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Hamburg St. Pauli, 1974 Hier zwischen Kiez und Luden beginnt der Weg der späteren Serienmörderin Ann-Kathrin auf dem Baby-Doll Strich. Das Leben in der Seele einer Serienmörderin, die von einem Serienmörder gejagt und erstochen wird. An ihrem persönlichen Glückstag, den sie zusammen mit ihren imaginären Freundinnen feiern musste, bevor sie sich selbst richten wollte. Ihr Leben in diesem verbrauchten Körper war sinnlos geworden. Nur Ann-Kathrins Mörder war schon hinter ihr her... Spannende Kurzgeschichte
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Marinella Charlotte van ten Haarlen
Der 9. November der Ann-Kathrin
Kriminalroman
Deutsche Ausgabe
Dieses Buch ist erschienen bei kasaan media publishers
ISBN: 978-3-96593-175-6
5. Ausgabe (E-Book), Dezember 2021
All copyrights by Marinella Charlotte van ten Haarlen, 2021
Johannesburg, Transvaal-Gauteng, R.S.A
Für meine Eltern
Jedes Jahr dachte ich an diesen Tag, an diesen Morgen.
Schon Wochen zuvor war ich aufgeregt, meistens ab dem Zeitpunkt, wenn die ersten herbstlichen Blätter fielen. In all den Jahren hatte sich das Bild dieses Tages in meinem Kopf nicht verändert. Nur dieses Mal war alles anders.
Ich war eine Nutte, eine Hure, eine Prostituierte, die Schwänze lutschte, für ein paar Euro in einer stinkenden Seitenstraße in Hamburg St. Pauli. Abseits der Clubs, der schillernden Lichter, der vielen Freier. Ich machte es neben Mülltonnen, in dunklen, miefigen Hausfluren, da wo die Ratten quiekten.
Für mich war der 9. November ein Feiertag, nicht weil die Mauer gefallen war, oder die Republik ausgerufen worden war, sondern weil ich meinem Elternhaus entflohen war. Noch Jahrzehnte später feierte ich diesen Tag mit den paar Euros, die ich besaß. Es war Ann-Kathrins, mein persönlicher Feiertag. Weihnachten, Ostern musste ich arbeiten. Oft stritten die Familien dann, grundlos, aus Frust oder aus Gewöhnung. Dann kamen die Männer zu mir. Aber heute wollte ich mit Kerze, dem einzigen Abendkleid, das mir noch passte und billigem Parfüm aus dem Vietnamshop die Straße runter, feiern. Mein Leben spielte sich auf 300 Metern ab. Weiter kam ich nicht mehr. Irgendetwas stockte in mir. Das Ansinnen einer rheinischen Psychiaterin am Spielbudenplatz zugetragen, dass ich unter Stadtteil-klaustrophobie litt, gipfelte in der sinnlosen Überprüfung meiner Reflexe am rechten Knie.
Dann das Staunen, dann Unsicherheit, dann Ratlosigkeit, bis hin zur stundenlangen Dunkelhaft im Wartezimmer.
Ich hatte nichts im Leben gelernt, mein Wille war in den Jahren erloschen. Ich rauchte Kette, soff, dass meine Leber bald den Geist aufgeben sollte. Mir fehlten acht Zähne und die Erinnerung an die Zeit vor 37 Jahren verblasste immer mehr. Ich sah das Gesicht von Präsident Gerald Ford dann und wann vor meinen geistigen Augen, wenn ich an die letzten Tage in meinem Heim zurückdachte. Meistens träumte ich von einem Urlaub auf Mallorca und einem neuen Mantel, der dicker war als der letzte, nicht so viele gestopfte Löcher aufwies, wie der, den ich trug, wenn ich in der Nacht Freier auf dem unebenen Bürgersteig bezirzte.
Wahrscheinlich war es das Einzige, das ich wirklich konnte.
Nein, morden konnte ich auch gut, ich war nie gefasst worden. Mord war etwas sehr Intimes, etwas, das mich glücklich machte.
Männer, Frauen, egal wen. Aber in letzter Zeit hatte mich das Jagdglück verlassen.
Danach der Mut.
Schreiende Menschen, die vor Angst vergingen, waren mir die liebsten Opfer. Inmitten des hektischen Alltags. Nie hatte sich jemand gegen den Tod gewehrt. Wenn ich auch arm war, ich war glücklich, flehende Augen zu sehen, die mich um die letzte Gnade baten.
Leid verursachte in mir Glück. Ich hatte auch nie etwas kennengelernt, das mir sonst so eine innere Befriedigung bereitete.
Wie viele Menschen ich ermordet hatte, konnte ich nicht sagen, ich hörte schon in den 1970-er Jahren auf, zu zählen.
Ich raubte, stahl, erschlich mir das Vertrauen der Opfer. Dabei entwickelte ich verschiedene Persönlichkeiten, die ich mir in diesem Augenblick schuf oder schon in den Jahrzehnten zuvor geschaffen hatte. Ich liebte jede meiner Freundinnen, die ich alle namentlich kannte.
Ich selbst hatte mir niemals die Hände schmutzig gemacht, solange ich zurückdenken konnte.
Waffen verwendete ich nur selten.
Die rohe Gewalt, die einst mein Körper ertragen hatte, gab ich nun als den finalen Liebesbeweis zurück.
Dreimal hatte ich schon die Neupflasterung der Straße miterlebt. Im Laufe der Jahrzehnte waren die Platten weicher, geschmeidiger geworden. Der Beton bröckelte bei der Belegung schon nach wenigen Tagen. Beim letzten Mal fand ich für eine Zeit einen Freund, einen Pflasterer aus Kolumbien, der nebenbei Drogen vertickte. So mancher Joint in dieser Zeit war gut und ich glücklich, wenn mir das klumpige Harz die faltig gewordene Birne benebelte. Dann rutschte ich in ein Land, das es nicht gab, vielleicht war ich dort allein. Juan wurde zwei Jahre später zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt und nach zwei Jahren in seine Heimat abgeschoben. Ich hörte nie wieder etwas von ihm. Es gab auch nichts mehr zu sagen.
Die Menschen hasste ich mittlerweile, wollte Männer, Schwänze und Brusthaare nicht mehr sehen, keine faulen, ungeputzten Gebisse mehr mit meiner Zunge beackern. Für ein paar Euros. Den Frust, später bespuckt zu werden.
Ich konnte das Wort ficken nicht mehr hören, ertragen oder beschreiben. Ich träumte schon davon, ich stöhnte im Schlaf in der Nacht, am Tag. Sex, Liebe waren mir fremd geworden. Es war nur noch die Mechanik des Seins oder des Untergehens. Die Arbeit für die Euros.
Angefangen hatte eigentlich alles mit einer Fahrt nach Hamburg. Mit der Bahn, ich konnte meine Eltern nicht mehr ertragen. Jeden Abend schrien sie sich an, der gegenseitige Hass gipfelte in Schlägen. Mit 16 Jahren hatte ich in irgendeiner Gazette davon gelesen, dass die nordische Metropole offen stand für Kinder, die von zuhause wegegelaufen waren.