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Aik ist Einzelkind, seine Mutter lebt mit ihm allein. Die sehr junge, eigenwillige Frau hat sich ihr Leben trotz schwieriger Umstände eingerichtet. Der Vater des Kindes ist kein Thema, sie verschweigt seinen Namen. Ihre wichtigsten Bezugspunkte sind das Kind, das sie fürsorglich und liebevoll betreut, und die Palme Toni. Kontakte vermeidet sie, um neugierigen Fragen und scheinbar gutgemeinten Ratschlägen zu entgehen, die sich immer wieder als versteckte Vorurteile und als Misstrauen ihr als alleinerziehender Mutter gegenüber entpuppen. Doch sie wird nicht in Ruhe gelassen. Regelmäßig erhält sie anonyme Briefe mit groben Beleidigungen, manchmal Drohungen. Auch ein Umzug in die Stadt kann die Briefe nicht stoppen. Erst nach Aiks schwerem Unfall im Alter von zehn hört dieser Terror schlagartig auf. - Aiks Leben als Mann ist von der Suche nach seiner Herkunft geprägt. Seine Mutter schweigt immer noch beharrlich. Doch plötzlich steht Aik unter Druck: Seine schwangere Freundin verlangt ultimativ von ihm, dass er seinen Vater ausfindig macht. Erst dann könne ein harmonisches Familienleben mit ihr und dem gemeinsamen Kind gelingen. - In ihrem zweiten Roman erzählt Andrea Gerster eine nichtalltägliche, berührende Familiengeschichte. In zwei Erzählsträngen - aus der Sicht der Mutter sowie des erwachsenen Sohnes - entsteht das sensible Geflecht einer Mutter-Sohn-Beziehung unter besonderen Lebensumständen.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2013
Die Autorin
Andrea Gerster, geboren 1959. Sie lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane (Dazwischen Lili und Ganz oben), Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, der Kulturförderung Kanton St. Gallen und dem Migros-Kulturprozent für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches.
Schandbriefe
Aik fuhr mit den Händen in das weiche Fell, er schloss die Augen, tastete die Stirn entlang und rieb rechts und links die dünnen Ohrlappen zart zwischen den Fingern. Wie Kaschmir fühlte es sich an. Der Hund liess es geschehen. Als er ihm mit den Händen über die Augen strich, spürte er, dass der Hund blinzelte. Dann fuhr er über die Schnauze, berührte die empfindlichen, drahtigen Haare, die feuchte Nase. Der Hund bewegte sich nicht, und wenn er eine Katze gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar geschnurrt.
Aik konnte sich nicht vorstellen, dass der Hund einmal nicht mehr wäre.
*
Jemand schiebt Briefe unter meiner Wohnungstür durch. Oder lässt sie im Hauseingang in den Kinderwagen fallen. Oder schickt sie mit der Post. Schlampen sind schlechte Mütter. Immer dieser Satz. Ausgeschnitten, aufgeklebt oder krakelig mit Rotstift geschrieben. Seit ich mit meinem Kind aus dem Spital zurück bin, seit Wochen schon. Schlampen sind schlechte Mütter. Schlampe, Schlampe.
Mir fällt niemand ein, der zu so etwas fähig wäre. Vielleicht liegt es an mir, andere Mütter erhalten bestimmt keine solchen Briefe, vielleicht sehe ich einfach nicht aus wie eine Mutter.
Mir ist nicht wohl dabei, mir vorzustellen, dass ein Mensch, der schlecht über mich denkt, eben noch vor meiner Tür stand, mit dem Briefumschlag in der Hand, den ich jetzt mit der Pinzette halte. Der könnte ja krank sein, dieser Mensch, und ich und mein Kind könnten uns sonst was holen.