9,99 €
Sein Deckname: WHITE KNIGHT. Seine Ausbildung: TOPSECRET. Sein Ziel: die Operation DEEP SLEEP auffliegen lassen. Um die Drahtzieher hinter DEEP SLEEP zu stoppen, setzt John im Auftrag des WHISPERERs auf einem Frachtschiff nach Marseille über. Dort hofft er, die legendäre Hackerin SNOW WHITE ausfindig zu machen. Nur sie kann John helfen, die Machenschaften der ehemaligen Geheimoperation auffliegen zu lassen. Doch bereits auf hoher See stößt John auf erbitterten Widerstand. Denn auch ein gegnerischer DEEP SLEEP-Agent hat sich in die Crew des Frachters eingeschleust … Erlebe alle Bände der explosiven Action-Thriller-Reihe! Band 1: Codename: White Knight Band 2: Auftrag: The Whisperer Band 3: Mission: Good Mother
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 413
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2024 Ravensburger Verlag Text: Chris Morton Covergestaltung: ZeroMedia GmbH Verwendete Bilder von Shutterstock/Summit Art Creations, Shutterstock/Songquan Deng, Shutterstock/Mykola Mazuryk, Shutterstock/Gilles Paire, Shutterstock/i3alda, Shutterstock/muuraa, Shutterstock/vectorfusionart, Shutterstock/leolintang, Shutterstock/fran_kie Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51209-6
ravensburger.com
Max Monroe griff nach seinem Coke-Becher und suchte den Blick seiner Mannschaftsfreunde. Alle aus dem engeren Kreis hatten sich eingefunden, hier an ihrem Stammtisch im Shake Shack Diner an der Interstate 95. Um über die abgelaufene Footballsaison zuquatschen …undvorallem,umIanBrownzugedenken.Ihrem Freund und Mannschaftskameraden, der für sie in letzter Sekunde die County-Meisterschaft gewonnen hatte … nur um kurz danach ausihrerMittegerissenzuwerden.UnwillkürlichverharrtenMax’ Augen auf dem leeren Platz in ihrer Runde, vor dem eine Cola samt Ians Lieblingsburger stand. Max schluckte. Ian … Er fehlte ihm, und wenn er so in die Gesichter der anderen blickte, ging es ihnen genauso.
Mit einem Räuspern riss Max sich aus der Starre und hob die Coke. »Auf Ian!«, krächzte er und streckte den Becher vor.
»Auf Ian!«, hallte es ihm entgegen, während sie anstießen. Schleppend kamen die Unterhaltungen in Gang, ohne dass recht Stimmung aufkommen wollte. Als die Ersten sich mehr aus lahmer Gewohnheit den Dauerbrenner-Themen zuwandten – Football und, na klar, Mädchen –, hatte Max schon wieder auf Durchzuggeschaltet.DertragischeTodseinesbestenFreundeswarimmer noch unfassbar. Erweiterter Suizid durch den Pflegevater Gerald,hatteesgeheißen.DermitseinerFrauLindaundIanüber eine Steilklippe in den Atlantik gerast war. Wobei man Ians Leiche im Gegensatz zu seinen Pflegeeltern nie gefunden hatte …
In Gedanken versunken, hob Max die Coke. Die Hand gefror mitten in der Bewegung, als er am anderen Ende des Diners eine vertraute Gestalt erblickte. Ungläubig kniff Max die Augen zu. Doch danach stand der Teenager immer noch dort am Tresen und nahm seine Bestellung entgegen. Grundgütiger! Es war … Ian!
Unter den verwirrten Blicken seiner Freunde knallte Max die Coke auf den Tisch und sprang auf. Rasch umkurvte er einige Gäste mit Tabletts, doch er war nicht schnell genug. Sein Freund hatte das Diner bereits verlassen. Als Max endlich nach draußen stürmte, stieg Ian bereits in einen Wagen und fuhr davon. Mit zittrigen Fingern fischte Max einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Jeansjacke und kritzelte sich das Kennzeichen auf dieHand.DanngriffernachseinemHandyundwähltedie911 …
»Danke,Lucy,sehrnettvonIhnen«,sagteKatherineLong,alsihre Sekretärin den Kaffee hinter ihr auf dem Schreibtisch abstellte.
Lucy starrte sie an wie eine Erscheinung. Wer sind Sie?, wäre es ihr beinahe herausgerutscht. Und was haben Sie mit meinem Miststück von Chefin gemacht?
»WAS?«, fauchte Long, ohne den Blick vom Parkplatz zu wenden, wo sich die Ersten nach einem weiteren glorreichen Tag im Dienst für Onkel Sam in den Feierabend aufmachten. »Haben Sie nichts zu tun?«
»Doch, Ma’am!« Eiligst trat Lucy den Rückzug an.
Katherine Longs kurzes Stimmungshoch hatte einen Grund. Dabei waren die letzten Tage ein einziger Albtraum gewesen: zweiDEEPSLEEP-Teams sowie ein Kommando erfahrener Shadow Men komplett ausgelöscht, vonWHITEKNIGHT – der anschließend spurlos verschwunden war. Zur Ohnmacht verdammt, hatte sie sich in den folgenden Tagen vor allem darauf konzentriert, weitere Munition gegen Ken Olsen zu sammeln. Ihrem Verbündeten bei diesem kleinen Hochverrat gelüstete es nach dem Fiasko garantiert nach ihrem Skalp und sie wollte nicht unvorbereitet sein. Doch dann hatte die Meldung, die vorhin auf ihrem Bildschirmaufgepopptwar,allesverändert.EinerihrerSuch-Algorithmen hatte angeschlagen! Ein Teenager in Trenton, New Jersey, hatte den Notruf gewählt und was von seinem toten Freund gefaselt, den er gesehen hatte: Ian Brown …WHITEKNIGHTs Schläfername.SogareinAutokennzeichenhattederJungegehabt.
DieCopshattenesalsschlechtenScherzabgetan.Nichtjedoch Katherine. Obwohl die Bezeichnung Stellvertreterin des stellvertretenden Direktors der Operationsabteilung nicht gerade nach großem Kino klang, stand sie in dieser Position ganz oben in der Nahrungskette derCIAund verfügte über fast unbeschränkte Mittel. Mittel, die sie sofort eingesetzt hatte. Die Gesichtserkennung hatteWHITEKNIGHTin den Aufzeichnungen der Restaurantkameras auf Anhieb gefunden und ein Track-Bot konnte seinen Wagen anschließend über die Verkehrsüberwachungssysteme bis in den Hafen von Boston verfolgen. Dort hatte sich die Spur verloren. Vorerst. Doch die Schlinge würde sich schon bald wieder zuziehen, denn an inoffiziellen Helfern – Cops, Kurierfahrer, was auch immer – bestand kein Mangel.
»Ken!«, flötete sie kurz darauf in eines ihrer Handys für besondere Fälle. »Wir müssen reden. Sofort!«
EinesmusstemanKenOlsen,VorstandvorsitzenderdesTech-GigantenBRIGHTHORIZON,lassen:ErwarimmerfürÜberraschungen gut. Statt unter einer der üblichen Highwaybrücken irgendwo in der Pampa fand ihr Treffen in derVIP-Gondel des Capital Wheel statt – einem gigantischen Riesenrand am Ufer des Potomacs, von dem aus sich ein atemberaubender Blick auf das nächtliche Washington bot.
»Na, Katherine, genießen Sie den Ausblick?« Der frostige Unterton machteklar, dass Olsen damit nicht das prächtig erleuchtete Weiße Hausmeinte, das in der Ferne aus dem Lichtermeer herausstach. »Oder haben Sie etwa Angst,dass sich gleich der Abgrund unter Ihnen auftut?«
Katherine starrte durch den Glasboden der Gondel auf den Pier hinab, der sich 55 Meter unter ihnen in den Fluss erstreckte. Sie hob den Blick. »Wenn, dann ende ich immerhin nicht allein alsGehacktes,Ken.«ZufriedenregistrierteKatherine,dassOlsens Haifisch-Lächeln gefror. Ein Hoch auf das gute alte Prinzip der vollständigen gegenseitigen Vernichtung. »Darf ich fragen, welchen Umständen ich …« Sie umfasste in einer vagen Geste die Kabine. »… das bezaubernde Ambiente zu verdanken habe?«
ErneutsetzteOlseneinLächelnauf.»Oh,imKongresszentrum nebenan fand heute unsere Hauptversammlung statt. Zur Erbauung unserer wichtigsten Aktionäre und Geschäftspartner habe ich den ganzen Pier gebucht, einschließlich Riesenrad, Restaurants und Clubs.«
»Freut mich sehr, dass ich zum Kreis gehöre«, erwiderte Katherine süffisant. Worin eine doppelte Wahrheit lag. Zum einen hattedieCIAtatsächlichihreITsamtArchivaufBRIGHTHORIZON-Server ausgelagert. Zum anderen arbeiteten Katherine und Olsen unter Hochdruck daran, das System liberaler WarmduscherinWashingtonumzustürzen.MithilfeeinesinVergessenheit geratenen und höchst illegalen Black-Ops-Programms namensDEEPSLEEP, das Katherine zusammen mit Olsen reaktiviert hatte, um dieUSAmit einer tödlichen Terrorwelle zu überziehen. Erfolgreich hatten sie dadurch den Ruf nach einer starken Führung in der Bevölkerung immer lauter werden lassen. Weniger erfolgreich waren sie allerdings darin gewesen, diejenigen zu erwischen, die einen dieser jugendlichenDEEPSLEEP-Schläfer –WHITEKNIGHT – gegen sie aktiviert hatten …
»Also, Katherine, wozu das Treffen?«, beendete Olsen das Geplänkel.
Statt einer Antwort blickte Katherine zu dem Mann, der in dem luxuriösen Ledersitz neben Olsen Platz genommen hatte. Ein Kerl mit stechenden Reptilienaugen und bleich wie der Tod, der bisher stumm geblieben war.
Olsen kapierte. »Oh, Sie können Mr Wolkow absolut vertrauen.«
Katherine zögerte. »WHITEKNIGHTist wieder aufgetaucht«, gab sie sich schließlich einen Ruck.
»Sind Sie sicher?«, fragte Olsen.
Katherine zog ein Tablet aus ihrer voluminösen Handtasche und reichte es Olsen. Wortlos starrte er auf das Bild, das einen älteren Teenager am Tresen eines Schnellrestaurants zeigte. »Von der Überwachungskamera eines Diners nahe Trenton«, erklärte Katherine und berichtete von ihren weiteren Erkenntnissen.
Olsen rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet. Einkassieren und ausquetschen!«
Zu seiner Überraschung schüttelte Katherine den Kopf. »Schlechte Idee!«
»Wieso?«
»WHITEKNIGHThätte einfach irgendwo untertauchen und die Beine stillhalten können. Stattdessen kutschiert er ausgestattet mit Geld, neuem Wagen und wer weiß was sonst noch quer über den Kontinent zur Ostküste.«
»Sie meinen, er ist auf einer Mission?«, schaltete Mr Wolkow sich mit einer Stimme ein, die Katherine an quietschende Kreide erinnerte.
Sie nickte. »Dem Verhaltensmuster nach wette ich, dass er das Land per Schiff mit falscher Identität verlassen wird … der beste Weg, unter dem Radar zu bleiben. Unsere Gesichtserkennung durchforstet gerade die Netzwerke von Reedereien, Schiffsagenturen und der Hafenbehörde. Ich denke, es ist nur eine Frage von Minuten oder Stunden, bis wir auf ein Dokument mit seinem Konterfei stoßen und wissen, auf welchem Schiff er sich nach Europa aufmacht.«
»Europa?« Olsen zog fragend die Brauen hoch.
»NureineVermutung«,räumteKatherineein.»Wennaucheine naheliegende, angesichts der …« Sie räusperte sich. »… durchschlagenden Performance vonDEEPSLEEP2.0, die womöglich das Interesse unserer Gegner auf sich gelenkt hat.«
Olsen und Wolkow wechselten einen Blick. »Ihr Vorschlag?«, fragte Olsen.
»Einen Schläfer aktivieren, derWHITEKNIGHTim Auge behält und sich vielleicht sogar in sein Vertrauen schleicht. Und …« Sie machte eine dramatische Pause. »…WHITEKNIGHTmit einem unwiderstehlichen Köder in unsere Arme treibt, um ihn umzudrehen und so unsere Feinde zu vernichten.«
»Einen Köder?«, echote Olsen.
»Seine Schwester!«, erwiderte Katherine triumphierend. Den fassungslosen Mienen nach zu schließen, hatten ihre Gegenüber es offenbar bisher nicht der Mühe wert befunden, einen tieferen Blickin die medizinischen Akten derDS-Schläfer zu werfen. Kein Wunder,sieselbsthatteesnachdemletztenDesasternurauspurerVerzweiflunggetan –inderHoffnung,aufirgendetwasWichtiges zu stoßen. Sie fuhr fort: »Cynthia Gregory aliasLIGHTNINGist niemand anderes alsWHITEKNIGHTs leibliche Schwester. Am genauen Wie und Wann arbeite ich noch. Aber garantiert kommen wir durch sie nicht nur anWHITEKNIGHTran, sondern auch an die, die ihn gegen uns aktiviert haben.«
Olsen starrte ausdruckslos vor sich hin, bevor sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. »Ausgezeichnete Arbeit, Katherine. So machen wir’s.«
Nickend wollte Katherine das Tablet wieder in die Handtasche befördern, als Wolkow danach langte. »Darf ich?« Achselzuckend ließ Katherine ihn gewähren und beobachtete, wie Wolkow einen Ausschnitt vonWHITEKNIGHTs Bild extrem heranzoomte. Dank modernster Enhance-Software war die Bildqualität kein Problem, was den Vorgang für sie jedoch nicht weniger irritierend machte. »Die rote Schwellung da zwischen Daumen und Zeigefinder«, schnarrte Wolkows Kreidestimme. »Was ist das?«
»Keine Ahnung, ’n verdammter Insektenstich?«
Wolkow schüttelte den Kopf. »Könnte auch ein frisch implantierter Chip sein.« Er warf Olsen einen undeutbaren Blick zu. »Ein Datenchip …«
Katherine entging nicht das unbehagliche Flackern in Olsens Augen. Doch schon war der Moment vorüber.
»Ach, was soll sein!«, winkte Olsen lachend ab. »Im Fall der Fälle wird’s unser Schläfer rausfinden, oder?«
Katherine nickte ausdruckslos, während Olsen aus einem Klappfach zwei Weingläser hervorholte und nach der Flasche langte, die auf dem Tischchen zwischen ihnen in einem Kühler bereitstand.
»AufdiekünftigeVerteidigungs-,Innen-undJustizministerin!«, stieß er gleich darauf mit Katherine an.
»Auf den künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten!«, erwiderte Katherine und zwang sich zu einem Lächeln – auch wenn die Ahnung, dass die beiden ihr gegenüber noch eine ganz eigene Agenda verfolgten, ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
Mürrisch starrte Boman Johnson aus dem Fenster des Waggons. Nicht, dass es da großartig etwas zu sehen gegeben hätte – abgesehen von seinem Spiegelbild, das ihm von der Scheibe entgegenstarrte, um ab und zu der schmutzig braunen Tunnelwand zu weichen, sobald die Funken der Stromführschiene diese kurz aus der Finsternis rissen. Gähnend blickte er auf die Uhr. Bald 23 Uhr … Im Grunde hätte er auch einfach auf der Arbeit übernachten können. Nach einem Tag voller Überstunden durfte er gleich morgen früh um fünf schon wieder zur Frühschicht antanzen, weil jemand ausgefallen war. Boman schloss für einen Moment die Augen. Was für ein beschissener Tag!
Am liebsten hätte er den Job als Verkäufer im Electric Supply Paradise im Norden der Stadt sofort hingeschmissen. Allein der Name war ein Witz. Denn neben miesen Arbeitsbedingungen gab’s als Bonus noch ein Riesenarschloch von Boss obendrauf. Aber einen einigermaßen vernünftigen Job zu kriegen, war nicht leicht, und er war dringend auf die Kohle angewiesen. Apropos Kohle. Verstohlen blickte er sich im Waggon um. Am anderen Ende saßen sich zwei junge Pärchen gegenüber. Lachend und munter unterhielten sie sich miteinander. Ansonsten war der Waggon leer.
Verblüfft ertappte Boman sich dabei, wie er unverwandt auf die Szene starrte. Irritiert riss er den Blick los und horchte in sich hinein, während er sich an sein eigentliches Vorhaben machte und die Geldbörse aus der Gesäßtasche zog. War er etwa neidisch auf die vier? Auf ein Leben mit Freunden, Zweisamkeit und all so was? Kaum war die Frage in seinem Geist aufgeblitzt, wischte ein energisches Schwachsinn! sie beiseite. Er war immer alleine gewesen. Hatte nie drunter gelitten. Weder jetzt noch davor bei Paula und Steve, seinen Pflegeeltern … wo er allein unter anderen Pflegegeschwistern gewesen war, die irgendwie alle ihr eigenes Ding durchgezogen hatten. Genauso wie Paula und Steve, denen es weniger um die seelischen Befindlichkeiten ihrer Schützlinge gegangen war als um die monatlichen Schecks des Jugendamtes. Dagegen ließ sich im Grunde nichts sagen, fand Boman, denn im Gegenzug hatte er ein Dach über dem Kopf gehabt, Klamotten und immer genug zu essen. Automatisch wollten die Gedanken weiter zu der Zeit vor Steve und Paula springen, bevor sie urplötzlich in alle Richtungen zerfaserten und sich verloren. Verwirrt blinzelte er einen Moment in das Innenleben seines Portemonnaies, bis ihm wieder einfiel, warum er es eigentlich geöffnet hatte.
Rasch zählte er das Geldbündel durch, das ihm sein Boss Barny vorhin in die Hand gedrückt hatte: Der Lohn für vierzehn Tage Schufterei. Auch nach erneuter Zählung waren es nicht mehr als 843 Dollar. Barny hatte zwar angekündigt, dass es diesmal weniger wäre, weil Boman angeblich nicht so viele Fernseher, Smartphones und anderen Firlefanz verkauft hatte als sonst. Aber dass es so wenig war, war ein Schlag in die Magengrube. Wut wallte in ihm auf. Jede Wette, dass Barny ihn hinsichtlich seiner Provisionen übers Ohr gehauen hatte. Boman ballte die Fäuste. Doch augenblicklich entspannten sich seine Finger wieder, als eine aus dem Nichts kommende, beruhigende Wärme Geist und Körper flutete – begleitet von ebensolchen Gedanken: Ärgern lohnt nicht. Wut ist inakzeptabel. Wut schadet. Wut macht auf dich aufmerksam.
Sogleich fühlte Boman sich wieder geerdet und fand in der Überlegung Trost, dass es immerhin für die nächste Woche fällige Miete reichte. Danach würde er eben weitersehen. Am besten schonte er jetzt seine Kräfte für das allabendliche Powerprogramm, mit dem er sich fit hielt. Denn neben dem steten Drang, unter dem Radar zu bleiben, bestimmte eine Sache seine ganze Existenz: das Verlangen, den Körper in Topform zu halten.
Nach einem letzten Blick in die markanten hellblau-grünen Augen seines eigenen Spiegelbildes neigte er den Kopf gegen die Scheibe, entspannte sich und ließ sich vom rhythmischen Rattern der U-Bahn davontragen …
»He, Spacko, aufwachen!« Der harte Stoß, der die Stimme begleitete, riss Boman endgültig aus dem Dämmerschlaf an die Oberfläche des Bewusstseins zurück. Er schlug die Augen auf und blinzelte verwirrt, als ihn schon der nächste Stoß schmerzhaft in die Rippen traf. Stöhnend hob er den Blick. Drei Kerle hatten sich vor ihm aufgebaut … etwa sein Alter. Schwarze Hoodies: zwei. Lederjacke: einer. Nike-Basecap: einer. Sneaker powered by Adidas: alle. Reflexartig sprang Boman auf die Beine. Doch mit einem Fausthieb in die Magengrube beförderte einer der Hoodies ihn gleich wieder auf den Sitz zurück.
Ein verzweifelter Blick durch den Waggon zeigte, dass dieser inzwischen leer war. Und an den dreien käme er ohne Hilfe nicht vorbei. Seine Augen zuckten zur Überwachungskamera an der Decke. Doch die war mit schwarzer Sprühfarbe bedeckt.
Grinsend hielt die Lederjacke eine Spraydose in die Höhe. »Die Kamera ist blind wie ’n Maulwurf!«
»Also, dann mal raus mit der Kohle«, übernahm einer der Hoodies das Wort. Der mit der Nike-Basecap und offenbar der Anführer des Trios. »Und was du sonst noch so dabei hast.« Auffordernd streckte er die Hand aus und strahlte dabei mit jeder Körperfaser die Überzeugung aus, dass die Sache schon geritzt war.
Womit er gar nicht mal so falschlag.
Um Fassung ringend, schloss Boman die Augen. Ausgerechnet heute! Mit über achthundert Dollar im Portemonnaie! Wie hatte er nur so dumm sein können? Er wusste doch, was zu dieser Uhrzeit in der Bostoner Redline manchmal abging. Zumal in Richtung Dorchester, einem echten Drecksviertel, in dem er wegen der billigen Miete wohnen musste. Die Miete! Er brauchte das Geld! Unbedingt! Unwillkürlich ballten sich seine Hände wieder zu Fäusten.
»Ah-ah-ah!«, kam es von Nike-Cap, dem die Bewegung nicht entgangen war. Unvermittelt blickte Boman in die Mündung einer Knarre. Eine Saturday Night Special, wie die Cops sie nannten … in diesem Fall eine Röhm RG. Eine billige Handfeuerwaffe, die fast ebenso gerne mal in der Hand des Schützen explodierte, als tatsächlich einen Schuss abzugeben. Aber es drauf ankommen zu lassen, war natürlich nicht ratsam. Nike-Cap drohten ganz offensichtlich die Sicherungen durchzubrennen. »Du willst es auf die harte Tour? Okay, kannste haben! Rück. Dein. Geld. Raus. Sofort!« Mit einem wütenden Schwenk des Revolvers verlieh er seiner Aufforderung Nachdruck.
Ärgernlohntnicht.Wutistinakzeptabel, übernahm die mantrahafte Stimme in Bomans Kopf das Kommando.
»Schon gut!«, presste er zwischen bebenden Lippen hervor und zog sein Portemonnaie heraus. »Hier!«
Die Röhm auf den Boden gerichtet, klappte Nike-Cap die Geldbörse auf und machte Stielaugen, als ihm die Dollarscheine entgegenquollen. »Wow!«, feixte er. »Jackpot!« Triumphierend präsentierte er seinen Kumpanen die Beute, um sie gleich darauf in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen.
»He?! Wo willst du denn hin?«, grinste er, als Boman sich erhob.
»I… ihr habt doch, was ihr wollt«, erwiderte er fahrig. »Und an der nächsten Station muss ich raus.«
»Wir sagen dir, wann du raus musst«, stellte Nike-Cap klar. »Ärmchen hoch!« Mit knapper Geste bedeutete er dem anderen Hoodie, in Aktion zu treten. Mit zügigen, effektiven Bewegungen, die den Fachmann verrieten, tastete Nike-Caps Kumpan ihn ab. Er brauchte nur Sekunden, um das Handy in der Innentasche von Bomans Jacke zu finden.
»Bingo!«, rief er und präsentierte seinem Boss den Fund.
»Ist wohl unser Glückstag«, strahlte dieser. »Nettes Teil!«
Boman gefror innerlich. Das Handy! Alles durfte er verlieren, alles … aber nicht sein Handy! Auf keinen Fall und unter gar keinen Umständen! Mit starrem Blick verfolgte er, wie Nike-Caps Sidekick sich anschickte, das Handy in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen. Das Denken setzte aus. Etwas in seinem Hirn explodierte. Es war, als hätte man den Splint aus einer Handgranate mit 0,0 Sekunden Zündverzögerung gezogen.
Bomans Linke schoss vor. Mit übelkeitserregendem Knirschen landete sein Handballen an Sidekicks Kinn. Schreiend ließ der das Handy fallen, taumelte nach hinten und fuhr sich mit der Hand an den gebrochenen Kiefer. Das zwischen den Fingern vorquellende Blut ließ drauf schließen, dass er sich kräftig auf die Zunge gebissen hatte. Was Boman jedoch kaum wahrnahm, da er sich auf Nike-Cap konzentrierte, dessen Waffenhand er während seines Angriffs mit der Rechten im Schach gehalten hatte, um sie verstärkt durch die frei gewordene Linke nun vollends zur Seite zu fegen.
Viel zu spät drückte Nike-Cap den Abzug. Auf einen ohrenbetäubenden Knall folgte ein gellender Schrei, als der abgelenkte Schuss die Lederjacke im Oberschenkel erwischte. Der Getroffene war noch nicht auf den Boden aufgeschlagen, da hatte Boman Nike-Cap schon zu sich herangerissen und ihm die Schädeloberseite ins Gesicht gerammt. Ob das schrille Kreischen dieser Aktion geschuldet war oder dem immer noch fixierten Handgelenk, das Boman ihm fast gleichzeitig durch einen wuchtigen Stoß gegen eine metallene Haltestange brach, war nicht von Belang. Nike-Cap klappte nach hinten weg und krümmte sich wimmernd auf dem Boden.
Mit einem Fußtritt beförderte Boman die Röhm außer Reichweite und stieg über Nike-Cap weg, um sich seinem ersten Gegner zu widmen, der gegen die Durchgangstür zum Nachbarwaggon gesunken war. Ein Blick zeigte, dass ihn jede Angriffslust verlassen hatte, genauso wie die anderen beiden. Einer Aufziehpuppe mit abgelaufener Antriebsfeder gleich hielt Boman urplötzlich inne. Starrte auf Nike-Caps blutverschmiertes Gesicht, dann auf die rote Lache, die sich unter Lederjackes Bein auszubreiten begann. Wohl die Beinarterie, ging es ihm mit einer Nüchternheit durch den Kopf, die ihn verstörte. Während er noch zu begreifen versuchte, was da abgegangen war, mischte sich ein Klingeln in das Gewimmer seiner Gegner. Die suchenden Augen blieben auf seinem Handy haften, das auf dem Boden lag. Mit energischem Kopfschütteln riss er sich aus der Starre und hob es auf. Eine unbekannte Nummer. Da der Moment nicht gerade günstig war, wollte er es schon wieder einstecken, als ihm das plötzlich völlig ausgeschlossen vorkam. Er ging ran. »Ja?«
»Alle meine Entchen …« Kaum dudelte die Kindermelodie aus dem Hörer, fühlte das Gerät sich plötzlich tonnenschwer an. Matt ließ er es an den Oberschenkel sinken und stierte auf das Display. Wo sich bunt wirbelnde Kreise zu einem Trichter formierten, der an jeder Faser seiner Seele zu zerren schien. Zaghaft, forschend zuerst. Im nächsten Moment mit solcher Erbarmungslosigkeit, dass jeder Widerstand hinweggefegt wurde und nichts mehr von ihm da war. Er horchte in sich hinein. Nein, nicht ganz. Da war doch noch etwas. Etwas, das sich aus der Asche seines Ichs zu etwas Neuem formte. Blinzelnd starrte er auf das Display.
Autorisierungscode SHIELD
So wie Wasser nass und der Himmel blau war, wusste er: SHIELD, das war er. Zügig tippte er den Zugangscode ein, der plötzlich wie in Stein gemeißelt in seinem Bewusstsein stand. Seiten mit Anweisungen, Skizzen und Karten poppten auf, unter der Überschrift: Operation Lonely Wolf – Einsatzbriefing.
Zügig und konzentriert überflog er alles, während eine melodiöse Frauencomputerstimme verkündete, dass sie in zwei Minuten Ashmont erreichten.
»He, Mann!«, riss Lederjacke ihn aus der Lektüre, als der Zug einfuhr.
SHIELD wandte sich dem Sprecher zu und fixierte ihn aus strahlend hellblau-grünen Augen. »WAS?«
»I… ich verblute hier. Ich brauch Hilfe.«
Der Waggon kam zum Halten. Ohne den Blick abzuwenden, drückte SHIELD die Türöffnungstaste.
»Mann, du kannst doch nicht einfach abhauen«, kreischte Lederjacke, während die Türen fauchend auseinanderglitten. »Wo willst du hin?«
»Zum Zahnarzt«, murmelte SHIELD und stieg aus. Boman Johnson existierte nicht mehr …
Hippelig trat Ex-CIAField Agent Abigail »Aby« Cane von einem Fuß auf den anderen und wartete, dass die toupierte Upperclass-Tussi vor ihr aufhörte, die Rezeptionistin wegen eines angestoßenen Pfirsichs in ihrem Begrüßungsobstkorb vollzutexten.
Aby seufzte. Die Leute hatten Sorgen. Mit Schaudern dachte sie an die nervenzerfetzenden Tage, die hinter ihr und ihrem Freund Stuart lagen. Alles, wirklich alles hatten sie gegeben, um ihren SchützlingWHITEKNIGHTaka John McMasterson aka Ian Brown im tödlichen Kampf gegenDEEPSLEEPzu unterstützen und sicher auf den Weg nach Europa zu bringen. Zugegeben: Dass die Final Frontier nun plötzlich nicht wie geplant nach Marseille schipperte, sondern erst einen Umweg über Nigeria machte, war in puncto Missionstiming ein kleiner Rückschlag. Aber erstens war daran nichts zu ändern, zweitens gab Stuart das etwas mehr Zeit für die nächste dringende Aufgabe und drittens tat das dem Erfolg keinen Abbruch.
Also konnte ein wenig Erholung tatsächlich wohl nicht schaden,wieStuartbeiihremgestrigenTreffenmeinte.Mitgemischten Gefühlen starrte Aby auf den edel gestalteten Geschenkgutschein in ihrer Hand, den Stuart ihr mit süffisantem Lächeln überreicht hatte: »Das große Spa-Verwöhnpaket des Watergate-Hotels. Mit Spezialkur gegen Falten, Tränensäcke und dunkle Augenringe. Perfekt für die reifere Frau mit Stil …«
Weißt du, wohin dir die reifere Frau mit Stil das Teil gleich schiebt? SooderähnlichhatteesihrschonaufderZungegelegen, als sie das Ganze doch als das genommen hatte, was es war: ein gut gemeintes Geschenk eines wahren Freundes. Also hatte sie sich heute Morgen spontan bei ihrem Kollegen und Vorgesetzten Erol aus demCIA-Archiv abgemeldet, um sich ins Watergate aufzumachen.
Mit Wohlfühlbademantel und Flauschhandtüchern ausgestattet,betratAbywenigspäterdenUmkleidebereich.Kurzzögertesie beim Anblick des Handyverbot-Schildes, bevor sie ihr Gerät ausschaltete und mit ihrem anderen Kram im Spind einsperrte.
Wie auf einer Mission stürzte Aby sich anschließend in ein Programm aus Poolgeplantsche und Saunagängen,bevor es nach ein paar ziemlich gesund schmeckenden Snacks und Getränken in den Anwendungsbereich ging.
Wenig später lag sie in der diskreten Abgeschiedenheit einer Kabine auf einer zum Niederknien bequemen Liege und gestattete einer zum Glück wortkargen Frau, sich zu sphärischen Meditationsklängen besagter Falten, Tränensäcke und dunklen Augenringe anzunehmen.
Erfüllt vonwohliger Müdigkeit musste sie irgendwann eingenickt sein. Denn als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie plötzlich ein alarmiert vertrautes Gesicht über sich.
»Lucy!« Abrupt fuhr Aby auf. Erst vor Kurzem hatte sie Katherine Longs Sekretärin gegen dieDEEPSLEEP-Verschwörer rekrutiert und Aby schwante, dass sich die Mission Erholung dem Ende näherte. »Verdammt! Woher wissen Sie, dass ich hier bin?«
Lucy winkte ungeduldig ab. »Von Erol. Als Sie ewig nicht an Ihr Handy gegangen sind, bin ich runter ins Archiv und er hat’s mir erzählt.« Sie hielt inne, als sie Abys alarmierten Blick wahrnahm. »Keine Bange, ich habe dafür gesorgt, dass mir niemand folgt.«
»Und, was gibt’s?«
»Unsere kleine Abhörvorrichtung in Longs Büro …«, begann Lucy.
Aby sprang von der Liege und musste sich beherrschen, die Worte nicht aus Lucy rauszuschütteln. »Herrje, sagen Sie schon!«
»Da ist ein neues Gespräch zwischen Long und diesem Olsen auf dem Aufzeichnungsgerät, von heute Morgen … wie’s aussieht, haben sieWHITEKNIGHTnicht nur aufgespürt, sondern auch jemanden auf der Final Frontier platziert.«
»Himmel, Arsch und …«, hauchte Aby und stürzte los.
»Moment!«
Aby wirbelte herum. »WAS?«
Lucy wies erst auf ihr Gesicht und dann auf den deckenhohen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Verblüfft starrte Aby in die weiße Fratze, in die die Gesichtsmaske ihre Züge verwandelt hatte.
»Drauf geschissen«, knurrte sie und stieß die Tür auf.
»Despacito …« Mit zusammengekniffenen Augen äugte John auf den Songtext, der über den Schirm der Karaoke-Maschine zog, während er ins Mikro sang oder besser gesagt krähte. »… quiero respirar tu cuello despacito …«
»He, nicht so hüftsteif, Brandy Boy!«, brüllte Hector. »Nimm dir ’n Beispiel an Luis.« Womit Luis Fonsi gemeint war, der Latin-Lover-Typ, der in dem Musikvideo vor ihm performte, als wäre die Welt ein nie enden wollendes Salsa-Kumbaya.
Begeisterte Pfiffe und ausgelassenes Gejohle quittierten Hectors Kommentar. »Go, Brandy! Go!«, feuerte das Publikum John an.
Brandy, beziehungsweise Brandy Boy, lautete der Spitzname, den man John verpasst hatte, abgeleitet von Brandon Doyle – der Tarnidentität, unter der er an Bord des Frachtschiffs Final Frontier auf dem Weg nach Europa war.
Ein Gutes allerdings hatte die peinliche Karaoke-Aktion, die er einer verlorenen Wette verdankte: Für einen Moment war der Gedanke an die düstere Zukunft in den Hintergrund getreten und so gab John sein Bestes. »Despacito …«, schmetterte er weiter, »… quiero desnudarte a besos despacito …«Ganz langsam möchte ich dich mit Küssen auszieh’n … Himmelherrgott! Sang er das wirklich? Manchmal hatte die Beherrschung von Fremdsprachen eindeutig Nachteile. Wozu nicht nur Spanisch gehörte, wie er zur eigenen Überraschung festgestellt hatte, kaum dass er an Bord gekommen war. Nein, darüber hinaus hatte er offensichtlich auch noch Russisch im Repertoire – womit er den Mikrokosmos, den die Final Frontier mit ihrer Besatzung aus aller Herren Länder darstellte, sprachtechnisch ziemlich gut abdeckte. Nicht, dass er sich überhaupt noch über irgendetwas wundern sollte. Nicht jedenfalls, wenn sich die eigene Erinnerung – von verstörenden Flashbacks und Träumen abgesehen – auf dreieinhalb Monate beschränkte und man Sachen draufhatte, gegen die James Bond wie ein abgewrackter Kaufhaus-Detektiv aussah.
»Despacito!«, schmachtete John die letzten Akkorde ins Mikro.
»ZUGABE! ZUGABE!«, hallte es John entgegen, begleitet von Gejohle und Bierflaschengeklirr, als man sich ausgelassenen zuprostete.
»Astreine Show, Brandy Boy!«, feixte Hector, als John wieder auf seinen Platz zusteuerte. »Werde dich beim Käpt’n für AmericanIdol vorschlagen. Hier.« Er schob John eine Bierflasche entgegen, die er soeben mit einem spielerischen Aufwärtsschnipp seines Daumes vom Kronkorken befreit hatte.
»Nee, danke«, wehrte John grinsend ab. Ohne sich zu setzen, langte er nach der fast leeren Coke, die er vor seinem Auftritt auf dem Tisch zurückgelassen hatte. »In einer Stunde beginnt meine Wache. Du weißt, der Zweite ist allergisch gegen Bierfahnen im Maschinenraum.«
Hector nickte. »Alles klar, Mann, dann nehm ich sie eben«, verkündete. »Vielleicht noch Lust auf ’ne schnelle Revanche, Brandy Boy?«, schob er hinterher. Hector musterte John mit unschuldigem Welpenblick.
Eine weitere Runde Armdrücken? Gegen Hector!? Bei der reinen Erinnerung tat John noch der Arm weh. »Verlockender Gedanke«, lachte er. »Aber einmal Karaoke reicht für heute! Also, Leute, viel Spaß noch. Wir seh’n uns!«
»Bis dann! … Gute Wache!«, scholl es ihm hinterher, während er den Aufenthaltsraum der Final Frontier verließ, der der einfachen Mannschaft vorbehalten war.
Begleitet vom nie verstummenden Wummern und Vibrieren der mächtigen Schiffsmaschinen, schlenderte John nach rechts den einsamen Gang hinab. Über eine Reihe von Niedergängen begab er sich drei Decks tiefer und setzte seinen Weg durch einen Irrgarten aus Abzweigungen und engen Korridoren fort, bis ihn nur noch eine Biegung von seiner Kammer trennte. Obwohl schon über eine Woche auf dem Schiff kam es ihm immer noch merkwürdig vor, wie selten man jemandem begegnete.
Plötzlich ließ ein wuchtiger Stoß seinen Körper herumwirbeln und warf ihn nach hinten. Mit dumpfem Laut schmetterte Johns Schulter gegen die Wand des Gangs. Unvorbereitet und in Gedanken, wie er war, hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren. Das Reptilienareal seines Gehirns schreckte aus seinem Dornröschenschlaf auf und versetzte mit einem Neuronenschauer schlagartig sämtliche Körpersysteme in den Überlebensmodus. Gerade noch rechtzeitig konnte Johns Großhirn die Kaskade gewaltsamer Gegenmaßnahmen jedoch ersticken, als es registrierte, wer da urplötzlich um die Ecke gekommen war, mit einer Büchse Kaffee in der Hand.
»Connor?!«, hauchte John verblüfft, statt seinem Gegenüber einen Schlag gegen den Kehlkopf zu verpassen.
»Oh, Mann, wo hab ich Idiot nur meinen Kopf? Ich bin voll in dich reingerannt«, haspelte Connor bestürzt drauflos. »Sorry, Brandon! Alles okay?« Besorgt musterte er John aus seinen markanten hellblau-grünen Augen. Von eher durchschnittlicher Statur und meist zurückhaltend, waren es diese Augen, die Connor Sheen aus der Masse hervorhoben. Von einer Klarheit und Farbe, die an einen Gebirgsbach erinnerte, schienen sie bei einem bestimmten Lichteinfall regelrecht von innen zu leuchten. Doch das war nicht das einzig Bemerkenswerte. Zwar hatte John Connor, der ebenfalls in Boston an Bord gekommen war, bisher nur ein paar Mal in der Mannschaftsmesse gesehen, wo er meist allein für sich saß. Doch egal, ob er gelangweilt, gleichgültig, belustigt oder wie jetzt betroffen dreinblickte, stets schien eine alarmierte Wachsamkeit in diesen leuchtenden Augen zu liegen, die John an ein scheues Tier erinnerte, das permanent auf der Hut war.
Beruhigend hob John die Hände. »Alles, cool. Nix passiert! Hätt ja auch aufpassen können.«
»Roter Alarm auf der Brücke!«, erklärte Connor. Mit schiefem Lächeln hob er die Kaffeebüchse. Offensichtlich hatte er Johns irritierten Blick registriert. »Der Erste hat mich in die Vorratslast runtergejagt, weil der Kaffee ausgegangen ist.« Er hielt inne und fügte verlegen hinzu. »Ist jetzt etwas peinlich, aber in der Eile hab ich mich auf dem Rückweg glatt verfranst.«
John grinste. »Kein Kaffee auf der Brücke, das nenn ich ’ne Krise.«
Jetzt musste auch Connor grinsen. »Ein gottverdammte Krise!«, erwiderte er.
In knappen Worten erklärte John ihm, wie er am schnellsten wieder zur Brücke käme. »Also, bis dann!«, verabschiedete er sich.
»Bis dann!«, sagte Connor und zog davon.
So viel also zum Thema seltene Begegnungen, dachte John, blickte Connor nach und bog gedankenversunken um die Ecke. Nichtsdestotrotz war es schon erstaunlich, wie einsam man – vom Dienst, den Mahlzeiten in der Messe oder gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen abgesehen – auf einem modernen Frachtschiff sein konnte. Und dass jeder – vom einfachen Deckhand wie ihm bis zum Kapitän – eine eigene Kammer mit Dusch- und WC-Raum für sich hatte, damit hatte er nicht gerechnet. Einsamkeit! Das schien sowieso das große Thema auf dem Schiff zu sein. Ob Mexikaner, Osteuropäer, Philippinos oder was noch alles an Nationalitäten an Bord war: Alle waren weit weg von zu Hause, von ihren Familien und Freunden, die sie zweimal im Jahr sahen, wenn’s gut lief. Videocalls nicht mitgezählt, nach denen manchem noch schwerer ums Herz zumute war. Wer nicht auf Wache, beim Essen in der Messe oder am Schlafen war, versuchte die Zeit entweder mit festplattenweise Videofilmen oder Karaoke und Alkohol totzuschlagen. Reichlich Alkohol zuweilen, was in den zehn Tagen, die John nun an Bord war, bereits zu einer handfesten Auseinandersetzung geführt hatte. Als Konsequenz hatte Kapitän Djubow, ein Russe aus Kaliningrad, den Kiosk schließen lassen. Hieß: Neben Alkohol auch keine Zigaretten, Süßigkeiten, Zahnpasta oder andere Toilettenartikel. Als disziplinarische Maßnahme durchaus zweischneidig, denn traditionsgemäß betrieb der Kapitän den Wareneinkauf selbst und verdiente sich damit ein nettes Zubrot. Kein Wunder also, dass das Ganze binnen vierundzwanzig Stunden wieder aufgehoben worden war.
Ja, Einsamkeit und Eintönigkeit, das waren für die meisten hier die größten Feinde. Ganz im Gegensatz zu John, der sich ihnen nach den dramatischen Ereignissen in Kalifornien wie einem lang vermissten Freund in die Arme geworfen hatte. Ereignissen, die ihn fast das Leben gekostet hatten.
Kaum hatte er den Schlüssel ins Türschloss der Kammer gesteckt, blitzte ein Bild in ihm auf. Ein jäher Schwindel packte ihn und er musste sich mit der Stirn kurz gegen die Gangwand lehnen, während die Vision mit unbezähmbarer Wucht durch seinen Geist fegte. Der Wohntrailer, in dem er mit Big Fly von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen war, seinem väterlichen Freund. Zwei Männer, zusammengesunken in der Sitzecke am Heck, blutüberströmt und … tot. Angehörige eines Black-Ops-Kommandos, entsandt von einer mysteriösen Organisation, die ihn ins Visier genommen hatte, ohne dass er zunächst einen Schimmer gehabt hatte, wieso. Dann verblassten die Bilder wieder.
Mit noch zittrigen Fingern schloss John auf und begab sich in seine Kammer. Gegen die Tür gelehnt, stand er da und atmete tief ein und aus. Immerhin, er hatte Big Fly trotz schwerer Verletzungen retten können. Genauso wie seine Freunde Alicia und Julian, die wie Big Fly quasi nebenbei ins Fadenkreuz von Johns Verfolgern geraten waren. Dafür hatte er durch ein Meer aus Blut waten müssen, an dessen Ende das Leben seiner Freunde in Trümmern lag. Im Fall von Alicia und Julian buchstäblich, da deren Haus in die Luft gejagt worden war, wohingegen Big Fly seinem geliebten Märchenkarussell lediglich den Rücken hatte kehren müssen, um unerkannt unterzutauchen.
Eine Weile verharrte John und starrte durch das Bullauge. Im Westen trotzte die bereits untergegangene Sonne in einer spektakulären Lichtshow aus tiefrot und violett erglühenden Wolkenformationen der anbrechenden Nacht. Das schummrige Restlicht hatte die blaue Dünung des Atlantiks in einen sanft wogenden schwarzen Teppich verwandelt. Wie immer verfehlte der Anblick auch diesmal nicht seine Wirkung. Einsamkeit, Eintönigkeit, das Bewusstsein, in Sicherheit zu sein … das und die unendliche Weite des Meeres: Manchmal kam es John vor, als würde all das mehr bringen als die Medikamente, die der WHISPERER, sein geheimnisvoller Helfer, ihm gegen seine Flashbacks und Albträume bei ihrem letzten und einzigen Treffen mitgegeben hatte. Obwohl diese tatsächlich seltener und weniger intensiv geworden waren, musste er damit rechnen, dass sie ihn immer begleiten würden. Es waren Spätfolgen der psychoaktiven Medikamente und verhaltenskonditionierenden Techniken, mit denen man ihn traktiert hatte und die jede Erinnerung an seine wahre Identität ausgelöscht hatten. Alles im Rahmen eines illegalen und offiziell eingestellten CIA-Programms namens DEEPSLEEP, in dem elternlose Kinder und Teenager von der Straße zu Killermaschinen ausgebildet worden waren, um sie mit einer gepimpten Biografie bei ahnungslosen Pflegefamilien als Schläfer zu »parken«.
John riss sich aus den Gedanken. Er blickte auf die Wanduhr: 19:30. Noch eine halbe Stunde bis zu seiner Vierstundenschicht im Maschinenraum. Zeit genug für eine kalte Dusche. Die würde nicht nur die letzten Spinnweben im Kopf verscheuchen, sondern wäre auch eine willkommene Erfrischung gegen die Hitze, die sich zusehends bemerkbar machte, je näher sie den Tropen kamen. Unwillkürlich musste er lächeln. Die Tropen … so umfassend die operativen und logistischen Möglichkeiten des WHISPERERs auch sein mochten, bei der Wahl des Taxis nach Europa hatte er sich doch verkalkuliert – zumindest etwas. Im Gegensatz zu den Containerschiffen, die im Liniendienst zwischen den Kontinenten verkehrten, war die FinalFrontier ein Schwergutfrachter, konstruiert für sperrige Spezialladung – was bedeutete, dass sie auch kurzfristigen Routenänderungen unterworfen war, sobald ein Auftraggeber ganz dringend und ganz plötzlich etwas ganz Großes von A nach B bringen musste. Und genau das war in Boston geschehen. Statt wie vorgesehen geradewegs über den großen Teich nach Marseille zu schippern, hatte die Final Frontier im letzten Moment eine komplette Maschinenanlage an Bord genommen, die bereits sehnsüchtig erwartet wurde – in Nigeria, Afrika, wohin sie jetzt unterwegs waren.
So problematisch die Zeitverzögerung im Kampf gegen ihre Gegner auch sein mochte, so war John dennoch irgendwie auch froh darüber. Nach all den Tagen, an denen es um nichts anderes als das nackte Überleben gegangen war, taten die ruhige Routine und das eintönige Leben auf See einfach nur gut.
Rasch schlüpfte er aus seinen Sachen und begab sich ins Bad. Das kalte Wasser verfehlte nicht die erhoffte Wirkung. Als er wenig später beim Kämmen in den Spiegelschrank blickte, ertappte er sich sogar dabei, wie er vor sich hinsummte. Unwillkürlich verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen, als ihm klar wurde, um was für eine Melodie es sich handelte. Despasito … Herrje!
Er öffnete eine der beiden Spiegeltüren. Schlagartig gefror das Grinsen. Er starrte auf den Blisterstreifen mit seinen Pillen. Er lag immer noch dort, wo er ihn am Morgen abgelegt hatte, allerdings eine Spur nach rechts verschoben … oder doch nicht? Er starrte weiter und seufzte schließlich. Kopfschüttelnd schloss er die Spiegeltür.
»Reiß dich zusammen«, murmelte er seinem Spiegelbild ins Gesicht. »Du siehst Gespenster, wo keine sind.«
Trotz aller Appelle an sein Unterbewusstsein blieb eine gewisse Unruhe in ihm. Nachdenklich glitt sein Blick durch die Kammer, während er den Wandschrank öffnete, einen frischen Overall hervorholte und hineinschlüpfte. Alles schien genauso zu sein, wie er es verlassen hatte. Das Handy auf dem Tisch … der alte, verschmutzte Overall, den er auf der Eckbank zusammengeknüllt zurückgelassen hatte … das Multifunktionsmesser, das er nach der letzten Schicht auf dem Rahmen des Bullauges abgelegt hatte. Ein besorgniserregender Gedanke bohrte sich plötzlich mit eisigen Krallen in seine Eingeweide. Kurzerhand schnappte er sich das Messer und stieg auf die Eckbank. Mit schnellen Bewegungen löste er mit dem Schraubendreher-Tool das Gitter der Lüftungsanlage, langte tief hinein, tastete um die Ecke und …
Erleichterung durchflutete ihn. Da war sie, an die Innenseite des Lüftungsschachtes gelehnt … die nagelneue Glock, die ihm der WHISPERER gegeben hatte. Und gleich daneben die Bündel mit Geldscheinen und Pässen weiterer Tarnidentitäten. Rasch unterzog er die Glock einer Funktionskontrolle. Doch es war alles in bester Ordnung.
Zufrieden befestigte er das Lüftungsgitter wieder. Er musste dringend lockerer werden und endlich kapieren, dass er vorläufig in Sicherheit war. Was sollte ihm hier an Bord schon passieren? Ging das so weiter, bekäme er noch Verfolgungswahn.
Das Summen seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Überrascht blickte er auf das Gerät. Seit dem Auslaufen in Boston waren sie außer Reichweite von Mobilfunknetzen gewesen. Doch mit der Annäherung an die Kapverdischen Inseln hatte sich das offenbar gerade geändert. Hastig trat er an den Tisch und nahm es auf. Er starrte auf das Display … eine Nachricht … vom WHISPERER!
Er tippte den Zahlencode ein, um den Sperrbildschirm freizuschalten. Es waren nur wenige Worte, aber von einer Zündkraft, die seine Nervenbahnen schlagartig in Flammen setzte:
Identität enttarnt! DS-Schläfer an Bord …
Wie betäubt ließ John das Handy sinken. Vielleicht war er mit dem Verfolgungswahn doch nicht so schlecht bedient …
Zu behaupten, Ken Olsen sei ein Mann mit Macht und Einfluss, war etwa so untertrieben wie die Aussage, Michael Jackson hätte ein paar nette Songs gehabt. Ein Wort von Olsen genügte, um Karrieren zu ruinieren, Existenzen zu vernichten und die Börsen der Welt auf Talfahrt zu schicken. Umso schwerer war die Tatenlosigkeit zu ertragen, zu der er gerade verdammt war. Angefangen mit Katherine Long, die er am liebsten abserviert hätte, hätte sie sichdurchdieneustenEntwicklungennichtgleichwiederunersetzlich gemacht. Er spürte, wie sich seine Finger unwillkürlich um das frisch eingeschenkte Glas Bourbon krampften. Er starrte in die braune Flüssigkeit und malte sich zur Entspannung aus, wie Katherine mit aufgerissenen toten Augen und einem BetonklotzandenFüßendemGrundirgendeinesabgrundtiefenGewässers entgegenrauschte.
Seufzend hob er den Blick und nahm die nächtliche Skyline von Baltimore in sich auf. Was normalerweise half, die Dinge wieder mit Distanz zu betrachten, brachte heute … nichts. Bei ihrem Schläfer auf der Final Frontier herrschte naturbedingt erst malFunkstille,undalswäredasnichtunerträglichgenug,war danochdieSachemitdemChip,denmanWHITEKNIGHTwomöglich implantiert hatte. Sicher, es war nichts als eine Vermutung.Aberwenndemsoseinsollte,welcheDatenmochten so wertvoll sein, dass der Gegner diesen Aufwand betrieb? So abwegig der Gedanke auch schien, ihm fiel da nur eins ein: Das Fragment des geheimenGOODMOTHER-Quellcodes, über das Dilip Raji, einBRIGHTHORIZON-Programmierer, letzten Monat zufällig gestolpert war und das er unerlaubt kopiert hatte. ZwarhatteStuartWang,seinstellvertretenderSicherheitschef,die Kopie gesichert, ihnen wieder ausgehändigt und Raji in überzeugenderWeisealsdenlanggesuchtenVerräterindeneigenen Reihen präsentiert. Aber leider erst, nachdem Olsens Vollpfosten von Bodyguards Raji bei einem Verhör aus Versehen umgebracht hatten, ehe es überhaupt richtig begonnen hatte. Was aber, wenn derVerräterimmernochunterihnenwar?Stuartselbstvielleicht?
Ächzend kniff er die Augen zu und rieb sich die Nasenwurzel. Zum Teufel damit! Er würde eben weiter lauern, Fallen stellen und im richtigen Moment zuschlagen. In die düsteren Gedanken mischten sich jäh die Anfangsakkorde der Star Wars-Melodie. Blitzschnell fuhr seine Hand in die Hosentasche und holte ein Smartphone hervor. Wie ein Süchtiger mit der heiß ersehnten Droge vor Augen starrte er auf die Nachricht:
Globaler Update-Prozess: 11 % Countdown GOOD MOTHER: –335 Tage
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Nicht einmal mehr ein Jahr,dannwürdensichsämtlicheihrerProblemevonalleinerledigen. Dem Sturm, denGOODMOTHERin der Welt entfesseln würde,hätteniemandetwasentgegenzusetzen.Nichteinmalmehr ein Jahr bis zu einem neuen Zeitalter reiner Vernunft und Effektivität.GOODMOTHERs Zeitalter und das Zeitalter des kleinen Zirkels derer, die dahinterstanden – allen voran … ihm.
Das Gefühl von Sicherheit war zerplatzt wie eine Seifenblase. Die Erkenntnis war ein Schock. Einen Moment lang stand John da und starrte auf die spärlichen Worte, die alles verändert hatten. Krampfhaft versuchte er, die sich überschlagenden Gedanken in geordnete Bahnen zu zwingen. Denk nach, John! Denk nach!
Was für einen Auftrag hatte sein Gegner? Ihn umbringen? Verhindern, dass er nach Europa gelangte? So blutig und dramatisch die bisherigen Begegnungen gewesen waren, so hatte DEEPSLEEP ihn bisher dennoch lebend gewollt – so lebend jedenfalls, wie man gerade noch sein musste, um verhört zu werden.
Dabei hatten DEEPSLEEPER bei der Erfüllung ihrer Missionen keine Berührungsängste mit dem Tod – weder mit dem ihrer unschuldigen Opfer noch dem eigenen. In den letzten Monaten hatten sie die USA mit ihren Attentaten an den Rand des Chaos taumeln lassen. Die Drahtzieher? Leute aus hohen CIA- und Wirtschaftskreisen, die das in den CIA-Kellern vor sich hinstaubende Geheimprogramm für ihre Zwecke gekapert hatten.
Das Ironische an der Sache: Er, John, war selbst DEEPSLEEPER und nur aus purem Glück auf der Seite der Guten gelandet. Dem WHISPERER sei Dank, der ihn in höchster Not gegen die Verschwörer aktiviert hatte, um den Mord an dem High-Tech-Zaren Yorik VanSand zu verhindern.
Einem Raubtier gleich sprangen ihn plötzlich die Bilder einer halb vergessenen Erinnerung an … das blutüberströmte Gesicht einer jungen Frau … ihr rot verschmiertes Grinsen, mit dem sie den Knopf des Fernzünders drückte. »Boom!«, echote ihr Ruf durch Johns Kopf.
Mit einem wütenden Kopfschütteln verbannte er die Dämonen wieder in die Abgründe seines Unterbewusstseins.
Nachdenklich knetete er die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, wo ein reiskorngroßes Knötchen zu spüren war. Ein Mikrochip mit wichtigen Informationen für eine abgetauchte Hackerlegende namens SNOWWHITE, die er in Frankreich aufspüren sollte. Laut WHISPERER würde der Gegner, bekäme er Wind davon, Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die Übergabe zu verhindern. Und sollte DEEPSLEEP noch zusätzliche Motivation brauchen, war da noch Teil zwei seiner Mission: Aufklärung und Zerschlagung von DEEPSLEEP 2.0, ein Ableger des alten Programms, das irgendwo in Europa mit neuem Personal neue Schläfer für neue Attentate ausbildete.
Seufzend kam John zu der Erkenntnis, dass ihn die Grübelei nicht weiterbrachte. Im Moment war nur eine Frage entscheidend: Wer verdammt noch mal war der Schläfer? 19:50! Höchste Zeit, sich in den Maschinenraum aufzumachen. Je besser er den Arglosen spielte, der seinem Bordalltag nachging, desto größer die Chance, den Gegner zu enttarnen.
Rasch verstaute John das Handy in seiner Tasche. Er hatte die Hand bereits an der Klinke, als er noch einmal innehielt. Was war mit der Glock? Mitnehmen? Kurz entschlossen verwarf er den Gedanken. Die Gefahr war zu groß, dass jemand sie bemerkte.
Aber gegen eine kleine Vorsichtsmaßnahme ließ sich nichts sagen. Er begab sich nach draußen und schloss die Tür ab. Dann rupfte er sich ein Haar aus und benetzte es mit Speichel. An den Türspalt geklebt, würde es herunterfallen, sobald jemand die Tür öffnete. Dabei ging es gar nicht mal so sehr darum festzustellen, ob er Besuch gehabt hatte. Vielmehr war es so was wie ein HI, ARSCHLOCH! für den anderen DEEPSLEEPER. Eine Warnung, die ihn zögern lassen würde, in seine Kabine einzudringen – etwa um die Glock zu manipulieren oder seine Tabletten gegen irgendeinen Dreck auszutauschen, der ihn in einen Zombie verwandelte. Denn das filigrane Haar wieder genau an derselben Stelle zu platzieren, war so gut wie unmöglich.
Zufrieden mit dem Werk begab John sich über eine Reihe von Niedergängen zu seinem Arbeitsplatz. Je mehr er sich den Eingeweiden des Schiffes näherte, desto intensiver wurde das Wummern und Vibrieren, das die Final Frontier bis in den letzten Winkel erfüllte. Obwohl bereits einige Tage an Bord befiel ihn immer noch ein Staunen, sobald er den Maschinenraum betrat. John hätte gar nicht mal sagen können, womit er eigentlich gerechnet hatte. Aber definitiv nicht mit einer strahlenden, fast bis in den letzten Winkel ausgeleuchteten Halle. Mit dem mehrstöckigen Monstrum von Hauptmaschine im Zentrum, dem Gewirr aus Pumpen, Kühlwasserrohren, Lüftungs- und Abgasschächten, deren Lackierung und Isolationsverkleidung im Licht der zahlreichen Lampen nur so blitzten und funkelten, glich das Ganze eher einem bizarren Tempel moderner Ingenieurskunst.
Wie stets zu Dienstbeginn meldete John sich zunächst in der Maschinenkontrolle – einem separaten Raum an der Stirnseite der Halle. Mit den langen Schaltschränken und dem Steuerpult voller Anzeigen, Tastaturen und Flachbildschirmen sah es hier wie in der Steuerzentrale eines Kraftwerkes aus, die John einmal in einer Doku gesehen hatte. In der Tür kam ihm bereits Jorge Santos entgegen – ein Hispanic aus Galveston, Texas –, den John nun als sogenannten Öler ablösen sollte. Sie grüßten sich mit knappem Nicken, als sie sich aneinander vorbeizwängten.
Drinnen war Jomel Delacruz, zweiter technischer Offizier und Johns Wachleiter, mit dem leitenden Schiffsingenieur gerade in den letzten Zügen der Übergabeprozedur. Nach einem abschließenden Blick auf die Klemmbrettliste voller technischer Kennziffern setzte Delacruz mit knappem Nicken seine Unterschrift neben die seines Chiefs.
»Na, Brandon, alles klar?«, begrüßte Delacruz ihn, kaum dass sich der Chief in den Feierabend verabschiedet hatte. Delacruz war ein schlanker, lässiger Kerl, der eine ausgezeichnete Figur als Barkeeper einer Strandbar irgendwo auf den Philippinen abgegeben hätte, woher er stammte. Doch der Eindruck täuschte gewaltig, wie John schnell festgestellt hatte. Eben noch mit einem Becher Kaffee auf einem der Drehstühle vor dem Steuerpult gefläzt, war er im nächsten Augenblick schon irgendwo im Maschinenraum, um sich irgendwas an einer Pumpe, einem Aggregat oder Ventil anzusehen, weil irgendwelche Messwerte seinen Argwohn erregt hatten.
»Alles roger, Boss«, erwiderte John und nahm lächelnd den Becher mit frisch gebrühtem Kaffee entgegen, den Delacruz ihm hinhielt. »Liegt was Besonderes an?«
Als Öler hatte John einen fest umrissenen Aufgabenbereich, der jedoch nichts mit dem zu tun hatte, worauf das Wort schließen ließ. Der Job bestand heutzutage überwiegend aus Wartungsarbeiten und Füllstandmessungen diverser Maschinenraumtanks. Allerdings hatte Delacruz meistens noch eine Extraaufgabe für John auf Lager, damit der Neuling was dazulernte. So auch heute.
»’ne verträumte Ahnung, wo die Bypassfilter für die Seewasserkühlung sind?«, fragte er und musterte John mit breitem Grinsen. »Und wofür die gut sind?«
Genauso gut hätte Delacruz nach den Lottozahlen des nächsten Jahres fragen können. John zuckte die Achseln »Nicht die geringste.«
Delacruz nickte zufrieden. »Du sagst immer, was Sache ist, Brandon. Das ist cool. Mach erst deine Arbeit, dann zeig ich dir, was es damit auf sich hat.«
»Alles klar«, erwiderte John und war schon wieder halb draußen, als Delacruz ihn mit einem schrillen Fingerpfiff zurückhielt. »He!«, rief er. Er zeigte auf ein Paar Ohrenschützer, das auf dem Steuerpult lag.
Mit aufgesetzten Ohrenschützern machte John sich an seine Aufgaben, die nach gut zwei Stunden erledigt waren. Anschließend nahm Delacruz ihn mit auf eine Tour durch den Maschinenraum. Vor drei imposanten Rohren, die in parallelen Bögen aus dem Stahlboden traten, bedeutete er John stehen zu bleiben und den Gehörschutz abzunehmen. »Zehn Punkte, wenn du rätst, was da durchfließt!«, brüllte er.
»Wasser?«, brüllte John zurück.
Delacruz hob anerkennend den Daumen. »Salzwasser, um genau zu sein. Die Pumpen da …« Er wies auf drei wuchtige Zylinder, in die die Rohre mündeten. »… saugen Meerwasser an. Durch ein Leitungssystem wird es durchs Schiff befördert, um die Maschinenwärme nach draußen zu befördern. Sonst wär’s hier wie im Backofen.«
Weiter ging es eine Etage tiefer zu besagten Bypassfiltern. Diese, erfuhr John, reinigten das angesaugte Seewasser von Algen »und was sonst heutzutage für’n Scheiß im Meer dümpelt«. Der zweite Ingenieur demonstrierte, wie so ein Filter gereinigt wurde, und begab sich wieder zurück in den Kontrollraum, um die Performance seiner geliebten Maschinen im Auge zu behalten.
Durchgeschwitzt und ziemlich verdreckt, kehrte John nach der Säuberung der Filter zurück. Offensichtlich wieder im Strandbar-Modus lümmelte Delacruz auf einem Drehstuhl herum, die Füße auf dem Steuerpult, die Arme im Nacken verschränkt. »Na, Brandon, wie war’s?«, empfing er ihn mit lustigem Funkeln in den Augen.
»Etwa so toll wie Durchfall«, ging John auf das nett gemeinte Geplänkel ein.