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Ileni kann die Welt für immer verändern. Wenn sie das tut, wozu sie von jeher bestimmt war: das Imperium zu zerstören. Doch Ileni weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Ist das Imperium wirklich eine Bedrohung? Oder wollte man sie das nur glauben machen? Und welche Rolle spielt Sorin, der ebenso anziehende wie mysteriöse Assassine? In der Akademie der Magier, dem Herz des Imperiums, sucht sie nach der Wahrheit – und macht eine überraschende Entdeckung, denn dieser Ort hütet nicht nur böse Geheimnisse ... Plötzlich muss Ileni sich neu entscheiden, auf wessen Seite sie steht.
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Seitenzahl: 429
DIE AUTORIN
© Tova Suslovich
Leah Cypess schrieb ihre erste Kurzgeschichte – erzählt aus der Sicht einer Portion Eis in der Tüte – mit sechs Jahren und brachte schon auf der Highschool ihren ersten Text unter Vertrag. Sie hat Abschlüsse in Biologie, Jura und Journalismus und hat unter anderem Island, Jordanien und Costa Rica bereist. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in Boston. Ihre Bücher schreibt sie größtenteils auf dem Spielplatz.
Weitere Titel von Leah Cypess bei cbj:
Death Marked, Band 1: Die Magierin der Assassinen
LEAH CYPESS
DEATH
MARKED
DAS GEHEIMNIS DER MAGIERIN
Aus dem amerikanischen Englisch
von Katja Theiß
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2016
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe:
cbj, Kinder- und Jugendbuch Verlag in der
Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Death Marked« bei Greenwillow Books, HarperCollins Children’s Books,
einem Teil der Verlagsgruppe HarperCollins Publishers, New York.
© 2015 by Leah Cypess
Published by Arrangement with Leah Cypess
Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Theiß
Außenlektorat: Julia Przeplaska
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München,
unter Verwendung von Bildern von Shutterstock
(Aleshyn_Andrei, Aejron Photo)
kk · Herstellung: ReD
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-16629-8V001
www.cbj-verlag.de
Für Shoshana, Hadassah und David
Kapitel 1
Der Spiegel zerbarst in einer plötzlichen Explosion in Hunderte Splitter, die in einer Kaskade aus schartigen Scherben niederregneten. Ileni wirbelte herum, riss die Hände vors Gesicht, aber der Glasregen traf sie nicht: keine scharfkantigen Spiegelreste, die sich schmerzhaft in ihre Haut gruben. Nach einem Augenblick senkte sie die Arme und verschränkte sie vor der Brust.
Die zerbrochenen Glaspartikel schwebten in der Luft und funkelten in allen Regenbogenfarben. Dann verblassten sie und zogen sich im Spiegel wieder zusammen, bildeten ein schimmerndes, unversehrtes Oval.
»Beeindruckend«, sagte Ileni. Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie sprach, aber es fiel ihr nicht schwer, furchtlos zu klingen. Nach sechs Wochen in den Höhlen der Assassinen und drei Tagen als Gefangene der Magier des Imperiums war ihr gespielte Tapferkeit in Fleisch und Blut übergegangen. »Aber da ich hier die Einzige zu sein scheine, kommt es mir ein bisschen wie Verschwendung vor.«
Die Farben nahmen eine vage menschliche Form an. Doch bevor sie ein Gesicht erkennen konnte, ergriff der Schemen das Wort: »Absalm hat gesagt, dies sei der einzige Zauber, der die Schutzsiegel der Akademie durchbrechen könnte.«
Ileni erstarrte. Sie grub die Finger in ihre Oberarme.
Das Bild im Spiegel wurde schärfer, zeigte einen blonden jungen Mann mit dunklen Augen. Seine grimmig verzogenen Mundwinkel bogen sich kaum merklich zu einem angedeuteten Lächeln nach oben. »Hast du jemand anderen erwartet?«
Ileni neigte den Kopf. »Ich habe niemanden erwartet. Zumal ich, wie du bereits festgestellt hast, in einem ziemlich heftig gesicherten Raum bin.«
Es gelang ihr fast, die Stimme ruhig zu halten. Aber sie zitterte doch ein wenig und natürlich bemerkte Sorin es. Die leichte Kurve seiner Lippen verwandelte sich in ein richtiges Lächeln. »Schön, dich zu sehen, Ileni.«
Sie biss die Zähne zusammen, bevor sie sein Lächeln erwidern konnte. »Woher wusstest du, wo ich bin?«
Sein Lächeln vertiefte sich.
Ileni spannte die Kiefer an. »Du solltest mich nicht kontaktieren. Du magst mit diesem Zauber an den Siegeln vorbeigekommen sein, aber die Magier des Imperiums werden wissen, was passiert ist.«
Seine Augen wurden schmal. »Bringt dich das in Gefahr?«
Mehr als ich es sowieso schon bin? »Nein. Ich kann mich selbst verteidigen.«
»Ich hoffe, dass du recht hast.« Er lehnte sich ein wenig vor. »Ich bin froh, dass du am Leben bist.«
Ileni erzwang ein Lachen. »Na danke. Das bin ich allerdings auch.«
»Ich war mir nicht sicher, ob du noch lebst.« Es schien, als wollte er mehr sagen, und ihr Atem gefror in ihrer Kehle. Inzwischen musste er wissen, dass sie seinen Meister umgebracht hatte. Er wusste es und hatte trotzdem gesagt: Ich bin froh, dass du am Leben bist.
Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht begriffen, wie viel Angst sie davor gehabt hatte, dass er es herausfand. Nicht weil er sie umbringen würde – davor hätte sie sich fürchten sollen, aber so war es nicht. Sie hatte nur Angst gehabt, dass er sie hassen würde.
Sorin schüttelte leicht den Kopf. »Die Dinge hier sind kompliziert. Ich konnte Absalm erst jetzt dazu zwingen, dich aufzuspüren.«
»Ihn zwingen?« Ileni trat näher an den Spiegel heran. Sie war sich sicher, dass er ihr Herz pochen hörte, aber sie konnte es nicht ändern. Sie wusste selbst nicht so genau, ob es aus Furcht oder Aufregung aus den Fugen geriet. »Das klingt wie Musik in meinen Ohren. Du warst offensichtlich beschäftigt, nicht wahr?«
»Du ja auch. Wie hast du es geschafft, in die Akademie des Imperiums einzudringen?« Die Bewunderung in seiner Stimme war echt, und Ileni erschrak über den Wonneschauer, der sie durchlief. Sie sollte darüberstehen. Auch wenn es erst drei Tage her war.
Irritation schärfte ihre Stimme. »Ich dringe nirgends ein. Ich bin nicht auf deiner Seite, Sorin. Vergiss das nicht.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wie bist du sonst reingekommen? Was hast du ihnen gesagt?«
Nichts, ich bin eine Gefangene. Die Wahrheit lag ihr auf der Zunge. Wenn sie es aussprach, würde er sie retten. Er würde einen Weg finden.
Stattdessen sagte sie: »Das ist unwichtig.«
»Ist es das?« Sein Mund bildete eine harte Linie. »Wissen sie …«
»Dass ich kein bisschen Magie mehr besitze?« Sie bekam es ohne Zittern heraus. Darauf war sie stolz. »Ja. Ich kann es schließlich schlecht verheimlichen. Nicht hier.«
Stille breitete sich zwischen ihnen aus und zog sich in die Länge. Ileni war sich mehr als bewusst, dass es ihr schwerfiel zu atmen. Sorins Augen durchforschten ihr Gesicht, hielten Ausschau nach … wonach? Sie wusste es nicht, und sie wusste genauso wenig, ob er fand, was er suchte.
Er schien irgendwie verändert. Noch vor einer Woche hatte er mit ihr das Kämpfen trainiert, sie zum Lachen gebracht und im Verborgenen geküsst. Aber das Gesicht im Spiegel war undurchschaubar und gefährlich. Wenn selbst Absalm seinen Befehlen folgte, dann musste er seine Position als neuer Meister der Assassinen rasch gesichert haben. Er war schon immer ein Mörder gewesen, aber nun war er deren Anführer.
»Also«, sagte sie schließlich, als sie es nicht länger aushielt. »Wolltest du nur mal schnell vorbeischauen?«
Er atmete kurz aus. »Ja. Und ich wollte sehen, ob du Hilfe brauchst.«
Fast hätte sie darauf lachen müssen – vielleicht war es aber eher ein Schluchzen. Sie konnte ihn nicht um Hilfe bitten. Sie standen wirklich nicht auf derselben Seite. »Brauche ich nicht. Aber danke für den Dolch.«
»Gern geschehen«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
Ileni hatte den Dolch in ihrem Beutel gefunden, als sie ihn zum ersten Mal auf dem Bergpfad geöffnet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie Sorin ihn unbemerkt hineingeschmuggelt hatte, aber sie versteckte ihn sofort in ihrem Schuh. Dort befand er sich immer noch, fremd und schwer, doch gleichzeitig beruhigend.
Ihre Augen trafen sich. Seine glänzten wie Sonnenlicht, das auf schwarzen Stein fiel, und entzündeten einen Funken in Ilenis Augen. Fast hätte sie die Hand nach ihm ausgestreckt, als ob sie ihn berühren könnte – als wäre er im selben Raum wie sie.
»Bist du ganz sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, fragte Sorin. »Sag nur ein Wort und ich komme. Wenn die Magier des Imperiums herausfinden, dass du vorher in unseren Höhlen gelebt hast, ist dein Leben nicht mehr viel wert.«
Sie zögerte und fragte sich, ob er ihre vorgetäuschte Gleichgültigkeit durchschaut hatte. Er konnte ihr helfen. Er hatte Hunderte von Assassinen, die seinem Befehl folgen würden. Er hatte einen Magier, der ihm zumindest ab und zu zu gehorchen schien. Sie musste nur Ja sagen und er würde sie zurückholen.
Mit möglichst fester Stimme antwortete sie: »Sie werden es nicht herausfinden. Jeden Moment kann jemand kommen. Du gehst also jetzt besser.«
»Das werde ich. Ileni …«
Ihre Stimme klang bestimmt und fest: »Ich bin froh, dass du mich gefunden hast.«
Etwas Hitziges flackerte in den Tiefen seiner kalten schwarzen Augen auf. Seine Stimme aber war so fest wie ihre. »Dann war es das wert, dass Absalm jetzt schmollt.«
Ileni trat zurück. »Tu es nicht wieder.«
Er verabschiedete sich nicht. Sein Bild verschwand in einem Wirbel aus Farben. Die Oberfläche des Spiegels wurde schwarz, dunkler als schwarz: so dunkel, dass der Rest des Raums dämmrig wirkte, obwohl die Glimmsteine hell leuchteten. Dann schluckte der Spiegel die Dunkelheit und Ileni starrte ihr eigenes Spiegelbild an.
Einen Augenblick drang der erschrockene Ausdruck in ihrem Gesicht in ihr Bewusstsein. Dann flog die Tür auf und ein Schwall von Magie schleuderte sie vom Spiegel weg durch den Raum.
Gegen die Wand gepresst blickte sie die schwarzhaarige Frau im Türrahmen an und sagte schwach: »Karyn. Schön, dich wiederzusehen.«
Sorin trat vom Spiegel zurück und hielt seinen Atem entspannt und gleichmäßig. Grauer Nebel kräuselte sich wie von Wind getrieben über das Glas. Auf der anderen Seite des schwarzen steinernen Raums räusperte sich Absalm.
»Gut gemacht«, sagte er.
Sorin wirbelte herum, um ihn anzusehen. Der alte Renegai-Magier nickte zu ihm herüber, eine zustimmende, väterliche Geste.
Sorins Stimme nahm einen kühlen Klang an. »Könntest du das Portal wieder öffnen, wenn du wolltest?«
»Es existiert immer noch, ja. Ich könnte es leicht wieder öffnen.« Absalms Stimme war freundlich, belehrend. Sorin konnte mit Freundlichkeit nichts anfangen. Sicher nicht von diesem Mann. »Aber warum sollten wir das wollen? Der Meister hatte gute Gründe, warum er Assassinen nie auf einer Mission kontaktierte, jedenfalls nicht, bevor sie ihre Mission abgeschlossen hatten.«
Aber Ileni war kein Assassine. Sie konnte da draußen sterben, allein im Imperium, und er würde nichts davon wissen – bis es zu spät war, sie zu retten.
Sorin kämpfte um Kontrolle. Seine Gefühle für Ileni waren nicht nur eine Schwäche, sondern schlimmer noch: ein Zeichen von Schwäche. Unter seinen Mitassassinen, die jetzt seine Schüler waren – zumindest theoretisch –, vermuteten das bereits etliche, aber wenige waren sich sicher. Absalm würde ihre Vermutungen natürlich bestätigen.
Die beste Strategie bestand darin, seine Verstrickung mit Ileni als Liebelei, als reines Vergnügen, auszugeben. Oder – noch besser – als etwas, das ihm der Meister aufgetragen hatte, ein Anreiz, damit sie mitspielen würde. Fast hatte er sich schon selbst davon überzeugt, dass es genau so begonnen hatte.
Aber er hatte sie ziehen lassen. Sie war jetzt im Imperium, mit dem Blut des Meisters an den Händen – und er hatte am Eingang der Höhlen gestanden und zugesehen, wie sie weggegangen war. Er hatte keine Erklärung dafür. Keine, die Absalm befriedigte, oder einen anderen Assassinen – oder ihn selbst.
Er sollte sich nicht rechtfertigen müssen, niemandem gegenüber. Er war jetzt der Anführer der Assassinen. Aber er war nicht der Meister, der für nahezu ein Jahrhundert die absolute Macht in diesen Höhlen in Händen gehalten hatte. Absalm war mit dem Meister befreundet gewesen, hatte mit ihm zusammengearbeitet, war in seine Pläne eingeweiht, mehr als alle Assassinen. Absalm hätte keine Schwierigkeiten, Sorins Autorität zu untergraben.
Weshalb Sorin eine Erklärung finden musste, warum Ilenis Anwesenheit an der Akademie letztlich für ihn sprach. Sie mussten glauben, dass dies von Anfang an sein Plan gewesen war.
Wenn ihm das gelänge, dann müsste er sie nicht töten.
»Ileni«, sagte er, »ist eine gut geschliffene Klinge. Und nun muss sie auf ihr Ziel ausgerichtet werden.«
»Was war der Zweck dieser Unterhaltung?«
Sorin versuchte, geheimnisvoll zu lächeln, wie es der Meister so oft getan hatte; aber mit der Erinnerung an den Meister stieg Trauer in ihm auf, und Absalms ungerührtes Starren verriet ihm, dass der Magier nicht überzeugt war.
»Es war ein Anfang«, sagte Sorin.
»Und wie willst du weitermachen?«
»Das musst du nicht wissen.«
Absalm presste die Lippen aufeinander. Sorin wartete gerade lange genug, um sicherzustellen, dass die Zurückweisung traf, dann milderte er die Beleidigung mit einer Frage ab. »Glaubst du, sie ahnt, woher wir wissen, wo sie ist?«
»Nein«, antwortete Absalm. Seine Stimme war verdrießlich, aber es lag auch Respekt darin – echter Respekt, kein vorgetäuschter wie in den Tagen zuvor. »Du hast das hervorragend umgesetzt. Ich denke nicht, dass sie etwas ahnt.«
Kapitel 2
Lügen schwirrten durch Ilenis Kopf, als sie sich in dem steinernen Zimmer der schwarzhaarigen Magierin umsah. Karyn trug ein lose fallendes weißes Gewand, und ihr Gesicht war noch grimmiger als sonst, was Ileni nicht für möglich gehalten hätte. Vor drei Tagen, gleich nachdem sie in diesen Raum gebracht worden war, hatte ihr Karyn ein Versprechen gegeben: Ich werde dich umbringen, wenn du nicht kooperierst.
Heimliche Kommunikation mit den Höhlen der Assassinen zählte sicher nicht als Kooperieren.
Ilenis Füße baumelten knapp einen Meter über dem Boden und Karyns Zauber presste sie hart gegen die raue Wand. Sie versuchte krampfhaft, sich eine Entschuldigung einfallen zu lassen – eine Erklärung – irgendetwas, was ihr Zeit verschaffen würde, um Karyn davon zu überzeugen, dass sie zu wertvoll war, um sie zu töten. Aber obwohl sie unter den Assassinen wochenlang gelogen hatte, fürchtete sie plötzlich, dass es ihr dieses Mal nicht gelingen und Karyn erkennen würde, wenn sie nicht die Wahrheit sagte. So als ob sie durch die Anstrengung der beständigen Täuschung zu erschöpft war und die Lüge nicht länger aufrechterhalten könnte.
Die letzte Lüge hatte sie, sogar ohne es zu wollen, in den Höhlen erzählt, kurz bevor sie mit den schwarzen Bergen als Schatten im Rücken davonmarschiert war. Erst vor drei Tagen hatte sie Sorin versprochen: Ich werde nicht ins Dorf der Renegai zurückkehren. Sie hatte es auch so gemeint. Doch als sie einen halben Tag später den sich windenden Pfad mit dem Beutel auf dem Rücken entlanggeschritten war, hatte sie begriffen, dass das unmöglich war.
Sorin oder jeder andere Assassine hätte genau gewusst, welche Wege ins Imperium führen, und das Wenige, was sie selbst in ihrem Beutel mitführte, hätte ihnen gereicht, um dorthin zu reisen. Doch Ileni hatte sich nie darauf vorbereitet, auch nur ihr Dorf zu verlassen. Und dieses Dorf war der einzige Ort, zu dem sie den Weg kannte.
Selbst wenn es der letzte Ort war, an dem sie sein wollte.
Ileni hatte inzwischen jede Menge Übung darin, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte. Also hatte sie sich auf den Weg in ihr Dorf gemacht und sich selbst versprochen, dass es nur ein kleiner Umweg werden würde. Sie hatte versucht, nicht daran zu denken, wie sie erklären würde, warum sie ihr Exil in den Höhlen verlassen hatte. Oder – noch undenkbarer – warum sie in Richtung Imperium unterwegs war.
Dann hatte ihr Karyn aufgelauert.
Ileni schätzte, sie sollte der Magierin des Imperiums gegenüber eine Art von Dankbarkeit empfinden. Sie musste nicht zurückkehren, ihre eigenen Leute nicht ein zweites Mal enttäuschen. Auch Tellis musste sie so nicht gegenübertreten. Stattdessen war sie mitten ins Zentrum der Macht des Imperiums entführt worden. Zur Quelle der Magie, die es aufrechterhielt, und zum idealen Ort, um herauszufinden, ob das Imperium wirklich so verkommen war, wie man es ihr beigebracht hatte.
Um zu entscheiden, ob sie wirklich dabei helfen würde, es zu zerstören.
Immer vorausgesetzt, die Magier des Imperiums entschlossen sich nicht, sie vorher zu töten, konnte das sogar funktionieren. Doch Ileni fand beim besten Willen keinen einzigen Grund, warum sie sich ihrer nicht entledigen sollten.
Sie hatte die letzten drei Tage eingesperrt in einem steinernen Raum verbracht, und soweit sie das einschätzen konnte, wusste niemand außer Karyn, dass sie da war. Die Tatsache, dass Karyn sie noch nicht umgebracht hatte, war ihr einziger Hoffnungsschimmer.
Ihre Erinnerung an die Begegnung mit Karyn, ihre Konfrontation auf dem schmalen Pfad, war flüchtig. Karyn hatte ihr sofort einen violetten Lichtblitz entgegengeschleudert, und Ileni konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie in diesem fensterlosen Raum aufgewacht war. Sie hatte nur wenige Minuten gebraucht, um die Schutzsiegel um sich herum wahrzunehmen und zu begreifen, wo sie sich befand.
Seither war regelmäßig Essen auf einem Tablett aufgetaucht, und ihr Nachttopf war manchmal verschwunden und plötzlich wieder da gewesen – dieser beiläufige Einsatz von Magie war auch ihr früher vertraut gewesen. Aber sie hatte keinen Kontakt zu anderen. Wie lange hätte Karyn sie hiergelassen, wenn Sorin sie nicht in Zugzwang gebracht hätte?
Die Magie, die Ileni gefangen hielt, lockerte sich, und die Steinmauer schrammte gegen ihren Rücken, als sie zu Boden glitt. Karyn hob eine Hand und bläulich weißes Licht flimmerte zwischen ihren Fingern. »Wenn du einem Assassinen dabei geholfen hast, unsere Schilde zu durchbrechen, dann bringe ich dich sofort um. Ich rate dir also zu erklären, was eben passiert ist.«
Zum Glück hatte Ileni gerade etliche Wochen hinter sich, in denen sie ihre Ängste hatte verbergen müssen. Sie tat es inzwischen ganz instinktiv. »Mach dich nicht lächerlich. Du weißt, dass ich über keinerlei Magie mehr verfüge. Ich kann niemandem bei irgendwas helfen.«
»Alle Magier der Akademie haben die Magie gespürt, die aus diesem Raum kam. Deine Anwesenheit ist kein Geheimnis mehr.«
Es war also ein Geheimnis gewesen? Interessant.
»Ich habe nichts gemacht«, sagte Ileni. »Jemand hat versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen.«
»Jemand aus dem Dorf der Renegai?«
Fast hätte Ileni nur wegen der Verachtung in Karyns Stimme gelogen, allein um sie zu ärgern. Ja. Meine Leute können eure Siegel durchbrechen. Was hältst du davon?
Aber die Magier des Imperiums gingen immer noch davon aus, dass die Renegai eine ewiggestrige Gruppe von zwielichtigen Vertriebenen waren und keine echte Gefahr. Wenn Ileni nun behaupten würde, sie könnten die Siegel der Akademie durchbrechen, würde sie das wahrscheinlich in Gefahr bringen. Die Assassinen wurden dagegen bereits als Bedrohung eingestuft. Und abgesehen davon konnten sie gut auf sich selbst aufpassen.
»Nein«, sagte sie. »Jemand aus den Höhlen der Assassinen.«
Karyn richtete sich auf, und Ileni war froh, dass sie nicht gelogen hatte. Die Magierin sah sie nun an, als würde sie eine echte Gefahr darstellen. Als wäre sie jemand, den man nicht unterschätzen durfte.
Vielleicht war das gut so, vielleicht aber auch nicht. Sie nicht unterschätzen konnte schnell in sie töten umschlagen. Doch in diesem Moment fühlte es sich gut an.
»Was wollten sie?«, fragte Karyn.
Erneut wirbelten Lügen durch Ilenis Kopf, manche davon sinnlos, manche unglaubwürdig, wieder andere widersprüchlich. Doch Sorin wiederzusehen – wenn auch nur für ein paar Augenblicke –, hatte sie daran erinnert, dass es manchmal nicht schadete, Risiken einzugehen. Sie lächelte Karyn an und sagte: »Das werde ich dir nicht verraten.«
»Na schön«, erwiderte Karyn sehr sanft. »Ich denke, das wirst du sehr wohl.« Das bläulich weiße Licht um ihre Hand breitete sich aus und formte einen knisternden Ball voll kaum gebändigter Kraft.
Angst umschlang Ileni wie eine sich zuziehende Schlinge. Erst vor vier Tagen hatte sie gesehen, wie Karyn Sorin über einem Abgrund in der Schwebe gehalten hatte, während die hässliche Spule eines Todeszaubers ihren Gesängen entsprang. Karyn war eine Magierin des Imperiums. Folter fiel ihr leicht.
»Du wirst mir außerdem verraten«, sagte Karyn, »mit wem du wirklich geredet hast. Seit du weg bist, gibt es keinen ausgebildeten Magier mehr in den Höhlen der Assassinen. Jedenfalls keinen, der in der Lage wäre, Siegel zu durchbrechen.«
Ileni wünschte, das wäre wahr. Doch wenn es eine Sache gab, die sie Karyn nie erzählen würde, dann, dass Absalm noch am Leben war. Das war der Faden, der die Magierin zu der ganzen verworrenen Verschwörung führen konnte – zum wahren Grund, warum sie in den Höhlen gewesen war, zum wahren Grund, warum sie sie verlassen hatte.
Ihre Chance herauszufinden, ob das Imperium so böse war, wie sie immer geglaubt hatte, hing davon ab, ob Karyn ihr abnahm, dass sie keine Bedrohung war – wenn man die Frage außer Acht ließ, ob sie die nächsten zehn Minuten überleben würde. Wenn sie Ileni anschaute, musste sie eine naive, machtlose ehemalige Magierin vor sich sehen. Keine … Waffe.
Das Gefühl von Verrat stieg dicht und düster in Ilenis Kehle hoch. Absalm war ein Ältester ihres Volkes. Jemand, dem sie vertraut hatte, und er hatte ihr gesamtes Leben zu seinen Zwecken verbogen.
Sie schluckte ihren Schmerz und Zorn herunter. Sie war keine Waffe … noch nicht. Sie war nicht hier, um sich von Absalm zum Werkzeug machen zu lassen, sondern um selbst zu entscheiden, auf welcher Seite sie stand.
Gerade sah die Seite des Imperiums nicht sonderlich vielversprechend aus.
»Ich weiß nicht, wie sie durch die Siegel gekommen sind«, sagte sie. »Aber ich könnte dabei helfen herauszufinden, wie sie es getan haben.«
Karyns Augenbrauen gingen nach oben. »Wirklich. Du wechselst die Seiten aber ziemlich rasch, oder etwa nicht?«
Es lag genug Wahrheit in dieser Feststellung, um Ileni erröten zu lassen. »Ich habe nie zu den Assassinen gehört. Ich wurde dazu gezwungen, in die Höhlen zu gehen und sie in Magie zu unterweisen. Und ich habe sie verlassen.«
»Das hast du. Um zu deinen eigenen Leuten zurückzukehren. Offensichtlich hängst du noch an ihnen, trotz deines Techtelmechtels mit den Mördern.«
Die leichte Betonung auf Techtelmechtel verdeutlichte, dass Karyn wusste, was Sorin ihr bedeutete. Ileni kämpfte darum, nicht zu erröten, und scheiterte kläglich. »Ja. Ich war auf dem Heimweg.«
Sie hatte nicht Heim sagen wollen, es war ihr herausgerutscht.
Karyn ballte die Finger langsam zur Faust und das bläulich weiße Licht zog sich bis zu ihrer Handfläche zurück. »Zu welchem Zweck? Wenn ich das richtig verstanden habe, können die Renegai mit Magiern, die ihre Kräfte verloren haben, nicht viel anfangen.«
Noch so eine Wahrheit. Es ist egal, sagte sich Ileni, als verschiedene Arten von Scham sie innerlich aufwühlten. Solange Karyn nicht die tiefste Wahrheit herausfand.
Ich mag zwar keine Magie mehr besitzen, doch ich verfüge über die Macht, euch alle zu töten. Und ich bin hier, um mich zu entscheiden, ob ich sie einsetzen werde.
Obwohl es nicht wirklich ihre Macht war. Sie war nur ein Gefäß – in Magie ausgebildet, obwohl ihre Kraft von Anfang an vergänglich gewesen war. Die einzige Magie, auf die sie nun noch zurückgreifen konnte, war jene, die durch den freiwilligen Tod anderer übertragen wurde. Eine Höhle voller Assassinen würde sich auf einen Befehl hin selbst töten, damit sie ihre Kraft aufnehmen konnte. Und mit dieser Kraft konnte sie die Akademie der Magie zerstören, das Epizentrum der Macht des Imperiums. Ohne die Akademie besaß das Imperium keinen ausreichenden Schutz gegen die Assassinen.
Sie konnte diejenige sein, die das Ziel erreichte, auf das die Assassinen und ihr Volk seit Jahrhunderten hingearbeitet hatten: das Imperium vom Angesicht der Erde zu fegen.
Es sei denn, sie würde vorher durch besagtes Imperium getötet. Was passieren würde, wenn sie ihre Lügen nicht länger aufrechterhalten konnte.
Sie zwang sich, mit dünner, hilfloser Stimme zu sagen: »Ich konnte sonst nirgends hin.«
Karyn schnaubte. »Und jetzt bist du hier und schließt dich einfach uns an?«
»Ich könnte dir helfen«, sagte Ileni. »Ich habe wochenlang in den Höhlen gelebt. Ich könnte Dinge wissen, die sich für dich als nützlich erweisen.«
Karyn legte den Kopf zur Seite, eine Pose, die man irrtümlich als Belustigung missverstehen konnte, hätte da nicht Argwohn in ihren Augen gestanden. Ilenis Augenlid begann zu zucken, als sich die Stille hinzog. Dann sagte die Magierin: »In Ordnung. Du kannst bleiben.«
»Ich …« Es gelang ihr, nicht mit was oder warum herauszuplatzen, indem sie sich so hart auf die Lippe biss, dass es schmerzte.
»Fürs Erste«, fügte Karyn hinzu. »Aber ich behalte dich im Auge.«
Ileni nickte.
Karyn öffnete langsam die Hand. Das bläulich weiße Licht war verschwunden. »Mir fällt sicher etwas ein, wie ich den Bruch der Siegel erklären kann – zum Beispiel dass es ein Versehen während deiner Vorprüfung war. Und dann lasse ich dich als neue Schülerin einschreiben. Niemand muss wissen, woher du kommst.« Sie streckte die Finger. »Dir ist hoffentlich klar, dass du keinen Tag überleben wirst, wenn auffliegt, dass du ein Assassine warst.«
»Ich war kein Assassine.«
»Du hast ihnen beigebracht, mit Magie umzugehen, oder etwa nicht? Hast sie darin unterrichtet, uns umzubringen?«
Die Schärfe in Karyns Stimme machte Ilenis nächste Frage zunichte. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass Karyn sie bleiben ließ: Sie glaubte, dass Ileni ihr dabei helfen konnte, die Assassinen zu bekämpfen. Aber glaubte sie wirklich, dass Ileni zur Verräterin geworden war? Oder verfolgte sie einen anderen Plan, um Ileni gegen ihren Willen zu benutzen?
Nun, das wäre zumindest nichts Neues.
Karyn durchquerte den Raum und berührte den Spiegel mit ihren Fingern. »Ich rufe umgehend den nächsten Magier. Ein glückloser Schüler wird bald hier eintreffen, um dich in die Prüfungsarena zu begleiten.«
Sie schloss die Augen und murmelte einen kurzen Zauber. Ein Schimmer von Magie streifte fern und verlockend Ilenis Haut und sie schauderte gegen ihren Willen.
Karyn öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um es noch mitzubekommen. Sie sah Ileni unter gesenkten Augenlidern an. »Ich habe Zugang zu so vielen Lodesteinen, wie ich will. Wenn du das gewusst hättest, hättest du sicher nicht so viel Aufwand betrieben, mir den einen zu stehlen, den ich bei unserem letzten Treffen dabeihatte.« Sie schürzte die Lippen. »Obwohl ich davon ausgehe, dass du die Kraft wieder hättest kosten können, wenn es dir gelungen wäre, ihn festzuhalten.«
Es war so eine offensichtliche, kindische Stichelei, dass sie nicht hätte funktionieren sollen.
»Es ist schon interessant«, schnurrte Karyn regelrecht, »was glaubst du, wirst du fühlen, wenn du von Magiern in der Ausbildung umgeben bist? Einst warst du eine der besten, oder etwa nicht?«
Ileni wusste genau, wie sich das anfühlen würde. Sie hatte ihre eigenen Leute verlassen und war zu den Höhlen der Assassinen aufgebrochen, weil sie genau dieses Gefühl für immer verbannen wollte.
Sie fürchtete, dass es ihr nicht gelingen würde, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren. Sie wandte sich genau in dem Moment von Karyn ab, als zwei junge Männer im Türbogen erschienen – im wörtlichen Sinne: Eine Sekunde zuvor war dort noch niemand gewesen.
»Gut«, sagte Karyn, die immer noch wie eine zufriedene Katze klang. »Das ist Ileni. Sie wird –«
Einer der Neuankömmlinge sah Ileni an. Sie erstarrte, als sie ihn erkannte, doch sein Gesicht blieb freundlich, als hätte er keine Ahnung, wer sie war. Er beugte sich in raubtierhafter Anmut zu seinem Schuh hinunter, ohne den gelassenen Ausdruck auch nur eine Sekunde zu verlieren.
Ileni griff nach ihrem Dolch, doch er war schneller.
Das waren Assassinen immer.
»Woah«, sagte der andere Junge sanft, und Karyn schnappte: »Ileni!«
Die Hand des Assassinen lag um ihr Handgelenk, eng genug, um wehzutun, doch er zeigte keinerlei Anspannung. Seine andere Hand war eingerollt, aber leer. Zu spät erkannte Ileni, dass er nicht nach einer Klinge gegriffen hatte. Er hatte sich nur heruntergebeugt, um seine Stiefelhosen abzuwischen, die durch einen Kreidefleck verschmutzt waren.
»Was machst du?«, fragte der Assassine mit erhobener, zittriger Stimme. Seine Augen waren geweitet, sein Atem kam schnell, als wäre er derjenige, der Angst hatte. Doch seine Augen glänzten vor Vergnügen, das nur sie sehen konnte.
Ilenis Herz rutschte ihr in den Magen. Sie wagte es nicht, Karyn anzusehen. Sie zwang sich, die Finger zu öffnen, und hörte den Dolch auf den Boden klirren.
Der Assassine sah nicht nach unten und er ließ auch ihr Handgelenk nicht los. Er war drahtig und muskulös mit einem ungebändigten roten Schopf und trug Grün und Schwarz statt des für Assassinen üblichen Graus.
»Tut mir leid«, sagte Ileni. Ihre Stimme kam hoch und kratzig heraus. »Ich … dachte, du wärst jemand anders.«
Sie überprüfte nicht, ob ihr das alle abnahmen; sie wusste mit Sicherheit, dass Karyn es nicht tat. Sie behielt den Assassinen im Blick, um herauszufinden, ob sie wegen ihres Fehlers sterben würde.
Ein Moment des Schweigens. Zwei. Fahlblaue Mörderaugen starrten sie an. Dann ließ er ihr Handgelenk los und trat zurück; es gelang ihr nicht, einen erleichterten Seufzer zu unterdrücken, der laut und deutlich durch den kleinen Raum hallte.
»Ich denke«, sagte er, »du weißt ganz genau, wer ich bin.«
Ilenis Mund war zum Reden zu trocken, selbst wenn ihr etwas eingefallen wäre, was sie hätte sagen können.
»Arxis?«, sagte der andere Junge.
Der Assassine sah ihn von der Seite an. »Ich bin eine Zeit lang mit einer Gruppe von Händlern gereist. Eine unserer Unternehmungen hat uns in die Berge zu Ilenis Dorf geführt und sie und ich … nun … Offensichtlich hat sie geglaubt, dass es mehr wäre.«
»Wir haben nicht …«, fing Ileni erhitzt an und hielt dann inne. Der Glanz in seinen Augen war nicht mehr belustigt. Sie erkannte die Kälte.
Sie konnte den Dolch förmlich an ihrer Kehle spüren.
»Ich habe nie gedacht, dass es mehr ist«, sagte sie schließlich. Ihr Gesicht brannte, aber sie fuhr fort. »Es war mehr. Das hast du selbst gesagt.«
»Oh, Arxis«, sagte der andere Junge. »Du musst deine Silberzunge zügeln.«
»Was ich tun muss«, sagte Arxis, »ist leichtgläubigen, romantisch veranlagten Dorfschönheiten fernzubleiben.« Er beugte sich nach unten, hob ihren Dolch auf und hielt ihn ihr hin. »Vielleicht brauchst du den noch, falls dir jemand begegnet, der wirklich gefährlich ist.«
Ileni biss sich in die Wange, um still zu bleiben. Sie nahm den Dolch entgegen und wünschte sich sehnlich, ihre Hand würde nicht zittern.
»Genug«, schnappte Karyn. Arxis blickte Ileni überzeugend finster an. Ileni starrte zurück. Sie musste sich noch nicht einmal anstrengen, um glaubwürdig zu wirken, denn sie meinte es ernst.
Karyn seufzte. »Evin, Glückwunsch, du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Du trägst nun die Verantwortung für sie.«
Ileni blickte zu dem zweiten jungen Mann. Seine Augen waren groß und seine braunen Haare standen ihm in Wirbeln vom Kopf ab. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, das danach genauso zerzaust aussah wie zuvor.
»Ich habe eine Gabe für so was«, sagte er ruhig, als hätte sie nicht erst vor einer Minute einen Dolch gezückt. »Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, meine ich. Obwohl ich gestern zur richtigen Zeit am falschen Ort war und das lief auch nicht besser.«
Alle ignorierten ihn. Ileni ließ ihre Augen auf Arxis ruhen, auf seinem unerbittlichen Gesicht und dem angespannten Körper. Sie hatte mehr als ein Dutzend Mal gesehen, wie schnell Assassinen zuschlagen konnten. Sorin hatte ihr ein paar grundlegende Verteidigungszüge beigebracht, doch sie hatten nur funktioniert, weil er sich zurückgehalten hatte. Wenn Arxis sich dazu entschloss, sie umzubringen, dann war sie tot.
Und wenn er wüsste, dass sie seinen Meister getötet hatte, dann würde ihn nichts davon abhalten.
Schließlich trat Arxis einen Schritt zurück. Ilenis Schultern entspannten sich, obwohl sie wusste, dass er sie auch mit Leichtigkeit vom anderen Ende des Raums aus töten konnte. Sie zwang sich dazu, ihren Dolch wieder einzustecken.
»Interessant«, sagte Karyn. Es war unklar, mit wem sie sprach. »Evin, zeig Ileni bitte den Weg zur Prüfungsarena. Wir treffen uns dort.«
Ileni öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Karyn wusste haargenau, dass sie kein Fünkchen Magie mehr besaß. Niemand in ihrem Volk hatte über so viel Kraft verfügt wie Ileni als Heranwachsende, doch als ihre Magie zu versickern begann, hatte man sie für den Rest ihres Lebens als Lehrerin zu den Assassinen geschickt. In nur wenigen Monaten wurde sie von der zukünftigen Anführerin zum nutzlosen Bauernopfer.
Wenn Karyn wirklich dachte, dass sie etwas gewinnen würde, wenn sie den Verlust von Ilenis Kraft mithilfe einer »Prüfung« vorführte, dann irrte sie sich. Ileni war inzwischen ziemlich immun gegen Demütigungen.
»Ich freue mich darauf«, sagte sie.
»Gut.« Karyn schien es ernst zu meinen, was Ileni verunsicherte.
»Hier entlang«, sagte ihr neuer Führer und wartete darauf, dass sie loslief, bevor er sie aus der Tür und in die Akademie der Magie führte.
Kapitel 3
Eine massive Mauer zwischen sich und dem Assassinen zu haben, war eine große Erleichterung. Ileni versuchte Arxis aus ihren Gedanken zu verbannen, während sie Evin durch kurvenreiche Gänge folgte. Diese Korridore waren enger und schöner als die in den Höhlen der Assassinen. Sie waren besser durch Glimmsteine ausgeleuchtet, die die Wände in dekorativen fantasievollen Mustern säumten. Die Luft war erfüllt von einem leicht blumigen Geruch, der Ileni unangenehm künstlich erschien, ein merkwürdiger Kontrast zu dem massiven Fels, der sie umgab.
Magie – genau das war der Schlüssel. Das Imperium war groß und mächtig, aber es war in jeder Hinsicht auf Magie angewiesen, egal ob es um Transport oder Kommunikation ging – und insbesondere in Kriegsfragen, bei der Niederschlagung von Aufständen und der Verteidigung gegen die ständigen Angriffe der Assassinen. Ohne Magie gab es keine Möglichkeit, die Kontrolle über die umfangreichen Gebiete zu wahren. Wenn sie diese Magie stehlen – oder schwächen – konnte, wäre dies der Beginn vom Untergang des Imperiums.
»Nun«, sagte Evin, als sie ein paar flache Treppenstufen hinuntertrotteten, »sieht ganz so aus, als ob es hier ein bisschen interessanter wird. Woher, sagst du, kommst du?«
Ileni holte tief Luft. Am besten, sie brachte es hinter sich. »Ich bin eine Renegai.«
Evin nickte höflich. »Oh, wirklich? Aus dem Kerosianischen Weideland?«
Es gab andere Renegai? Wussten die Ältesten davon? »Nein. Aus den Kierranischen Bergen.«
»Ah, stimmt! Die Separatisten im Weideland nennen sich selbst ja Singer. Entschuldige.« Seine Stimme war höher, als sie das von Männern gewohnt war, und sie begriff, dass das, was sie für Karyns erhobene Stimme gehalten hatte, in Wirklichkeit nur die Art war, wie die Menschen hier sprachen.
Sie erreichten eine Gabelung und Evin nahm den Flur zur Linken. Er war groß und schlaksig und lief mit einem lockeren, schwingenden Schritt. Im Vergleich zur konzentrierten Anmut, die sie von den Assassinen – von Sorin – gewohnt war, wirkte er linkisch auf sie.
Sogar seine Stimme war lässig. »Was ist da drin passiert, zwischen dir und Arxis?«
Er klang nicht herablassend, sondern amüsiert. Leichtgläubige, romantisch veranlagte Dorfschönheiten, hatte Arxis gesagt. Ileni schnaubte wütend. »Es war nicht so, wie er gesagt hat. Es war ein Missverständnis.«
»Löst du deine Missverständnisse immer mit der Klinge?«
»Ich finde, das spart Zeit.«
Er sah sie von der Seite an und grinste. »Dann passe ich besser gut auf, was ich in deiner Gegenwart sage.«
»Das würde ich dir raten.«
Evins Augenbrauen gingen hoch. Ileni wusste, dass sie unfreundlich klang, aber das war in Ordnung. Er war ein Magier des Imperiums. Selbst wenn er aufgewachsen war, ohne die Geschichte ihres Volks zu kennen, so war sie im Hass auf seinesgleichen groß geworden. »Wie lange ist er schon hier?«
»Arxis? Nicht lange«, sagte Evin.
»Was macht er …«, fing sie an, doch dann bogen sie um eine Ecke und waren plötzlich nicht mehr unter der Erde.
Sie waren es nie gewesen.
Sie standen auf einem Vorsprung an einem Berghang. Unterhalb des Felsens – sehr, sehr tief unten – führte ein Meer von winzigen Baumwipfeln in einer Kaskade von verschwommenem Grün den Berg hinunter. Über ihnen spannte sich der Himmel in reinem Blau. Die Felsen reckten sich hinter ihr steil und schroff in die Höhe und ein zäher Strauch klammerte sich in einer Spalte in die Felswand über ihr.
»Was ist das?«, atmete sie.
»Der Weg zur Prüfungsarena natürlich.« Evin lief bereits den Vorsprung entlang – welcher, wie Ileni begriff, tatsächlich ein Pfad war, der die Seite des Berges säumte. Seine Füße berührten die Kante des Vorsprungs, doch er schien den gefährlichen Abgrund neben sich gar nicht zu bemerken. »Die Akademie umspannt ein paar Bergspitzen. Wie du siehst, ein idealer Ort, um Magie anzuwenden.«
Ileni sah das ganz und gar nicht so. Aber sie nickte. »Klar. Natürlich.«
Evin setzte den Weg fort und rechnete offensichtlich damit, dass sie ihm folgte. Ileni wollte nichts mehr, als in die Dunkelheit der Höhle zurücksinken, die weit entfernt von der enormen Weite unter ihr lag. Sie konnte ihre Füße nicht dazu bringen, sich zu bewegen.
Wir wissen, wie wir Angst überwinden, hatte Sorin ihr einmal gesagt. Vielleicht hätte er hier auch Angst, doch er würde sich niemals davon aufhalten lassen.
Sie spannte den Kiefer und trat einen Schritt vor, und dann noch einen. Der Vorsprung bestand aus massivem weißen Fels, war aber furchtbar schmal. Sie legte eine Hand flach gegen das narbige Gestein des Berghangs und schob sich vor. Dabei hielt sie die Augen nach vorne gerichtet und sah nicht – auf keinen Fall – nach unten.
Evin blickte zurück. Seine Überraschung prickelte heiß auf ihrer Haut, aber sie zwang sich, schneller zu gehen. Einst war sie so furchtlos wie er gewesen, doch nun besaß sie keine Magie mehr als Sicherheitsnetz. Ein Fehltritt und sie würde stürzen und im Abgrund zerschellen.
Ihr Leben bestand nun aus Ängsten wie diesen, Erinnerungen an kleine Sicherheiten, die sie nicht mehr besaß.
Als sie wieder zu Evin aufgeschlossen hatte, zitterte sie am ganzen Körper, ihre Knie waren weich und ihre Hände klamm. Evin wartete in einem Torbogen auf sie, der in den Berg führte. Die Öffnung, in der Licht und Dunkel verschwammen, war ein willkommener Anblick, sodass es Ileni plötzlich egal war, wie erbärmlich sie wirken musste. Sie stürzte an Evin vorbei in das Dämmerlicht, drückte ihren Rücken gegen die Mauer und holte mehrmals tief Atem.
»Höhenangst?«, fragte Evin mitfühlend. Sein Gesicht war offen und aufrichtig, sein Mund zuckte leicht, aber mehr aus Mitgefühl als aus Spott – ein weiterer Unterschied zu den Höhlen. »Das sehe ich nicht zum ersten Mal. Das geht vorbei.«
Ileni wollte etwas Lässiges erwidern, doch sie konnte nicht aufhören zu zittern. Sie schloss die Augen und versuchte, an etwas Beruhigendes zu denken. In ihrem Leben hatte es allerdings schon lange nichts mehr gegeben, was man als beruhigend bezeichnen konnte. Deshalb dachte sie an die Zeit, bevor Karyn sie aufgegriffen hatte, bevor sie in die Höhlen der Assassinen geschickt worden war, bevor die Ältesten ihr erklärt hatten, dass sie ihre Magie verlieren würde. Sie erinnerte sich daran, wie sie Rücken an Rücken mit Tellis in einem der Übungsräume der Renegai gesessen hatte und sich auf den Rhythmus eines Entspannungszaubers konzentriert hatte.
In den Höhlen hatte sie sich gehen lassen, war die mentalen Übungen nicht mehr durchgegangen, die dafür vorgesehen waren, Magie zu schärfen, die sie nicht mehr besaß. Inzwischen konnte sie diese nur noch langsam und ruckartig ausführen und sie unterwarf sich ihnen ohne jede Anmut. Schließlich fand sie in den Rhythmus zurück – zögernd, doch effektiv, und ihr Atem fügte sich dem Muster. Natürlich begleitete ihn keine Magie, ein Verlust, der schmerzhaft und scharf an ihrer Konzentration kratzte. Aber langsam entspannten sich ihre Muskeln.
Sie war sich nicht sicher, wie lange es gedauert hatte. Als sie die Augen öffnete, lehnte Evin ihr gegenüber an der Mauer und beobachtete sie. Seine Haltung verriet keine Spur von Ungeduld, was sicher bedeutete, dass er sie gut verbarg.
»Danke fürs Warten«, sagte Ileni. »Ich bin jetzt bereit weiterzugehen.«
»Selbstverständlich«, antwortete Evin, und seine Stimme war dabei so neutral wie ihre. Seine braunen, von langen Wimpern umkränzten Augen waren ruhig und sicher. »Es wäre nicht fair, dich zu prüfen, wenn du noch aufgewühlt bist. Zur Prüfungsarena geht’s da lang.«
Er führte sie tiefer in den Durchgang und durch einen Bogen zur Linken. Ihre wiedergefundene Ruhe umhüllte sie wie ein Mantel und Ileni folgte ihm.
Als sie die Prüfungsarena erreichten, durchlief sie ein Gefühl des Wiedererkennens mit der kalten Wucht der Unausweichlichkeit. Sie war kleiner als die Trainingsräume der Assassinen und es gab weniger Waffen und keine so ausgefallenen. Doch abgesehen davon glichen sich die Räume: rund, höhlenartig und karg, erleuchtet durch Glimmsteine an den Wänden und den hohen Bogendecken. Hier gab es allerdings keine Stalaktiten. Die Decke war glatt und spannte sich in einer polierten Kurve von Wand zu Wand.
»In Ordnung«, sagte Evin, und sie zwang sich weiter. In der Mitte der Kammer befand sich ein einfacher, erhabener Stein mit perfekter Höhe zum Sitzen. Evin blieb daneben stehen und wandte sich ihr zu.
Was auch immer er in ihrem Gesicht las, ließ ihn die Stirn runzeln. Aber er sagte nur: »Willst du ein bisschen üben, bevor Karyn zu uns stößt? Wir können mit etwas Einfachem anfangen … kannst du Feuer heraufbeschwören?«
Früher hatte Ileni täglich Dutzende Feuer gerufen. Nichts würde einen plötzlichen Weinkrampf erklären, also drängte sie den stechenden Schmerz des Verlusts zurück und sagte: »Ist schon in Ordnung. Ich warte auf Karyn.«
»Bist du sicher? Es ist nicht so, als hätte ich gerade irgendetwas Wichtiges zu tun.«
»Dann verschwinde und tu etwas Unwichtiges«, schnappte sie.
»Nun. Davon gibt es jede Menge«, sagte er. »Schon in Ordnung. Viel Glück.«
»Das werde ich nicht brauchen.« Was genauso gemein wie gelogen war. Beruhig dich, Ileni.
Evin sah über seine Schulter. »Ich habe nicht mit dir gesprochen.«
Ileni wirbelte herum. Karyn lehnte am anderen Ende des Raums an der Wand und beobachtete sie im Licht der Glimmsteine, die die Konturen ihres Haars silbern erscheinen ließen.
Ileni drehte sich wieder zurück und sah gerade noch, wie Evin aus der Tür verschwand.
»Das könnte interessant werden«, sagte Karyn. »Bist du bereit?«
Bist du bereit?, hatte der Älteste gesagt. Seine Stimme war freundlich und das war das Schlimmste daran. Während der anderen Prüfungen – die, bei denen man davon ausgegangen war, dass sie sich hervorragend schlagen würde, wo Scheitern nur bedeutete, dass sie sich noch mehr anstrengen musste – waren die Ältesten nie freundlich gewesen, sondern hart und ohne Mitleid.
Sie waren erst freundlich geworden, als sie begannen, ihr Scheitern zu erwarten.
Karyn stand mit gespreizten Beinen und leicht gekrümmten Finger da. In ihrem Blick lag nichts Freundliches. Die Magierin freute sich ganz offensichtlich auf das, was kommen würde.
Ich kann mich weigern. Aber was dann? Ileni war hier, weil Karyn sie duldete. Und sie musste hierbleiben, um die Wahrheit über das Imperium herauszufinden. Sie musste die Wahrheit in Erfahrung bringen, bevor sie eine Entscheidung traf.
Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass die Zerstörung des Imperiums ihre Lebensaufgabe war, die Hoffnung aller Renegai. Aber zu viele ihrer Kindheitsvorstellungen waren in den Höhlen der Assassinen zerschmettert worden. Sie musste es mit eigenen Augen sehen. Und wenn sie diese Chance haben wollte, dann musste sie bei Karyns grausamem Spielchen mitmachen.
Ileni biss sich auf die Lippe. Sie schritt zu dem erhabenen Stein hinüber und setzte sich darauf.
Der Stein war, wie sie umgehend feststellte, nicht zum Sitzen geeignet. Er bog sich nach oben und war unglaublich unbequem. Aber Karyn beobachtete sie, also blieb Ileni sitzen und täuschte Ruhe vor.
Karyns Lippen zuckten, aber sie sagte nur: »Sollen wir mit einem leichten Trainingsduell anfangen?«
Ileni fragte sich erneut, warum Karyn sie nicht einfach getötet hatte. Wollte die Magierin vielleicht vorher mit ihr spielen?
»Nein? Also etwas Einfacheres.« Karyn hob die geballte Faust und öffnete sie dann. Ein glühender Ball schwebte unglaublich hell vor ihrer Handfläche. Karyn schnippte die Finger und die Kugel schoss durch die Luft.
Ileni hatte gerade genug Zeit, um ihr Gesicht zu schützen. Die Kugel prallte gegen ihren bloßen Unterarm und verschwand. Brennender Schmerz bohrte sich in Ilenis Haut und sie verbiss sich einen Schrei.
Karyn blinzelte sie an. »Was war das?«
Bevor sich Ileni eine Antwort überlegen konnte, schickte Karyn bereits die nächste Kugel los.
Diese war gegen ihre Schulter gerichtet. Ileni gelang es, ihr auszuweichen, indem sie sich zur Seite drehte, doch das kostete sie ihr Gleichgewicht. Sie glitt vom Felsen, ruderte noch mit den Armen und schlug dann hart auf dem Boden auf.
Grunzend kam sie gerade so auf die Füße, dass die nächste Kugel ihre Wange traf. Dieses Mal schrie sie und Tränen brannten in ihren Augen.
Keine der Kugeln war bisher groß oder heiß genug gewesen, um sie ernsthaft zu verletzen. Es ging offenbar nicht darum, Ileni zu prüfen. Karyn wollte sie demütigen.
Während sie einen Eintrag unter Gründe, sie alle umzubringen in ihrem Kopf ergänzte, wich Ileni der nächsten Kugel aus. Sie flog quer durch die Höhle und traf die gegenüberliegende Wand, wo sie als harmloser weißer Funkenregen explodierte, der sich gegen den grauen Fels abzeichnete.
»Oh, komm schon«, schnappte Karyn. »Du hast mit einem Assassinen geschlafen und hältst immer noch an deinem dummen Skrupel fest?«
Ileni erinnerte sich nur zu gut daran, wie Karyns Gesicht sich verzerrt hatte, wie ihre Füße hilflos über weißem Fels zappelten, als Sorins Hände sich unaufhaltsam immer fester um ihren Hals schraubten. Sorin hatte Karyn in den Höhlen fast umgebracht, als er herausgefunden hatte, dass sie aus dem Imperium stammte.
Eigentlich wollte Karyn Sorin verletzen und demütigen. Aber Sorin war nicht da – Ileni dagegen schon.
Wie würde Sorin damit umgehen? Ileni konnte sich nicht vorstellen, dass er sich jemals in eine Situation bringen würde, in der er so hilflos war.
Sie musste sich zu Boden werfen, um der nächsten Kugel zu entgehen. Sie zischte so knapp über ihrem Kopf vorbei, dass sie ihre Haare ansengte.
»Ich werde sie so lange nach dir schleudern«, warnte Karyn, »bis –«
»Bis was?«, rief Ileni. Doch ein weiteres weißes Licht schoss auf sie zu, zu schnell, um ihm auszuweichen, und sie gab nach. Sie wusste, was Karyn sehen wollte: die schreckliche Wahrheit, die ultimative Demütigung. Sie wollte sehen, wie Ileni sich mit Magie zu wehren versuchte und scheiterte.
Ileni konnte nicht anders. Als der weiße Ball auf sie zuschoss, rief sie instinktiv ihre Kräfte, die sie verloren hatte, beschwor die Magie, die in ihr gelegen hatte.
Und fand sie.
Die weiße Kugel blieb nur Zentimeter vor ihrem Gesicht stehen. Ileni zuckte zurück, obwohl sie begriff, dass ihre Abwehr funktioniert hatte. Sie hatte die Kugel aufgehalten, ohne sie zu berühren. Etwas so Einfaches, etwas, von dem sie gedacht hatte, es für immer verloren zu haben.
Die Zeit blieb stehen. Die Kugel wirbelte ohnmächtig in der Luft, ihre Helligkeit blendete sie.
Dummer Skrupel, hatte Karyn gesagt, und plötzlich verstand Ileni. Es war gar nicht ihre Magie.
Gestohlene Magie. In den Wänden, die sie umgaben, musste es Lodesteine geben, welche sich von der Magie ermordeter Seelen nährten; ihre Lebensenergie wurde in Stein gebannt und von der Akademie gesammelt. Schwarze Magie. Nicht ihre eigene.
Aber sie fühlte sich wie ihre an.
Ileni kreiselte die Kugel und schleuderte sie auf Karyn zurück.
Karyns Augen weiteten sich. Sie hob die Arme, schnellte anmutig wie ein Vogel in die Luft und landete mit Leichtigkeit wieder auf dem Boden, nachdem die Kugel unter ihr hindurchgeschossen war. Sie riss ihre Arme zusammen und kreuzte sie vor der Brust. Als sie sie wieder öffnete, schwebten Dutzende Kugeln vor ihr, sie waren so heiß, dass sie winzige Funken sprühten.
Sie lächelte ein dünnes, unangenehmes Lächeln und die Kugeln verteilten sich und rasten auf Ileni zu.
Sie konnte unmöglich allen ausweichen – es waren zu viele, und sie kamen zu schnell heran. Ihr blieb keine Wahl. Sie zog mehr Kraft an und eine Welle von Magie pulsierte durch ihre Haut.
Ileni schoss nach oben, und ein ganzes Geschwader leuchtender Kugeln glitt unter ihr vorbei, ohne Schaden anzurichten. Als sie auf die gegenüberliegende Wand zustürzten, drehte sie sich in der Luft und hielt sie mit einem stummen magieerfüllten Ruf auf.
Dann löschte sie mit einem Flüstern das Feuer der Kugeln. Zurück blieben ein Dutzend durchsichtiger Sphären, die wie festgefroren wenige Zentimeter vor der Wand hingen.
Sie rief sie zu sich und sammelte sie in ihren Armen, dabei verwendete sie ein wenig Magie darauf, sie nicht fallen zu lassen. Sie landete vor Karyn, öffnete ihre Arme und ließ die Kugeln zu Boden fallen.
Sie landeten mit dumpfen Schlägen und rollten in verschiedene Richtungen davon. Karyn schnippte mit dem Finger, und sie verschwanden alle auf einmal; Ileni ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.
Ilenis Herz pochte so heftig, dass sie das Kribbeln in den Händen beinahe nicht mehr spüren konnte, aus denen die Magie geflossen war und ihr gehorcht hatte. Sie hatte so hart daran gearbeitet, die Trauer in Zaum zu halten, sich nicht mehr das Unmögliche zu wünschen, dass sie es immer noch nicht fassen konnte. Zweifel breitete sich in ihr aus, als wären die letzten Sekunden ein Traum gewesen.
Sie hob ihre Hand und flüsterte einen schnellen Zauberspruch. Beschwör Feuer, hatte Evin gesagt.
Das Feuer wand sich um ihre Hand, züngelte zwischen ihren Fingern. Sie fügte eine Prise Kraft hinzu und eine lodernde Flamme umhüllte ihren gesamten Arm. Sie schmerzte nicht, berührte ihre Haut nicht einmal, obwohl sie die Hitze in ihrem Gesicht spüren konnte.
»Genug«, schnappte Karyn.
Ileni drehte den Arm, murmelte etwas und ließ das Feuer ausgehen. Sie drehte sich langsam im Kreis und ließ ihre Augen über die in der Wand eingelassenen Glimmsteine wandern. Ihr Blick verweilte lange genug auf einem beliebigen Stein, um die Regenbogenfarben unter seiner Oberfläche wirbeln zu sehen – um zu verstehen, dass es überhaupt kein Glimmstein war.
Hunderte von Lodesteinen, die für Hunderte von Toden standen, Hunderte von Unschuldigen, die gefoltert und ermordet worden waren. Um ihre Kraft zu ernten. Mit jenen Trauerliedern, die diese Opfer besangen, war sie aufgewachsen, und damit, Rachegelübde zu schwören.
In den Höhlen hatte sie gedacht, vom Bösen umgeben zu sein. Doch sie hatte ja keine Ahnung gehabt.
Das Böse war nirgends so verlockend wie hier.
Sie begegnete Karyns dunklen, grüblerischen Augen. Und begriff zu spät, dass hier nicht nur ihre Fähigkeiten auf die Probe gestellt wurden.
Es ging darum, wie empfänglich sie sich für diese Versuchung zeigte.
Karyns Lächeln war ein schmaler Strich in ihrem blassen Gesicht. »Die Akademie erlaubt nicht jedem, auf Lodesteine zuzugreifen. Es handelt sich um ein Privileg. Vergiss das nicht.«
Die Drohung dahinter war offensichtlich: Ich kann dir das jederzeit wieder wegnehmen.
Karyn beobachtete Ilenis Gesicht aufmerksam – wie ein Raubtier. »Das ist alles, was ich sehen wollte. Du wirst mit den am weitesten fortgeschrittenen Schülern trainieren.« Sie drehte sich um, und Ileni konnte nicht sagen, ob Karyn es ernst meinte oder nicht, als sie über die Schulter hinweg hinzufügte: »Glückwunsch.«
Auf dem Rückweg entlang des engen, sich windenden Pfads gab Ileni sich alle Mühe, sich schuldig zu fühlen. Die Magie des Imperiums war böse. Es war falsch, Kräfte zu benutzen, die nicht die eigenen waren. Kräfte, die nur im Augenblick des Todes abgegeben werden konnten. Und doch fühlte sie keine Schuld – oder überhaupt irgendetwas außer dem Hochgefühl, das in ihr brodelte.
Und sie konnte nicht aufhören zu lächeln.
Karyn führte sie einen langen, nach Blumen duftenden Korridor entlang, wo sie einem Mann in einem braunen Umhang begegneten, der Karyn ein Bündel Papiere aushändigte. Es folgten zwei kichernde Mädchen in grünen Kleidern und später ein sehr großer Mann, der in einem Flackern aus blauem Licht verschwand. Schließlich blieb Karyn vor einer verschlossenen Tür stehen. »Hier ist dein Zimmer.«
Ileni wagte noch nicht zu sprechen. Sie nickte.
Karyn warf ihr einen mürrischen Blick zu, der Ileni nur noch breiter grinsen ließ. Die Magierin schritt weiter den Korridor ab, ihre Absätze klapperten auf dem Steinboden. Ileni zog die Tür auf und betrat das Zimmer.
Wo Arxis sie bereits erwartete.
Kapitel 4
Der Assassine saß entspannt auf dem Bett an der Wand. Dennoch wirkte er wachsam. Eine Haltung, die Ileni nur zu gut kannte: Die Arme hatte er hinter dem Rücken verschränkt und die Fußballen ruhten auf dem Boden.
Gut, dachte Ileni und formte die Luft um sich herum zu einem Wall, der stark genug sein würde, ein Messer abzuwehren. Magie, Magie, Magie … es war so einfach. Endlich fühlte sie sich wieder mächtig. So mächtig, wie sie es wochenlang allen vorgespielt hatte. Bebend vor Aufregung wandte sie sich an ihn: »Nun?«
Arxis neigte den Kopf leicht – eine nur angedeutete Geste des Respekts. Als er ihn wieder hob, waren seine Augen kalt. »Warum bist du hier, Lehrerin?«
Gestärkt von der Magie, die in ihr brodelte, gierte Ileni geradezu danach, auf Risiko zu spielen. Sie zuckte die Schultern und erwiderte: »Man hat mich geschickt, dir zu helfen.«