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Anselm Grün fragt: Woher kommt das Böse und wie wirkt es? Was macht das Böse mit uns Menschen? Was geschieht mit den Menschen, die Böses erleiden? Anselm Grün beschreibt, wie das Böse durch Vergebung und Versöhnung überwunden werden kann, und zeigt Wege auf, die zu einem angstfreien Leben führen. Anselm Grün bietet spirituelle Lebenshilfe für die großen Probleme unseres Lebens: Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust der Gesundheit, Verlust des Partners, des Kindes, der Eltern.
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Seitenzahl: 198
Anselm Grün
Dem Bösen begegnen
Wege zu einem versöhnten Miteinander
Knaur e-books
Anselm Grün befragt das Böse und die gängigen Bilder des Bösen: Wie sieht es aus und woher kommt es? Er unterscheidet zwischen dem Bösen, das der Mensch tut und dem Bösen, das er erleidet. Auf der Grundlage gängiger philosophischer Antworten von Augustinus über Kant zu Nietzsche thematisiert er Teilaspekte wie Freiheit, Gewissen, Verantwortung, beschreibt des Bösen in der Gegenwart und setzt den Ängsten der Menschen das christliche Konzept der Versöhnung und Vergebung entgegen.
Unter allen Fragen, die denkende Menschen heute beschäftigen müssen, ist die Frage nach dem Bösen und seinem Ursprung eine der entscheidendsten.« (Welte 1) So beginnt der Freiburger Theologe Bernhard Casper sein Vorwort zu den Gedanken von Bernhard Welte über das Böse bei Thomas von Aquin. Bernhard Welte selbst fängt seine Ausführungen mit dem Satz an: »Unter allen dunklen philosophischen Problemen darf das Problem des Grundes des Bösen als das dunkelste gelten. Man muss Himmel und Erde, die höchsten und die untersten Prinzipien bemühen, um es aufzuhellen, und man muss in der Arbeit an dieser Aufhellung ständig jenen schmalen und erhabenen Grat beschreiten, in welchem die Wahrheit über den Menschen gegen die größten und weltgeschichtlichen Irrtümer des Denkens steil abstürzt.« (Welte 9)
In diesem Buch kann ich das Rätsel des Bösen nicht lösen. Aber ich möchte im Blick auf unsere Welt, in der uns das Böse so offensichtlich vor Augen tritt, nachdenken über das Geheimnis des Bösen. Und ich möchte über die Grundfragen des menschlichen Lebens reflektieren: Woher kommen wir? Wer sind wir? Was erhoffen wir? Zu diesen Fragen gehört die heute so entscheidende Frage: Wie reagieren wir auf das Böse? Wie gehen wir um mit dem Bösen? Und wie können wir das Böse überwinden?
Mein Anliegen ist dabei ein seelsorgliches. Täglich begegnen wir dem Bösen. Das Böse widerfährt uns, nicht nur in der weiten Welt, sondern in unserem konkreten Umfeld, in der Firma, in der Gemeinde, in der wir wohnen, und in der eigenen Familie. Und wir selbst tun andern Böses an. Wie können wir die Schliche des Bösen erkennen? Wie können wir auf das Böse reagieren, das uns trifft? Wie können wir uns vor dem Bösen schützen, und wie können wir uns von seiner Macht befreien? Und wie können wir das Böse, das wir andern antun, reduzieren, auf ein erträgliches Maß zurückschneiden?
Wir erschrecken vor dem Bösen, von dem uns täglich die Zeitung berichtet. Da tötet ein junger Amokläufer Kinder in einer Schule. Die Polizisten sind erschüttert von der Brutalität, mit der der junge Mann die Kinder zusammengeschossen hat. Da entführt ein junger Mann ein kleines Mädchen, missbraucht es sexuell und tötet es anschließend. Terroristen ermorden ihre Geiseln und bringen Kinder in einer Schule um. Die Schreckensmeldungen über das Böse reißen nicht ab. Aber wenn wir darüber nachdenken, was denn das Böse ist und wie es dazu kommt, dass Menschen so böse sind und Böses tun, dann stoßen wir an Grenzen.
Wir versuchen psychologisch zu erforschen, warum ein junger Mann so brutal ist. Und wir stoßen auf seine Erziehung, auf seine eigenen Erfahrungen in der Kindheit. Aber dann fragen wir weiter: Warum war die Erziehung so? Wir analysieren die Lebensgeschichte der Eltern und der Großeltern. Wir entdecken in ihrer Geschichte Verletzungen, Unterdrückung, Kälte, Entwertung und Verzweiflung. Und dann gehen wir noch weiter in die Vergangenheit. Aber eine letzte Erklärung für das Böse können wir uns auf diese Weise nicht geben. Wir können nicht sagen: Woher kommt denn das Böse? Und wann hat es angefangen? Gehört es zur Natur des Menschen, oder ist es eine Störung in der guten Natur des Menschen? Wir nehmen nur wahr, dass wir in einer Welt leben, die vom Bösen infiziert ist, in der das Böse eine Realität ist.
Wenn wir philosophisch und theologisch über das Böse nachdenken, dann geraten wir ins Stottern. Dann können wir letztlich nicht wirklich sagen, was das Böse ist. Augustinus kapituliert in seinen Versuchen, über den Ursprung und Grund des Bösen nachzudenken. Er meint: »Nach dem Grund des Bösen forschen hieße die Finsternis sehen wollen.« (Bernhart 188) Joseph Bernhart schreibt in seinem Artikel über das Böse: »Religions- und geistesgeschichtlich gesehen bleibt das Böse buchstäblich ›problema opseos‹, etwas vor den Augen, was uns das Licht benimmt. Das Griechentum bis nahe an den Hellenismus fasste es in seinem tragischen Ernst, Indien erwies ihm, spekulativ und praktisch, seine Toleranz und zahlte dafür mit der Tragik der Gleichgültigkeit von Ja und Nein. In Israel macht sich Gott in Person offenbar dem Menschen, dem für seinen Lebenskampf vorgelegt ist Gut und Böse (vgl. Deuteronomium 30,15). Aber auch das Volk der Erwählung und der Verheißung hat zwischen sich und seinem Gott das Mysterium der Finsternis.« (Bernhart 194)
So spricht die Theologie vom »mysterium iniquitatis«, vom Geheimnis der Bosheit, vom Geheimnis des Bösen. Die verschiedenen Versuche, Gott und das Böse zusammen zu denken, scheitern letztlich. Da gibt es Theologen, die das Böse in Gott hineinnehmen. Aber das befriedigt uns nicht. Andere sehen die Welt ganz und gar gut von Gott geschaffen. Aber dann müssen sie erklären, wie das Böse in diese gute Welt hineinkommt. Die Philosophie der Aufklärung hat das Böse verharmlost. Aber das Böse ist eine Realität. Und es gehört zur Redlichkeit des Denkens, über das Böse nachzudenken.
Die Psychologie versucht auf ihre Weise, das Böse zu erklären. Sie sieht die Ursache in der Lebensgeschichte des Einzelnen. Aber sie kann letztlich auch nicht ganz erklären, was das Böse wirklich ist. Das gibt der Schweizer Psychologe C. G. Jung unumwunden zu. Auf der einen Seite sagt er: »Das Böse ist eine furchtbare Wirklichkeit. Und das ist es in jedem einzelnen Leben.« (Jung 39) Auf der anderen Seite erklärt er: »Man redet zu mir über das Böse oder über das Gute und setzt voraus, ich wüsste, was das sei. Ich weiß es aber nicht … Spricht man vom Guten oder Bösen, so spricht man konkret von einem Tatbestand, dessen tiefste Qualität wir in Wirklichkeit nicht kennen.« (Ebd. 29)
Weder die Theologie noch die Psychologie kann also letztlich das Geheimnis des Bösen entziffern. Daher kann auch dieses Buch das Böse nicht wirklich entschleiern. Ich habe deshalb bewusst den Titel gewählt: Dem Bösen begegnen. Ich möchte dem Bösen gegenüberstehen, ihm in die Augen sehen und in einen Dialog treten – mit dem Bösen und mit all den Vorstellungen vom Bösen, die sich die Menschen gemacht haben. Dabei ist mir nicht die philosophische Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und Wesen des Bösen das wichtigste Anliegen, sondern es sind ganz konkrete Fragen:
Wie gehe ich mit dem Bösen um, das ich erleide?
Wie kann ich darauf reagieren, wenn mich Böses trifft?
Und wie geht es mir, wenn ich das Böse selbst tue? Wie reagiert meine Seele, wenn ich böse handle?
Gibt es ein Gewissen in mir, das mir bewusstmacht, dass ich jetzt böse gehandelt habe?
Und gibt es spirituelle Wege, dem Bösen zu entgehen?
Ich möchte in diesem Buch beschreiben, was das Böse ist und wie es sich uns heute darstellt, welche Ausprägungen es annehmen kann und welche Bilder wir vom Bösen in unseren Köpfen haben. Das letzte Ziel des Buches ist es aber, eine spirituelle Lebenshilfe zu geben. Ich möchte die Lösungen aufzeigen, die uns das Christentum anbietet, wie wir das Böse überwinden können. Wir können das Böse nicht völlig aus der Welt vertreiben. Aber es liegt an uns, wie wir mit dem Bösen umgehen, das uns von außen trifft, und wie wir daran arbeiten, möglichst nicht böse an andern zu handeln.
Wir sind weder dem Bösen, das uns von außen trifft, völlig ausgeliefert, noch sind wir machtlos gegenüber dem Bösen, das wir selbst tun. In unserer Freiheit liegt es, auf das Böse zu reagieren. Und die christliche Tradition bietet uns genügend Hilfen an, wie wir das Böse in unserem Herzen verwandeln und auf das Böse, das uns trifft, so reagieren, dass es seine Macht über uns verliert.
Vor allem aber geht es mir darum, Wege aufzuzeigen, wie wir in unserem Alltag mit dem Bösen umgehen, wie wir unsere Angst vor dem Bösen überwinden und wie wir das Gute in unserer Seele so stärken können, dass das Böse über uns keine Macht gewinnt.
Über das Böse nachzudenken ist nicht gerade modern. Der Philosoph Rüdiger Safranski meint, dass das Denken der vergangenen Jahrzehnte »eigentümlich harmlos und idyllisch … gewesen ist und dass in ihm ein Thema, das noch über Jahrhunderte hin das abendländische Denken bestimmt hatte, kaum vorkam: das Böse«. (Safranski 14f.) Früher, so sagt der Philosoph, hatte sich jedes Nachdenken über das Geheimnis des Menschen »stets herauszuarbeiten aus jener alles grundierenden Nacht, die man nannte: das Chaos, das Böse, das Übel. Und jede Helligkeit des Denkens und der Zivilisation hob sich vor diesem dunklen Hintergrund ab«. (Ebd. 15) Safranski plädiert dafür, die Naivität unseres Denkens, die voller Optimismus das Böse verdrängt hat, aufzugeben und uns mit dem Bösen zu beschäftigen, das nicht nur in der menschlichen Seele, sondern auch im gesellschaftlichen Untergrund lauert. Es geht nicht darum, ständig um das Böse zu kreisen und der Faszination des Bösen zu erliegen, sondern darum, es zu bändigen. Das ist das eigentliche Wesen der Zivilisation: »Zivilisationen sind Versuche, die latente Gewaltbereitschaft zu domestizieren, und Freud hat immer davor gewarnt, die Verlässlichkeit der Sicherungen zu überschätzen.« (Ebd. 14)
Das Böse, das sich im Dritten Reich in seiner ganzen Abgründigkeit gezeigt hat, das aber auch heute in brutalen Bürgerkriegen, in organisierter Kriminalität und im weltweit agierenden Terrorismus in seiner sinnlosen, zerstörenden und unmenschlichen Gestalt sichtbar wird, will auch heute philosophisch, psychologisch und theologisch bedacht werden. Einen kleinen Beitrag will dieses Buch dazu leisten. Dabei möchte ich aber nicht steckenbleiben im Nachdenken über das Böse, sondern den Akzent darauf legen, wie wir mit dem Bösen umgehen und wie wir das Böse – wie es uns die Bibel verheißt – verwandeln können, damit es seine destruktive Macht verliert. Als Christen glauben wir daran, dass Jesus das Böse überwunden hat. Am Kreuz hat ihn die Bosheit der Menschheit getroffen: die Feigheit des Pilatus, der Neid der Sadduzäer, die Brutalität der Soldaten, die ihren Judenhass an Jesus ausagierten, und der Verrat seiner eigenen Jünger. Doch Jesus hat auf das Böse nicht mit einem bösen Herzen reagiert, sondern mit einem liebenden Herzen. Er ist durch das Böse, das ihm widerfahren ist, nicht böse geworden. Er hat vielmehr das Böse gleichsam wie ein trockener Schwamm aufgesogen und es an einer Stelle wieder ausgedrückt, wo es den Menschen nicht mehr schaden kann. Er hat mit seiner Liebe das Böse überwunden. Und so hat er uns am Kreuz einen Weg aufgezeigt, wie auch wir das Böse in dieser Welt überwinden können.
Seit jeher haben die Menschen Bilder benutzt, um das Böse zu beschreiben, es gleichsam sichtbar zu machen. Oft haben sie dem Bösen in ihrer Vorstellung auch eine Gestalt gegeben, es als Person beschrieben. Das ist auch in der Bibel der Fall: Wenn sie vom Bösen spricht, dann erzählt sie vom Teufel oder vom Satan, der den Menschen als sein Feind versucht und verführt. Im frühen Mönchtum wird der Umgang mit dem Bösen als Dämonenkampf geschildert.
Doch was meint die Bibel mit dem Teufel oder mit dem Satan? Das deutsche Wort Teufel ist abgeleitet vom griechischen Wort »diabolos«. Das wiederum kommt von »diaballein« = »durcheinanderwerfen, entzweien, verfeinden, schmähen, verleumden«. Der Teufel bringt also unsere Gedanken durcheinander. Er verwirrt uns. Er nebelt uns ein. Er macht uns etwas vor. Er legt uns herein, er überlistet uns. Jesus sagt vom Teufel im Johannesevangelium: »Er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.« (Johannes 8,44)
Der Teufel hält uns das Böse vor Augen und verkauft es uns als etwas Gutes. Das verwirrt uns. Die frühen Mönche erzählen, dass der Teufel oft in der Gestalt eines Engels erscheint, um den Menschen zu täuschen. Indem der Teufel unsere Gedanken verwirrt, macht er uns innerlich blind. Das erzählt uns anschaulich ein Wort der Wüstenväter:
Ein Altvater sagte: Wenn einem Tier die Augen verdeckt werden, dann geht es in der Mühle herum. Wenn es aber die Augen unverbunden hat, geht es nicht im Kreis der Mühle herum. So geht es auch mit dem Teufel. Wenn er dem Menschen die Augen verhüllen kann, stürzt er ihn in jegliche Sünde. Wenn aber seine Augen nicht verschlossen sind, kann er ihm leichter entrinnen. (Apo 1239)
Daher mahnen die Mönche zur Wachsamkeit. Wir sollen mit offenen Augen dem Bösen entgegentreten. Dann hat es keine Macht über uns.
Der Teufel als der »Durcheinanderwerfer« entzweit uns, er schafft eine innere Spaltung in uns. Er trennt uns von unserem Seelengrund und von unserem Herzen. Und er verleumdet uns. Er spricht schlecht von uns, damit wir uns selbst negativ sehen. Er nebelt uns ein mit Bildern, die uns von unserem Wesen entfremden und uns daher schaden. Er belügt uns. Und weil er uns belügt, ist er »ein Menschenmörder von Anfang an«. (Johannes 8,44). Er tötet unser Menschsein. Er entfremdet uns von dem ursprünglichen Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.
Das andere Wort ist Satan. Es stammt vom hebräischen Wort »satanas«, das »Widersacher, Feind, böser Engel« bedeutet. Die Bibel kennt die bildhafte Erzählung vom Sturz der Engel: Luzifer, der Fürst der Engel, wollte selbst sein wie Gott. So fiel er mit seinen Anhängern von Gott ab und wurde in die Finsternis geworfen. Der Satan ist also letztlich ein böser, ein verfinsterter Engel.
Das Gleiche gilt von den Dämonen. Vom griechischen Wort und auch von der griechischen Philosophie her hat »Dämon« eigentlich eine positive Bedeutung. »Daimon« bedeutet ursprünglich: göttliche Macht, Gott, Geschick. Der Dämon war der Verteiler und Zuteiler des Schicksals. Sokrates spricht vom Daimon als dem Seelenbegleiter, als der Kraft, die uns mit unserer Seele in Berührung bringt. Im christlichen Bereich wurden die Dämonen dann zu gefallenen Engeln. Und weil sie von Gott wegen ihres Ungehorsams verstoßen wurden, versuchen sie die Menschen von Gott zu entfremden und mit sich ins Verderben zu ziehen.
Alle drei Begriffe – Teufel, Satan, Dämonen – drücken eine Wirklichkeit aus, die wir nur in Bildern beschreiben können. Die Dogmatik sagt von allen dreien: Sie sind geschaffene geistige Wesen und personale Mächte. Aber was bedeutet dieser abstrakte Satz?
Zum einen: Dämonen oder Teufel sind geschaffene geistige Wesen. Sie sind also nicht ein Gegengott. Sie stehen nicht auf der gleichen Stufe wie Gott, sondern sind von Gott geschaffen, sind wie alles andere in dieser Welt Teil seiner Schöpfung. Und es sind geistige Mächte, also Mächte, die wir nicht sehen, sondern die hinter allem Sichtbaren stehen. Aber als geschaffene Mächte sind sie auch erfahrbar. Das Böse wird in dieser Welt sichtbar, spürbar.
Zum Zweiten: Die Dämonen und der Teufel sind personale Kräfte, aber keine Personen. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Der Teufel ist keine Person. Ich kann weder den Teufel noch die Dämonen vereinzeln, so wie es in den bildhaften Darstellungen der Kunst immer wieder geschieht. Der Teufel oder der Dämon ist nur eine Kraft, die meinem Personsein schaden möchte, indem sie mich abschneidet von meinem wahren Personkern. Diese Macht kann sich ausdrücken in krank machenden Lebensmustern, in zerstörerischen Phantasien oder in chaotischen Tendenzen des Unbewussten, die mein innerstes Selbst aufzulösen drohen. Das Bild des Teufels drückt aus, dass diesen zerstörerischen Tendenzen in der menschlichen Seele eine Kraft zugrunde liegt, die wir nicht so leicht greifen können.
Die frühen Mönche können uns in diesem Zusammenhang auch heute noch einiges sagen. Sie sprechen vom Dämonenkampf, den jeder Mönch durchstehen muss. Sie sind weniger daran interessiert, den Ursprung des Bösen zu erforschen. Sie beschreiben einfach das Böse, wie es sich zeigt. Dabei sprechen sie manchmal von Dämonen, manchmal auch von Leidenschaften, von Gedanken oder von »logismoi«, was man mit »gefühlsbetonte Gedanken oder Gedankengebäude« übersetzen könnte.
Diese Vermischung von Dämonen und Leidenschaften zeigt, dass die Dämonen nicht einfach böse sind, genauso wenig wie die Leidenschaften von Natur aus böse sind. Aber wenn die Leidenschaften den Mönch beherrschen, dann wird er böse und tut Böses. Der Weg der Reifung geht dahin, dass die Mönche sich vertraut machen mit den Leidenschaften und dass sie ihnen Grenzen setzen. Auf diese Weise können sie die Kraft, die in den Leidenschaften steckt, für sich selbst, für den Dienst an anderen und für ihre positive Entwicklung nutzen, ohne der Gefahr zu erliegen, von den Leidenschaften beherrscht zu werden. Es geht um innere Freiheit. Es geht um eine reife Selbsterkenntnis, in der man ständig mit dem Angefochtenwerden durch die Leidenschaften rechnet. Und es geht letztlich darum, dass der Mensch – wie es ein Psychologe einmal ausgedrückt hat – frei wird vom pathologischen Verhaftetsein an die »pathe«: an die »Leidenschaften«.
Wenn die Mönche von den Dämonen sprechen, die gegen sie kämpfen, dann verlagern sie das Böse nicht in den Menschen hinein. Es kommt von außen auf ihn zu, allerdings nicht von der Welt, sondern von den Gedanken und Leidenschaften, die vom Mönch Besitz ergreifen möchten. Aber die Mönche sind den Dämonen nicht hilflos ausgeliefert. Sie können mit ihnen kämpfen. Sie nennen sie beim Namen. Auf diese Weise gibt es ein Gegenüber, in dem man sich von den Dämonen distanzieren kann. Wenn alles Böse in mir ist, kann ich mich ja nicht dagegen wehren.
Was bei den Wüstenvätern auffällt, ist ihre Vertrautheit mit dem Bösen, aber zugleich auch ihre Freiheit von jeglicher Angst vor dem Bösen. Sie wissen um die Macht des Bösen. Aber das Böse macht ihnen keine Angst. Vielmehr weckt das Böse in ihnen die Lust, gegen das Böse zu kämpfen und es zu überwinden. Und sie kämpfen aus dem Vertrauen heraus, dass Christi Kraft, die ihnen im Heiligen Geist zuströmt, letztlich und auf jeden Fall stärker ist als das Böse.
Und noch etwas anderes wird deutlich, wenn wir die Erfahrungen der Wüstenväter bedenken: Sie haben erkannt, dass das Böse sich in unsere Gedanken, Gefühle und Leidenschaften einschleichen kann. Die Leidenschaften sind nicht von Natur aus böse. Böse werden sie nur, wenn wir ihnen nichts entgegensetzen können, wenn wir ihnen ohnmächtig unterliegen. Mit dieser Einsicht kommen die Wüstenväter und -mütter durchaus den Erkenntnissen der heutigen Psychologie nahe, die das Böse nicht als selbständige Macht sieht, sondern als eine Macht, die sich in den Strukturen der menschlichen Seele, in ihren Lebensmustern und in ihren verdrängten Bedürfnissen und Verletzungen einnisten kann.
Wenn wir die Bilder von Teufel, Satan und Dämonen mit den Anschauungen der heutigen Psychologie vergleichen, so können wir sagen: Wenn Dämonen geschaffene geistige Wesen sind, dann sind sie auch erfahrbar, das heißt, sie können sich zeigen in psychischen Komplexen, in der maßlosen Aggressivität aufgrund erlittener Verletzungen, in Rachegefühlen für angetanes Unrecht und vielem anderen mehr.
Die Frage ist, ob die Dämonen und der Teufel nur Bilder sind, auf die wir auch verzichten können, sobald wir uns auf die psychologische Begrifflichkeit einlassen. Für mich verweisen Teufel und Dämonen auf die Tiefendimension des Bösen und auf das große Geheimnis des Bösen.
Es besteht ja immer die Gefahr, dass wir das Böse nivellieren. Dann sagen wir: »Das Böse ist nichts anderes als negative Gedanken.« Doch damit verharmlosen wir das Böse. C. G. Jung fragt einmal: Was ist realistischer, zu sagen: Ich werde vom Teufel geritten. Oder zu sagen: Ich habe einen Komplex. Jung meint: Realistischer ist das Bild vom Teufel, der mich reitet. Denn dieses Bild vermittelt mir, dass das Böse mich in der Hand hat, dass es eine Macht ist, die von außen auf mich zukommt.
Jung nennt das Gute und das Böse »principia«. »Prinzip kommt von prius, das, was früher, was am Anfang ist.« (Jung 31) Wenn ich sage, ich habe einen Komplex, dann habe ich den Eindruck, ich hätte ihn, so wie ich etwas in der Hand habe. Doch in Wirklichkeit hat der Komplex mich. Er herrscht über mich. In den siebziger Jahren hat Herbert Haag ein Buch geschrieben: Abschied vom Teufel. Der atheistische Philosoph Ernst Bloch warf daraufhin Herbert Haag Naivität vor.
An den Teufel muss man nicht glauben oder ihn leugnen. Denn das, was der Teufel ausdrückt, ist eine Realität, die wir in unserer Welt einfach vorfinden. Das Böse in seiner Abgründigkeit umgibt uns. Der »Abschied vom Teufel« ist auch psychologisch gesehen naiv. Denn von der Psychologie her ist es sinnvoll, das Böse konkret zu benennen. Und wenn die Mönche die negativen Kräfte Dämonen nennen, dann können sie sich dagegen wehren. Sie wissen, wogegen sie kämpfen. Wenn das Böse etwas Anonymes ist, dann können wir uns dagegen kaum wehren.
Natürlich wurde vom Teufel manchmal psychologisch auch falsch gesprochen, wenn man das Böse nicht wirklich anschauen wollte und es nur nach außen projiziert hat. Gerade Menschen, die meinen, sie seien vom Teufel besessen, weigern sich oft, ihre psychische Struktur anzuschauen. Und sie gehen von einem Priester zum andern, um sich den Teufel austreiben zu lassen, anstatt sich ihrer eigenen Wahrheit zu stellen und sich mit ihrer Wahrheit Gott hinzuhalten.
Zu mir kam einmal ein Vater mit seiner zwanzigjährigen Tochter und meinte, sie sei vom Teufel besessen. Ich fragte, woran er das erkenne. Er erzählte, dass sie normalerweise ganz brav sei. Aber von Zeit zu Zeit stoße sie gotteslästerliche Flüche aus und beschimpfe Gott mit den übelsten Ausdrücken. Darin zeige sich der Teufel, der in sie fährt und sie besetzt hält. Wenn das wieder einmal geschah, dann fuhren die Eltern mit ihr zu einem Wallfahrtsort: nach Lourdes oder Fatima oder Altötting. Nach dem Besuch am Wallfahrtsort, so der Vater, gehe es eine Zeitlang wieder gut.
Ich bat, mit dem Mädchen allein sprechen zu dürfen. Ich fragte sie, wie sie das Zusammenleben in der Familie erfahre. Sie erzählte, wie tyrannisch die Eltern seien. Die Eltern hatten immer recht. Sie waren die Guten und die Tochter die Böse. Alles Böse war auf ihrer Seite konzentriert. Das machte sie eine Zeitlang mit, bis sie explodierte und Gott lästerte: jenen Gott, in dessen Namen ihre Eltern angeblich handelten.
Da wurde mir klar, dass die junge Frau nicht vom Teufel besessen war. Ihre Gotteslästerung war nur die Auflehnung gegen das rechthaberische Verhalten des Vaters. Beide spielten ein Spiel, von dem jeder einen Vorteil hatte. Die Eltern hatten den Vorteil, dass sie unfehlbar waren und sich nicht in Frage stellen lassen mussten. Die Tochter hatte den Vorteil, dass sie durch ganz Europa fahren konnte und dass sie mit ihrer Gotteslästerung den Eltern Angst machte. In diesem Augenblick hatte sie Macht über ihre machtbesessenen, kontrollsüchtigen Eltern.