10,99 €
Seit eineinhalb Jahren betreut Ana zu Hause ihre zunehmend demente Schwiegermutter Lili. Die Idee ihres Mannes Reini, der Ana gar nicht erst gefragt hatte. Doch Ana ist mit der Pflege Lilis restlos überfordert und scheinbar machtlos gegen ihren karrierebewussten Ehemann, der längst ein Doppelleben führt und sowieso selten zu Hause ist. Überdies erachtet er diese Lösung als problemlos, sehr praktisch und nicht zuletzt preisgünstig. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Mitleid, versucht Ana sich zu wehren und gerät dabei immer tiefer in eine seelische Krise. Schließlich sind es ausgerechnet Lili und ihre Krankheit, die es Ana ermöglichen, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2013
Die Autorin
Andrea Gerster, geboren 1959. Sie lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane (Schandbriefe und Ganz oben), Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons Thurgau für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches.
Dazwischen Lili
Mutter gibt es nicht mehr. Vorher war Rex weg. Als erster aber war Vater gegangen. Das Herz, hatte Mutter bei Vaters Tod gesagt und: Ein gutes Herz ist oft ein schwaches Herz, hinzugeseufzt. Auch Luca gibt es nicht mehr. Aber bei Luca war das Weggehen nicht richtig gewesen, mit dreizehn geht man nicht. Ich vermisse ihn.
Ich erinnere mich an eine Wut, die, als ich noch Kind war, in mir hochwellte und, oben im Kopf angekommen, eine Glocke anschlug. Aber was vorher war, weiss ich nicht mehr, vor meinen Anfällen, wie es Mutter nannte, wenn ich schreiend und zappelnd wie ein verrückt gewordener Käfer am Boden lag und Mutter und Vater mich zuerst entsetzt anstarrten und dann Teller und Vasen in Sicherheit brachten, während Rex sich leise winselnd unter den Tisch verzog. Wenn ich dann nicht mehr konnte und nur noch dalag, kroch Rex wieder hervor und strich mit seiner grossen, warmen Zunge über mein Gesicht, und Mutter sagte: Geh dich waschen, Ana.
Lili gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in meiner Nähe.
Heute gibt es Lili, und Anfälle nenne ich diese Zustände nicht. Es sind Ausfälle. Ich falle heraus, aus dem Rahmen, und bin dann nicht mehr normal, wie meine Schwiegermutter Lili sagt.
Als ich grösser wurde, hat sich das Ganze ausgewachsen. Mutter und Vater waren froh darüber. Dass es jetzt wieder da ist, macht mich traurig, und manchmal denke ich, so richtig ganz weggegangen ist es nie. Irgendwo unter meiner Haut ist es wohl sitzengeblieben und lässt, je dünner sie wird, mich wieder schneller aus ihr fahren. Dünn wie Pergament ist meine Haut noch nicht, die von Lili aber schon, sie ist ja auch beinahe doppelt so alt wie ich, aber als dünnhäutig würde ich Lili dennoch nicht bezeichnen.