eine Kompensation für den millionenfachen Mord« im Holocaust.17

Nach dem Festakt kehrte er zurück in das nahe am Meer gelegene »Rote Haus«, wie das Hauptquartier genannt wurde, und fand dort beunruhigende Nachrichten von den Fronten vor. In der Nacht weckte man ihn zweimal: das erste Mal, um ihm mitzuteilen, dass Präsident Truman den Staat Israel anerkannt hatte, das zweite Mal, um ihn zum Rundfunkstudio zu fahren, wo man eine Rede für die Vereinigten Staaten ausstrahlen wollte. Während der Sendung tauchten ägyptische Flugzeuge am Himmel auf, und man hörte Explosionen. »In diesem Moment wird Tel Aviv bombardiert«, erklärte Ben Gurion den amerikanischen Hörern, und zu Hause schrieb er in sein Tagebuch: »Aus allen Häusern spähten Menschen in Pyjamas und Nachthemden, aber es war keine übermäßige Angst zu spüren.« Er erinnerte sich an seinen Aufenthalt in London zu Zeiten des »Blitz« und erwartete wohl auch in Tel Aviv »seine schönste Stunde« zu erleben. Wohl wissend, dass Worte Geschichte machen können, wollte er zwanzig Jahre später den Eindruck korrigieren, die Tel Aviver seien nicht tapfer genug gewesen, und fügte dem ursprünglichen Tagebucheintrag hinzu: »Ich spürte: Sie würden standhalten.«18

Er rechnete sich die Staatsgründung nicht selber zu, und das zu Recht: Der Staat Israel entstand nach einer dreißig Jahre währenden Entwicklung, beginnend mit der Entscheidung der Briten, die zionistische Bewegung bei der Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu unterstützen. Ben Gurion lenkte diese Entwicklung über die Dauer einer Generation, besonders in den letzten zehn Jahren vor der Unabhängigkeit. Seine Position verdankte er auch seiner langen Erfahrung: Vierzig Jahre hatte er sich mit Politik beschäftigt, beinah vom ersten Tag seiner Ansiedlung in Palästina an. Er hatte sich vielen Lebensbereichen zugewandt, doch bereits sein erster Aufsatz, den er im Alter von 24 Jahren verfasste, hatte dem Ringen um den Staat gegolten; von da an strebte er danach, die nationale Führung zu übernehmen. Führende Köpfe der Arbeiterbewegung – allen voran Berl Katznelson – und andere mögliche Konkurrenten starben im Verlauf der Jahre. Der Tod Zeev Jabotinskys, seines großen Widersachers auf der politischen Rechten, und der Niedergang Chaim Weizmanns, dessen Position als größter jüdischer Staatsmann er erben wollte, ließen ihn schließlich sogar in der Zionistischen Weltorganisation konkurrenzlos erscheinen.

Zumeist hielt er sich an die politischen Spielregeln und bemühte sich um eine mittlere Position. Da er für die Umsetzung des Zionismus fast jeden Preis zu zahlen bereit war, zeigte er sich zumeist nachgiebig in taktischen Dingen und pragmatisch, wo Kompromisse nötig waren. Von Opposition wie Koalition erntete er nicht selten Kritik, und gelegentlich wurden seine Forderungen und Vorschläge sogar rundweg abgelehnt. Meistens akzeptierte man seine Führung jedoch. In der Partei betrachtete man ihn als politische und nationale Bereicherung; manchmal benahmen sich seine Kollegen allerdings wie Schulkinder, die hinter dem Rücken des Lehrers frech werden: »Ich rede dagegen, stimme aber dafür, weil ich Ben Gurion vertraue und keine Verantwortung übernehmen möchte«, wurde einer seiner Minister einmal zitiert.19

Er trat häufig in der Öffentlichkeit auf, beantwortete fleißig seine Post und empfing viele, die ihn zu sehen wünschten, darunter auch allerlei Querulanten und Sonderlinge.20 Seine Reden verfasste er schriftlich, trug sie aber vor, ohne sichtbar vom Blatt abzulesen. Manche dauerten Stunden; seine Sätze waren lang und verschachtelt, mehr fürs Auge als fürs Ohr gedacht; seine schrille Stimme und sein kurzer Wuchs schränkten seine Publikumswirksamkeit zunächst ein, aber je weißer seine Haarmähne im Alter wurde, desto mehr wurde er selbst zum Inbegriff des richtigen und machbaren Zionismus.

»Wenn ich auf eine konkrete Frage stoße – was heute oder morgen zu tun ist –, verwandele ich mich in eine Denkmaschine […]«, sagte er einmal, und bei anderer Gelegenheit erklärte er: »Jedes zionistische Problem gehe ich wissenschaftlich an. Ich frage stets, was man rational tun kann.«21 Er verglich sich mit einem Bauingenieur, der einen Neubau plant: Das Motiv fürs Bauen ist »ästhetisch, religiös, transzendent«, sagte er, aber bei der praktischen Ausführung »muss man abwägen und abmessen […], und das gilt auch für das politische Handeln«.22 Tatsächlich ließ er sich jedoch häufig von den starken Gefühlen mitreißen, die ihn leiteten und seine Entscheidungen bestimmten. Zuweilen verblüffte er seine Zuhörer mit rechthaberischen Ausbrüchen und eiserner Sturheit.23 Einige dieser Anwandlungen entsprangen Seelenqualen und ließen ihn manchmal sogar ausrasten; andere hatte er eingeplant. Angriffe auf seine Führung wertete er häufig als Verletzung des nationalen Interesses und als persönliche Beleidigung: Zionismus und Ego verschmolzen bei ihm zu einer Einheit. Es lebte sich nicht leicht in dem Staat, den er führte; die Bürger sollten das Gemeinwohl über ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche stellen. Sie galten allesamt als Soldaten im Dienst der Geschichte, und er war ihr Oberbefehlshaber.

*

Seine Vertrauten, darunter auch seine Frau Paula, waren sich weitgehend darin einig, dass er »nichts von Menschen verstand«; vielleicht war das nur eine höfliche Umschreibung für seine anmaßende Egozentrik und seine Neigung, Leute vor den Kopf zu stoßen oder ungeduldig abzufertigen. Er konnte kleinlich, boshaft, durchtrieben sein, und manchmal log er rundheraus. Er hatte keinen Humor. Er war ein schlechter Verlierer und bat nur selten um Verzeihung. Einer seiner Bekannten sagte, Ben Gurion habe sich nicht wirklich für Menschen interessiert, sondern nur dafür, wie sie einsetzbar waren.24

Seine Schriften vermitteln schnell den Eindruck, er habe auch nichts für die leichten Seiten des Lebens übriggehabt, aber wie es so geht: Rachel Janait Ben Zvi, die ebenfalls zu den Gründern Israels zählt, hinterließ der Geschichte ein intimes Geheimnis, das sie viele Jahre für sich behalten hatte und erst nach seinem Tod den Forschern des Ben-Gurion-Instituts anvertraute: In jenem Winter 1940 hatte sie ihn in Kalya in Gesellschaft einer jungen Frau gesehen. Janait kannte ihn gut; er verliebte sich häufig, berichtete sie.25 Oft schien er mehr in die Liebe verliebt zu sein als in diese oder jene Frau.

Auf seine ganz eigene Weise war er auch in seinen Traum verliebt und hatte Angst, sich von ihm zu verabschieden. »Die messianischen Zeiten sind wichtiger als der Messias«, sagte er. »Sobald der Messias da ist, hört er auf, Messias zu sein. Wenn man die Anschrift des Messias im Telefonbuch findet, ist er kein Messias mehr.« Und so erhoffte er dessen Ankunft – und auch wieder nicht: Er wollte seinen zionistischen Traum verwirklicht sehen, fürchtete jedoch das profane Erwachen am nächsten Morgen.26 Diese Gedanken an den Messias teilte er einmal einer Runde von Schriftstellern mit, die er einberufen hatte. Überhaupt brachte er seinen Lebenstraum gern in Diskussionen über die großen Daseinsfragen der Menschheit ein.

Im September 1948 gönnte Ben Gurion sich eine kurze Auszeit von der Kriegführung, um Platon zu verteidigen. Er antwortete auf einen Aufsatz des Schriftstellers und JournalistenJechiel Halperin, der behauptete, Platon habe »in der Beibehaltung der Sklaverei kein Unrecht gesehen«. In Platons Staat finde sich »keine Spur« von Sklaverei und Sklaven, korrigierte ihn Ben Gurion: »Platon war zwar ein Aristokrat, und seine politische Auffassung war aristokratisch«, schrieb er, »aber Platon meinte die Aristokratie im einfachen und richtigen Wortsinn, das heißt als die Herrschaft der Hervorragenden und Guten oder, wie er es selbst auslegte, die Herrschaft der Philosophen, das heißt der Menschen, die für die absolute Wahrheit und die absolute Gerechtigkeit eintreten, ohne jeden Vorteil für sich selbst oder ihre Herrschaft anzustreben. Ja sie besitzen nicht einmal den Willen zur Herrschaft, sondern müssen sie nur aus menschlicher Pflicht übernehmen.«

Drei Wochen später – die letzten Gefechte des Krieges standen ihm noch bevor – schickte er Halperin einen zweiten Brief, und zwar über Platons Gesetze. Er habe die Gesetze immer für eine Fälschung halten wollen, aber zu seinem großen Leidwesen erfahren, dass das Werk doch von Platon stamme, denn im Gegensatz zu dem humanistischen Geist, der den Staat beseele, sei Platons Lebensauffassung in den Gesetzen fast die eines Inquisitors. Er versuchte sich zu erklären, wie das sein konnte: »Beide Bücher wurden zu verschiedenen Lebenszeiten verfasst«, schrieb er. »Der Staat entstand, als Platon um die fünfzig war, voll literarischer und denkerischer Kraft, die in diesem Buch im philosophischen wie im künstlerischen Sinn ihren Höhepunkt erreichte. Das Buch über die Gesetze entstand in seinen alten Tagen, als Platon bereits achtzig Jahre zählte, sein Herz hart, sein Geist grausam und seine Haltung zornig wurde.« Das sollte Ben Gurion im Alter selbst passieren. In seiner enthusiastischen Verteidigung Platons fügte er jedoch hinzu: »Ich weiß nicht, ob die Sklaverei seinerzeit das himmelschreiendste Unrecht war – mir scheint, Kriege waren schlimmer als Sklaverei (und verursachten sie auch), und dieses Unrecht besteht bis in unsere Tage.« Das sei auch Platons Meinung gewesen, fügte er hinzu; er habe Dank verdient.27 Mit den Fakten hatte Ben Gurion es bei diesen Ausführungen nicht so genau genommen: Die Sklaverei wird auch im Staat erwähnt. Wie dem auch sei: Das Buch diente ihm als eine Art Ratgeber beim Aufbau des Staates; in seinem Arbeitszimmer stand eine Platon-Büste neben Büsten von Buddha und Mose.28

Ben Gurion gründete einen Bibelkundekreis in seinem Haus und benutzte gern zwei biblische Begriffe, um den Staat Israel in moralischer Hinsicht zu charakterisieren, seine Bestimmung zu definieren und außerdem aufzuzeigen, welche Verpflichtung der Staat nach innen und der Welt gegenüber hatte: »Auserwähltes Volk« – im Sinn des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel (Exodus 19,5-6) – sowie »ein Licht für die Völker« im Sinn des Propheten Jesaja (49,6) und anderer, also die Verpflichtung des Volkes auf die Grundsätze von Gerechtigkeit und Frieden, die es dazu befähigten, dieses Licht zu sein. Er sprach und schrieb viel darüber; im Wesentlichen meinte er damit das, was die Überschrift einer seiner einschlägigen Aufsätze ausdrückt: »Adel verpflichtet«.29 Fast ebenso oft äußerte er sich umgekehrt: »Wichtig ist nicht so sehr, was die Gojim sagen, sondern was die Juden tun.«30 Zumeist maß er den Völkern der Welt jedoch große Bedeutung bei. Im Zusammenhang mit »auserwähltes Volk« und »Licht für die Völker« entlarvte dieser beliebte Ausspruch ihn allerdings als einen Mann der Widersprüche – womit er den meisten Israelis glich. Er beschrieb diese mit einem Zitat aus dem Babylonischen Talmud: »Diese Nation gleicht sowohl dem Staub als auch den Sternen; wenn sie sinkt, sinkt sie bis zum Staub. Und wenn sie steigt, steigt sie bis zu den Sternen.«31 Das war die Gemütslage, in der er selbst sich überwiegend befand, und dessen war er sich durchaus bewusst: »Wenn du mein Tagebuch mit den Methoden der Bibelkritik untersuchst«, schrieb er an Scharet, »[…] kannst du beweisen, dass dieses Tagebuch eigentlich von zwei verschiedenen Männern geschrieben wurde, die zu verschiedenen Epochen gelebt haben.« Hier zeigt sich seine Fähigkeit und Bereitschaft zu sensibler und mutiger Selbsterkenntnis; auch das hat ihn zu einer so fesselnden Persönlichkeit gemacht.32

*

Dieses Buch wurde mit der Hilfe vieler Menschen geschrieben, deren Namen später aufgeführt werden. Über fünf Jahre hat die Arbeit daran gedauert, und in dieser Zeit verging kaum eine Woche, in der Ben Gurions Name nicht wenigstens einmal in den israelischen Medien auftauchte. Außerdem entstanden in diesem Zeitraum weitere vier Biografien über ihn sowie eine Reihe von Büchern, bei denen er im Mittelpunkt steht.33 Darin zeigt sich einerseits die Sehnsucht der Israelis nach ehrlicher Führung und andererseits ihr Wunsch, die Geheimnisse von Ben Gurions dramatischer Lebensgeschichte zu ergründen.

TEIL I DER WEG AN DIE MACHT

Ben Gurion (1947), wie Joseph Bas ihn sah

© Mit freundlicher Genehmigung von Familie Bas

Ben Gurion in einem Zeitungsinterview:

BEN GURION: Als Kind von drei Jahren wusste ich, dass ich nicht an meinem Geburtsort bleiben würde. Ich wollte auch nicht die Sprache dieses Landes lernen.

FRAGE: Herr Ben Gurion, mit drei Jahren wussten Sie das bereits?!

BEN GURION: Als Dreijähriger wusste ich, dass ich nicht in jenem Land wohnen würde! Mit drei Jahren! (…) Und so waren alle Juden. Wir wussten, dass unser Land nicht das sein würde, wo wir jetzt wohnten, sondern das Land Israel.1

KAPITEL 1 DER SCHWUR

Wir schwammen und sprachen Hebräisch

Rund siebzig Kilometer nordwestlich der polnischen Hauptstadt Warschau fließt ein hübsches Flüsschen namens Płonka; es durchquert auch die Kleinstadt Płońsk. An einem der letzten Sommertage des Jahres 1903 kamen drei Freunde an den Fluss. Der Älteste, Schmuel Fuchs, war fast neunzehn, Schlomo Zemach hatte kürzlich seinen siebzehnten Geburtstag gefeiert; er war ein paar Monate älter als David Josef Grün, wie Ben Gurion ursprünglich hieß. Die drei verbrachten viel Zeit zusammen, verbunden in einer engen Jungenfreundschaft, die in der Pubertät entstanden war. »Wir schwammen und sprachen Hebräisch«, erzählte Ben Gurion Jahre später.2 Manchmal kam noch ein vierter, etwas älterer Junge dazu, Schlomo Levkowitz. Wie viele ihrer – jüdischen und nichtjüdischen – Altersgenossen litten sie an Schwermut, wälzten existenzielle Gedanken, und alle waren sie verliebt. Schlomo Levkowitz und Ben Gurion liebten dasselbe Mädchen; Schmuel Fuchs liebte Schlomo Zemachs Schwester und Zemach die Schwester von Fuchs. Zemach und Ben Gurion waren daneben noch in Schlomo Fuchs verliebt. Es war eine leidvolle Freundschaft, aber sie hielt ein Leben lang; Fuchs und Levkowitz, der seinen Namen später in Lavi änderte, starben vor Ben Gurion; Schlomo Zemach starb rund ein Jahr nach ihm. Siebzig Jahre blieben die beiden in Liebe und Eifersucht verbunden, wie sie es schon an jenem Spätsommertag 1903 am Ufer der Płonka gewesen waren.

Sie hatten die HaZefira, eine hebräische Tageszeitung, die in Warschau erschien, an den Fluss mitgenommen. So erfuhren sie von dem Plan, in Ostafrika einen jüdischen Staat zu gründen und dafür, zumindest vorläufig, auf das Land Israel zu verzichten. Das war der »Uganda-Plan«. Selbst Theodor Herzl, der verehrte Gründer und erste Präsident der Zionistischen Weltorganisation, hatte den Plan nicht rundweg abgelehnt, und nach heftiger Debatte hatte der Zionistenkongress mit Stimmenmehrheit beschlossen, eine Erkundungsexpedition nach Ostafrika zu entsenden. Einige Monate zuvor waren Dutzende von Juden in der Stadt Kischinew, die damals zum russischen Zarenreich gehörte, ermordet worden. Grund für die Bereitschaft, den Uganda-Plan zu prüfen, war daher die Erkenntnis, dass die russischen Juden dringend eine Zuflucht brauchten, und sei es in Afrika. Auch die drei jungen Płońsker verfolgten die Nachrichten aus Kischinew. »Die Schmach und Hilflosigkeit belasteten sie an Körper und Geist«, schrieb Levkowitz.3 Aber als sie von dem Uganda-Plan erfuhren, waren die drei entsetzt. Sie meinten, der Zionismus sei sich selbst untreu geworden, und brachen in Tränen aus. Gleich auf der Stelle, noch stürmisch erregt und nass vom Flusswasser, schworen sie, Polen zu verlassen und sich im Land Israel anzusiedeln. Das war ein entscheidender Moment in ihrem Leben.

*

Vermutlich betrachteten sich die meisten Menschen, die Ben Gurion und seine Jugendfreunde seinerzeit kannten, in erster Linie als Juden, nicht als Polen. In den achthundert Jahren, die seit der ersten Ansiedlung von Juden in Polen vergangen waren, hatten sie Diskriminierung und Verfolgung erlitten, aber ihre Zahl war auf einige Millionen gestiegen, und sie waren nunmehr eine der größten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden der Welt; sie besaßen wirtschaftliche und kulturelle Infrastrukturen, eigene Führungsgremien und unterhielten einen regen politischen Dialog.4 In Płońsk hatten sich die ersten Juden vierhundert Jahre vor der Zeit Ben Gurions und seiner Freunde niedergelassen. Seit 1815 gehörte die Stadt zu dem Gebiet, das unter russische Herrschaft fiel. Die Beamten, Polizisten und Richter dienten fortan dem Zaren, einige waren Russen. Die Kinder mussten Russisch lernen, die jungen Männer wurden zum russischen Heer einberufen. Doch wie die Juden des Schtetls sich vorher nicht als Polen gefühlt hatten, fühlten sie sich jetzt auch nicht als Russen.

Als Ben Gurion zehn Jahre alt war, hatte Płońsk rund 8000 Einwohner; über die Hälfte waren Juden. In der ganzen Woiwodschaft bildeten die Juden eine Minderheit, und auch in Płońsk sank ihr Anteil mit der Zeit, aber dort bewahrten sie ihre Mehrheit durchgehend für hundert Jahre; Płońsk galt daher zu Anfang des 20. Jahrhunderts als wichtige und sichere jüdische Kleinstadt. Ben Gurion erklärte, er sei dort nie auf offenen Antisemitismus gestoßen und habe daher angenommen, man brauche hier keine Pogrome zu befürchten.5 Es war eine kleine und geschlossene Gemeinde, jeder kannte jeden, wusste alles über alle. Die meisten befassten sich mit Handel oder Handwerk; einige waren reich.

Schlomo Zemach war der Sohn eines Geschäftsmanns; die Familie nahm seit Generationen eine aristokratische Stellung ein. Auch Schmuel Fuchs entstammte einer wohlsituierten Familie. Viele Płońsker Juden lebten jedoch in ärmlichen oder sogar erbärmlichen Verhältnissen. Schlomo Levkowitz wuchs in einer düsteren Gasse auf, in deren Mitte das Abwasser in einer offenen Gosse floss, zwischen morastigen Gruben, die zum Himmel stanken; als er zwölf Jahre alt war, wütete eine Choleraepidemie in der Stadt. Sein Vater arbeitete bei den Zemachs, und er selbst war Bäckerlehrling. Er hatte nur wenig Schulbildung, und Ben Gurion bezeichnete ihn als »Wildfang«.6 Levkowitz’ verlotterter Zustand schien Schlomo Zemachs Vater nicht zu stören; er unternahm keinen Versuch, die Freundschaft der beiden Jungen zu unterbinden. Dagegen verbot er seinem Sohn, das Haus der Grüns zu betreten, und als der Junge aufbegehrte, setzte es eine Ohrfeige. »Die Familie Grün genoss keinen guten Ruf in Płońsk«, schrieb Zemach, und ein anderer ehemaliger Płońsker erzählte: »In der Stadt wurde ihr Name nicht erwähnt, weder lobend noch lästernd. Als hätte man sich Schweigen auferlegt.«7

Viktor (Avigdor) Grün betätigte sich als Rechtsberater; seine Mandanten waren zumeist Polen, von denen viele nicht lesen und schreiben konnten. Er füllte amtliche Formulare aus, schrieb Gesuche und regelte Dinge bei den Behörden. Manchmal diente er als Vermittler und Schlichter. Zemach schrieb, das Geld der Grüns sei knapp gewesen und nur unregelmäßig eingegangen. Sie waren nicht wohlhabend, aber auch nicht arm. Sie besaßen ein zweistöckiges Holzhaus in der Ziegengasse, der späteren Wapólnastraße, die zum Marktplatz führte. Ein weiteres Haus bewohnte der älteste Sohn mit seiner Familie. Zwischen den beiden Häusern lag ein kleiner, eingezäunter Obstgarten mit Äpfeln und Birnen, Pflaumen und Kirschen; das Anwesen war als Mitgift von den Eltern der Frau, Schejndel, in die Familie gekommen; es grenzte an eine katholische Kirche und den Pfarrgarten.

Grün war nicht der einzige Jude in Płońsk, der mit Christen in Arbeits- und Geschäftsbeziehungen stand, aber er kleidete sich auch nicht »wie einer von uns«; er trug ein Jackett statt des traditionellen Gehrocks oder Kaftans; manchmal setzte er einen Zylinder auf, was unter den Juden von Płońsk unüblich war. Man sagte ihm närrischen Leichtsinn nach und munkelte, in seinem Haus würde Karten gespielt. Zemach schrieb, Grün sei ein warmherziger Mann gewesen, habe aber »nicht immer zwischen mein und dein unterschieden«. Er mischte in der Lokalpolitik mit und geriet zuweilen in Streitereien.8 Er hatte fünf Kinder. Ben Gurion war sein jüngster Sohn.

*

Dubtsche oder auch Duwidl, wie David Grün daheim genannt wurde, wurde am 16. Oktober 1886 geboren, als einer von drei Söhnen, beide älter, und zwei Schwestern, eine älter, die andere jünger als er. Zu Hause wurde Jiddisch gesprochen, aber die Kinder hörten auch viel Polnisch und Russisch. Manche Jungen in Płońsk gingen schon mit drei Jahren in die Schule; Ben Gurion begann mit fünf. Einige Jahre vor seiner Geburt hatte man eine staatliche Schule für jüdische Kinder in der Stadt eröffnet, aber die Płońsker Juden waren gottesfürchtig, die einen mehr, die anderen weniger, und gelegentlich kam es zu Streit in Glaubensfragen. Jüdische »Freidenker« gab es dort jedoch kaum. Deshalb schickten die meisten ihre Söhne lieber ins traditionelle »Cheder« im Haus des Lehrers, des »Melameds«, der sie tagsüber bei sich behielt und ihnen Lesen und Schreiben, Hebräisch und Jiddisch und vor allem Thora und Talmud beibrachte. Ben Gurion besuchte verschiedene »Chadarim«, darunter ein »reformiertes«, wo man Hebräisch auf eine neue Methode, »Hebräisch auf Hebräisch«, unterrichtete. Einige Stunden am Tag besuchte er auch die allgemeine Schule, wie das Gesetz es verlangte.9

Schlomo Zemach hatte andere Lehrer, die renommierter und teurer waren. Er lernte auch Geschichte, Geografie und griechische Mythologie. Er hatte Ben Gurion als schmächtigen, kleingewachsenen und etwas kränklich aussehenden Jungen in Erinnerung. Ben Gurion selbst erzählte, er sei in seiner Kindheit oft ohnmächtig geworden. Der Arzt empfahl, die Sommermonate bei Verwandten der Mutter in einem nahegelegenen Dorf zu verbringen, und dort sah er, wie er sagte, zum ersten Mal Landwirtschaft. Auch Zemach und Levkowitz verbrachten einige Zeit auf dem Land.10

In jeder Hinsicht erwachsen

Einige Monate nach Davids elftem Geburtstag kam die Mutter erneut nieder. Das Kind wurde tot geboren, und wenige Tage später starb die Mutter an Blutvergiftung. Das war ein furchtbarer Schlag. »Viele, viele Nächte sah ich Mutter im Traum und fragte sie: Mama, warum sieht man dich nicht? Und sie gab keine Antwort«, schrieb Ben Gurion, als er schon über achtzig war. »Es geht nichts über Mutterliebe«, fuhr er fort, »es gibt keinerlei Barriere zwischen Mutter und Kind. […] Der Sohn ist für die Mutter immer ein Kind, und wenn die Mutter geht – gibt es keinen Ersatz. Es ist nicht Nähe und mehr als Liebe, es ist Identifikation. Und etwas mehr als das. Denn Mutterliebe hat nicht ihresgleichen. Es kann nur eine Mutter geben – und sie ist alles. Und mehr als das. Und wenn sie geht und fort ist – kann kein Mensch, kein Freund, kein Bekannter, kein Liebender ihren Platz ausfüllen. Es bleibt eine Lücke, ein Leerraum, voll Trauer, Sehnsucht, steter Trauer und Sehnsucht. Wer wird ihren Platz einnehmen? Verwaistheit, Verwaistheit […].«

Über die Jahre erwähnte Ben Gurion seine Mutter häufig; oft erklärte er, ihr Tod habe ihn immer wieder in Träumen geschmerzt, obwohl er sich nicht an ihre Gesichtszüge erinnern konnte und auch keine Fotografie von ihr hatte. »Die Trauer ist noch nicht aus meinem Herzen gewichen«, schrieb er viele Jahre nach ihrem Tod. Obwohl sie elf Geburten hinter sich hatte, umsorgte sie ihn, als wäre er ihr einziges Kind. »Woher solche Liebe fließt, kann ich schwer bestimmen.« Er brachte sie mit seinem Glauben als Zionist in Verbindung: »Die Grundlage des Volkes ist die Mutter«, erklärte er bei einer Kabinettssitzung.11 Und vielleicht sah er auch das Land Israel in ihrer Gestalt: »Den Traum von Erez Israel habe ich mit der Muttermilch eingesogen«, schrieb er, und als er Palästina für das jüdische Volk einforderte, sagte er: »Man kann die Fürsorge für ein Kind keiner beliebigen Frau überlassen, und sei sie noch so ehrlich und anständig. Aber man kann jedes Kind seiner Mutter übergeben.«12 Ein- oder zweimal scheint er sie sogar bei wichtigen Entscheidungen über die Stellung der Frauen in Israel vor Augen gehabt zu haben. Als er Golda Meir einen Sitz in seiner ersten Regierung verschaffen wollte, erklärte er: »Jeder von uns ist seiner Mutter ein wenig Dank schuldig.«

Über seinen Vater sagte Ben Gurion, er sei ihm sowohl Vater als auch Mutter gewesen. »Ich kann kaum meine Verwaisung als Kind vergessen«, schrieb er, »obwohl ich mit einem lieben Vater gesegnet war, dem ich an Erziehung und Ausbildung viel verdanke. Er hat auch lange gelebt, 86 Jahre, aber eine Mutter ist unübertrefflich.«13

Rund zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau heiratete Avigdor Grün wieder. Wie andere Waisenkinder auch nannte Ben Gurion seine Stiefmutter Tante, auf Jiddisch »Momme«. Wenn er sie in Briefen an seinen Vater erwähnte, blieb er stets korrekt. Aber als er dagegen opponierte, dass Kinder, die den Holocaust überlebt hatten, in Israel zur Adoption freigegeben werden sollten, schrieb er: »Nur außergewöhnliche Menschen sind fähig zu adoptieren; wir wissen, was eine Stiefmutter ist.« Sein Biograf Shabtai Teveth meinte, er schien in diesem Punkt eine Seite aus dem Buch seines Lebens vorzulesen.14 Wie dem auch sei: Der Tod der Mutter zerstörte seine Kindheit. Zuweilen erklärte er sogar, seine Mutter schon mit zehn Jahren verloren zu haben. Ben Gurion erinnerte sich an eine kurze Kindheit und frühe Jugend, freudlos und ohne Spiele, »außer Schach«.15

In Płońsk verbrachten Jungen, die nicht arbeiten oder einen Beruf erlernen mussten, ihre Zeit nach der Bar-Mizwa in »Lehrhäusern«, wo sie sich mit Lehrern und im Selbststudium einige Jahre lang mit der Thora befassten, manchmal bis sie heirateten und eine Familie gründeten oder sogar noch danach. Andere wurden auf Gymnasien und Hochschulen außerhalb der Stadt geschickt. Eine Zeitlang ging Ben Gurion mit Schlomo Zemach in ein Lehrhaus; Zemach berichtete, Ben Gurion sei dort kein guter Schüler gewesen: »Sein Geist erfasste die logisch-abstrakten Gedankengänge nicht«, schrieb er. Von sich selbst berichtete er hingegen, er sei ein ausgezeichneter Talmudschüler gewesen.16

Ben Gurion war also ein mutterloser Stiefsohn, kleiner und lernschwächer als seine Altersgenossen, der überall zu hören bekam, sein Vater sei ein zweifelhafter Typ. Das Leid seiner frühen Jahre verarbeitete der Erwachsene auf bewährte Weise: Er beschönigte seine Kindheit. Von seinem Vater behauptete er, er sei »Rechtsanwalt« gewesen und habe, wie er sich erinnere, »eine führende Stellung unter den Juden der Stadt eingenommen«. Er selbst hatte angeblich nie Minderwertigkeitsgefühle wegen seiner geringen Körpergröße. Seine Mutter sei ebenfalls klein gewesen, erklärte er. Als er fünf Jahre alt war, habe ein Arzt festgestellt, dass sein Kopf, der relativ groß war, auf dem Hinterkopf eine Ausbuchtung aufwies, was darauf schließen lasse, dass das Kind hochbegabt sei und eine große Zukunft vor sich habe. Das war ein guter Grund mehr, seine traurige Kindheit möglichst bald hinter sich zu lassen: »Mit vierzehn Jahren fühlte ich mich in jeder Hinsicht erwachsen«, behauptete er.17

Praktisch hatte er damals nichts zu tun, da er weder lernte noch arbeitete. Vielleicht ging er seinem Vater zur Hand, erfuhr, wie man Gesuche schreibt, drückte sich mit seinem Vater auf der Suche nach Mandanten vor den Gerichten herum. Er las Bücher und begann Tagebuch zu schreiben. An Chanukka 1900 gründete er mit Zemach und Fuchs einen Verein. Sie nannten ihn »Esra« nach dem Verfasser des gleichnamigen biblischen Buches und setzten sich zum Ziel, das Hebräische als Umgangssprache einzuführen. Der Verein bestand sechs Jahre und hatte auf seinem Höhepunkt mehrere Dutzend Mitglieder. Das war Ben Gurions erste öffentliche Tätigkeit.18

Jahre später behauptete Ben Gurion gern, seine zionistische Weltanschauung habe sich bereits gefestigt, als er drei, spätestens als er fünf Jahre alt war, und einmal sagte er sogar: »Ich bin ein geborener Zionist.« Näher kam er der Wahrheit wohl mit der Feststellung: »Selbst als ich noch nicht den Inhalt der Beratungen und Diskussionen begriff, habe ich doch bereits die Liebe zu Zion aufgesogen, die die Leere unseres Hauses ausfüllte.«19 Sein Vater war einer der ersten zionistischen Aktivisten in Płońsk, Mitglied eines jener Verbände, die sich als »Chowewe Zion« (Zionsliebende oder Zionsfreunde) bezeichneten. Die Ältesten unter ihnen konnten sich noch an den »Völkerfrühling« erinnern, der 1848 in Europa angebrochen war. »Chibbat Zion« (Zionsliebe) war die jüdische Antwort auf die ringsum erblühenden nationalen Gefühle und Hoffnungen. Die Mitglieder betrachteten sich einer jüdischen Nation, nicht nur der jüdischen Religion zugehörig. Einige versuchten sogar, einen Weltverband zu gründen, aber im Wesentlichen war diese Zionsliebe eine romantische und zuweilen auch religiöse Stimmung, keine politische Bewegung. Viele pflegten die Zionsliebe angesichts von Diskriminierungen und Verfolgungen in Rumänien und andernorts. Die eigene jüdisch-nationale Identität schien mehr zu verheißen als nur den Kampf um Gleichberechtigung. Einige interessierten sich für die Möglichkeit, in Palästina Landwirtschaft zu betreiben, unterstützten die, die bereits dort lebten, oder schlossen sich ihnen sogar an. Das war der »praktische Zionismus«.20

Die jüdische Bewegung, die in Europa aufkam, schöpfte ihr Gedankengut aus der Kultur dieses Kontinents und war Teil seiner Geschichte. Die Vaterlandsliebe und Romantik, der Liberalismus und der Sozialismus im Zionismus waren allesamt europäischen Ursprungs. In diesem Sinn gehört auch die Geschichte der zionistischen Präsenz in Palästina zur europäischen Geschichte.*

* Damals drangen in die jüdischen Gemeinden Russlands auch sozialistische Ideen ein; mit der Zeit verfestigten sie sich zur Ideologie einer jüdischen Arbeiterbewegung, die unter der Kurzfassung ihres jiddischen Namens als »Bund« bekannt wurde.

Und da geschah etwas höchst Sonderbares

Avigdor Grün dachte eher nicht daran, sich in Palästina niederzulassen, zumal die Tätigkeit für die Chowewe Zion in Płońsk ihm wohl Kontakt zu Menschen verschaffte, die sich bisher nicht gern in seiner Gesellschaft gezeigt hatten. Einmal die Woche kamen sie nun in seinem Haus zusammen und lasen unter anderem die hebräischen Zeitungen HaZefira und HaMeliz. Später konnte Ben Gurion sich nicht genau erinnern, ob auch sein Großvater ein »Zionsfreund« gewesen war, aber daran, dass dieser ihn als kleinen Jungen auf den Schoß genommen und ihm Hebräisch beigebracht hatte. Erst Silben, dann Wörter und schließlich ganze Sätze.21

Rund vier Monate vor Ben Gurions zehntem Geburtstag erwähnte der HaMeliz erstmals einen Mann namens Theodor Herzl, den Verfasser eines neuen Buches, das in Wien erschienen war: Der Judenstaat. Der Bericht war sehr positiv.22 Herzls Name war bald in aller Munde. In Płońsk kursierten Gerüchte von der Ankunft des Messias. Ben Gurion erinnerte sich, dass von einem großgewachsenen, gutaussehenden Mann mit schwarzem Bart gesprochen wurde.23 Herzl war aber keineswegs großgewachsen, verhieß keine himmlische Erlösung und glaubte im Gegensatz zu den Chowewe Zion auch nicht an die Ansiedlung einzelner Juden im Land Israel. Er vertraute auf Nationalstaaten und wollte eine weltweite Bewegung gründen, die durch Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich und den europäischen Mächten jüdische Souveränität in Palästina erreichen sollte. Das war der »politische Zionismus«.

Avigdor Grün begeisterte sich sofort für Herzls Zionismus und mit ihm ein örtlicher Händler namens Simcha Eisik. Diese beiden gründeten bald den Verein »Bnei Zion« (Söhne Zions), verkauften »Schekel«, eine Art Mitgliedsbeitrag für die zionistische Bewegung, und überwiesen Spenden nach Palästina. Im September 1900 hieß es, der Verein habe rund zweihundert Mitglieder.*

* Schlomo Zemach wusste zu erzählen, dass Grün »es nicht eilig hatte«, die verkauften Schekel an die Kasse der zionistischen Bewegung weiterzuleiten: Er gab das Geld erst einmal für eigene Zwecke aus, und wenn man es von ihm einforderte, tat er sich schwer mit der Zahlung. Deshalb beschloss man im Verein, dass er den Schekelvertrieb einstellen solle. Ben Gurion sagte, er habe Schekel an andere Kinder in seiner Schule verkaufen wollen, aber die Erwachsenen hätten es nicht erlaubt.24

Die zionistische Tätigkeit in Płońsk erregte auch außerhalb der Stadt Aufmerksamkeit. HaMeliz berichtete über eine Versammlung im Hause Grün: Einer der Redner verlas den Anwesenden eine Schrift von Scholem Alejchem, die auf Jiddisch unter dem Titel Was badarfen Jidden a Land (Wozu brauchen Juden ein Land) erschienen war. Danach sangen sie Zionslieder.25 Ben Gurion konnte in seiner Kindheit also durchaus die zionistische Ideologie aufgesogen haben; anders als bei seinen Freunden war die Hinwendung zum Zionismus nicht mit der Auflehnung gegen den Vater verbunden. In dieser Hinsicht hatte er es leichter.

Der Zeitungsbericht offenbart auch, dass eine zionistische Versammlung in Płońsk als außergewöhnliches Ereignis galt, und tatsächlich waren die meisten Juden Polens, Ben Gurions Altersgenossen eingeschlossen, keine Zionisten. Ben Gurion und seine Freunde waren Ausnahmen, beinahe so etwas wie Sonderlinge; er persönlich fiel schon deshalb aus dem Rahmen, weil er die hebräische Umgangssprache leidlich beherrschte. Seine Freunde konnten darin kaum mithalten. Zemach sagte von sich selbst, er habe sich anfangs eher lächerlich angehört. Levkowitz tat sich noch schwerer: Er konnte nur mühsam lesen und fast gar nicht schreiben, egal in welcher Sprache. Hebräische Konversation meisterte er zunächst mehr mit Gesten und Faxen.26 Auch Fuchs kannte nur das Hebräisch der Thorastudien und der Gebete in der Synagoge. Alltagshebräisch war eine Fremdsprache für ihn. Und so hatte Ben Gurion seinen Freunden zum ersten Mal im Leben etwas voraus.

Ein Lehrhaus erlaubte ihnen, einen Abendkurs zu organisieren. Es gab auch Vorträge über zionistische Themen; Ben Gurion sprach über Zionismus und Kultur. Ein- oder zweimal verteilten sie eine hektografierte Broschüre unter sich. Ben Gurion veröffentlichte darin Gedichte. Eines Tages fuhr er nach Warschau, um Nachum Sokolow, den Chefredakteur der HaZefira, um Unterstützung zu bitten. Das war sein erster Auftritt außerhalb seiner Heimatstadt. HaZefira berichtete nichts über den Esra-Verein. Möglicherweise fand Sokolow nichts Neues daran.27 Tatsächlich weckten nicht erst Ben Gurion und seine Freunde das Hebräische aus dem langen Schlummer. Schon hundert Jahre vor Ben Gurions Geburt war Polen ein Zentrum der neuen hebräischen Literatur in Europa. Auch Vereine zur Förderung des Hebräischen als Umgangssprache bestanden bereits an einigen Orten; rund dreißig Jahre vor dem Esra-Verein war ein ähnlicher Verband in Płońsk gegründet worden.28

Hauptsprache im Schtetl war weiterhin Jiddisch, aber die jungen Esra-Mitglieder beherrschten das Hebräische, das sie zu einer Art geheimen Jugendsprache erkoren hatten, bald hervorragend. Ihre Briefe sind in modernem und meist richtigem, zuweilen sogar facettenreichem Hebräisch verfasst; die Handschrift wirkt geübt. Mit der Zeit nötigten sie auch die Alten, Hebräisch zu sprechen, indem sie ihnen auf Hebräisch antworteten und sie auf Hebräisch anredeten, erzählte Ben Gurion, »und da geschah etwas höchst Sonderbares: Das Städtchen sprach Hebräisch.«29

Ich glaubte, im Himmel zu sein

Die Briefe, die die vier Freunde einander in jenen Jahren schrieben, und die Erinnerungen, die später veröffentlicht wurden, atmeten die Schwermut Heranwachsender, die zwischen dem alten und dem neuen Jahrhundert feststeckten. »Meine Seele ist unruhig«, schrieb Ben Gurion. »Ich weiß nicht, warum ich manchmal so traurig, so trübsinnig bin und mir etwas Großes und Tiefes im Herzen zu fehlen scheint. […] Starke Sehnsucht habe ich nach etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist […].«30 Auch Levkowitz erinnerte sich an »große Jugendsehnsucht nach etwas Unbestimmtem und Unklarem« und »nach allem Fernen«. Er empfand »das geheime Verlangen, etwas Großes« zu tun, und litt unter tiefer Schwermut und Angstzuständen. Er war des Lebens überdrüssig. Zemach plagte sich mit ähnlichen Gedanken: »Wir rätselten über das Leben als Tod und über den Tod als Leben, verstanden nicht viel von all dem und sogen doch etwas auf«, notierte er in seinen Erinnerungen, und an Fuchs schrieb er: »Sterben ist unmöglich, und leben kann ich nicht.«31

Zemach war groß und gutaussehend, mit lockigem Haar und schwarzem Schnurrbart; außerdem war er hochmütig, überheblich und ein Lästermaul. Mit anderen Jungen verspottete er Levkowitz als dumm und demütigte dessen Vater im Lehrhaus. Über »Herrn Avigdor«, wie er Ben Gurions Vater anredete, machte er sich lustig, weil dieser beim russischem Schriftverkehr Fehler machte.32 Über Schmuel Fuchs schrieb Zemach, er sei ein »sentimentaler«, »feingeistiger« und etwas »passiver« Jüngling gewesen: »Er war etwas zu weich im Charakter und etwas weiblich besaitet, aber diese Weichheit war angenehm und höchst anziehend.«33

Fuchs wirkte nicht ganz so schwermütig wie seine Freunde, teilte jedoch offenbar Levkowitz’ Sehnsucht »nach allem Fernen«: 1904 fuhr er nach London. In Płońsk ließ er Zemachs Schwester zurück, die er liebte, und Zemach schrieb ihm, sie frage oft nach ihm. Vor allem schrieb er über seine Liebe zu Fuchs’ Schwester, aber sein Herz hing auch an Fuchs selbst: »Wie sehne ich mich nach dir, wie sehr wünsche und verlange ich, dich zu sehen, mein Lieber. Ha! Hätte ich nur deine Hand gedrückt, ehe du abfuhrst, könnte ich dich nur umarmen und mit Küssen überhäufen.« Einmal unterschrieb er mit: »Dein dich in starker Liebe umarmender und küssender Bruder.«34 Manchmal kam er ihm auch überheblich. Fuchs wollte in London am Rabbinerseminar studieren, tat sich aber schwer dort. Zemach rügte ihn: »Gerade erst hast du die Schwelle überschritten, und schon höre ich aus deinem Munde Unwillen, Verbitterung und Beschwerde […]. Was hattest du dir denn gedacht, dass man dich in London mit Musik empfangen würde?« Seine damaligen Beziehungen zu Ben Gurion bezeichnete Zemach als enge Freundschaft. Die beiden trafen sich täglich und hatten, laut Zemach, keine Geheimnisse voreinander – außer einem: Über seine Liebe sprach er nicht mit ihm. Vielleicht sagte er ihm auch nichts über seine Liebe zu Fuchs.

Ben Gurion erzählte Fuchs, er habe sich als Zwölfjähriger erstmals verliebt. »Zart war damals meine Liebe wie erste Frühlingsknospen«, schwärmte er, als er achtzehn Jahre alt war, »und sie wuchs mit der Zeit und entflammte – und letzten Sommer erfuhr ich, dass sie mich liebt […] ich glaubte, im Himmel zu sein.«35 Als er sie zum ersten Mal sah, war sie zehn und ging auf die staatliche Schule, die er ebenfalls besuchte. Sie hieß Rachel Nelkin und hatte schwarze Zöpfe. Vielleicht war sie dieselbe, die auch Levkowitz’ Herz »sehr gefangen nahm«.

Levkowitz war groß und schmal, hatte eine lange Nase und kleine Augen: »Nicht von schönem Äußeren«, wie Zemach schrieb.36 Und er war sehr schüchtern. Rachel Nelkin sah er erstmals im Haus ihres Stiefvaters, Simcha Eisik. Eisik veranstaltete im Hinterzimmer seines Ladengeschäfts zionistische Versammlungen für Jugendliche. »Manchmal schien es, dass es diese Jungen weniger zu Eisik als zu seiner schönen Tochter zog«, schrieb Levkowitz.37 Er traute sich lange nicht, sie anzusprechen. Nur mit ihrem Vater redete er, und das sehr ernsthaft. Im Herzen beneidete er andere Jungs, die mehr Erfolg bei Mädchen hatten als er. Nach außen hin tat er gleichgültig, doch er habe ständig an sie gedacht, bei Tag und Nacht, bekannte er. Schließlich heckte er einen Plan aus, wie er ihr allein begegnen könnte, aber als er sie tatsächlich abgepasst hatte und vor ihr stand, wurde er rot, wandte das Gesicht ab und tat, als habe er sie gar nicht bemerkt. Später verfluchte er sich wegen seiner Dummheit. Levkowitz hatte es offenbar schwerer im Leben als seine Freunde. Seine Schüchternheit drohte ihn umzubringen: Nur die zionistische Tätigkeit habe ihn von seiner Not abgelenkt und ihn davon abgehalten, sich umzubringen.38

Manchmal ging er in das Haus der Grüns, das auch er als »ein zionistisches Zentrum« bezeichnete. Aus einer Armensiedlung stammend, wähnte er sich »in wohlhabendem Hause«, fühlte sich »von einem unergründlichen Zauber« angezogen und zugleich abgestoßen. Das war Ben Gurions zwei Schwestern zuzuschreiben. Auch bei ihnen lähmte ihn die Verlegenheit, und auch dort tat er so, als komme er nur, um über die zionistische Zukunft zu reden.39 Es war keine leichte Phase in seinem Leben. In Płońsk herrschten damals noch strenge Sitten. Die Dinge wurden zumeist durch Heiratsvermittler geregelt, erzählte Ben Gurion, und Levkowitz schrieb: »Die Burschen saßen über den Talmudseiten, lernten, fantasierten und hofften auf eine gute Partie.«40 Als Ben Gurion offenbar Nelkins Liebe ergattert hatte, konnte Levkowitz »sich schwer mit dessen Überlegenheit abfinden«, zumal Ben Gurion einige Jahre jünger war als er.41

Bei Zemach war das anders. Der Achtzehnjährige konnte eines Nachts nicht einschlafen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, zog sich schließlich an und ging ans Zimmerfenster. Im Fenster gegenüber sah er Schoschana Fuchs, Schmuels Schwester. Stundenlang saßen die beiden – jeder an seinem Fenster – und starrten sich über die Straße hinweg an, bis die Sonne aufging. Zemach spürte »mächtige Erregung«, wie er später an Fuchs schrieb. »Wenn ich seinerzeit nicht durchdrehte, bin ich doch eisenhart. […] David Grün hat mir gesagt, mein Blick sei damals der eines Geistesverwirrten gewesen.«

In den nächsten Monaten berichtete Zemach Fuchs weiter von seiner flammenden Liebe: »Ich liebe so sehr, dass ich mich manchmal vor mir selber schäme«, schrieb er. Er versicherte, gar nicht daran gedacht zu haben, sie anzufassen, und zitierte erneut den gemeinsamen Freund: »D. Grün sagt mir, ich sei zu idealistisch, und er begreife nicht, wie das sein könne.«42

Zemachs Zionismus hatte mehr als ein nationales, ideologisches Ziel; der Junge wollte auch flügge werden, die Schwingen ausbreiten und abheben, wohin er Lust hatte. Das Leben in Płońsk fand er »banal«; er dachte daran, nach Odessa zu fahren, Wissenschaften zu studieren und Sprachen, vor allem Arabisch und Türkisch, die in Palästina gesprochen wurden. Danach würde er nach Płońsk zurückkehren, nicht »um erneut in diesem Morast zu versinken«, schrieb er, sondern um Schoschana abzuholen und sich mit ihr in Erze Israel niederzulassen. Er träumte davon, ein hebräischer Schriftsteller zu werden.43 Doch vorerst belastete ihn seine Jugend. »Ich bin nicht glücklich, mein Los ist schlimm und bitter«, klagte er und fragte: »Wann werde ich endlich die elterliche Aufsicht los sein und mein eigener Herr werden?«44

So empfanden auch andere, was die Eltern sehr besorgte, denn sie hatten das Gefühl, ihre Söhne zu verlieren. Zemach und seine Freunde gingen täglich aus, um die Mädchen des Schtetls zu beeindrucken. Sie versammelten sich vor den Elternhäusern der Mädchen auf dem Gehsteig und unterhielten sich möglichst laut auf Hebräisch. Zemach rauchte. Auf Fotos von damals sieht man sie barhäuptig und auch zusammen mit Mädchen sitzen.45

Ben Gurion strich seine Männlichkeit ebenfalls heraus; er wollte die schöne Rachel Nelkin gewinnen. Einmal ging er in Płońsk mit einer Freundin aus Warschau spazieren. »Es dauerte nicht lange, und die ganze Stadt war uns auf den Fersen«, erzählte er.46 Die Płońsker Eltern konnten sich nur schwer mit dem skandalösen Benehmen ihres Nachwuchses abfinden, das viele auf den Zionismus zurückführten.

Großes Verlangen nach einem freien Leben

In seiner ersten Rezension des Buches Der Judenstaat, schrieb der Kritiker des HaMeliz, Herzls Ideen würden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, »keine Bahnen ins Herz der Strenggläubigen finden«.47 Die Sehnsucht nach dem Land Israel war in der jüdischen Religion von jeher vorhanden; die Juden hegten den Traum, dorthin zurückzukehren – oder nach Zion »hinaufzuziehen«, wie sie im Anklang an die biblische Geschichte von Abrahams Wanderung im Buch der Genesis zu sagen pflegten. Trotzdem erregten die Zionisten den Zorn der orthodoxen Rabbiner, sowohl der »chassidischen« Strömung als auch ihrer Gegner, der »Mitnagdim«. Abraham Grün, Ben Gurions ältester Bruder, sprach von einem »mächtigen Bruderkrieg«, mit »Verfolgungen und Bannsprüchen bis hin zu schweren Einkommenseinbußen«; manche Rabbiner untersagten Eheschließungen mit zionistischen Familien.*

* Der orthodoxe Widerstand gegen den Zionismus basierte auf dem Glauben an ein göttliches Gebot, »nicht in Massen einzuwandern, nicht gegen andere Nationen zu rebellieren und das Ende nicht beschleunigen zu wollen«. Diese »drei Schwüre« verlangten passives Warten auf himmlische Hilfe.48

Der Zionismus zwang seine Anhänger, ihre jüdische Identität neu zu überdenken und sich zwischen der jüdischen Tradition und dem neuen Nationalbewusstsein einzurichten. Das war revolutionär. Beim Gründungstreffen des Esra-Vereins, den Ben Gurion und seine Freunde ins Leben riefen, kam es zum Handgemenge mit Orthodoxen, die die Versammlung sprengen wollten. »Die Gegner des Zionismus sahen in uns den Satan persönlich«, schrieb Zemach.49 Doch die zionistische Bewegung richtete sich nicht gegen religiöse Juden.

Die meisten Juden, darunter auch die Zionisten, definierten ihr Judentum weiterhin in religiösen Begriffen. Ben Gurion bezeichnete seinen Großvater als »sehr strenggläubig«, vermerkte aber, das habe ihn nicht davon abgehalten, nichtjüdische Philosophen zu lesen und sogar den umstrittenen jüdischen Philosophen Baruch Spinoza hochzuschätzen, der im 17. Jahrhundert in Holland lebte. Als er seinem Enkel Hebräisch beibrachte, benutzte er einen Pentateuch, der auch die deutsche Übersetzung von Moses Mendelssohn, einem Begründer der jüdischen Aufklärung, der sogenannten Haskala-Bewegung, enthielt. Die deutsche Fassung war in hebräischen Lettern gedruckt. So lernte Ben Gurion auch einige deutsche Wörter.50

Seinen Vater beschrieb Ben Gurion als »Freidenker«; Grün monierte, die orthodoxe Erziehung in Płońsk habe »eine Generation von Ignoranten« hervorgebracht.51 Er schickte seinen Sohn ins »reformierte Cheder«, hinderte ihn aber nicht daran, »sich den Bauch mit Talmud vollzuschlagen«, wie er schrieb. Vermutlich bedauerte er es auch nicht, als sein Dubtsche mit sieben Jahren plötzlich anfing, es mit den Religionsgesetzen sehr genau zu nehmen; doch es störte den Vater, als er mit vierzehn aufhörte, Gebetsriemen anzulegen. Grün betete täglich in der Synagoge, ließ sich aber barhäuptig fotografieren.52 Der Streit zwischen den Orthodoxen und den frühen Zionisten in Płońsk lief also im Wesentlichen zwischen religiösen Juden ab, die sich in Glaubensstrenge und Lebensweise unterschieden. Sie waren nicht »säkular«. Es war auch ein Kräftemessen. Grün bedauerte, dass orthodoxe Funktionäre die Führung der Gemeinde an sich gerissen hatten; einige hätten ihn bei der Polizei bezichtigt, Geld ins Ausland zu schmuggeln.53 Sein Zionismus wie auch sein religiöser Stil gefielen dem Sohn, und so waren die Beziehungen zwischen den beiden im Allgemeinen ordentlich. Als Ben Gurion nach Warschau ziehen wollte, untersagte es der Vater jedoch.

Seine Freunde hatten schwerer zu kämpfen. Zemach schilderte später die seelische und geistige Krise, die sein Vater damals durchmachte, mit der Folge, dass er heftig zwischen großer Frömmigkeit und Haskala-Kultur schwankte.54 Zemach kannte Väter, die ihre Söhne für tot erklärten und die religiösen Trauerriten für sie hielten, weil sie den zionistischen Lebensstil übernommen hatten. »Du kannst dir den Schmerz nicht ausmalen«, schrieb er an Fuchs.55 Schlomo Levkowitz und sein Vater führten eine langwierige Auseinandersetzung, die beide Seiten sehr schmerzte. Der zionistische Glaube verlangte einigen von Ben Gurions Freunden also mehr Entschlossenheit und manchmal auch mehr Mut ab als ihm selbst.

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Die zionistische Kultur in Płońsk war mühelos zugänglich. Es gab in der Stadt eine Bibliothek unter der Leitung eines Mannes namens Lipa Taub; er war Sekretär des Esra-Vereins. Die Bibliothek hatte schon vor Gründung des Vereins bestanden.56 Vermutlich hatte Ben Gurion hier die Bücher gefunden, die er las, einige davon auf Hebräisch. Später erwähnte er Chaim Nachman Bialik, der sein »Seelengeliebter« war, und einige andere Dichter und Schriftsteller. Das Buch Zionsliebe (1853) von Abraham Mapu (deutsch 1885 unter dem Titel Thamar), das als erster hebräischer Roman gilt, hatte seine Sehnsucht nach dem Land Israel vertieft, wie er berichtete. Onkel Toms Hütte (1896 von Abraham Singer ins Hebräische übersetzt) pflanzte in ihm eine tiefe Abscheu vor Sklaverei, Knechtschaft und Abhängigkeit ein, und beide Bücher hinterließen bei ihm einen »mächtigen Eindruck«. Er las auch auf Russisch Auferstehung von Leo Tolstoi, das ihn zeitweilig zum Vegetarier machte. Auch Zemach las viel, ebenso andere junge Leute. Alle begeisterten sich für die Schriften eines in der Ukraine geborenen Schriftstellers namens Micha Josef Berdyczewski.