Denk' nach, Harry - Harald Uhl - E-Book

Denk' nach, Harry E-Book

Harald Uhl

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Beschreibung

Der Autor beschreibt seinen Weg vom Eingeständnis seiner Alkoholkrankheit, der ersten "trockenen" Zeit, der Entgiftung im Krankenhaus und schließlich der Langzeittherapie. Seine Zweifel, Ängste und täglichen Herausforderungen werden ungeschönt aufgezeigt und enden in einem letzten Rückblick auf die Zeit des Entzuges und danach.

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Harald Uhl

Denk´nach, Harry!

Mein Weg aus dem Sumpf der Alkoholsucht

© 2021 Harald Uhl

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-39030-0

Hardcover:

978-3-347-39031-7

e-Book:

978-3-347-39032-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Danksagung

Vielen Dank an alle Menschen, die mich mit herzlichen Gedanken, Worten und Werken auf meinem Weg begleitet haben und immer noch mit mir gehen.

Besonderen Dank an Silvia, der Liebe meines Lebens, weil sie mir ein Nest gegeben hat und mich trotz all meiner „Spinnereien“ versteht und mir den Rücken freihält.

Danke Euch allen!

Ein paar Worte vorweg

 

Solange ich mich zurückerinnern kann, war es mir immer leichter gefallen, meine Gedanken niederzuschreiben und mich so damit auseinander zu setzen, als mich in direktem Gespräch mit einem anderen Menschen zu unterhalten.

Aus diesem Grunde hatte das Schreiben für mich als Freizeitbeschäftigung, die ich auch schon während meiner „nassen“ Zeit gepflegt hatte, eine große Bedeutung.

Ob Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten…, vieles, was mir durch den Kopf ging, musste ich niederschreiben und war dann immer wieder fasziniert, wenn ich später einmal las, was ich zu Papier gebracht hatte.

In meiner Jugendzeit hatte ich mehrere Tagebücher geschrieben, was seither aber nie mehr konsequent genug gewesen, dies trotz so mancher guter Vorsätze bis zum heutigen Tage fortzusetzen.

Vielleicht hätte ich so die Gelegenheit gehabt, meine Entwicklung zum Alkoholiker zurück zu verfolgen; ein interessanter Gedanke: gemeinsam mit einem Therapeuten die eigenen Tagebücher durchzukauen!

Für diese Aufzeichnungen spürte ich den Druck, meinen Kampf um die Abstinenz schriftlich festzuhalten, um mir immer wieder vor Augen führen zu können, wie schwer es war, aus dem Sumpf der Alkoholsucht auszusteigen.

Die Tagebücher sollten einer meiner Rückhalte werden und mir in Krisenzeiten Kraft geben, abstinent zu bleiben.

Immer dann, wenn der „Saufdruck“ kommen sollte, wollte ich darin nachlesen, wie hart die sechs Monate der Therapie für mich waren. All die schmerzhaften Erfahrungen und die Erinnerungen daran sollten mich vor einem möglichen Rückfall bewahren.

Ein weiteres Motiv:

vielleicht kann ich dem einen oder anderen ein klein wenig helfen, wenn ich durch die Veröffentlichung meiner Aufzeichnungen auch anderen Betroffenen die Möglichkeit biete, sich von einer Langzeittherapie ein Bild zu machen.

In der Vergangenheit habe ich zahlreiche, zu viele, Alkoholiker kennen gelernt, die sich nicht für eine stationäre Entwöhnung entscheiden konnten, weil sie einfach zu wenig aufgeklärt waren über das, was sie erwartet.

Ich will mit diesem Buch nichts verharmlosen und nichts verniedlichen, sondern nur aufzeigen, was ich persönlich bei meiner Therapie erlebt habe und wie ich es empfunden habe.

Alle Namen, auch den der Einrichtung, habe ich im Interesse aller Betroffenen geändert.

Sie spielen für den Gesamtzusammenhang keine wesentliche Rolle.

Der Ausstieg

 

Ich war damals 36 Jahre alt und arbeitete als Altenpfleger in Dauernachtwache in einem Pflegeheim.

Die Nachtarbeit, so eine meiner zahlreichen Ausreden, ermöglichte mir, viel Freizeit mit meinen drei Söhnen und meiner Frau zu verbringen. Doch die hatten sich bereits nach und nach immer mehr von mir distanziert, so dass mein Leben immer langweiliger wurde, weil ich mit mir selbst nicht mehr zurechtkam.

So auch an jenem Abend im Dezember.

Wie es schien, bestand die einzige Gemeinsamkeit, die von unserem Eheleben übriggeblieben war, nur noch aus der gemeinsamen, parallelen Blickrichtung zum Fernsehgerät.

Bis dahin war ich immer der Meinung gewesen, es sei nur ein partnerschaftlicher „Durchhänger“, wie er sich überall nach einigen Jahren Ehe einschleicht, besser gesagt, ich hatte es mir jedenfalls immer wieder selbst eingeredet. Trotzdem wurde mir die Barriere, die sich zwischen Jutta, meiner Frau, und mir immer mehr aufgebaut hatte, immer deutlicher.

Ich hatte nach allerlei Lösungen gesucht, wie wir unser Zusammenleben wieder ein wenig auffrischen konnten, übersah dabei aber stets, dass ich selbst in eine Scheinwelt aus Ausreden und Alibis hineingerutscht war.

„Lass´ uns zu Bett gehen!“ forderte ich Jutta träge auf und erwartete darauf ihr gewohnt unbeteiligtes Nicken als Antwort.

Diesmal sah sie mich jedoch nur lange an; durchdringend, fragend.

Dieser Blick machte mir Angst!

„Einen Augenblick noch…“, raunte sie und holte aus einem anderen Zimmer einen großen, dicken Briefumschlag herbei.

„Hier lies das!“ bat sie mich und streckte ihn mir entgegen.

„Ich kann auch rausgehen, wenn du das willst. Lies bitte sorgfältig, und wenn dir danach ist, können wir darüber reden.“

Gespannt fischte ich den Inhalt heraus.

„Sie wird sich doch nicht etwa von mir trennen wollen! Der Anwalt steckt vielleicht dahinter…!“ schoss es mir durch den Kopf.

Aufgeregt entfaltete ich die Schriftstücke.

Anonyme Alkoholiker, Fragenkatalog nach Jellinek…

„Gottlob keine Scheidung!“

Je mehr ich aber in den Unterlagen blätterte und deren Inhalt überflog, desto stärker wurde meine Beklemmung. Immer wieder las ich nach.

Mein Herz begann zu hämmern, dass ich meinte, man könne meinen Pulsschlag an der Halsschlagader sehen; meine Hände wurden schweißnass, und ich begann unmäßig zu zittern.

„Willst du mit mir reden?“ fragte Jutta ernst.

Ich konnte in diesem Moment keine Antwort geben, weil ich das Gelesene erst verdauen musste. Die Gedanken wirbelten mir wirr durcheinander, dass ich sie so schnell gar nicht ordnen konnte.

„So ernst hat sie unsere Ehekrise genommen, dass sie daraus sogar den Rückschluss zieht, ich sei Alkoholiker und trage deshalb alleine an unseren Problemen die Schuld…“

Sofort aber begann meine Abwehrmaschinerie auf Hochtouren zu arbeiten: „Die paar Bierchen…, zugegeben, ab und zu hab´ ich schon mal über die Stränge geschlagen, aber das macht doch jeder mal“ Außerdem habe ich so gut wie nie harte Sachen gekippt. Dieser Zirkus wegen Bier! Andere trinken noch viel mehr als ich, und bei denen käme niemand auf den Gedanken, dass sie alkoholkrank seien. Für andere hat Jutta sowieso immer mehr Verständnis…! Aber wie lange ist es eigentlich her, dass ich…, dass ich einen ganzen Tag ohne Alkohol ausgekommen bin?“

In meiner Verwirrung ging ich noch mal den Fragenkatalog durch:

• Haben oder hatten Sie in der letzten Zeit häufig Gedächtnislücken?

• Trinken Sie heimlich?

• Denken Sie dauernd an Alkohol?

• Trinken Sie die ersten Gläser sehr hastig?

und so fort…

So ehrlich, wie ich konnte, versuchte ich in Gedanken jede zu beantworten.

Als ich am Ende angekommen war, stand dort der drohende Hinweis:

„SOLLTEN SIE FÜNF ODER MEHR FRAGEN MIT JA BEANTWORTET HABEN, BESTEHT DIE WAHRSCHEIN-LICHKEIT, DASS SIE ALKOHOLIKER SIND!“

Ich versuchte es noch mal, dann noch einmal, aber je öfter ich die Fragen durchging, desto öfter musste ich mit „ja“ antworten, und es waren gewiss mehr als fünf!

Nun verlor ich meine Fassung, und es kamen mir die Tränen.

Ich sah alles, was mir bis zu diesem Zeitpunkt sehr wertvoll gewesen war, auf einmal verloren.

Völlig abwesend schlich ich mich ins Bett.

Jutta kam kurz darauf zu mir. Als sie sich neben mich gelegt hatte und sah, dass ich nur leer an die Decke stierte, fragte sie: „Willst du mit jemandem reden, der selbst trockener Alkoholiker ist?“

Ich nickte stumm.

„Weißt du, woher ich diese Unterlagen habe?“

Ich schwieg.

„Ich frage dich noch mal: willst du dir helfen lassen und mit einem Alkoholiker reden?“

Wieder sagte ich nichts und nickte nur stumm.

„Ganz ehrlich? Nicht nur, um mich zu besänftigen?“ bohrte meine Frau weiter.

„Ja – bitte ja! Ich will da raus!“

Nun begann Jutta zu erzählen. Ich hörte ihr aufmerksam zu.

„Ich habe dir nun lange genug zugesehen. Ich kann jetzt nicht mehr. Du hast dich immer mehr von den Kindern und mir zurückgezogen und dich von uns entfremdet. In meiner Verzweiflung habe ich mit Jochen gesprochen. Dabei hat er mir gestanden, dass er selbst Betroffener ist und erklärte sich bereit, dir zu helfen. Er sagte mir aber auch, dass es wenig Sinn hätte, wenn du dir deine Alkoholkrankheit nicht selbst eingestehst und den ersten Schritt zu machen bereit bist! Willst du wirklich mit ihm reden?“

„Vielleicht hast du ja recht, und ich bin wirklich Alkoholiker…“

„Nicht vielleicht! Du bist!“ konterte sie bestimmt.

„Gut, ich werde mit Jochen reden.“ Jetzt erfasste mich plötzlich ein eigenartiger Drang, die Flucht nach vorn anzutreten.

„Warum willst du mit ihm reden?“ dämpfte mich meine Frau jedoch gleich wieder.

„Wegen euch natürlich! Ich will euch doch nicht verlieren, will alles, soweit es mir möglich ist, wieder gutmachen, damit wir wieder eine glückliche Familie sein können.“

Ich war durcheinander. Was sollte diese Fragerei?

„Falsch! Du musst es nur für dich allein tun! Nur für dich!“

Nun verstand ich gar nichts mehr. Ich war bereit, für meine Frau und meine Söhne durch die Hölle des Entzugs zu gehen, und trotzdem sollte ich meinen ganzen Lebensinhalt außer Acht lassen?

„Ruf ihn an!“ flüsterte Jutta, die meine Verwirrung bemerkte.

Es fiel mir schwer, mich auf die Tasten des Telefons zu konzentrieren, war ich doch voller wirrer Gedankenfetzen.

Schließlich erreichte ich Jochens Frau. Jochen selbst hatte gerade Nachtdienst. Also bat ich darum, er möge mich doch am nächsten Tag unbedingt zurückrufen.

Zu diesem Zeitpunkt war es drei Uhr nachts!

Etwas enttäuscht, dass ich nicht gleich mehr erreichen konnte, versuchte ich danach einzuschlafen.

Aber es wurde für mich eine schlaflose, von selbstzermürbenden Gedanken geprägte Nacht.

*

Irgendwie war ich froh, dass Jutta am nächsten Morgen zu ihrer Schwester fuhr und die Kinder mitnahm.

Als sie davonfuhren, winkte ich ihnen nicht hinterher, sondern verkroch mich gleich zurück in die Wohnung und suchte mir Arbeit.

Ich war hin- und hergerissen; einerseits wollte ich allein mit meiner Krankheit und meinem Selbstmitleid sein, andererseits hatte ich doch furchtbare Angst vor der Einsamkeit.

Fast zwanghaft beschäftigte ich mich, versorgte die Pflanzen, rannte mit dem Staubsauger über die Auslegewaren aller Zimmer, scheuerte Böden, putzte die Küche sauber, bis alle glatten Flächen spiegelten, mistete das Kaninchen von meinem ältesten Sohn Jörg… und weinte!

Immer wieder erschien ein Bild vor meinen Augen:

Jutta mit den Kindern an der Hand sehen mir traurig und ratlos hinterher, wie ich eine Entzugsanstalt betrete und mich nicht einmal mehr umdrehe, weil ich sie mit meinen Abschiedstränen nicht noch mehr bedrücken will.

Je öfter mir dieses Bild in Gedanken kam, umso quälender empfand ich meine augenblickliche Situation.

„Da musst du durch, willst du dein Leben wieder in den Griff bekommen“, versuchte ich mir immer wieder selbst Mut zu machen.

Bei jedem Ringen des Telefons stürzte ich erwartungsvoll zum Apparat, wurde aber immer wieder enttäuscht.

Jochen rief nicht an!

Noch nicht!

Langsam wurde ich ungeduldig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich vergessen hatte, weil ich Jochen als äußerst zuverlässigen Menschen kannte.

Aber warum rief er nicht an?

Die Stunden vergingen; es wurde Abend.

Allmählich glaubte ich nicht mehr an Hilfe von außen.

Außerdem war ich viel zu stolz, noch einmal bei Jochen anzurufen.

„Bin ich denn ein Bettler, ein Almosenempfänger? Alkoholiker vielleicht, aber so tief bin ich noch nicht gesunken, dass ich zweimal um etwas bitte“, dachte ich verbittert und merkte, wie aus meiner Enttäuschung nach und nach Wut wurde.

Endlich kam der erwartete Anruf von Jochen!

Er fragte scheinheilig, warum ich denn so dringend um einen Rückruf gebeten habe.

„Du weißt doch, welches Problem ich habe. Hast dich ja schon mit Jutta darüber unterhalten. Ich will mit dir reden. Wann können wir uns treffen?“

Er nannte mir einen Termin und beschrieb mir den Weg zu unserem Treffpunkt.

„Und wie geht´s dir jetzt?“ fragte er eindringlich.

„Ich weiß im Moment nicht, wo mir der Kopf steht. Ich kenn mich überhaupt nicht mehr aus, weiß gar nicht mehr, was Sache ist…“, antwortete ich.

„Gut, mein Freund! Rattert´s anständig in deinem Kasten? Ich weiß Bescheid; hab alles schon hinter mir; hab dem Teufel auch schon zweimal die Hand gegeben – aber darüber reden wir morgen ausführlicher…“

Wie befreit von einer großen Last, hängte ich den Hörer ein. Da gab es doch tatsächlich jemanden, der mich mit all meinen Fehlern, mit all meinen Macken und Eigenheiten zu verstehen schien und mir helfen wollte, obwohl ich ihm nichts vormachen konnte und er mich durchschaute.

In diesem Augenblick fühlte ich mich besser und spürte eine unglaubliche Kraft, einen unbeschreiblichen Lebenswillen in mir wachsen und überstand so meinen ersten Tag ohne einen Schluck Alkohol!

*

Trotz der Erleichterung nach Jochens Anruf hatte ich sehr schlecht geschlafen.

Ständig war ich aufgewacht, weil ich fror, aber gleichzeitig schwitzte und meine Kehle völlig ausgetrocknet war.

Ich stand deshalb schon sehr früh auf, fühlte mich schlapp und zitterte am ganzen Körper. Meine Gliederschmerzen, der Schüttelfrost und das Fieber wurden so stark, dass ich mich schon bald wieder auf die Wohnzimmercouch niederlegen musste. Sogar die Haare schienen mir jetzt weh zu tun!

Ich deckte mich mit einer dicken Wolldecke zu, und immer, wenn ich gerade mal nicht vor Kälte bibberte, übermannte mich die Müdigkeit.

Sollten sich heute, an meinem zweiten Tag ohne Sprit, doch Entzugserscheinungen bemerkbar machen?

Wenn ja, wäre das der endgültige Beweis für meine Krankheit, an der ich immer noch meine geheimen Zweifel hatte.

Es war mir egal.

Trotz des erbärmlichen körperlichen Zustandes war ich geradezu euphorisch, weil ich scheinbar doch fähig gewesen war, mich mit dem Problem Alkoholismus wenigstens auseinander zu setzen.

Außerdem wartete das Gespräch mit Jochen an diesem Abend auf mich, und ich war schon sehr gespannt darauf.

Den ganzen Tag verbrachte ich auf dem Sofa vor dem Fernsehgerät und versuchte immer wieder vergeblich, ein wenig zu schlafen, bis Jutta am Spätnachmittag mit den Kindern zurückkam.

Meine Gliederschmerzen wurden immer stärker. Jetzt kamen auch noch fürchterliche Bauchkrämpfe hinzu. Schließlich musste ich mich mehrmals übergeben und bekam auch noch Durchfall zu meinen Beschwerden dazu.

Ich aß nichts mehr und konnte so meiner Übelkeit ein wenig Herr werden. Das einzige, was ich mir nicht nehmen ließ, war Kaffee; der tat mir paradoxer Weise gut und blieb in meinem Bauch.

Am Abend wollte ich auf den Beinen sein. Ich musste unter allen Umständen mit Jochen reden.

Die Müdigkeit ließ mich dann doch noch für einige Zeit einnicken. Ich fühlte mich danach ein bisschen erholter und machte mich etwas entspannter auf den Weg zu meinem Gespräch.

Jochen bot mir einen Stuhl in seinem Wachhäuschen (er arbeitete beim Werksschutz im Nachtdienst), legte ein paar Bücher vor mich auf den Tische und verschwand im Nebenraum, um Kaffee zu kochen.

„Die kannst du dir bei Gelegenheit zu Gemüte führen. Glaub´ mir, ich kenne das Gefühl, wenn man anscheinend von niemandem mehr mit seinen Problemen verstanden wird. Du steckst zwar noch nicht ganz so tief im Dreck, aber es ist für dich bestimmt ganz hilfreich, wenn du liest, wie sich der Alkohol auf einen Menschen auswirken kann und was er auch aus dir machen wird, wenn du nicht die Finger davon lässt“, erklärte er mir.

Ich überflog die Inhaltsangaben und Kommentare einiger Bücher. Sie beschrieben Fallbeispiele einzelner Alkoholiker, zum Teil von Betroffenen selbst geschrieben; andere zeigten Hilfsprogramme verschiedener Selbsthilfegruppen auf.

Wir redeten dann über belanglose Themen, wobei mir mein Gegenüber aufmerksam zuhörte.

Ich hatte das schon lange nicht mehr erlebt, dass ich ohne Zwischenrede sprechen durfte; es verwirrte und verunsicherte mich ein wenig.

Plötzlich, als ich gerade an meiner Tasse nippte, bemerkte Jochen ruhig: „Versuch´s ein wenig einzuschränken; ich meine das Rauchen! Nur ein paar Zigaretten weniger.“

Er hatte mich während unseres Gespräches genau beobachtet.

Mir selbst war dabei gar nicht bewusst geworden, dass ich mir einen Glimmstängel nach dem anderen angesteckt hatte.

Jochen erzählte nun von seiner „nassen“ Zeit, seinen ersten Kontakten mit Alkohol, den ersten Räuschen, den ersten Filmrissen, vom Zerbrechen seiner Ehe…

„…als ich dann wieder heiratete, dachte ich, dass dies meine Rettung sei. Ich meinte, dass ich von da an wieder fähig sei, in einem vernünftigen Rahmen mit Alkohol wieder umgehen zu können. Doch das war der typische Irrtum, dem jeder Alki immer wieder unterliegen kann, weil er nicht imstande ist, sich selbst einzugestehen, dass Alkoholismus nicht heilbar ist! Einmal Alki – immer Alki! Die erste Ehe meiner Ex-Frau war wegen ihres damaligen ebenfalls alkoholkranken Mannes schon zu Bruch gegangen und sie wusste deshalb genau, wie sie mit mir umzugehen hatte. Allerdings nicht auf die hilfreiche Tour!“

Er machte eine kurze Pause, überlegte, trank einen Schluck und fuhr fort: „ … und dann hatte ich mich auch noch an den falschen Betreuer gewandt. Dieser Weiberheld hat die Gelegenheit sofort dazu benutzt, meine Frau anzubaggern und machte dann mit ihr gemeinsame Sache gegen mich.. Eines Tages kam ich früher als von ihnen erwartet nach Hause und konnte sie bei ihren Plänen belauschen. Die wollten mich so weit bringen, dass ich durchdrehe und irgendeinen Blödsinn mache, damit sie mich dann in eine Klappsmühle abschieben konnten. Wahrscheinlich haben sie gar nicht bemerkt, dass ich Zeuge ihres Gesprächs war. Egal! Jedenfalls marschierte ich darauf gleich in den nächsten Laden und kaufte mir eine Flasche Weinbrand und eine Flasche Whisky. Bis ich dann im Stadtpark angekommen war, hatte ich den Cognac schon ausgesoffen. Und je mehr der Rausch in mir hochstieg, desto deprimierter wurde ich. Ich habe dann achtzig Schlaftabletten in dem Whisky aufgelöst und die Pulle dann auch noch ausgetrunken. – Wie lange ich dort gelegen habe und wer mich gefunden hat, weiß ich bis heute nicht, nur noch, wie ich riesige Spinnen und anderes Ungeziefer über meine Bettdecke krabbeln sah, als ich im Krankenhaus nach dreitägiger Bewusstlosigkeit wieder aufwachte.“

Er hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen.

„Seit diesem Tag, mein Lieber, bin ich trocken. Doch zuvor musste ich eben durch die Hölle gehen!“

Er goss Kaffee nach und lehnte sich bequem zurück.

„Auch du wirst an den Pforten zur Hölle stehen, aber danach wirst du es vielleicht geschafft haben. Es liegt nur an dir. Du musst dir eingestehen, dass du Alkoholiker bist, dass du ohne Hilfe nicht mehr von diesem Teufelszeug loskommst! Du wirst jede Hilfe, die du brauchst, bekommen. Es wäre allerdings alles vergebens, wenn du selbst nicht bereit bist, diese Hilfe anzunehmen. Verstehst du? Du – nur du musst es wollen!“

„Ja! Ich will es! Unbedingt! Egal, was auf mich zukommt. Mir bleibt doch nur die Flucht nach vorn!“

Jochen schüttelte den Kopf: „Dir stehen zwei Möglichkeiten offen. Entweder du entschließt dich zu einer Langzeittherapie und hast damit gute Chancen, dein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, oder du säufst weiter und wirst, nachdem du alles verloren hast, gnadenlos in der Gosse verrecken. Wenn du dir diese beiden Alternativen vor Augen hältst, wird dir die Entscheidung leichter fallen.“

Ich stimmte zögernd zu.

Einerseits war ich scheinbar voller Elan, den Entzug zu verkraften, andrerseits schreckte mich die Vorstellung ab, ein halbes Jahr von meiner Familie getrennt zu sein.

Ein flüchtiger Blick durch das Fenster auf die Uhr im Hof verriet mir, dass es kurz vor Mitternacht war. Die Zeit war bis jetzt wie im Fluge vergangen.

Eigentlich hatte nur Jochen von sich erzählt, ohne dass die Sprache überhaupt direkt auf mein Problem gefallen war. Ich wusste nach vier Stunden Gespräch immer noch nicht, wie ich weiterleben sollte.

Aber es beunruhigte mich nicht mehr.

Allein die Tatsache, dass ich nicht einsam einer Schwierigkeit gegenüberstand, der ich nicht gewachsen war, gab mir Sicherheit und ließ mich meine Ängste vergessen.

„Wie geht´s jetzt mit mir weiter?“ fragte ich neugierig, als Jochen mit frischem Kaffee wiederkam.

„Im Augenblick ist für dich das Wichtigste, trocken zu bleiben. Immer nur 24 Stunden lang. Für dich darf nur noch der heutige Tag zählen. Was gestern war, was morgen geschehen wird, darf dich nicht interessieren und damit unter Umständen deine Gedanken lähmen. Klar?“

Ich hatte Mühe, mich darauf einzustellen. Die Vorstellung, meine Vergangenheit und meine Zukunft nicht in meine Gedankenwelt einzubeziehen, fiel mir schwer.

Aber ich war bereit, es zu versuchen.

Jochen fuhr fort: „Jetzt ist es auch wichtig, dass du dich von deiner Familie löst. Sei dir bewusst, dass es keine Garantie dafür gibt, dass deine Familienverhältnisse wieder ins Lot kommen werden, selbst wenn du erfolgreich Therapie machst. Denke nur an dich! Du musst den Kopf frei haben für das, was dich erwartet!“

„Das wird mir verdammt schwerfallen. Meine Familie ist doch mein Lebensinhalt. Ich habe Angst, sie zu verlieren“, stotterte ich.

„Du bist schon raus! Bist schon weg von deiner Frau und deinen Kindern. Deine Sauferei hat bereits einen Keil zwischen euch getrieben!“ konterte Jochen und sagte weiter: „Erst einmal der Reihe nach. Ich schlage dir eine baldige Entgiftung vor. Damit wärst du erst einmal deinen körperlichen Entzug los. Du musst außerdem deinen Arbeitgeber über deine Krankheit informieren, und rechne dabei mit dem Schlimmsten, auch wenn für Alkis ein gewisser Arbeitsschutz besteht. Nach der Entgiftung wirst du dich dann bei der Psycho-sozialen Beratungsstelle um einen Therapieplatz bewerben. Ich helfe dir gerne dabei…“

Jochen öffnete seine Aktentasche und nahm einige Formulare heraus.

„Ich habe einen Fragebogen dabei, den wir ausfüllen werden und damit die Beratungsstelle schon vorab über deine Trinkerkarriere informieren können. Wenn du einverstanden bist, machen wir uns gleich ans Werk.“

Er legte seine Schreibutensilien zurecht und begann das Interview:

„Familienstand, soziale Bindungen?“

„Verheiratet, drei Kinder. Eltern beide geschieden…“

„Erste Kontakte zu Suchtmitteln; wann und zu welchem Anlass?“

„Ich war ungefähr sechzehn. Es war auf Schulfeten.“

„Wann wurden die ersten Probleme mit Alkohol bemerkbar?“

„Ich habe im Suff beinahe mein Baby fallen gelassen und lebte daraufhin ein ganzes Jahr ohne Alkohol. Zu Weihnachten trank ich ein Glas Sherry, worauf ich sehr bald wieder regelmäßig Alkohol konsumierte.“

„Was wurde bisher getan?“

„Ich versuchte immer wieder Trockenphasen, doch sobald ich Konflikten ausgesetzt war, wurde ich schwach. Die Intervalle wurden immer kürzer, bis mich meine Frau vor vollendete Tatsachen stellte.“

„Besteht Klarheit und Erkennen der Abhängigkeit?“

„Ich denke schon…“

„Gesundheitliche und seelische Störungen?“

„Ich bin sehr vergesslich geworden, hab ab und zu einen gehörigen Kater. Manchmal leide ich ohne ersichtlichen Grund an lang anhaltenden Depressionen. Im sozialen Bereich bin ich eher ein Einzelgänger und habe nur sehr wenige Kontakte.“

„Hauptmotive für den Verzicht auf Suchtmittel?“

„Na – ja eigentlich die anhaltende Ehe- und Familienkrise. Ich will wieder klare Verhältnisse.“

„Aktuelles Selbstbild. Wie siehst du dich gerade selber?“

„Ich komme mir vor wie ein Versager, weil ich mit Alkohol nicht umgehen kann. Außerdem habe ich Schuldgefühle, weil ich meinen Rollen als Ehemann und Familienvater nicht mehr gerecht werden kann.“

„Dein derzeitiger Konsum? Sei ehrlich!“

„Nachdem ich mich meiner Frau offenbart habe, habe ich jeglichen Alkoholkonsum eingestellt, wirklich wahr!“

„Selbsttötungsversuche?“ Jochen sah mich streng an.

„Ich habe zweimal versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden, bekam aber Schiss und habe mich dann selbst verbunden. Gedanken daran habe ich öfters, aber seit ich eine Familie habe, verdränge ich diese, weil ich doch noch einen winzigen Rest an Verantwortungsbewusstsein in mir trage.“

Der Fragenkatalog schien kein Ende zu nehmen, aber ich antwortete artig und so ehrlich ich konnte, bis wir schließlich alles durchgearbeitet hatten.

Es fiel mir nicht gerade leicht, mit meiner zittrigen Hand eine einigermaßen leserliche Unterschrift auf das Papier zu kritzeln.

„Was geschieht jetzt damit?“ wollte ich wissen, nachdem ich die Aufzeichnungen noch einmal durchgelesen hatte.

„Ich leite das alles weiter zur Beratungsstelle. Die werden dir noch mal fast die gleichen Fragen stellen und einen sogenannten Sozialbericht anfertigen, der dann bei der Rentenversicherung eingereicht wird.“

Jochen gab mir eine Kopie des Fragenkataloges und verstaute das Original in seiner Aktentasche.

Wir redeten noch lange miteinander. Als ich mich verabschiedete, war es halb vier Uhr morgens!

Obwohl mich meine Entzugserscheinungen auf dem Heimweg wieder sehr quälten, fühlte ich mich doch insgesamt erleichtert.

*

Die Weihnachtsfeiertage verliefen für mich in einer niedergedrückten und angespannten Atmosphäre.

Mein Entzug erforderte meine ganze Kraft. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.

Jeden Abend schlief ich vor Erschöpfung schon sehr früh auf der Couch ein und übersah die enttäuschten und auch besorgten Blicke meiner Familie.

Ich hatte immerzu ein schlechtes Gewissen und fühlte mich schuldig, weil ich meiner Frau und meinen Kindern Weihnachten verdorben hatte.

Jutta sprach zwar nie direkte Vorwürfe aus, an ihrer gereizten und entnervten Haltung merkte ich trotzdem, dass sie sich den Verlauf der Festtage anders gewünscht hatte.

Ich zog mich immer weiter zurück, konzentrierte mich fast ausschließlich auf die Bücher, die Jochen mir geliehen hatte und machte ausgiebige Spaziergänge.

Nach einigen Tagen fand ich endlich den Mut, mich meiner Mutter und meinem Bruder zu offenbaren. Ich war erleichtert über deren Reaktionen. Sie ließen mich nicht fallen!

Obwohl sie sehr betroffen von meiner Krankheit und meinem desolaten Zustand waren und auch nicht so recht wussten, wie sie auf mich zugehen sollten, zeigten sie sich sehr aufgeschlossen, als ich ihnen erzählte, dass ich eine Langzeittherapie anstrebe und sicherten mir jede ihnen nur mögliche Hilfe zu.

Die abendlichen Treffen mit Jochen häuften sich. Eines Abends teilte er mir mit, dass er sich im Krankenhaus bei einem ihm bekannten Arzt um einen Aufnahmetermin für meine Entgiftung bemühen werde.

Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte und stimmte in meiner Unbeholfenheit zu.

Am Tag darauf beriet ich mich mit meiner Hausärztin. Ich merkte ihr deutlich ihre Verunsicherung an. Wahrscheinlich war sie zuvor noch nicht so oft und so deutlich mit den Problemen eines Alkoholikers konfrontiert worden, wie ich es tat. Sie gab zu, dass ihr die Erfahrung fehlte über die Maßnahmen, die ich wegen meiner Therapie einleiten musste, aber sie war offen für meine Anliegen und sofort bereit, mich ins Krankenhaus einzuweisen, sobald ich einen Aufnahmetermin hätte.

*

Der nächste Schritt war nun, meinen Arbeitgeber aufzuklären.

Teils wegen meines Entzuges, teils vor Aufregung zitterten meine Hände, als ich meine Pflegedienstleiterin am Telefon hatte.

„Ich muss dringend mit ihnen reden“, stammelte ich, als sie sich wie gewohnt knapp gemeldet hatte.

„Diese Woche geht´s nicht“, antwortete sie kurz angebunden.

Verzweifelt bettelte ich um einen möglichst zeitnahen Termin und hatte schließlich doch Erfolg damit.

„Dann kommen Sie am Donnerstag um 9.00 Uhr vorbei. Muss ich Sie eben drannehmen…“, bedeutete sie mir einsilbig.

Auf der Fahrt dorthin bekam ich immer mehr Angst. Wie würden meine Vorgesetzten wohl auf mein Geständnis reagieren.

Sehr verlegen und erbärmlich klein saß ich bald vor dem Schreibtisch meiner Chefin und wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

„Warum haben Sie denn so dringen auf unser Gespräch bestanden?“ fragte sie ganz sachlich.

Der Schweiß rann mir über den Rücken herab.

Ich nahm mich zusammen und platzte heraus: „Ich muss im Januar ins Krankenhaus und werde nächstes Jahr wahrscheinlich für einen längeren Zeitraum ausfallen!“

Sie sah mich nur fragend an, sagte aber nichts dazu.

Das machte mich noch aufgeregter, und ich fuhr fort: „…zur Entgiftung. Ich kann mir endlich selbst eingestehen, dass ich krank bin. Ich bin Alkoholiker!“

Wieder entgegnete sie nichts.

„Ich weiß nicht, welche Konsequenzen Sie nun ziehen werden. Ich werde ihre Entscheidung auf alle Fälle akzeptieren müssen. So – jetzt ist es raus!“

Ich atmete tief durch.

Ihr Gesicht entspannte sich. Ich glaubte sogar, plötzlich mütterliche Züge an ihr erkennen zu können.

Einige Minuten lang schwiegen wir beide.

Dann erhob sie sich und lehnte sich an die Tischkante.

„Ich danke ihnen, dass Sie so ehrlich sind“, begann sie deutlich berührt, „und ich werde Ihnen keine Knüppel zwischen die Beine werfen. Es entspräche nicht meiner Auffassung von einer guten Vorgesetzten. Ich bin der Meinung, dass jeder ein Recht auf eine zweite Chance hat.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Erleichtert erzählte ich ihr nun von meinem Vorhaben, so bald wie möglich eine stationäre Entwöhnung zu machen, worauf sie immer wieder betonte, dass ich von ihrer Seite aus keinerlei Schwierigkeiten zu erwarten hätte.

Ich war froh, dass auch dieses Geständnis so glatt über die Bühnen gegangen war.

Was wäre geschehen, hätte man mich in eine andere Abteilung versetzt oder mir gar gekündigt?

Solche Gedanken kamen mir immer wieder, aber ich konnte sie schnell wieder vertreiben.

Hypothesen wollte ich in meinem neuen, trockenen Leben nicht mehr zulassen.

*

Nach ungefähr einer Woche ohne Alkohol waren meine schlimmsten Entzugssymptome abgeklungen.

Ich fühlte mich zwar weiterhin schlapp und müde, bekam aber langsam wieder Appetit und konnte schon fast wieder normal essen.

Ich hatte in sieben Tagen elf Kilogramm Körpergewicht verloren und erschrak fast, als ich mich vor dem Spiegel betrachtete.

Meine Haut war schlaff, meine Muskeln ohne Spannung, aber es waren keine Tränensäcke oder Hautschuppen wie früher an einem verkaterten Morgen mehr zu sehen.

Das gab mir Auftrieb.

Ich war mir sicher, dass ich wieder in Form kommen würde.

Eines Abends rief mich Jochen an und richtete mir aus, dass ich am 3. Januar zur Entgiftung im Krankenhaus angemeldet sei.

Dieser Termin war zunächst noch weit aus meinen Gedanken verbannt. Je näher der Tag aber rückte, desto unruhiger wurde ich und suchte ständig nach Ablenkung.

Eine fast schon logische Konsequenz aus meiner zerrissenen Situation heraus war, dass ich zu diesem Zeitpunkt innerlich an eine Gemeinschaft geriet, die sich um einen angeblichen Hellseher scharte. Ich kaufte Meditationskassetten, Schallplatten, Brevier, Kalender und so vieles mehr. Alles, was darin von mir verlangt wurde, wandte ich gehorsam und den „Geboten“ entsprechend an und war nahe daran, nach und nach meine Persönlichkeit zu verleugnen. Ich war wie gebannt von der Vorstellung, nur an diesen Menschen und sein Wirken glauben zu müssen, um wieder inneren Frieden, Gesundheit, eine intakte Familie und so vieles mehr zu erhalten.

In meinem Wahn bedachte ich allerdings nicht, wie viel Geld mich das kostete und wie gefährlich es doch für meine Entwicklung war.

Ich klammerte mich an alles und jeden, der mir eine heile Welt versprach.

Am Jahreswechsel hatte ich Nachtdienst. Es kam mir gelegen, weil ich mich sicherer fühlte, wenn ich nicht den Versuchungen einer Silvesterparty ausgesetzt war.

Natürlich wollte meine Kollegin mit mir auf das neue Jahr anstoßen und hatte zu diesem Anlass extra Champagner mitgebracht.

Ich schaffte es, standhaft zu bleiben.

„Ich muss am Dritten ins Krankenhaus“, versuchte ich meine Ablehnung zu begründen.

„Etwas Ernstes?“ fragte sie besorgt.

„Eine ungeklärte Bauchgeschichte. Ich will es einfach genau abchecken lassen. Schon seit längerer Zeit fühle ich mich nicht mehr wohl, wie du weißt…“

Sie nahm mir meine Ausrede ab und packte enttäuscht ihre Flasche wieder ein. Versonnen sah ich um Mitternacht dem Feuerwerk zu und war stolz auf mich ob meiner Standhaftigkeit.

Der Aufnahmetag im Krankenhaus war viel zu schnell gekommen; ich hatte mir noch so viel vorgenommen gehabt, aber als ich mit Jutta in dem sterilen Flur stand, fühlte ich mich, als stünde der Tod vor mir und winkte mit seiner Sense.

Ich hatte furchtbare Angst davor, den weiteren Schritt auf dem Weg zu einem nüchternen Leben zu tun, hatte Angst vor der Trennung von meiner Familie.

Zum Abschied nahm ich meine Frau noch einmal in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: „Egal, was auch passieren wird; sei dir bitte immer bewusst, dass ich dich von ganzem Herzen liebe!“

Sie drückte mich darauf fest an sich und hauchte zurück: „Ich kann nicht mehr ohne dich leben…“

„Geh jetzt bitte!“ schickte ich sie dann etwas barsch weg und schlurfte traurig in mein Krankenzimmer, wo ich mich mit Luis, meinem Bettnachbarn bekannt machte.

Er erzählte mir, dass er im Koma eingeliefert worden sei. „Leberschaden. Kann sein, dass er von der Sauferei gekommen ist“, meinte er nebenbei.

Ich erzählte ihm darauf von meinen Plänen, eine Therapie zu machen, worauf er gelangweilt abwinkte und raunte: „Das habe ich schon hinter mir. Die machen dich doch erst richtig krank und waschen dir die Birne, bis du ihnen genau das erzählst, was sie von dir hören wollen. Hab´s abgebrochen. Aber seither kann ich kontrolliert trinken!“

„Armer Irrer! Hattest die Möglichkeit, trocken zu werden und hast dabei rein gar nichts begriffen“, dachte ich ein wenig erschrocken über so viel Ignoranz.

Die Visite kam.

Ein Milchbart von Assistenzarzt bekam meine Akte gereicht und blätterte unschlüssig darin herum.

„Warum sind Sie hier?“ fragte er, ohne mich dabei anzusehen.

„Zum Entgiften.“

„Wann haben Sie denn zuletzt Alkohol getrunken?“

„Am 20. Dezember.“

„Aber dann haben Sie doch gar kein Gift mehr im Körper! Was wollen Sie dann noch von uns?“

Ich war unsicher, weil ich doch von Jochens Ratschlägen befangen war, erst einmal in einer Klinik zu entziehen; im Grunde wusste ich aber nicht Bescheid, wie das vor sich gehen sollte.

Verzweifelt fuhr ich den Arzt an: „Sie müssen doch wissen, wie mit einem Alkoholiker zu verfahren ist! Was weiß ich denn…, spülen Sie mich mit Infusionen durch, machen Sie die notwendigen Tests…!“

„Gut“, antwortete er knapp, klappte mein Krankenblatt zu und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Den ganzen Nachmittag geschah nichts.

Ich lag auf dem Bett und las oder spazierte ins Raucherzimmer.

Niemand kümmerte sich um mich.

Am Abend bekamen wir einen dritten Zimmergenossen hinzu. Es war ein glatzköpfiger Mittsechziger, den ich mir wegen seines barschen Tonfalles und seiner ganzen Art gut in einer Nazi-Uniform vorstellen konnte. Ich schwankte ihm gegenüber zwischen Ablehnung und Mitleid, da er aufgrund eines Schlaganfalles sehr verwirrt war und wohl deshalb so schrie.

Während der ganzen Nacht konnte ich kaum schlafen, weil er immer wieder aus dem Bett stieg, auf den Boden knallte und ich ihm immer wieder auf die Beine half.

Außerdem kam fast stündlich eine Schwester ins Zimmer getrampelt, um bei ihm den Blutdruck zu messen.

Am nächsten Tag wurde ich dann von einer Abteilung zur anderen geschickt. Man durchleuchtete mich, nahm mir Blut ab usw. und fand schließlich heraus, dass ich kerngesund sei. Meine Werte waren alle im Normbereich, nicht einmal ein bisschen erhöht!

Man eröffnete mir, dass ich am 5. Januar wieder entlassen werden könne.

Und so war es dann auch. Am nächsten Tag holte mich Jutta mit den Kindern wieder aus dem Krankenhaus ab.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich meine Frau und meine Kinder über meinen körperlichen Zustand und meine frühzeitige Entlassung ebenso freuten wie ich; stattdessen schlug mir eine Wand des Misstrauens entgegen.

Ein herber Rückschlag für mich.

*

An den folgenden Tagen hatte ich keine Kraft mehr, mich gegen die Menschen, die mich nicht verstehen wollten oder konnten, zu wehren oder gegenüber all den Ignoranten zu rechtfertigen. Ich zog mich immer mehr in mein Schneckenhaus zurück, bis ich am 13. Januar den lang ersehnten Termin bei der Psycho-sozialen Beratungsstelle für Suchtkranke (PSB) hatte.

Der Suchtberater, mit dem ich das Gespräch führte, lag mir nicht. Er schien meine Anliegen gar nicht ernst zu nehmen.

Immer wieder wollte er wissen, warum ich denn überhaupt auf eine Langzeittherapie bestünde und die Entwöhnung nicht ambulant vollziehen wolle.

Ich gewann den Eindruck, als wolle er mir nicht glauben, dass ich Alkoholiker bin.

Am Ende unserer trägen Unterhaltung händigte er mir schließlich Antragsformulare der BfA für die Finanzierung meiner Reha-Maßnahme aus. Er legte einige Prospekte von verschiedenen Entwöhnungseinrichtungen bei und meinte dazu, ich solle mich für eine entscheiden.

„Kommen Sie nächste Woche wieder und bringen Sie die Anträge ausgefüllt mit, damit wir alles Weitere in die Wege leiten können!“ verabschiedete sich der Berater mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. Außerdem schlug er mir vor, ein amtsärztliches Gutachten erstellen zu lassen, das ebenfalls für die BfA notwendig wäre.

Ich gab ihm zu verstehen, dass ich mich selbst mit dem Gesundheitsamt in Verbindung setzen würde und stapfte enttäuscht davon.

„Da habe ich so lange gebraucht, bis ich mir endlich eingestehen konnte, dass ich Alkoholiker bin, doch der Typ scheint mir weißmachen zu wollen, dass ich doch keiner bin! Oder was sollte das eben?“ schimpfte ich auf dem Rückweg vor mich hin.

Am Abend desselben Abends besuchte ich zum ersten Mal ein Meeting einer Selbsthilfegruppe. Ich wurde als Neuer sehr herzlich aufgenommen und fühlte mich sofort wohl und integriert. Jeder gab mir zur Begrüßung die Hand, war freundlich zu mir und hörte mir zu.

Am meisten beeindruckte mich wieder die Erfahrung, dass ich in diesem Kreis ausreden und erzählen durfte von dem, was mich bewegte, ohne dass es von irgendeiner Seite bewertet wurde.

Über die Dachorganisation dieser SHG und deren Geist hatte ich in den Büchern von Jochen schon sehr viel gelesen, aber eben nur gelesen.

Hier spürte ich den Willen jedes einzelnen, dem anderen zu helfen, weil jeder selbst Hilfe brauchte.

Gleich nach dem Treffen fuhr ich zu Jochen und schilderte ihm die Erlebnisse der vergangenen Tage, was sich auf der PSB zugetragen hatte und wie es mir bei meiner ersten Teilnahme bei der Gruppe ergangen war.

Er hörte mir wie immer sehr aufmerksam zu und sprach mir neuen Mut und Durchhaltevermögen zu. Ich solle mich von Amtsschimmeln nicht verunsichern lassen und meinen Weg gehen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, fielen mir gleich Jochens letzte Worte vom Vorabend wieder ein: „Menschen, mit denen du nicht klarkommst, wirst du immer wieder finden. Es ist aber nicht deine Aufgabe, sie zu ändern, sondern du musst dich ändern. Gehe deinen Weg, den du ganz allein gehen musst!“

Mit diesen Worten im Ohr klemmte ich mich sofort hinters Telefon und vereinbarte einen Termin zur Untersuchung beim Amtsarzt.

Am 18. Januar erschien ich pünktlich im Gesundheitsamt und musste zunächst wieder einmal warten!

Eine Ewigkeit, wie mir schien.

Der Arzt bat mich endlich herein, nahm meine Personalien auf und bat mich danach, mich für die Untersuchung ganz auszuziehen. Während er sein Stethoskop bei mir ansetzte, fragte er nebenbei, ob ich den Sozialbericht der PSB mitgebracht hätte.

„Den wollte der Berater erstellen, wenn er Ihr Gutachten vorliegen hat“, antwortete ich frierend.

Das Ergebnis der Untersuchung:

ohne Sozialbericht kein Gutachten! Neuen Termin vereinbaren und Sozialbericht ausgefüllt mitbringen!

„Und noch einmal von vorn!“ dachte ich frustriert und ließ mir einen neuen Termin geben.

Endlich – am 21. Januar – wurde besagter Sozialbericht angefertigt. Diesmal erschien mir der Suchtberater ein wenig freundlicher und aufgeschlossener.

Vielleicht lag es daran, dass ich ihm die Mühe erspart hatte, eine passende Einrichtung für mich zu suchen.

Ich hatte mich anhand der Prospekte schon entschieden und teilte ihm meine Wahl mit.

Der Druck, den ich in dieser Zeit von meiner Familie zu spüren bekam, war für mich kaum noch zu ertragen. Bei all meinen Äußerungen, mit meinem ganzen Verhalten, musste ich ständig auf der Hut sein, keine Lawine des Hasses gegen mich ins Rollen zu bringen, wie mir schien.

Egal, was ich auch anfing, ich erntete entweder erbarmungsloses Misstrauen oder Gleichgültigkeit.

An einem Tag, an dem ich der ganzen Belastung nicht mehr standhalten konnte, setzt ich mich ins Auto und fuhr einfach los.

„Nur nicht saufen!“ hämmerte ich mir immer wieder ein.

Mein Weg führte mich kreuz und quer durch die Gegend. Ich machte in einem Pornoladen Halt, kaufte mir dort ein Magazin und sah danach einen der dort vorgeführten Filme an.

Damit war ich aber immer noch zu wenig abgelenkt, und so fuhr ich wieder weiter.

Meine nächste Pause machte ich an einer Benediktiner-Abtei. Ich dortigen Klosterladen kaufte ich eine Musikkassette mit Orgelmusik von Johann Sebastian Bach. Diese legte ich im Auto in den Rekorder ein und fuhr ziellos weiter, bis ich erst spät in der Nacht wieder heimkehrte.

Ich hatte mit meinem Ausflug nichts besser gemacht. Im Gegenteil; nun hatte meine Frau wieder Grund, mir Vorhaltungen zu machen.

„Du hättest wenigstens sagen können, wohin du fährst und wann du zurückkommst…!“

Aber dies hatte ich ja zuvor selbst nicht gewusst, als ich losgefahren war!

Ich versank nun in völlige Gleichgültigkeit und hörte fast nur noch die Meditationskassetten des Hellsehers, meines „Meisters“, an. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich beinahe alles für ihn gegeben, weil ich fast überzeugt war, dass nur er mich an das wahre Heil führen könne. Ich bestellte immer neue Literatur, Glücksbringer, Heilsbotschaften etc. von ihm und dachte nicht im Geringsten daran, wohin mein Geld versickerte.

Am 25. Januar erschien ich nochmals mit vollständig ausgefüllten Unterlagen zuerst bei der PSB und daran anschließend im Gesundheitsamt.

Ich war bis dahin immer noch trocken!

Die Untersuchung verlief diesmal reibungslos, sogar einen Termin für ein Vorstellungsgespräch bei der von mir ausgewählten Entwöhnungseinrichtung nannte man mir: den 22. Februar!

*

Bis zum Bewerbungsgespräch hatte ich mich fast vollständig von meiner Familie gelöst. Wir lebten nur noch neben einander her und schienen nicht mehr zu einander zu gehören.

Obwohl ich mich an die Wegbeschreibung aus dem Prospekt gehalten hatte, verpasste ich die Abfahrt und musste dann doch noch nach dem richtigen Weg suchen.

Ich kam dennoch rechtzeitig an dem Gehöft an und saß wenig später zwischen fünfzehn weiteren Bewerbern um einen Therapieplatz. Ich war froh, dass es so schnell mit meiner Entwöhnung klappen sollte, hatte ich doch mit einer Wartezeit von ungefähr einem Jahr gerechnet.

Jeder einzelne Teilnehmer musste sich vorstellen und seinen Lebenslauf unter dem Aspekt der Alkoholkrankheit erzählen und wurde dann von den anwesenden Therapeuten und der Ärztin weiter befragt.

Es vergingen anderthalb Stunden bis alle Bewerber fertig waren.

Am Ende wurde uns dann eröffnet, dass dreizehn Therapieplätze vergeben werden, für diese aber insgesamt 25 Interessenten angemeldet seien.

„Wir werden Ihnen unsere Entscheidung in den nächsten Tagen mitteilen“, hieß es sachlich.

Und ich war sehr enttäuscht!

„Nichts mit der sicher geglaubten Aufnahme!“