1,99 €
Der polnische Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski war Ende des 19. Jahrhunderts einer der führenden Köpfe der Berliner Literaturszene. Die Werke, die er in dieser Zeit schuf, hatten großen Einfluss auf Autoren wie Richard Dehmel und August Strindberg, mit dem ihn eine Hassliebe verband. Aus der Berliner Schaffensperiode stammt auch die Erzählung "De Profundis". Sie spiegelt Przybyszewskis Interesse wider für die "rätselhafte, geheimnisvolle Manifestation der Seele mit all ihren Begleiterscheinungen, dem Fieber, der Vision, den sogenannten psychotischen Zuständen" und weist zahlreiche Charakteristika der europäischen Décadence-Literatur auf. Darüber hinaus spielen in der Erzählung Anklänge an einen Inzest wie auch Hinweise auf das Wirken eines Psycho-Vampirs nicht unwesentliche Rollen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Düstere Welten – Band 3
Stanislaw Przybyszewski
De profundis
eBook-Auflage – Januar 2013© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepics.com/
Lektorat: Hermann Schladt
Stanislaw Przybyszewski
De profundis
Pro domo mea
In ein paar Wochen gedenk' ich ein Buch herauszugeben: »De profundis«, dem ich jetzt schon einige Begleitworte an Stelle der Vorrede vorausschicke.
Ich möchte das Buch nur in wenigen Händen wissen – es ist kein Buch für das Volk – und diesen Zweck glaub' ich dadurch zu erreichen, dass ich es nur in einer sehr beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lasse.
Ich habe in diesem Buch das Gebiet des sogenannten »normalen Denkens«, also das Gebiet des »logischen Gehirnlebens«, des Lebens in der »Realität« (!) gänzlich verlassen. Alle, die sich auch nur ein wenig mit dem Seelenleben beschäftigt haben, wissen, was das »freisinnige Bürgertum« unter dem normalen Denken versteht: Alles, was über die Begriffssphäre des ehrbaren Müller und Schulze hinausgeht, ist natürlich verrückt. Selbstverständlich ist für diese Menschen Goethe der Maßstab des »normalen« Empfindens, wobei natürlich übersehen wird, dass er in seinen Epigrammen Proben von einer schon ganz schön vorgerückten sexuellen Perversität abgegeben hat.
Nun ja: dies ehrbare Gehirnleben, dies uniforme Gehirnleben, dessen Denkgesetze sowohl für den niedrigsten Bildungsplebejer von der Sorte Max Nordau wie für den entwickeltsten und scharfsinnigsten Gehirnaristokraten von der Art Nietzsche im gleichen Maße gelten, fängt an, furchtbar langweilig zu werden. Das hat auch Nietzsche eingesehen, und so schrieb er sein »verrücktes« Buch, d. h. sein seelischestes Buch: »Also sprach Zarathustra« ...
In »De profundis« handelt es sich um die Manifestation des reinen Seelenlebens, der nackten Individualität, des Zustandes der somnambulen Ekstase, oder wie die zahllosen Worte auch heißen mögen, die eine und dieselbe Tatsache ausdrücken, die Tatsache nämlich, dass es noch etwas Anderes gebe außer dem dummen Gehirn, ein au delà vom Gehirn, eine unbekannte Macht mit seltsamen Fähigkeiten begabt, nämlich: die Seele – die Seele, die Ekel empfand, in der fortwährenden Berührung mit der lächerlichen Banalität des Lebens zu stehen und sich das Gehirn geschaffen hatte, um sich nicht jeden Tag prostituieren zu müssen ...
Das Surrogat dieses unsichtbaren Seelenlebens: das logische Gehirnleben, kennen wir nun zur Genüge. Das ganze Fazit aller seiner wissenschaftlichen und philosophischen Spekulationen ist ein Ignoramus und Ignorabimus, also eine gänzliche Bankrotterklärung all' seiner verzweifelten Bestrebungen. Das künstlerische Fazit – risum teneatis amici – ist der Naturalismus, die seelenlose, brutale Kunst für das Volk, die Bürgerkunst par excellence, die biblia pauperum für das schwache »normale« Gehirn, das denkfaule, feige, plebejische Gehirn, das Alles erklärt, Alles zurechtgelegt haben will, das jede Tiefe, jedes Geheimnis verhöhnt und verspottet und für Verrücktheit erklärt, weil es die Seele hasst, nur weil es sie nicht begreifen kann. Ja! das rohe, stupide Bürgergehirn – die famose vox populi – hasst Alles, was es nicht verstehen kann, vielleicht auch, weil es die bekannte Plebejerangst hat, düpiert zu werden.
Nun ja: man überlasse dem Plebejer, was des Plebejers ist, mit Vergnügen sogar einige Herren, die durchaus »Großgehirnaristokraten« genannt werden wollen.
Ich meine hier also eine andere Kunst. Die Kunst, die sich in der Malerei nicht mit der banalen Außenwelt, ein paar alten, stupiden Invaliden in Amsterdam zum Beispiel, beschäftigt, sondern der Welt, wie sie sich in der Seele in seltenen Stunden, den Stunden der Halluzination und der Ekstase widerspiegelt. Ich denke auch nicht an die famosen Leoncavallos und die zahllosen Mascagnis, sondern etwa an die Fis-moll-Polonaise von Chopin, diesen grässlichen, nackten Seelenschrei. Ich meine hier auch nicht den feudalen Reinhold Begas, sondern Vigeland. Ja, ich denke jetzt an eine andere Kunst, die Kunst, die das Tageblatt-Bürgertum für verrückt, blödsinnig, impotent u. s. w., u. s. w. erklärt hatte.
In der Literatur hat diese Kunstgattung im orientalischen Altertum und namentlich im Mittelalter ungemein reiche Blüten getrieben. Ja, namentlich im germanischen Mittelalter. Keine Rasse hat so viele Mystiker, also Menschen, die des reinen visionären Seelenlebens teilhaftig wurden, hervorgebracht, wie gerade die germanische.
Für die moderne deutsche Künstlergeneration dieser Art, also Künstler, die sich mit den Phänomenen des Seelenlebens beschäftigen, scheint mir Amadeus Hoffmann der Urahn zu sein. Freilich hat Hoffmann an die seelischen Phänomene als solche kaum geglaubt. Er suchte sie rationalistisch zu analysieren, etwa wie ein anderer Herr den Übergang der Juden über das rote Meer durch eine kolossale Ebbe erklären wollte; vielleicht suchte Hoffmann das Rätselhafte der Seele dem fetten Bürgergehirn, auf das er nun einmal aus buchhändlerischen Rücksichten angewiesen war, gegen bessere Überzeugung verständlich zu machen.
Der nun so gefeierte Edgar Allan Poe hat sich des seelischen Problems als eines wissenschaftlichen Kuriosums bemächtigt, allerdings mit einer künstlerischen Macht, die mit kalten Schauern den Rücken überläuft.
Es folgen die Revolutionen von 48, die Revolutionen der Bildungssüchtigen und der Aufklärungsbedürftigen, die Revolutionen mit ihren prachtvollen Errungenschaften: dem überflüssigen Parlamentwesen und dem wohlfeilen Pressepiratentum. Pressefreiheit! Wundervoll! Das liberale Bürgertum fing an vermöge der Pressefreiheit den Gott abzuschaffen – nein! das wagte es nicht von wegen der Monarchie, die von Gottes Gnaden bestand, aber es hat sein Dasein – auf »wissenschaftliche Gründe« gestützt – angezweifelt. Das liberale Bürgertum durfte aber wenigstens die Seele abschaffen und ihre unleugbaren Offenbarungen als Blödsinn und Humbug erklären. Gott, wie es sich gefreut haben mag, als der Spuk von Resau endlich entdeckt und gerichtlich abgeurteilt wurde!
Mittelmäßige, beschränkte Geister kommen zur Herrschaft: die Büchners, die Vogts, die Strauß, die Spencers und die Psychophysiologen und wie sie alle heißen mögen, die Braven.
Das goldene Zeitalter des Materialismus und des Berliner Tageblattes, des naturalistischen Dramas und der freisinnigen Politik!
Erst in der jüngsten Zeit hier und da Einer, der verwundert vor irgend einer seelischen Offenbarung stehen bleibt, vor einem langen Blick, der in später Stunde gewechselt wird und den ganzen Menschen aufwühlt. Hier und da Einer, der Angst bekommt vor einem momentanen Blitz der Seele, der durch das Gehirn fährt und das Unterste nach oben kehrt. Hier und da Einer, dem etwas zu Bewusstsein kommt, etwas Fremdes, Furchtbares, etwas, wovon er sich keine Rechenschaft geben kann: eine Idee, die – mag sie noch so schön physiologisch erklärt werden – nicht in den Ideengehalt seines Gehirnes hineinpasst, eine Tat, die unabhängig von dem Gehirnwillen, ja trotz des Gehirnwillens geschah. Das liberale Bürgertum hat dies Alles für Verrücktheit erklärt, die famosen bürgerlichen Psychiater haben dafür den schönen Ausdruck »Psychopathie« gefunden, und der senile Schwachkopf Max Nordau hat sogar darüber zwei Bände geschrieben, lehrreich für eine Alterserkrankung dieses Herrn, an der bekanntlich schon Cicero litt.
Eine neue, unbekannte Künstlergeneration tritt also auf. In Belgien – (ich sehe hier von den sonderbarerweise anerkannten und Gottseidank nicht verstandenen Künstlern wie Huysmans und Maeterlinck ab) Verhaeren, Krains, Eckhoud, – in Skandinavien Ola Hansson – in Polen Przesmycki, – in Deutschland Dehmel und Schlaf. Freilich scheint Dehmel den Weg, den er mit solcher Macht und solcher Sprachgewalt in »Aber die Liebe« betreten hat, jetzt in seinen »Lebensblättern« verlassen zu wollen. Unter den Ländern aber, in denen diese literarische Revolution mit besonderer Kraft und Begeisterung geführt wird, scheint mir Böhmen obenan zu stehen. In der Reihe äußerst begabter und intelligenter Künstler nenne ich hier nur S. Machar und Jirí Karásek.
So weit musste ich ausholen, um den Zweck meiner jüngsten Publikation zu rechtfertigen.
Was ich also mit meinem »De profundis« bezwecke, ist einzig und allein, ein seelisches Phänomen darzustellen – ich denke die Seele immer im schroffsten Gegensatz zum Gehirne. Das ist Alles. Aber ja: die Handlung! Hm, die Handlung, vielleicht auch Situation, Verwicklung, Intrige u. s. w. Ich pflege keine Handlung zu haben, weil ich das Leben der Seele schildere und die Handlung ist nur eine Kulisse der Seele, eine schlecht bemalte Kulisse, wie sie auf einer Liebhaberbühne einer Kleinstadt zu sehen ist. Das Leben bedarf keiner Handlung, um Konflikte zu erzeugen. Dazu genügt ein harmloser Gedanke, der nach und nach vom ganzen Menschen Besitz nimmt und ihn zu Grunde richtet.