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Sein Deckname: WHITE KNIGHT. Seine Ausbildung: TOPSECRET. Sein Ziel: die Operation DEEP SLEEP auffliegen lassen. Band 3 der explosiven Action-Reihe von Chris Morton! Erlebe alle Bände der explosiven Action-Thriller-Reihe! Band 1: Codename: White Knight Band 2: Auftrag: The Whisperer Band 3: Mission: Good Mother
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Seitenzahl: 431
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2024 Ravensburger Verlag Text: Chris Morton Covergestaltung: ZeroMedia GmbH Verwendete Bilder von Shutterstock/Vladimir Mulder, Shutterstock/Phonlamai Photo, Shutterstock/Hubskyi_Mark, Shutterstock/i3alda, Shutterstock/muuraa, Shutterstock/fran_kie, Shutterstock/Pavel Chagochkin Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51214-0
ravensburger.com
Wie im falschen Film …Das beschrieb Abigail »Aby« Canes GemütslagederletztenMonateziemlichgenau.Monateeinestödlichen Katz-und-Maus-Spiels gegen einen übermächtigen Gegner, mit nichts ausgerüstet als dem Mut der Verzweiflung und immer mit einem Bein im Grab.
Eineingestelltes,illegalesBlack-Ops-ProgrammjugendlicherSchläfernamensDEEP SLEEP …reaktiviertvonskrupellosenGrößenwahnsinnigenausGeheimdienst-undWirtschaftskreisen.Umdie»abgewirtschaftete«DemokratieindenUSAundambestenauchgleichüberallaufdemGlobusdurcheineWelleblutigenTerrorszudestabilisieren.SojedenfallsdierechteMärchenstory,diemandemüblichenHelferkreisnützlicherIdiotenaufgetischthatte.DaseigentlicheZieldesexklusivenZirkelsEingeweihterwareinanderes:dieRegierungenderWeltdurcheineallmächtigeKInamensGOODMOTHERzuersetzen.Gott,wasfüreinName.
DerCountdownfürGOODMOTHERstandaufTminus311Tage. 311 Tage, nach denen nie mehr etwas so sein würde wie zuvor.
Kein Zweifel, Aby hatte mehr als genug Gründe, sich wie im falschen Film zu fühlen. Doch der Grund, der alle anderen toppte, stiefelte gerade durch dieses verranzte Viertel verlassener Häuser einträchtig neben ihr her: Katherine Long. Stellvertreterin des stellvertretenden Direktors derCIA-Operationsabteilung,DEEPSLEEP-Topverschwörerin, dämliche Karrierekuh. Wegen ihr war Aby, eine erfahrene Field Agent, insCIA-Aktenarchiv zum Verschimmeln abgeschoben worden – und nun war sie vor knapp zwei Stunden von Erzfeindin Nummer eins zur Verbündeten mutiert. Wenn das nicht zeigte, wie verzweifelt ihre Lage war, dann …
Eine heisere Reibeisenstimme riss Aby aus den düsteren Gedanken.
»Na, Ladys, verlaufen?«
Zwei junge Kerle waren wie aus dem Nichts vor ihnen aufgetaucht, aus einem dunklen Loch, das in besseren Tagen der Eingang eines schicken Reihenhauses gewesen war. Einst der Traum jederamerikanischenMittelklassefamilie,hatteesderjahrzehntelange wirtschaftliche Niedergang Bostons in eine nach Urin und Schlimmerem stinkende Bruchbude verwandelt, die selbst die Adams-Family in die Verzweiflung getrieben hätte.
Nicht jedoch die beiden abgerissenen Typen, die sich vor ihnen aufgebaut hatten.
»Geh uns aus der Sonne, Spacko!«, knurrte Abys Begleiterin, nicht in der Stimmung für Small Talk. Was Aby ihr nicht verübeln konnte.NichtnachdemwahrenShitday,denAbysOffenbarungen über Ken Olsen,CEOdes Tech-GigantenBRIGHTHORIZONund Longs oberster Verschwörer-Buddy, ihr zweifellos beschert hatten.
WillkommenimClub,Miststück,dachteAbymiteinemAnflug von Genugtuung, der eine Sekunde lang sogar die brennende Sorge um ihren Freund Stuart Wang überlagerte. Er war in die Hände des Gegners geraten und ihm galt diese improvisierte Rettungsmission. Mit einem beiläufigen Blick über die Schulter überzeugte sie sich, dass die Luft hinter ihnen rein war. Dann wandte siesichwiederdemGeschehenvorihnenzu,umzustudieren,wie ihre frischgebackene …Partnerin – bei dem Wort stieg ihr spontan Brechreiz die Kehle empor –in kniffligen Situationen tickte.
»Oh, ’ne Lady mit schmutzigen Worten. Da steh ich drauf«, fühltederZweitesichnunberufen,seinenBeitragzurKonversation zu leisten. Die unter den Kapuzen abgewetzter Hoodies vorlugenden bleichen, hohlwangigen Gesichter verzogen sich zu einem triumphierenden Feixen, das Gebisse voller Lücken und schwarzer Zahnstummel erkennen ließ. Geifernde Raubtiere, die sich ihrer Beute sicher waren.
»Mund zu, ihr sabbert«, entgegnete Long.
VerärgerterstickteAbydenAnflugeinesGrinsens,dassich auf ihr Gesicht stehlen wollte. Eines musste man Long lassen: Sie hatte es im Griff.
Im Nachhinein staunte Aby immer noch, wie leicht sie Katherine Long die Augen über Ken Olsenhatte öffnen können. Dass siefürihnbeiihrerVerschwörungzumStaatsstreichnichtsals ein Werkzeug gewesen war. Dass Olsen gar nicht darauf aus war, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, und ihr, Katherine, nicht der Posten als Verteidigungs-, Innen- und Justizministerin winkte, sondern der Abgrund.
Ihrund99,9 %derMenschheit.WährendOlsenundeinelitärer Kreis namensTHECIRCLEmithilfe vonGOODMOTHERnach der ewigen Weltherrschaft langten.
Gut,dieBerettaStorm,dieAbyKatherineindenNackengedrückt hatte, hatte beim Denkprozess sicher geholfen. Aber nur ein wenig. Denn Abys Gefühl nach hatten ihre Enthüllungen Long bloß etwas bestätigt, das sie längst geahnt hatte. Fast hatte sie es in Katherines Kopf klicken hören, als sich diverse Puzzleteile zu einem Bild fügten, das sich nicht anders alsBetrogene Betrügerinbetiteln ließ. »Woher weiß ich, dass das alles stimmt?« Katherines wutgefauchte Frage war reines pro forma gewesen. Aber Aby hatte sie genutzt, um den Sack zuzumachen, und sie aufgefordert, bei Olsen anzurufen und ihrCIA-Know-how bei Stuarts Verhör anzubieten. Olsen hatte das Ganze mit einem »Danke, Katherine, wir kommen schon klar!« abgeschmettert. Kein Wunder, käme dabei doch zwangläufig auch das mitGOODMOTHERzur Spr…
»Hey, Bitch, für wenhältst du dich?«, knurrte Reibeisenstimme, der es mit Geduld offensichtlich nicht so hatte. Fahrig zog er etwas unter seinem Hoodie hervor. Ein Klick ertönte und Aby und Katherine starrten auf die blitzende Klinge eines Springmessers.
AusdemAugenwinkelregistrierteAby,wieLongandenAufschlag ihrer offenen Sommerjacke langte. Zweifellos, umdie Glock zu ziehen, die Aby ihr im Rahmen ihres frisch besiegelten Burgfriedens überlassen hatte.
Angefressen, wie Long war, sah Aby einen Moment vor ihrem inneren Auge, wie Long das ganze Magazin in die beiden Unglücksvögelpumpte.NichtdassindieserGegendjemandgroßartig Notiz davon genommen hätte. Aber Olsens Bodyguards, die Stuart vermutlich gerade in die Mangel nahmen, waren laut Katherines Ortungs-Appnur noch knapp einen Häuserblock entfernt. Eine vorzeitige Warnung würde nicht nur jeden taktischen Vorteil nehmen, sondern womöglich das endgültige Aus bedeuten. Für sie, für ihre Freunde, für alles, wofür sie gekämpft hatten …
Doch glücklicherweise riss Katherine sich am Riemen. Der Anblick der Waffe ließ der Unternehmungslust der beiden Kerle prompt die Luft ab.
»He, n… n… nur die Ruhe«, stammelte Reibeisenstimme.
»Alles cool, Mann. Sind ja schon weg«, schob sein Kumpan hinterher.
Ausdruckslos verfolgten Aby und Katherine, wie die beiden sich eiligst über die schlaglochübersäte Straße zurückzogen und einen Moment darauf hinter der nächsten Ecke verschwunden waren.
Stumm setzten sie ihren Weg fort. Schließlich blieb Katherine vor einem Wohnblock stehen, der so verwaist und verfallen war wie alles in der Gegend.
»Sicher, dass wir richtig sind?«, fragte Aby. Zweifelnd glitt ihr Blick über den abgeplatzten Putz, der eine Fassade vernagelter Fenster zierte, bevor ihre Augen auf der Straße verharrten, auf der weit und breit kein Fahrzeug zu sehen war.
»Die werden sicher nicht vor der Tür parken«, sagte Katherine, als hätte sie Abys Gedanken erraten. Wortlos hielt sie ihr das Handydisplay hin, auf dem zwei rote Punkte blinkten. Kein Zweifel, sie waren am richtigen Ort.
»Und du bist ganz sicher, dass Stuart drin ist?«
»Ich bin sicher, dass Ben und Tom drin sind, Olsens Bodyguards«, erwiderte Katherine, ohne den genervten Ton zu verbergen. »Dass die ihn in der Mangel haben, ist die wahrscheinlichste Option. Keine Garantie. Das habe ich dir vorhin schon gesagt. Als du mir im Wagen die Knarre in den Nacken gedrückt hast. Aber wenn du eine bessere Idee hast, bitte!«
Aby zuckte die Achseln. »Okay.« Doch kaum wollte Katherine sich wieder in Bewegung setzen, flammte Abys Misstrauen erneut auf. Sie packte ihre Begleiterin am Ellenbogen. »Moment! Wieso kannst du eigentlich ihre Handys tracken?«
LongverdrehtedieAugen.»IchhabihreNummernmiteinem Sniffer abgegriffen, bei einer günstigen Gelegenheit, als …« Siestockte.»…alsdieDingemitOlsenfürmichkomplizierter zu werden begannen. Die kluge Frau baut vor«, schob sie mit verkniffenem Lächeln hinterher.
Mit einem innerlichen Seufzer ließ Aby sie los. Sie hatte sowieso keine Wahl.
Sie stiegen die bröckeligen Steinstufen empor. Dem Anschein nach war die Eingangstür, deren vermoderte Reste jemand halbherzigbeiseitegeschobenhatte,wohlschonzuBushJuniors Amtseinführung aus den roststarrenden Angeln gefallen. Einen Moment verharrten Aby und Katherine in der dunklen Öffnung, um die Augen an das schummrige Licht zu gewöhnen. In der SchichtausStaub,DeckenputzundSand,diedenBodenüberzog, waren weder Fußabdrücke noch Schleifspuren auszumachen, wasnichtvielhieß,dennStuwarhöchstwahrscheinlichüber einen Hinter- oder Seiteneingang reinverfrachtet worden. Ohne den Blick von der Szenerie zu wenden, glitten ihre Hände in die Jackentaschen. Schnelle, fließende Bewegungen beförderten die Schalldämpfer auf die Mündungen von Katherines Glock und Abys Beretta. Die Waffen in beidhändigem Anschlag umkurvten sie die Türtrümmer, rückten in die Vorhalle vor. Lautlos, einen Schritt vor den anderen setzend, ohne Hast, sich gegenseitig sichernd. Dann ließ ein feiner Laut sie jäh erstarren. Keinem lebenden Wesen ähnlich, trug er den Eiseshauch von Tod und Unheil mit sich, der verriet, dass sie am richtigen Ort waren. Wenn auch womöglich zu spät …
Im Raum schwebend, verharrte … er? … in der Leere, einem geostationären Satelliten gleich, während sich die diffusen Ränder der Welt weit unter ihm in farblosem Nichts verloren. Korrektur: Ein geostationärer Satellit verharrte scheinbar reglos über der Erde. Diese Erde da unter ihm rührte sich jedoch auf einmal. Wie inZeitlupesetztensichinderFinsternisleuchtendeLichtervon … Städten und Orten? … in Bewegung. Wie ein Teppich, den man unter ihm wegzog, während er weiter reglos im Nichts schwebte – dem Ganzen den Rücken gekehrt und dennoch alles wahrnehmend.
Connors irrlichterndes Bewusstsein versuchte noch, die verwirrendenEindrückezuverarbeiten,alseinemächtigeErschütterung das Sein durchfuhr und der lichtgesprenkelte Teppich jäh auf ihn zuflog. Konturen sprangen in den Blick, ein Netz aus beleuchteten Straßen, und plötzlichwussteer es. Dieses funkelnde Häusermeer dort unter ihm, durch das sich das dunkle Band eines Flusses schlängelte, war … Paris. Eine weitere Erschütterung ließ das Bild verschwinden und ein Gesicht an dessen Stelle treten. Das Gesicht eines Mannes, der auf ihn herabstarrte … besorgt und irgendwie … vertraut.
»He, er ist wieder da!«, sprach der Mann in einen Raum, der dem Klang nach alles andere als groß war. Eine Kabine, ein Auto, schoss es Connor durch den Kopf, während sein Hirn das bootende Bewusstsein mit einer verwirrenden Kaskade von Sinneswahrnehmungen und Erinnerungsfetzen bombardierte. Er lag auf dem Rücksitz eines Wagens, Schultern und Kopf auf den Schoß einesMannesgebettet.Korrigiere:nichteinesMannes,sondern … B… Big … Big Fly! Johns plötzlich aufgetauchter alter Freund …JOHN!EineSzeneblitztevorseineminnerenAugeauf:BigFly, erundeine …eineFrau,derenNamendietastendenFädenseines Geistes nicht fassen konnten. Dicht zusammengedrängt standensievoreinemLadenmitzerschossenenScheiben,einem … Antiquitätenladen. Umzingelt von Feinden, besiegt und am Ende. Auf der Straßenseite gegenüber … John,seinFreund, der …
»Willkommen zurück, Connor«, riss ihn eine weibliche Stimme aus dem Flashback. Die Sprecherin drehte sich vom Beifahrersitz zu ihm um. Besorgte grüne Augen, bleiches, piercinggespicktes Gesicht, schwarze Igelhaare …
»SNOWWHITE!«, krächzte er. Ihr Name musste so etwas wie eine Initialzündung ausgelöst haben. Denn während die schmerzenden Lungen am Limit pumpten, um die Sauerstoffsättigung wieder hochzutreiben, stürmte es urplötzlich auf ihn ein: John und er … im verzweifelten Kampf gegenDEEPSLEEP … und eineKImit einem voll abgefuckten Namen:GOODMOTHER. Gegen dieSNOWWHITEein Virus programmieren wollte, nur dass sie dann in eine Falle getappt waren, aus der John sie herausmanövriert hatte, indem er sich in die Hände des Feindes begab. UmDEEPSLEEPzu infiltrieren und dessen Mission-LeaderinLIGHTNINGumzudrehen. Mit der John obendrein irgendein unheilvolles Band zu verbinden schien …
Für Connor änderte dieser sogenannte »Plan« nichts daran, dass ihr Freund sich einfach für sie geopfert hatte und nun beim Feind einem ungewissen Schicksal entgegensah. Wenn er denn nach der Explosion überhaupt noch lebte, dieSNOWWHITEs mobiles Hacker-Zuhause in einen Feuerball verwandelt hatte.
EinStecheninderBrustrissihnausdenGedanken,alsderWagenerneutdurchgerütteltwurde.EinSchlagloch!DersichindenSchmerzschiebendenErkenntnisfolgteeinHustenanfall.
»Ganz ruhig, Junge«, sagte Big Fly und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Sorry, Mann! Aber die verdammte Straße ist löchriger als ein Schweizer Käse!« Das war der Fahrer … eine neue Stimme. Manie? Manie Boussadá mit Betonung auf dem letzten A?! Die zwielichtig-nette Nervensäge mit den tausend Talenten, die John und ihm in Marseille aus der Patsche geholfen hatte? Wo kam der denn auf einmal her? Kaum war die Frage aufgeblitzt, kehrte auch diese Erinnerung zurück. Connor selbst hatte ihn angerufen und in höchster Not um Hilfe gebeten.
EineletzteSzenelegtesichüberallesandere:GarageAuto, die ehemalige Schrauber-Werkstatt, die nunSNOWWHITEs geheime Basis war. Dorthin hatten sie sich mit letzter Not geflüchtet.
Wieder musste Connor husten, worauf er etwas Warmes, Feuchtes auf den Lippen spürte. Irritiert wischte er sich über den Mund und starrte auf seine Hand. Blut …
»Scheiße, was ist mit mir?«
»Alles gut, Junge«, redete Big Fly sanft auf ihn ein. »Nur ’ne Folge der Rippenprellung, die du dir beim Schuss in die Weste eingefangen hast. Gleich sieht ein Doc nach dir.«
Big Flys Worte waren beruhigend gemeint, verfehlten jedoch völlig ihre Wirkung.
»EinDOC!?«, fiepte Connor wie ein Blasebalg. »Auf keinen Fall! Die werden uns …« Ein unglaublicher Schmerz jagte durch die Brust, als er alarmiert hochfuhr, und erstickte jedes weitere Wort. Mit brennender Glut schien er sein ganzes Ich zu fluten, bis ihn eine gnädige Schwärze erlöste …
»Vitalwerte stabil, vorerst!« Untermalt von einem feinen, rhythmischen Piepen tröpfelten die Worte aus weiter Ferne in sein Bewusstsein.
»Was ist Sache?« Eine andere Stimme, die Connor im Gegensatz zur ersten auf Anhieb einordnen konnte.SNOWWHITE!
»Ein Lungenödem infolge einer Lungenkontusion«, lautete die knappe Antwort des ersten Sprechers, ein älterer Mann, wie die heisere, brüchige Stimme verriet.
»Soll heißen?« Big Fly!
»EineLungenprellungmitEinblutungalsFolgeeinesstumpfenTraumas«,kamdieErklärung,währendConnorerfolglos versuchte, die bleischweren Augenlider aufzuschlagen. Wo, verdammt, war er? In einem Krankenhaus? »Vermute ich jedenfalls«, fügte die heisere Stimme hinzu. »Zur genauen Diagnose müsste er zumCTins Krankenhaus.« Okay, also kein Krankenhaus. »Ich habe ihm Kreislaufstabilsatoren verabreicht, dazu einen Cocktail aus Schmerz- und Beruhigungsmitteln«, fuhr der … Arzt? … fort. »Und eine Nasensonde zur besseren Sauerstoffzufuhr gelegt, wie Sie sehen. Mehr kann ich im Moment nicht tun.«
»Wann kann er weiter?«, fragte Big Fly.
Die Antwort kam als höhnisches Schnauben. »Machen Sie Witze? Er braucht absolute Ruhe, drei Tage Minimum. Er kann hierbleiben … genau wie Sie.« Der Sprecher legte eine kurze Pauseein,bevorermiteinerStimmefortfuhr,diedenmitschwingendenSarkasmusbestenfallshalbherzigkaschierte.»Aber angesichts Ihrer … aktuellen Medienbeliebtheit, kostet das ’ne Stange.« Ein Angebot, verknüpft mit einer unterschwelligen Drohung.
»Wie viel?«, blaffteSNOWWHITE.
Schweigen, das von einem kratzenden Geräusch begleitet wurde, während der Angesprochene sich wohl über ein bartstoppelübersätes Kinn fuhr. »Nun, als Stammkundin, die mir obendrein regelmäßig Jobs vermittelt, gibt’s natürlich einen Rabatt. Wird aber trotzdem nicht billig. Schließlich arbeite ich hier off the record und riskiere Kopf und Kragen.«
»Als Arzt ohne Zulassung sind Sie nicht mehr als ein besserer Sanitäter und arbeitennuroff the record«, stellteSNOWWHITEklar, womit sich auch die Arzt-Frage erledigt hatte. »Also, wie viel?«
»Fünfzigtausend. Bar!«
Ein Geräusch verriet, dass Big Fly undSNOWWHITEscharf die Luft einsogen, bevor ein hastiges »Kein Problem!« weitere Diskussionen im Keim erstickte. Manie! Gut, die Nervensäge war also auch noch da …
Eine Weile wurden weitere Worte gewechselt, ohne dass sein erschöpftes Bewusstsein sich noch recht mit dem Sinn befassen mochte – bis Big Fly es mit einer Frage für einen Moment noch einmal mobilisierte. »Wie stehen seine Chancen, Doc?«
»Fifty-fifty, würde ich sagen«, lautete die Antwort, begleitet von Schritten und dem Quietschen einer Tür, als alle den Raum verließen.
Eine Fifty-fifty-Chance! Immerhin! Wer hatte die heutzutage schon?, formten sich in einem letzten wirren Aufflackern die Gedanken, um anschließend wie Luftballons im Wind davonzutreiben. Fifty-fifty klang gar nicht übel …
Zähem Sirup gleich tröpfelte die Zeit dahin. Dennochwurden in der realen Welt unverdrossen Minuten zu Stunden undStunden zu Tagen, während derer Connors Bewusstsein wenige Maleden Weg an die Oberfläche zurückfand. Stets nur kurz, aberzumindest lang genug, um seine Umgebung in sich aufzunehmen. Wiedie Quelle des unablässigen Piepens zum Beispiel, die sich alsVitalparameter-Monitor entpuppte. Ein kleines Gerät, das über Kabel und Elektrodenmit seinem Körper verbunden war und dem fleckversifften Gehäuse nachbessere Tage gesehen hatte. Offenbar war das das Motto fürden ganzen Raum. Mit aufgerichtetem Oberkörper lag er auf einemKrankenbett, das bei der leisesten Körperregung quietschte. Durch ein Dachfensterdrang helles Tageslicht und präsentierte angestoßene Wandregale mit durchgebogenenBretternvollzerfledderterZeitschriften,medizinischer Nachschlagewerke und Behandlungsequipment – von eingeschweißten Einwegspritzenund Kanülen bis zuOP-Handschuh-Boxen. Immerhin, ein Lichtblick. DieHygiene schien nicht auf völlig verlorenem Posten zu stehen, wasetwas über den angerosteten Ständer mit den drei Infusionsbeuteln nebenihm hinwegtröstete, die ihren Inhalt in seine Unterarmvene abgaben.
WährenddernächstenWachmomentefanderunversehensBesucher neben sich am Bett sitzend vor. Das eine MalSNOWWHITE,dasandereMalBigFly,wobeierbeidekaumwiedererkannte.SNOWWHITEs schwarze Igelhaare waren zu einer braven Kurzhaarfrisur mutiert, deren leuchtend blonder Schimmer im Licht der nackten Deckenglühbirne fast wie ein Heiligenschein wirkte. Die Male der verschwundenen Piercings waren unter der Schminke kaum wahrnehmbar, während Lidschatten, künstliche Wimpern und dezenter Lipgloss sie aussehen ließ wie eine …
»1A-Mutti …«, kommentierte Connor matt lächelnd, ohne dass seine schwindenden Sinne ihren gestreckten Mittelfinger registrierten.
»Wohlgenährter Versicherungsvertreter«, lautete dann sein Urteil über Big Fly, dessen eisgrauer Haarkranz nun in dunklem Braun daherkam, ebenso wie die ersten Stoppeln eines Vollbarts. »Nicht das Kurzarmhemd mit Krawatte vergessen«, nuschelte Connor, als Big Fly den Look mit einer schwarzen Hornbrille komplettierte. Dann waren ihm wieder die Lichter ausgegangen.
In der nächsten Wachphase spürte er, dass irgendetwas anders war. Dem Licht nach, das senkrecht durch das Dachfenster fiel, mussteesMittagsein.DerKopffühltesichklareranunddieses Ziehen im Bauch war eindeutig … Hunger! Was sich dem Besucher, der kurz darauf hereinschneite, per Gedankenübertragung erschlossen haben musste. Dem leckeren Duft nach enthielt der Teller, den Manie auf einem Tablett zur Tür hereinbalancierte, Hühnersuppe.
»Dr. Moreau meinte, du könntest wieder was vertragen«, verkündete Manie.
»Wo er recht hat, hat er recht«, schmunzelte Connor. »Auch wenn er kein Doc ist.«
Manie stutzte einen Moment, bevor er den Infusionsständer umkurvte, das Tablett auf einem Beistelltisch absetzte und auf der Bettkante Platz nahm. »Du weißt, was Sache ist?«
Connor nickte und berichtete, was er aufgeschnappt hatte. »Okay, zugegeben: Ich war nicht voll auf Empfang. Aber irgendwie klang der Typ ziemlich windig, von seiner Geldgier mal abgesehen«, schloss er. »Übrigens, danke für deine …« Verlegenes Räuspern. »… Hilfe.«
Eifrig fuchtelnd winkte Manie ab. »He, sind wir Freunde oder sind wir Freunde?«, haspelte er, um flummigleich vom Bett hochzuschnellen.EinenWimpernschlagfürchteteConnor,derquirlige Kerl würde ihn gleich umarmen. Aber statt in seine Richtung fuhren Manies Hände zum Tablett. Ehe Connor wusste, wie ihm geschah, schwebte der Teller mit dampfender Suppe vor seinem Mund. »Soll ich dich … Macht mir null aus … Freunde machen so was«, prasselte es auf ihn ein, während Manie ihm vielsagend mit dem Esslöffel vor der Nase herumwedelte.
»Nur nicht übertreiben«, knurrte Connor und nahm ihm Teller und Löffel ab.
»Okay, okay«, gab Manie sich geschlagen. »Old school, cool, ganz der Alte!«
Mit leicht zittrigen Händen löffelte Connor die Suppe, während Manie ihm wie eine Mutter zusah, die sich freute, dass es ihrem kranken Kind wieder schmeckte.
»Hm, lecker«, grunzte Connor zwischen zwei Löffeln. »Ist die vom Doc?«
»He, willst du mich dissen?«, protestierte Manie. »Von mir, Mann! Ein Rezept von meiner Mutter, aus Algerien. Wenn du glaubst, dieser Typ …« Jäh hielt er inne, als er das lustige Funkeln in Connors Augen registrierte. »Ah, nicht nett, einen Freund zu veräppeln, der sich für einen in der Küche abschuftet. Aber schön, dass dein Humor wieder da ist. Oder zumindest das, was du dafür hältst.«
»Sorry«, lächelte Connor, bevor er genüsslich den nächsten Löffel in sich hineinschlürfte. »Und danke noch mal. Natürlich war mir klar, dass sie von dir ist.« Tatsächlich ließ die leckere Note von Safran und Zimt keinen Zweifel an der Identität des Kochs aufkommen. Unwillkürlich sprangen Connors Gedanken nach Marseille zurück. Wo Manie ihm und John zum Abschied ein leckeres Schakschuka zubereitet hatte … John! Verdammt, wasmochtemitihmsein?MitallerGewaltrissConnorsich aus der fruchtlosen Grübelei. Wollten sie heil hier rauskommen, mussten sie sich auf die nächsten Schritte konzentrieren, mussteersich konzentrieren …
»Wie wär’s mit einem Update?«, fragte er zwischen den nächsten beiden Löffeln. Daraufhin erfuhr er, dass er nun schon den vierten Tag im Bett lag, laut Dr. Moreau aus dem Gröbsten raus sei und Big Fly undSNOWWHITEalles für die Weiterfahrt organisiert hatten – Onlineshopping sei Dank. Von John gab es nichts Neues.
»Dieser Moreau …«, begann Connor anschließend zögernd und senkte den Teller, der schwerer und schwerer wurde. »Okay, er hat mich wieder in die Spur gebracht. Aber ich hoffe, ihr habt ein Auge auf ihn. Irgendwie hab ich ein ganz mieses Gefühl.«
»Geht uns genauso«, räumte Manie unter verschmitztem Zwinkern ein. »SNOWWHITEhat sein Handy geklont. Ob Anrufe,ChatsoderTextnachrichten:AlleslandetaufihremGerät.«
Connor nickte erleichtert. »Klingt gut. Dann sollten wir so schnell wie möglich verschwinden.«
Manies Augenbrauen schossen in die Höhe. »Bitte? Dr. Moreau meinte, du bräuchtest noch drei Tage, bis du wieder einigermaßen …«
»DreiTage?!«,schnittConnorihmdasWortab,währendplötzlich alles Alarm in ihm kreischte. Warum war der zwielichtige Doc so scharf darauf, sie so lange hierzubehalten, wo er doch angeblich aus dem Gröbsten raus war? Nur, um möglichst viel Kohle aus ihnen rauszupressen? Besser sie warteten nicht, bis sie es herausfanden. »Auf keinen Fall! Wir gehen, sofort!«
»Bist du irre?« Protestierend wies Manie auf den Teller, der nun auf Connors Schoß ruhte. »Glaub ja nicht, ich check nix. Du hast ja nicht mal genug Kraft, den Teller länger zu halten.«
Finster starrte Connor auf den Rest Hühnersuppe. Es half nichts, Manie hatte recht. Allein beim Gedanken, gleich aufzustehen und sich fertig zu machen, wurde ihm schwindelig. »Okay«, brummteer.»Einszunullfürdich.Abermorgenfahrenwir, koste es, was es wolle. Sag den anderen beiden schon mal Bescheid.«
»Wie du meinst«, erwiderte Manie. Begeisterung klang anders. Aber Connor wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte …
AmnächstenMorgenwurdeervomleckerenDuftvonKaffeeund Pancakes geweckt, die diesmal von Big Fly undSNOWWHITEserviert wurden. Während er es sich schmecken ließ, versuchten die beiden zwischen erleichterten Scherzen anlässlich seiner Genesungsfortschritte,ihnvonseinemVorhabenabzubringen.Allerdings eher halbherzig, wie er schnell merkte. Zweifellos war den beiden ebenso klar, dass sie sich mit jeder Minute, die sie blieben, mehr in Gefahr brachten. ZumalDEEPSLEEPhöchstwahrscheinlich hohe Belohnungen in der Pariser Unterwelt auf sie ausgesetzthatte –zuderMoreaualleindurchdieNaturseinerTätigkeit über reichlich Verbindungen verfügte … Connor meinte, ihnen die Erleichterung förmlich anzusehen, als sie beschlossen, mittags aufzubrechen.
Gesättigt von den Pancakes und froh über die Entscheidung, verbrachte Connor den Vormittag größtenteils wieder schlafend, bis ein ebenso vertrautes wie überraschendes Verlangen sein Comeback feierte. Verdammt, er musste so was von auf die Toilette!
Kurzerhand zog er sich die Infusionsnadel aus der Vene und hatte gerade aufrecht auf der Bettkante Platz genommen, als Manie wieder mit einem Tablett hereinkam, diesmal beladen mit zwei dampfenden Bechern und einem Teller Kekse.
»He, was soll das denn werden?«, rief er besorgt.
Connor zuckte die Achseln. »Was schon? Wir wollen doch sowieso los und außerdem muss ich dringend. Kannst du mir sagen, wo das Klo ist?«
»Verstehe«, schmunzelte Manie, während er das Tablett auf dem Beistelltisch platzierte. »Systeme wieder online, was?!« Mit einem Nicken wies er zur Tür. »Da durch, zweite rechts.«
Connor wollte sich erheben, hielt jedoch inne, weil ihn Manies Bemerkung auf einen Gedanken brachte. »Ähm, apropos Systeme«, begann er. »Wie lief das eigentlich … als ich weggetreten war … du weißt schon …«
»Na, Bettpfanne und Katheter halt!«
»Katheter …«, echote Connor.
»Ein langer Schlauch, der dir in die Harnröhre gesch…«
»Ich weiß, was ein Katheter ist«, unterbrach Connor ihn. »Und eine Bettpfanne.« Wie alleDEEPSLEEPERbesaß er keine Erinnerungen an sein verschüttetes Ich, hatte aber ansonsten alles an Wissen parat. Von Sprachen über Waffen bis hin zu Alltagsphänomenen wie Big Macs, Donald Duck oder … Bettpfannen. »Ich hab mich nur gefragt, wer …« Mit einem resignierten Seufzer gab er sich geschlagen.
»Keine Bange, Big Fly und ich haben uns um die Urinbeutel und die Bettpfanne gekümmert«, erlöste ihn Manie, um süffisant hinzuzufügen: »ObwohlSNOWWHITEsich mehrmals freiwillig angeboten hat.«
»Haha!«, überspielte Connor seine Verlegenheit und hievte sich entschlossen hoch. Zu entschlossen, denn ehe er wusste, wie ihm geschah, drehte sich alles.
»He, sachte«, hörte er Manies Ruf. Ein Scheppern ertönte, Keramik klirrte, während ihn hastig Arme packten. Es dauerte ein, zwei Sekunden, bevor der Schwindelanfall vorüber war. Gestützt von Manie blinzelte er auf den abgewetzten Linoleumboden hinab, wo sich ein von Scherben und Keksen gesprenkelter Teich aus Tee gebildet hatte.
»Mist, war ich das?« Hastig machte Connor Anstalten, sich zu bücken.
»Wow-wow-wow!«, rief Manie und hielt ihn zurück. »Und nein: Das ging auf meine Kappe. Ich kümmer mich drum. Kommst du kurz allein klar?« Zögernd ließ Manie ihn los.
Vorsichtig drehte Connor den Kopf und stellte zufrieden fest, dass das Interieur am Platz verharrte. »Denke schon«, murmelte er und schlurfte mit zunächst wackeligen, dann aber zunehmend sicheren Schritten Richtung Toilette davon. Na also, ging dochwieder.DasGefühlderErleichterungwichjedochkurzdarauf einer erneuten Unruhe, als sich in das Rauschen der Toilettenspülung das Aufheulen eines Motors schob, gefolgt von quietschenden Reifen. Erfüllt von böser Ahnung eilte er, so schnell ihn seine Füße trugen, ins Zimmer zurück, wo Manie wieder auf der Bildfläche erschien – ohne Aufnehmer, ohne Kehrschaufel, bleich wie der Tod.
»C… Connor!«, stammelte er. »Komm schnell!«
Das aus Reptilienzeiten stammende Hirnareal übernahm und versetzte schlagartig alle Körpersysteme in Alarm. Gepusht von Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol folgte er Manie mit erstaunlich sicheren und schnellen Schritten durch einen langen Flur in eine düstere 80er-Jahre-Küche. Der Blick flog zu einer Eckbank, zu Big Fly undSNOWWHITE, die dort an einem Tisch saßen – mit glasigem Blick in sich zusammengesunken, jeweils einen Becher Tee vor sich.
»Wo ist Moreau?«, rief Connor über die Schulter, während er zu den beiden stürzte.
»Weg,ebensoseinWagen«,kamdieAntwort,währenderschon an Big Flys Hals nach dem Puls tastete. Etwas schwach, aber regelmäßig. BeiSNOWWHITEwar es das Gleiche. K.-o.-Tropfen? Durchaus möglich. Wie’s aussah, hatten Manie und er Glück gehabt, dass ihr Tee auf dem Boden gelandet war.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Manie.
»SieindenWagenverfrachtenundnichtswieweg!«,erwiderteConnor.»UndwennwirausderNummerhierheilrauskommen wollen, überlegst du besser schon mal, wo wir schnell ’ne neue Karre herkriegen. Sonst haben sie uns sofort wieder am Wickel …«
Wenn Aby sich wie im falschen Film vorkam, so galt für Katherine Long haargenau das Gleiche. Mindestens. Der steile Absturz ihrer hochtrabenden Ambitionen war einfach zu krass gewesen. EbenhattesiesichnochimTriumphüberdenzerschlagenenKreisumWHITEKNIGHTgesonnt,nurumkurzdarauf so hart auf dem Hintern zu landen, dass sich ihr allein beim Gedanken daran die Gedärme verknoteten. Dafür hatte ausgerechnet ihre alte Lieblingsfeindin Abigail Cane gesorgt, dieses Musterbeispiel eines abgehalfterten Rennpferds, das sich dummerweise als Mastermind hinter der elendenWHITEKNIGHT-Affäre entpuppthatte.UndmitdersiejetztdieseirreWer-bin-ich-und-wenn-ja-wie-viele-Mission durchzog, um Abys Hauptkomplizen Stuart Wang den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, den sie vor nicht mal zwei Stunden liebend gern als Fischfutter im Patapsco River gesehen hätte. Dem Laut nach, der sie und Aby jäh hatte erstarren lassen und unwillkürlich an ein qualvoll verendendes Tier erinnerte, konnte das durchaus noch eintreten.
Reglos starrten sie sich an. Lauschten, bis ein neues Geräusch das Kopfkino mit verstörenden Bildern von spritzendem Blut fütterte. Katherine registrierte, wie sich Abys um den Pistolengriff gekrampften Finger weiß färbten, bevor sie ihr mit einem Ruck des Kinns bedeutete, nach links vorzurücken, auf die Quelle des Geräusches zu. Okay, sie sollte also die Führung übernehmen. Natürlich sollte sie das, denn zweifellos traute Aby ihrer wunderbarenneuenFreundschaftnichtsorecht.Katherinekonntees ihr nicht verübeln. Dabei hatte sie ihren Seitenwechsel, so abrupt und bitter er auch war, aus voller Überzeugung vollzogen. Nicht wegenAbysPistoleimNackenoderwegendeskompromittierenden Materials über ihre Rolle beiDEEPSLEEP, auf das ihre neue … Partnerin verwiesen hatte.
Nein, der wahre Grund hieß schlicht und einfach Ken Olsen. IhrvermeintlicherBundesgenosse,dersiedieganzeZeitvonA bisZverarschthatte,siebenutzthatte,umsiewieeinvollgerotztes Taschentuch zu entsorgen, sobald sie ihren Zweck erfüllt hätte. Und das Schlimmste daran: Sie hatte es bereits geahnt. Im tiefsten Inneren sogar gewusst. Nicht umsonst hatte sie gewisse Vorkehrungen getroffen, wenngleich ziemlich unzureichende, nachträglich betrachtet. Abys Eröffnung über den abgefangenenBRIGHTHORIZON-Quellcode, der sie und Stuart Wang auf die SpurjenermonströsenKInamensGOODMOTHERgeführthatte, war nur der letzte grelle Spot auf ein Bild gewesen, dessen finstere Konturen sich bereits abgezeichnet hatten. Umso größer nun ihre unbändigeWutaufOlsenunddasVerlangen,esihmheimzuzahlen. Abgesehen davon, dass eine Welt unterGOODMOTHEReinfach unvorstellbar war – allein deshalb, weil für sie darin keine Existenzberechtigung vorgesehen war. Der abschließende Deal – ihre geballtenCIA-Ressourcen gegen Abys Zusicherung, ihren Namen nach einem Happy End aus allem rauszuhalten – war da nur noch das i-Tüpfelchen gewesen.
Somit war Katherine bis in die Fingerspitzen motiviert, als sie nun an der Spitze ihres Duos auf die schummrige Öffnung eines Korridors vorrückte. Dort angekommen, hielten sie erneut inne. VorihnenerstrecktesicheinrunddreißigMeterlangerGang. DiebizarreInselkettefahlenTageslichts,dasrechtsundlinks aus den türlosen Apartments sickerte, ließ nicht alle Einzelheiten erkennen. Aber für die Fuß- und Schleifspuren, die vom anderen Korridorende zu einer Türöffnung zwanzig Meter rechts vor ihnen führten, reichte es.
WiederzerrissderschrecklicheKlagelautdieStille,merklichlauterdiesmal.PromptschobAbysichanihrvorbei,umloszustürmen.GeradenochrechtzeitigerwischteKatherinesieanderSchulter.WAS?,schrienAbysLippenlautlosaufsieein.DiesengendenLöcherignorierend,dieihrfunkelnderBlickinsiebrannte,deuteteKatherinemiteinemNickendenKorridorhinab.EsdauerteeinenMoment,bisAbysnichtmehrganztaufrischeAugendiekleinehelle Scheibe auf der fernen Stirnwand entdeckt hatten.Ein Bewegungsmelder. Batteriebetrieben offensichtlich und improvisiert angebracht von einem ins morsche Gemäuer gehauenen Nagel.
Sie tauschten einen Blick, während in Katherine die Gedanken auf Hochtouren rotierten. Was sie da vor sich hatten, war ein stummer Annäherungsalarm, jede Wette. Der schon beim nächstenSchrittausgelöstwerdenkonnte,umaufdenHandysvonOlsens Gorillas zu landen. Augen zu und Attacke? No way! Die einzige Chance, ihr Ziel zu erreichen und danach noch im Spiel zu bleiben, war der Überraschungsmoment. Blieb nur eine Option, und die war nicht sehr verlockend …
MiteinerHandbewegungverlangteAbynachAufmerksamkeit. Genervt und amüsiert zugleich registrierte Katherine, wie ihre Begleiterin mit Zeige- und Mittelfinger schleichende, zeitlupenhafte Schritte andeutete. Entzückend, zwei Seelen, ein Gedanke!
Aber wo Aby recht hatte, hatte sie recht. Die einzige Methode, einen Bewegungsmelder auszutricksen, an den man nicht rankam, bestand darin, sich langsam zu bewegen. Verflixt langsam, da die meisten bereits ab einem Meter in der Sekunde reagierten, hochwertige bei 0,3 Meter in der Sekunde. Bedeutete: absolutes Schneckentempo und beten, dass die Bodyguards sich für ihren Ausflug mit einem Billigschnapper aus dem Baumarkt begnügt hatten.
Im Tempo fußkranker Faultiere setzten sie sich in Bewegung. Die Rechnung schien tatsächlich aufzugehen, sah man von den Momentenab,währenddererKatherinefürchtete,dassdiepenetrant knackenden Sehnen und Gelenke der alten Schachtel hinter ihr ihnen die Tour vermasseln würden. Doch zu ihrer Erleichterung schien es von den stetig anschwellenden, animalischen Lauten aus dem Raum vor ihnenübertönt zu werden, in die sich schließlich auch das Murmeln von Stimmen schob. Dann hatten sie es geschafft. Flach neben der Türöffnung gegen die Wand gepresst, standen sie da, bereit loszuschlagen.
»Na, hat dir der kleine Film von Dilips letzten Erdenminuten gefallen?«, vernahmen sie eine Stimme.
»Verglichen mit dem, was dir gleich blüht, ein Kindergeburtstag … Stuey«, verkündete eine zweite Stimme, die vor Vorfreude förmlich sprühte.
Katherine und Aby tauschten einen Blick, während die PuzzleteileblitzschnellanihrenPlatzrückten.BenundTim,OlsensBodyguards, die Stuart offensichtlich noch mental mit einem Filmchen ihrer Folterung von Dilip Ranji weichklopften. DenBRIGHTHORIZON-Programmierer,der –ohnezuahnen,damit die Büchse der Pandora zu öffnen – Stuart auf die Spur vonGOODMOTHERgebracht hatte. Die entsetzlichen Laute und Schreie … Sie stammten nicht von Stuart, sondern von Dilip …
»Bintiefbeeindruckt …«,drangStuartsklare,festeStimme zu ihnen. »… über den völlig neuen Maßstab, den ihr in puncto Dämlichkeit setzt.«
MiteinemvorsichtigenNickenbedeuteteKatherineeinersichtlich erleichterten Aby, sich bereit zu machen. Langsam wandte sie sich wieder der Öffnung zu, als eine weitere Stimme ertönte.
»Ihr Humor in Ehren, Stuart. Aber wenn Sie auf einen schnellen Tod spekulieren, muss ich Sie enttäuschen. Diesmal werden sich die beiden nicht wie bei Dilip Ranji in der Voltzahl vergreifen. Nicht unter meiner Aufsicht. Besser, Sie kooperieren. Ich will alles wissen …«
Abrupt wandten Katherine und Aby die Köpfe einander zu. Das war …OLSEN! Was zum Teufel machte der denn hier?
»… über Ihre Kenntnisse vonGOODMOTHER,DEEPSLEEP, Ihre Mitstreiter, Kommunikationswege und … « Die Aufzählung wurde vom schrillen Klingeln eines Handys unterbrochen.
Ihre dämliche Kopfbewegung hatte den Bewegungsmelder ausgelöst!
Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse. Mit Katherine an der Spitze stürmten sie in den Raum. Zwei Doppelschüsse in die Brust aus Katherines Glock rissen die herumwirbelnden Bodyguards von den Beinen. Die Leichname waren noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen, als Aby schon an ihnen vorbei zur Raummitte stürzte. Auf Stuart zu, der mit Tape gefesselt auf einem Stuhl saß. Noch während sie auf ihn zuhielt, hoben sich dessen aneinander gefesselten Füße. Um im nächsten Wimpernschlag mit voller Wucht auf ein Handy einzutreten, das über denBodenaufihnzuschlitterte,fallen gelassenvoneinemderBodyguards.
Mit lautemKrackzersplitterten Display und Gehäuse.
»Dachte,wirkappenbesserOlsensLiveschalte«,erklärteStuart auf Abys irritierten Blick, bevor er zu Katherine schielte, die mit effizienten, routinierten Bewegungen die Taschen der beiden Leichen filzte. »Vor allem angesichts deiner neuen Freundin. Sieht aus, als hätte ich einiges verpasst.«
»Du hast ja keine Ahnung«, grinste Aby, fast schwindlig vor Erleichterung. »Du hast ja keine Ahnung …«
»Achtung!«, riss eine helle Mädchenstimme John aus den Gedanken. Mit einem Ruck warf er den Kopf herum, als der Ball auch schon auf ihn zugeflogen kam. Reflexartig schnellte sein rechtes Bein empor, um ihn mit dem Innenrist aus der Luft zu pflücken. So der Plan. Doch offensichtlich forderte die Nonstop-Fahrt, die sie über das europäische Autobahnnetz von Paris in den Süden Deutschlands geführt hatte, ihren Tribut. Die noch etwas steifen Glieder reagierten einen Wimpernschlag zu spät und so verpasste er der Kugel eine peinliche Richtungsänderung. In hohem Bogen segelte der Ball über den brusthohen Drahtgitterzaun des Raststättengeländes hinweg und verschwand in hüfthohem Gestrüpp.
»Mist, jetzt ist er weg!«, vernahm John dieselbe Stimme, in der nun Schrecken und Vorwurf um die Oberhand rangen. Abrupt wandte er sich um und starrte in ein rotwangiges Sommersprossengesicht, aus dem ihm kornblumenblaue Augen unter einem blonden Pony entgegenblitzten. Ein ursprünglich schneeweißes, von Gras- und Sandflecken verziertes Fußballtrikot mit dem dezenten Wappen eines Fußballvereins und dem so gar nicht dezenten Werbeschriftzug einer Airline vervollständigten das Bild. Die Arme in die Seiten gestemmt, musterte ihn das Mädchen mit einem Blick, der keine Optionen ließ.
»Ich hol ihn wieder«, versicherte John, bevor er sich elegant über den Zaun schwang – begleitet von den alarmierten Blicken seiner drei Begleiter, die sich in der Nähe zu einem Imbiss auf einer der vielen Picknickbänke niedergelassen hatten. Den geborgenen Ball in Händen, trat er gleich darauf an den Zaun und reichte ihn hinüber. Mit einem strahlenden »Danke!« nahm das Mädchen ihn in Empfang.
»Kein Ding!«, erwiderte John. Ein lässigerSatz beförderte ihn wiederaufdieandereSeite.AusdemAugenwinkelregistrierte er,wieschlagartigdieSpannungausdenKörpernseinerBegleiter wich. Eine von ihnen – bleich, mit schwarzem Bob – deutete demonstrativ auf das Sandwich und die Softdrinkdose auf dem freien Platz neben sich, als das Trikot-Mädchen unerwartet noch einmal seine Aufmerksamkeit beanspruchte.
»Wow, kannst du springen! Aber Fußball ist nicht so dein Ding, was?«
Nee, eher Football,drängte es sich ihm aus den Tiefen des Unterbewusstseins beinahe über die Lippen, als sich urplötzlich ein Bild von solch bestechender Klarheit vor seinen Blick schob, dass ihm kurz schwindlig wurde und seine Hand unwillkürlich Halt suchend an den Zaun langte. Ein rotierendes Ei vor dem Hintergrund eines strahlend blauen Himmels … Eine Szene aus seinem alten Leben, wie ihm mittlerweile bewusst war. Korrektur: auseinemseiner alten Leben.
»He, geht’s dir nicht gut?«
John blinzelte irritiert. »Alles bestens«, versicherte er und pflanzte ein Lächeln auf sein Gesicht, von dem er hoffte, dass es zur Aussage passte.
»He, Leonie! Nun trödel nicht, wir wollen weiterspielen«, befreite ihn ein lauter Ruf aus der Situation. Das Mädchen, Leonie, fuhr zu einer kleinen Gruppe herum, die von einem Rasenstreifen in der Nähe erwartungsvoll zu ihnen hinüberblickte.
Unwillkürlich verkrampfte sich Johns Herz. Eine glückliche Familie … Mutter, Vater, zwei Geschwister. Offenbar hatten sie auf dem Weg in den Urlaub eine Pause eingelegt, um ein bisschen Fußball zu spielen und Spaß zu haben. Anders gesagt: Die Verkörperung all dessen, was er nicht hatte … wohl nie haben würde.
»Komme!«, rief sie zurück. »Muss wieder«, verkündete sie und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Meine Brüder und ich führen nämlich gerade«, fügte sie eifrig hinzu. Sie war schon halb herumgewirbelt, als sie innehielt, weil ihr offenbar noch etwas eingefallen war, das ihrem neugierigen Kinderhirn keine Ruhe ließ. »Was ist das da?« Stirnrunzelnd wies sie auf Johns Füße.
John erstarrte innerlich. Er wusste genau, was sie meinte. Beim Sprung über den Zaun musste seine Hose ein Stückchen hochgerutscht sein und die kleine schwarze Box entblößt haben, die an seinem Gelenk fixiert war. Eine elektronische Fußfessel, dieDEEPSLEEPihm verpasst hatte, da sie ihrem neuen »Familienmitglied« noch nicht recht trauten.
»Oh, das«, stieß John hervor, während er fieberhaft nach einer Erklärung suchte. Wie automatisch huschte der Blick zu seinen Begleitern, die plötzlich wieder aus jeder Pore alarmierte Wachsamkeit verströmten. Er musste sich was einfallen lassen, sofort – etwas Harmloses, das Leonies Neugier befriedigte … und sie und ihre Familie am Ende nicht in tödliche Gefahr brachte.
»Ist so was wie ein Freundschaftsband«, platzte es aus ihm heraus. Er deutete auf die bleiche junge Frau, die mit dem Zeigefinger demonstrativ auf seinen Imbiss wies.LIGHTNINGaka Cynthia Gregory aka … seine Schwester. »Von ihr, sie hat genau das Gleiche. Damit wir immer wissen, wo der andere ist, und auf unsachtgebenkönnen.«Okay,dassseineSchwesterLIGHTNINGeins trug, war gelogen. Aber ihm war einfach nichts Besseres eingefallen, um die Story einigermaßen rund zu machen und ihr Charme zu verpassen. Himmel, mach, dass sie jetzt nicht schnurstracks rüberläuft, um es sich zeigen zu lassen, dachte John.
Doch zu seiner Erleichterung kam von Leonie nur ein ehrfurchtsvoll gehauchtes »Cool«, bevor sie erneut gerufen wurde.
»Mensch, Leonie, mach hin!«
Ein bedauerndes Schulterzucken, dem ein hastiges »Tschüss« folgte, und schon war Leonie wieder auf dem Weg zu ihren Leuten –inGedankenoffensichtlichbereitswiederbeimnächsten Tor, das sie und ihre Brüder Papa und Mama gleich einschenken würden.
Die bohrenden Blicke der anderen ignorierend, trat John mit bedächtigenSchrittenandenPicknicktisch,nahmnebenseiner Schwester Platzund widmete sich seinem Sandwich. »UND?«, fauchte sein Gegenüber ihn an. Seinem bisher an den TaggelegtenAuftretennachmussteersowaswiederLieutenant seiner Schwester sein, worauf nicht zuletzt auch seinDEEPSLEEP-Name hindeutete:WESIR. Ein drahtiger, anscheinend nur aus Muskeln und Sehnen bestehender Kerl mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, dessen hellbraune Haut verriet, dass seine Kinderwiege irgendwo im Nahen Osten lag. John hob bedächtig den Kopf und blickte in samtene braune Augen, die sich keinerlei Mühe gaben, den funkelnden Hass darin zu verbergen. Das Gleiche galt für denDEEPSLEEPERneben ihm,JOKER, dessen Wangenpartien in Verbindung mit dem strohblonden Haar und den wässrig blauen Augen eine slawische Herkunft vermuten ließen.
»Und was?«, hielt John ausdruckslos entgegen.
»Was war das da mit der Kleinen eben, Arschloch?«
»He«,griffJohnsSchwesterein.»Kriegteuchwiederein.Jerem…WHITEKNIGHTist jetzt einer von uns.« Wie nebenbei registrierteJohnihrenkleinenVersprecher.Jeremy –seinwirklicher Name. Na ja, jedenfalls wenn er seinen Albträumen glauben durfte … und ihr. »Beziehungsweise wird es bald sein«, hörte er seine Schwester fortfahren. »Falls sich erweist, dass er noch einen mentalen Schubs braucht.«
Einen mentalen Schubs … Unwillkürlich durchfuhr John ein Schauder. Das, wovon seine Schwester da wie nebenbei sprach, war invasive Psychenkonditionierung, anders gesagt: Gehirnwäsche, Folter …
»Lassnur«,gabJohndenUnbeeindruckten.Erwiesmiteinem Nicken auf seine beiden Gegenüber. »Ich kann sie gut verstehen.« Was durchaus stimmte. Im Kampf ums eigene Überleben hatten Connor,SNOWWHITEund er dem Gegner schmerzhafte Verluste zugefügt. Vor allem die Sprengfalle inSNOWWHITEs Transporter war verheerend für dieDEEPSLEEPERgewesen. Das hatten ihmWESIRundJOKERgleich zu Reisebeginn nur zu deutlich klargemacht – unterstrichen von dem einen oder anderen groben Rippenstoß und der süffisanten Aufforderung, doch bitte, bitte einen Fluchtversuch zu wagen.
WasJohnletztendlichzueinerwichtigen,fasttröstlichenErkenntnis gebracht hatte: Auch wenn dieDEEPSLEEPERder zweiten Generation im Gegensatz zu ihm oder Connor ungleich besser und stabiler konditioniert waren, so hatte man sie dennoch nicht ganz in emotionslose Roboter verwandeln können. Sie waren imstande, etwas zu empfinden: Gemeinschaftssinn und Hass. Und wo Hass war, war vielleicht ja irgendwo auch noch …
»Okay, ich bin wirklich gerührt,WHITEKNIGHT«, verlangteWESIRs vor Hohn triefende Stimme wieder seine Aufmerksamkeit. »Dann macht es dir ja sicherlich nichts aus, uns zu sagen, was du da eben mit ihr gequatscht hast. Ach ja, und warum sie auf deine Füße gezeigt hat.«
WährendallesinihmGefahrkreischte,ließJohnfüreinenMoment den Blick gelangweilt zu dem Fußballspiel schweifen, das zwischen Leonie, ihren Brüdern und deren Eltern tobte. »Natürlich,keinegroßeSache.«ErzucktedieAchseln.»Daihrjaaufmerksam alles verfolgt habt, gibt’s nicht viel zu sagen.« Er berichtete, worüber sie sich unterhalten hatten.
»Was!FußballistnichtsodeinDing,hatsiegesagt?«,schnaubteJOKERamüsiert. »Wo die Kleine recht hat, hat sie recht.«
»Und woher das Interesse an deinen Füßen?«, ließWESIRnicht locker.
»WeilsiefüreinenMomentmeineFußfesselgesehenhat,alsich über den Zaun bin …« Die Entscheidung, sich eng an die Wahrheit zu halten, war mangels überzeugender Alternativen aus einer spontanen Eingebung erfolgt. Eisiges Schweigen senkte sich über den Tisch, während taxierende Blicke getauscht wurden.
»Und was hastdugesagt?«, brach seine Schwester die Stille.
»Dass es so was wie ein Freundschaftsband ist. Und dass du das Gleiche hast. Damit wir immer wissen, wo wir sind, und aufeinander achtgeben können.«
Alles in ihm spannte sich, während die Augen seiner Begleiter sich wie von einem Magneten angezogen zur fußballspielenden Familie wandten. John sah förmlich vor sich, wie sie ihre Abwägungen trafen. Wie Argumente sozusagen in die Waagschale des Lebens fielen und in die des Todes. Nun, er würde auf keinen Fall tatenlos zusehen, falls sich zweitere senkte. Auch wenn es hundertprozentig das Letzte sein würde, was er in diesem Leben tat.
»Freundschaftsband …«, grunzteWESIRplötzlich.
Seine ganz eigene Version eines spöttischen Lachens, wie John erst begriff, als seine Schwester einstimmte, kopfschüttelnd und mit schiefem Grinsen.
»Damit wir aufeinander achtgeben … Mann, eines muss man dir lassen, Jeremy. Da liegt echt ein ganz abgefahrener Sinn für Humor drin.« Doch im nächsten Moment wurdeLIGHTNINGwieder ernst. »Das nächste Mal gibst du besser acht.« Ihr Blick glitt demonstrativ zu Leonie und ihrer Familie hinüber, die sich inzwischen wieder zu ihrem Wagen begaben. »Was für nette Leute! Wäre doch ein Jammer gewesen, wenn ihr Blut an deinen Händen klebt. Besser, du bleibst ab jetzt in unserer Nähe, um Missverständnisse zu vermeiden.«
UngeachtetderunverhohlenenDrohungdurchfluteteJohnErleichterung, während er den Geknickten gab und schluckte. »Schon gut!«, brummte er und hob beschwichtigend die Hände. »Ich hab weder vor, Ärger zu machen, noch abzuhauen.« Was der Wahrheit entsprach, irgendwie jedenfalls. Denn wollten er und seine Freunde die geringste Chance haben, die Welt vorGOODMOTHERzu retten, musste erDEEPSLEEPinfiltrieren … ganz und gar zu einem der ihren werden, ohne es im tiefsten Inneren zu sein. Während er seiner Schwester, die im Fall der Fälle wohl nicht zögern würde, ihn ans Kreuz zu nageln, von der dunklen Seite zurück ans Licht half …
»Schade!«, leistete plötzlich und unerwartet nun auchJOKERseinen Beitrag.
John sah ihn an, fragend und mit geneigtem Kopf.
»Ichmeine,wirklichschade,dassdunichtvorhastabzuhauen«, erwiderteJOKERmit einem Lächeln, bei dem John sich die Nackenhaare aufstellten.
»Ich verstehe, dass ihr mir noch nicht über den Weg traut. Aberichbinfreiwilligbeieuch,schonvergessen?«,erwiderteJohn gelassen. »Und ganz abgesehen davon: Was, bitte schön, sollte das bringen, wenn ich abhaue?« Zur Untermalung klopfte er mit der flachen Hand auf die Stelle, wo sich unter dem Hosenstoff die Fußfessel befand.
»Was das bringen soll?« AusJOKERs Lächeln wurde ein Haifischgrinsen. Demonstrativ fischte er sein Handy aus den Tiefen seiner Cargohose und tippte auf dem Display herum, bevor er es John hinhielt, während sein Daumen erwartungsvoll über einem roten Button verharrte. »Ganz einfach, Jeremy.BOOM!!!« Dann senkte sich der Daumen …
Gedankenversunken starrte John aus dem Seitenfenster nach draußen, wo sich der tiefblaue bayerische Himmel über eine hügelige Landschaft spannte, in der goldgelbe Getreidefelder, tiefgrüne Wälder und funkelnde Seen in einem die Sinne betörenden Kaleidoskop um Wahrnehmung wetteiferten, unterbrochen vonsaftigenWiesen,aufdenenstoischvorsichhingrasendeKühe Gelassenheit verströmten.
JOKERsDaumenhattesichnichtvollendsaufdasDisplay gesenkt, natürlich nicht. Aber trotz des kurzen Moments, in dem die Zeit stillzustehen schien, war John nicht entgangen, wie sichWESIRsKörperabruptgestraffthatte.SomitwardasGanzewohl keine leere Drohung.
Unwillkürlich wanderte Johns Blick zu seiner Fußfessel hinab, die durch das im Sitzen hochgerutschte Hosenbein halb entblößt war. Das Leuchten der grünen Diode verkündete, dass alles okay war. Sollte sich jedoch die rote daneben aktivieren, hieß das: Schwing den Hintern zurück in den Radius! Der betrug hundert Meter zu jeweils einem ihrer drei Handys, so die knappe Erklärung seiner Schwester, als sie ihm das Ding angelegt hatte. Mit dem fast verlegen klingenden Hinweis: »Nur zu deiner Sicherheit, Jeremy.«
Bisher war er davon ausgegangen, dassDEEPSLEEPdamit jederzeit über seinen Standort informiert sein wollte. Was zweifellos der Fall war. Aber nachJOKERs Auftritt musste er davon ausgehen, dass das Gerät darüber hinaus über ein Extrafeature auf C4-Basis verfügte. Die Frage war nur, ob es ihm im Falle der Fälle »nur« den Fuß oder das Leben kosten würde. Wahrscheinlich Letzteres. Alles andere als ein endgültiges »Notaus« würde ausDEEPSLEEP-Sicht kaum Sinn ergeben. Schließlich stellte alleinseinWisseneinRisikofürihrePlänedar,vorallemjetzt, woGOODMOTHERlangsam, aber sicher in die kritische Phase trat … Verdammt! T minus 309 Tage, wenn er sich nicht verrechnet hatte.
Mit aller Gewalt löste John sich vom hypnotischen grünen Leuchten der Diode und lenkte den Blick wieder nach draußen. Es spielte überhaupt keine Rolle, ob die Fußfessel nun tödlich war oder nicht. Er hatte sowieso nicht vor abzuhauen, im Gegenteil.
»He, alles in Ordnung?«, vernahm er plötzlich die Stimme seiner Schwester, gefolgt von einer Berührung.
Er wandte den Kopf zur Seite. »Alles okay«, versicherte er, währendseineAugenunwillkürlichzuihrerHandwanderten, die auf seinem Knie ruhte. »Wieso?«, fragte er, als die Hand sich schon wieder zurückzog, als hätte sie sich verbrannt, kaum dass sie seinen Blick wahrgenommen hatte.
»Du hast so komisch geseufzt«, antwortete sie mit mattem Lächeln.
Himmel!Dashatteergarnichtgemerkt.SoharmlosdieSituationauchwar.ErmusstesichbesserindenGriffkriegen. Unkontrollierte Reaktionen bedeuteten unnötige Erklärungen. Unnötige Erklärungen gefährliches Improvisieren. Gefährliches Improvisieren … Tod.
Er nahm Zuflucht in einem verlegenen Achselzucken. »Ist ganz schön viel passiert in letzter Zeit. Manchmal habe ich das Gefühl, mir platzt gleich das Hirn.« Immerhin, auch das war nicht gelogen.
Überraschtregistrierteer,dassihreHandwiederaufsein Knie zurückkehrte. Eine Geste, die auf ihre Art etwas aufrichtig Tröstendes hatte und der diesmal jede Verlegenheit fehlte. »Mach dir keine Sorgen, Jeremy. Alles wird gut. Du bist jetzt bei uns. Mutter wird dafür sorgen, dass du dich bald besser fühlst! Du wirst sehen!«
»Das … klingt gut«, hörte er sich sagen, während Angst, Eiseskälteund schlechtes Gewissen sich mit einem Gefühl von … Wärme verwirbelten. Verwirrt registrierte er, wie im nächsten Moment seine Hand in ihrer landete.
Zu seiner Erleichterung ließ es seine Schwester mit einem müden Lächeln gut sein, bevor sie ihm nach einem aufmunternden Druck die Hand entzog und die Augen schloss – erneut von Müdigkeit überwältigt, wie so oft auf dieser bizarren Fahrt.
Kein Wunder angesichts der schweren Schrapnell-Verletzung, die sie sich in Paris zugezogen hatte, vor drei Tagen, alsSNOWWHITEsTransporterindieLuftgeflogenwar.DreiTage,dievieles, nein, alles verändert hatten. Angefangen damit, dass er nun mutterseelenallein im Feindesland operierte, wo jeder falsche SchrittaufeineTretmineführenkonnte,bishinzurunumstößlichen Gewissheit dessen, was seine Albträume ihm bereits eingeflüstert hatten:LIGHTNINGalias Cynthia Gregorywarseine Schwester.SeinBlut hatte in Paris ihr Leben durch eine vonDEEPSLEEPerzwungene Direktinfusion gerettet.
BliebdieFrage,wiesoseineSchwesterdarüberimBildgewesenwar,währendderWHISPERER,seingeheimnisvollerMentor,ihnohnediesesWissenaufsieangesetzthatte.Nun,vielleichtwürdesichdieAntwortdaraufindemsogenanntenZuhausefinden,wieseine Schwesterdie Basis vonDEEPSLEEP2.0 so gern nannte.
Während er wieder auf die vorbeiziehende Landschaft starrte, fand er sich in Gedanken nicht zum ersten Mal unversehens bei seinen Freunden wieder … Big Fly, Connor undSNOWWHITE. Lebten sie noch? Wenn ja, wo mochten sie jetzt wohl sein? Mit einem energischenSTOPP! brachte er das Gedankenkarussell zum Halten, ehe es richtig ins Rotieren gekommen war. Mit solchen Grübeleien half er niemandem. Seinen Freunden nicht und schongarnichtsichselbst,woergeradeaufdemWegindieHöhle des Löwen war.
Ein Gedanke, der ihn wie aufs Stichwort zur Frage führte, wo diese Basis sich eigentlich befinden mochte. Von Paris aus hatte das europäische Autobahnnetz sie stetig weiter nach Osten gebracht, ohne irgendwelche Hindernisse geschweige denn Grenzkontrollen, die mit dem Schengener Abkommen sowieso der Vergangenheit angehörten. Was auch für die Tschechische Republik galt, der sie sich allmählich näherten und deren Hauptstadt Prag zentraler Bestandteil ihres Reisevorwands war: vier Freunde auf einemTripzueinemderbeliebtestenParty-HotspotsEuropas.Ein wenig Kultur, feiern, bis der Arzt kommt, und ein paar Abstecher in die weitere Umgebung … Was neben Österreich und der Slowakei halb Osteuropa abdeckte.
WiedereinefruchtloseGrübelei,diezunichtsführte.Alsoentschied John, der wachsenden Schwere seiner Augenlider nachzugeben und ein Nickerchen zu machen. Er hatte den Kopf kaum gegen das Seitenfenster gebettet, als ein Ruf von vorn ihn wieder hochfahren ließ.
»Verkehrskontrolle!«JOKER.
Gleich darauf wandte er sich aus dem Beifahrersitz um und richtete die blassblauen Augen auf ihn. »Überlass uns das Quatschen. Falls du was gefragt wirst: Du kennst deinen Text.« Seine Stimme war vollkommen nüchtern, ohne die geringste Spur von Nervosität.
WozuJohnsEinschätzungnachauchkeinerlei Anlass bestand. Der Ausweis, den man ihm gegeben hatte, war von beeindruckender Qualität, was selbstverständlich auch für die Dokumente seiner Begleiter gelten würde. Und ob Verkehrs- oder Melderegister, Mietwagen- oder Hotelbuchungen: Er hegte keinen Zweifel, dass entsprechende Checks nichts als unverfängliche Informationen erbringen würden. Effizienz und Gründlichkeit waren Teil derDEEPSLEEP-DNA.