Der Absprung - Maria Stepanova - E-Book

Der Absprung E-Book

Maria Stepanova

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Beschreibung

Wie schreiben, wenn die Wörter im Mund zerfallen? Was tun, wenn das eigene Land nur noch für Tod und Zerstörung steht?

Die Schriftstellerin M., seit einigen Monaten im europäischen Exil, bricht ins Nachbarland auf – ein Festival hat sie zu Lesungen eingeladen. Die Reise ist voller Pannen: der vorgesehene Anschlusszug existiert nicht, das Ladekabel des Telefons geht verloren. Auf dem Grenzbahnhof in F. wartet niemand, der Kontakt zu den Veranstaltern ist abgebrochen.

Die Lage erfüllt sie mit Erleichterung. M. durchstreift die Stadt, und was ihr begegnet, sind lauter Freiheitsversprechen: ein Escape Room, ein Wanderzirkus, eine flüchtige Bekanntschaft – und am Ende die langersehnte Chance, ihre Identität loszuwerden und zu verschwinden. Aber kann das gelingen?

Die Geschichte spielt im Sommer 2023: Russlands Krieg gegen die Ukraine endet nicht. Metaphern und Anspielungen, von Thomas Hobbes bis Paul Bowles, durchziehen Stepanovas fesselnde, an Wahrnehmungen und Gedanken reiche Prosa. Hat sie, die Nabokov-Leserin, eine Einladung zur Selbst-Enthauptung geschrieben? Es bleibt an uns, den Leserinnen, ob wir ihren »Absprung« als Akt der Befreiung oder der Verneinung verstehen wollen.

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Seitenzahl: 176

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Cover

Titel

Maria Stepanova

der absprung

Roman

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erscheint 2024 unter dem Titel Fokus bei Novoe izdatel’stvo, Moskau, im Rahmen des »Projekts 24 – Plattform für Bücher und Filme der neuen Zeit« (mit Common Grounds, Jerewan, Liberty Books, Lissabon, Babel, Tel Aviv, Babel Books, Berlin, und Hyperboreus, Stockholm).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2024 Maria Stepanova

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Nick Teplov

Umschlagabbildung: mauritius images/Old Books Images/Alamy/Alamy Stock Photos

eISBN 978-3-518-78045-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Informationen zum Buch

der absprung

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Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde. Sein Farbton war vielleicht matter als gewöhnlich, und die milchige Unschuld der ersten Tage büßte es gleich wieder ein, aber davon ließ es sich nicht stören. Im Gegenteil, die Wasserknappheit motivierte es, sich noch fester an den Boden zu klammern und in breiten Trieben in die Höhe zu schießen, die vertrockneten, ehe sie ausgewachsen waren.

Im Sommer 2023 wurde der heißeste Tag aufgezeichnet, den der Planet Erde in der Geschichte seiner menschlichen Beobachtung erlebt hatte. Letztere müssen wir uns wohl in Gestalt von Generationen liliputischer Forscher vorstellen, die sich an ihren kolossalen Leib pressten, ihr mittags und abends Fieber maßen, den Schweiß von der Stirn tupften und erfreut vermerkten, welche Körperteile etwas kühler waren. Das alles dokumentierten sie in ihrem Journal, und vermutlich beruhigte sie der Umstand, dass die Schlafende gleichmäßig atmete, dass ihre ungewöhnlichen Hitze- und Kälteschübe mit Phasen einer annähernd normalen Temperatur abwechselten und dass ihre Haare und Nägel in Ordnung waren – soweit das der Fall sein kann bei einer Person, die schon seit sehr langer Zeit reglos daliegt und alles mit sich machen lässt. Nicht auszuschließen, dass sie im Geist längst in einen anderen Zustand übergegangen ist, in dem unsereins sie weder beunruhigt noch erzürnt – dass sie sich beispielsweise für einen Stern hält, ganz von Feuer durchdrungen, im allmählichen Verglühen. Oder für eine Falte im Stoff, die weder Gestalt noch Grenzen hat und darum von umfassender Gleichgültigkeit ist, wie ein Theatervorhang im Dunkeln. Oder vielleicht – nichts ist unmöglich – amüsiert sie der Gedanke, dass wir nichts Neues von ihr erwarten, sondern fest auf unsere tägliche Portion Milch und Honig zählen, wie Kinder, die morgens in die Küche kommen und schon wissen, was es zum Frühstück gibt. Da sitzen sie und gähnen und warten, dass ihre Mutter die weißen Schüsseln mit Joghurt und Cornflakes vor sie hinstellt: aber was, wenn man die Schüsseln zur Abwechslung mit Skorpionen, Schmeißfliegen, wimmelnden Maden füllt? Was, wenn man die Heizkörper aufdreht, so dass keiner mehr Luft kriegt in der Küche, und von draußen einen Froschregen gegen die Fensterscheiben klatschen lässt und zur Jagd auf die Erstgeborenen bläst? Mit solchen Spielen kann man sich lange amüsieren, und als Einstieg empfehlen sich kleine Veränderungen, vor der Zeit verdorrtes Gras, Züge, die plötzlich verlernen, sich an den Fahrplan zu halten, und sich um viele Stunden verspäten oder erst übertrieben schnell fahren, dann auf freiem Feld stehen bleiben und warten, bis sie ihr Ziel erreichen dürfen.

Just in so einem Zug saß an jenem Tag eine Schriftstellerin namens M., die schon damit rechnete, ihr Ziel nicht pünktlich zu erreichen. Die gelblichen Felder draußen, das Gepäcknetz am Vordersitz, in dem irgendwer eine leere Coladose deponiert hatte, der Mitreisende auf dem Platz neben ihr – all das waren folglich Vorboten der unvermeidlichen Verspätung. Die Züge benahmen sich neuerdings, als wären sie lebendige Wesen und bedürften keiner Betreuung, und man konnte nur auf ihren guten Willen hoffen, der sich von dem der Menschen vage unterschied. Gleichzeitig gab es plötzlich auch viel weniger Schaffner, so dass man ziemlich weit fahren konnte, ohne je eine Fahrkarte vorzuzeigen, als hätte daran niemand mehr ein Interesse.

Die Schriftstellerin M., die aus einem Land in ein anderes fuhr, ging trotz alldem selbstgewiss davon aus, dass wenn nicht der eine, dann der andere Zug sie an Ort und Stelle bringen würde. Sie war nicht nur im Besitz einer Fahrkarte, sondern auch einer vorsorglich getätigten Platzreservierung und eines vegetarischen Sandwichs, das sie am Bahnhof gekauft hatte, bei dem richtigen Imbiss, wo das Brot frisch und der Kaffee stark war. Um sich eine Gewohnheit zuzulegen, so hatte sie irgendwo einmal gehört, reiche es aus, ein und dieselbe Sache zwölf Mal zu tun: Man setzt sich zum Beispiel abends nach der Arbeit in ein Café mit Blick auf den Fluss und trinkt ein Glas Weißwein, und ohne dass man etwas dafür tut, taucht beim dreizehnten Mal die Gewohnheit an die Oberfläche wie eine Seehundschnauze aus dem Wasser, und schon ist man ein anderer, neuer Mensch: einer, der jeden Tag hier sitzt, ohne zu wissen warum, und darauf wartet, dass sich mit dem nächsten Schluck Wein auch Worte im Mund einfinden, die für sein neues Leben taugen.

Immerhin, dachte M. manchmal, soll der menschliche Körper ja die Gewohnheit haben, im Lauf von sieben Jahren alle seine Zellen gegen neue auszuwechseln, so dass man am Ende dieser Frist unversehens als anderer Mensch aufwacht und sich nur aus Gedankenlosigkeit noch für dasselbe vertraute, berechenbare Wesen hält. Andererseits, dachte sie weiter, während sie sich von ihrem Sitznachbarn mit seiner ausgebreiteten Zeitung abwandte und gereizt aus dem Fenster sah – kann man dieses Verhalten des Körpers überhaupt als Gewohnheit bezeichnen, wenn er in den meisten Fällen gar nicht genug Zeit hat, seine Ersatzteile zwölf Mal zu wechseln? Beim dreizehnten Mal, überschlug M., wäre man schon über neunzig – ein seltener Glücksfall für einen menschlichen Organismus und außerdem ein Alter, in dem der Mensch ohnehin bald zu etwas anderem wird, zu einer Handvoll Asche in einem genormten Behälter oder zu einer Kiste, deren Inhalt man sich ungern vorstellt.

Am Hauptbahnhof war sie dagegen bestimmt schon zwölf oder auch vierzehn Mal gewesen. Ihr Wunsch, sich hinter andere morgendliche Reisende in eine Schlange zu stellen, um einen Kaffee und eine Papiertüte mit etwas Warmem, Essbaren zu kaufen, und zwar genau an diesem Imbissstand und nicht an dem daneben, war daher nicht mehr als Laune, sondern schon als Gewohnheit zu betrachten, und sie selbst als eine Frau, die weiß, was sie will – die mit sicherer Hand ihren Kaffeebecher in die Pappmanschette steckt, um sich nicht die Finger zu verbrennen, und ihn mit einem Deckel der richtigen Größe schließt. Für die Schriftstellerin M., die noch nicht so lange in dieser Stadt wohnte, waren präzise Bewegungen und genaue Kenntnis des vor ihr liegenden Wegs (er führte hinab, unter die Erde – zu Gleis 5, wenn es nach Norden, zu Gleis 1, wenn es nach Süden ging) jetzt besonders wichtig, sie vermittelten eine Art Gewissheit, dass es einen Platz für sie gab, sowohl in dem Zug, auf den sie wartete, als auch in dem neuen Leben, in dem sie sich noch nicht recht auskannte.

Danach zu urteilen, wie oft sie schon irgendwohin fuhr, um in einer anderen Stadt oder einem anderen Land ihrer Schriftstellerinnenarbeit nachzugehen, und dann wieder zurückkehrte, neben sich ihren leichten Koffer, den sie mit geübtem Griff von der Ablage hob, hatte sie zweifellos einen Platz in diesem Leben – sogar viele Plätze, und an jedem wollten Menschen etwas zu den Büchern erfahren, die sie irgendwann geschrieben hatte, und sie anschließend mit deutlich größerem Interesse nach dem Land befragen, aus dem sie kam. Dieses Land führte derzeit Krieg gegen ein anderes, benachbartes Land, es tötete dessen Bewohner mit Schusswaffen, mit Feuer vom Himmel und mit bloßen Händen, und es konnte und konnte weder siegen noch sich damit abfinden, dass das andere Land sich nicht fressen ließ. Manchmal, ziemlich oft, fand es daneben Zeit, auch die eigenen Bewohner zu töten; es hielt sie anscheinend für wildgewordene Organe seines eigenen Körpers, die ihm gefährlich waren, da sie es vom Jagen und Fressen ablenkten. Die Stadt im Ausland, wo M. jetzt wohnte, war voll mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren, und diejenigen, über die M.s Landsleute hergefallen waren, blickten mit Schrecken und Argwohn auf die einstigen Nachbarn, als hätte deren Leben vor dem Krieg, wie auch immer es ausgesehen hatte, keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter fraß.

Viele der Ortsansässigen wollten natürlich gern mehr über das Untier erfahren, nicht nur um sich selbst vor seinem abscheulichen Schlund zu schützen, sondern auch weil große Raubtiere immer interessant sind für Pflanzenfresser wie uns, die sich nur mit Mühe begreiflich machen, wo Gewalt eigentlich herkommt und wie sie funktioniert. Ihre Fragen nach den Gewohnheiten des Tiers klangen angestrengt mitfühlend, so als wäre auch die Schriftstellerin M. schon angebissen, ja stellenweise abgenagt und läge nur durch einen Zufall noch halbwegs vollständig irgendwo im Gras. Manche wollten wissen, wie es kam, dass das Tier noch immer nicht erlegt war oder dass es sich in seiner unermesslichen Gier noch nicht selbst aufgefressen hatte, und sie ließen durchblicken, dass M. und ihre Bekannten dort, wo sie herkam, beizeiten hätten Maßnahmen ergreifen müssen, lange bevor es so groß wurde und anfing, wahllos Menschen zu fressen.

M. stimmte ihnen völlig zu, hatte aber Schwierigkeiten zu erklären, dass die Jagd auf und der Kampf gegen das Tier durch dessen Natur stark erschwert wurden. Die Sache ist, dass das Tier weder vor mir noch hinter mir war, hätte sie zum Beispiel sagen können, es war immer um mich herum – und ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich in ihm lebe und vielleicht sogar schon in ihm geboren wurde. Erinnern Sie sich an das Märchen, fuhr sie in Gedanken fort, in dem ein alter Mann und ein Holzknabe mit einem kleinen Talglicht im Inneren eines Meeresungetüms sitzen? Gut möglich, dass die beiden dem Tier ein gewisses Unbehagen bereiten könnten, indem sie zum Beispiel auf der Stelle springen oder sogar Feuer machen. Aber bei so ungleichen Größenverhältnissen hast du keine Chance, dem Tier einen substanziellen Schaden zuzufügen, geschweige denn, mit ihm fertigzuwerden. Du kannst nur darauf hoffen, dass ihm eines Tages schlecht wird und du, ohne zu wissen wie, plötzlich draußen bist und zum ersten Mal deutlich siehst, dass das Zimmer, in dem du so viele Jahre verbracht hast, in Wirklichkeit ein Bauch war. Ich selber war also Teil des Tiers, wenn auch nur ein zufällig verschluckter oder irrtümlich gewachsener – und mir ist völlig klar, dass das meine Wahrnehmung beeinträchtigt und meine Geschichte wenig vertrauenerweckend macht. Aber wenn nötig, gebe ich gerne Auskunft über die Inneneinrichtung des Wesens, aus dem ich vor kurzem an Land gegangen bin.

2

Dort, wo M. jetzt wohnte, gab es reichlich wilde Tiere (ach, allein all die Vögel! die Reiher zum Beispiel, die tief überm See flogen, so dass man genau studieren konnte, wie vollkommen sie gebaut waren) und ebenso reichlich Menschen, die sich anscheinend keinen Begriff davon machten, was von wilden Tieren zu erwarten war. Einmal, als ein hiesiger Fuchs einen hiesigen Schwan gerissen hatte, direkt vor den Augen einiger Kinder, die auf der Wiese am Ufer spielten, war bei Tisch von seiner Skrupellosigkeit die Rede, und jemand fand, so ein Verhalten könne man nicht dulden, man müsse etwas tun. Auf welche Weise man den Fuchs von der ihm eigenen Bestialität abbringen sollte, wusste M. nicht und beteiligte sich daher lieber nicht an dem Gespräch: Sie fürchtete, sich allzu vertraut mit den Sitten derer zu zeigen, die ihre Beute lebendig fressen und sich nicht darum scheren, wer ihnen dabei zusieht.

Andererseits gab es hier auch Leute, die wussten, was die Stunde geschlagen hatte, und auf der Hut waren. Einmal, als M. auf einer mit Sträuchern getarnten Bank eine schuldbewusste Zigarette rauchte, kroch aus dem Busch neben ihr eine kleine, weißhaarige Frau hervor und verlangte eine Erklärung, was M. hier tat. Sie sah aus wie eine Amtsperson, wenn auch etwas ramponiert, und trug eine knappsitzende Uniform, eine Art Nylonoverall mit Schulterklappen; tatsächlich zückte sie sofort einen in Folie eingeschweißten, von der ortstypischen Feuchtigkeit schon leicht verschwommenen Dienstausweis. M. hatte außer ihrer Zigarette nichts vorzuweisen, aber etwas an ihrer Erscheinung wirkte offenbar vertrauenswürdig, und die Dame in Uniform erkannte in ihr die mögliche Verbündete. Wie sich herausstellte, war sie für den Schutz der Schwäne zuständig, die in dieser Gegend von See zu See schwammen, ihre Küken großzogen und die Spaziergänger mit ihrer titanischen Größe und Weiße beeindruckten, und in dem Busch saß sie nicht zum Spaß, sondern auf Posten. Ihren Worten nach war sie keine Einzelgängerin, sondern Teil einer ehrfurchtgebietenden Macht, der Schwanenwacht, welche rund um die Uhr die Gewässer hütete: In Uniformen wie dieser lägen Freiwillige und Aktivisten schlaflos auf der Lauer, immer in Erwartung eines Anschlags auf das Wohl der Riesenvögel. Vierzig Mann sei ihre Truppe stark, erklärte sie und streckte die Brust heraus, auf der in einer durchsichtigen Plastikhülle ein paar schmutzig graue Schwanenfedern zu besichtigen waren.

Etwas an ihrem Äußeren ließ vermuten, dass Jay Jay – so wollte die Dame genannt werden – in Wirklichkeit gar keine Mitstreiter hatte, sondern die Seen notgedrungen allein bewachte, obwohl sie immer wieder beteuerte, ihre Kollegen kämen ihr im Fall des Falles jederzeit zu Hilfe. Die Füchse erledige sie problemlos: Mit Hundefutter brauche man ihnen nicht zu kommen, zu Katzenfutter dagegen sagten sie nicht nein, am allerliebsten aber hätten sie hartgekochte Eier. Menschen, das ist schon was anderes, sagte sie und warf M. einen wissenden Blick zu. Menschen stehlen Eier aus den Nestern, wozu auch immer – irgendwelche dunklen Rituale vielleicht. Menschen ist alles zuzutrauen, beharrte sie grimmig. Vor einem Monat zum Beispiel haben wir hier im Wald zwei Kleine gefunden – babies, übersetzte sie –, beide mit zahlreichen Stichwunden im Bauch. O Gott, stöhnte M., und was haben Sie getan, die Polizei gerufen? Nein, sagte die Dame betrübt, sie waren schon ganz tot, wir mussten sie vergraben. Zwei herrliche Exemplare, frisch gemausert.

M. traf danach noch mehrfach auf Jay Jay, die ihre Kreise um den See zog, mal mit dem Fahrrad, mal zu Fuß, in einer Neonweste über der Uniform, und sie hätte ihr gern berichtet, dass sie vor kurzem einen blaugrünen Eisvogel gesichtet hatte, aber Jay Jay war plötzlich überraschend streng mit ihr, als hätte sie etwas Neues über die Menschheit oder gar über M. selbst in Erfahrung gebracht.

Fernzüge sind seit jeher Orte, wo ein Menschenwesen oft ungewohnt nah an ein anderes heranrückt, wenn auch nicht so beklemmend dicht wie auf dem Bahnsteig oder in der U-Bahn. Doch während man dort im Gedränge steht, weiß man erstens, dass das gleich vorbei ist, und zweitens teilt man den Raum nicht mit einer bestimmten Person, sondern mit einer vielköpfigen Ansammlung von seinesgleichen; man muss sich geradezu anstrengen, um in der Menge jemand Bestimmten zu fixieren, erst recht um ihn länger als eine Sekunde im Auge und im Kopf zu behalten. Wer das nicht will, gleitet einfach über sie hinweg, mit jenem diffusen Blick, der ausschließlich Entfernungen und Positionswechsel registriert: wie viel Millimeter Luft zwischen mir und der Schulter eines anderen liegen, wie sie durch Bewegung verdrängt werden, wie die Menschenmasse zu den Türen gravitiert, kurz bevor der nächste Halt geboren wird.

Nicht so im Zug, wo von vornherein klar ist, dass man womöglich lange Stunden Seite an Seite mit einem Mitmenschen verbringen wird. Im Glücksfall allerdings ist der Wagen leer und der Nebensitz frei, man kann selbstsicher Jacke und Tasche darauf ablegen und sich fortan so geschützt fühlen wie hinter einem Vorhang, hinter den niemand außer dem Schaffner einen Blick werfen darf. In diesem Unterschlupf kann man sich ungeniert ausbreiten: Du gehst keinen etwas an, iss dein Avocado-Gurken-Sandwich, trink dein Wasser und lies dabei ein Buch, oder streck die Beine aus und schlaf, oder lass einen zerstreuten, wohlwollenden Blick über die Mitreisenden wandern, als wärst du unter einer Tarnkapuze versteckt und dürftest nach Herzenslust gaffen.

In einem französischen Roman, den M. einst sehr gemocht hatte, ging es just um eine solche Kapuze. M. las ihn mit Anfang dreißig, die Protagonistin war um die fünfzig, und allein das hatte etwas Beruhigendes, wie ein Kleid zum Hineinwachsen: Auch mit fünfzig würde sie ihr Leben also noch bis zur Unkenntlichkeit verändern können, es neu zuschneiden auf eine Weise, die sie sich niemals zugetraut hätte. In dem Roman stand die Heldin eines Tages zufällig am Zaun eines Vorstadthauses und sah, wie ihr Mann unter einer Laterne eine andere Frau küsste, die offenbar jünger und, wie man so sagt, begehrenswerter war. Weiter geschah Folgendes: Die Heldin wartet, bis ihr Mann zu einer Geschäftsreise aufbricht, und in den wenigen Tagen seiner Abwesenheit verkauft sie ihr Elternhaus, in dem sie beide wohnen, sie verkauft die Möbel und die zwei Bechstein-Flügel, verschenkt Kleider und Bücher, packt die Rasierer und Hemden ihres Mannes in Kisten und schickt sie an sein Büro – und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Sie benutzt keine Bankkarten, wirft ihr Telefon weg, so dass man sie nicht mehr orten kann, steigt von einem Bus in den nächsten und fährt auf verschlungenen Wegen ins Blaue. In jeder neuen Stadt entledigt sie sich ihrer Kleider, wechselt die Haarfarbe oder Kopfbedeckung, fährt weiter und weiter. Die einzige Festlegung besteht darin, dass sie Europa nicht verlassen kann, weil sie sonst an der Grenze ihren Pass zeigen müsste. Sie sieht die Seen des Nordens, dann die Inseln des Mittelmeers. Allmählich gewöhnt sie sich an ein neues Gefühl von Sicherheit, für das sie kein Haus und keine Wohnung mehr braucht, ja nicht einmal ein Dach überm Kopf. Als Unterschlupf genügt ihr jetzt schon ein Felsspalt, der Zuflucht vor dem Regen bietet. Oder eine Kapuze, die sich tief ins Gesicht ziehen lässt. Oder ihre Augenlider, die sie jederzeit schließen kann, um nichts mehr zu sehen.

Als M.s eigenes Leben sich geändert hatte – ohne ihr Zutun oder auch nur Einverständnis –, war sie gleichfalls um die fünfzig gewesen, und seither wartete sie auf den Moment, in dem es genügen würde, die Augen zu schließen, um sich zu Hause zu fühlen. Die Sache war offenbar komplizierter als in dem Buch, auf die Kapuze war kein Verlass, und im Zug hatte sie einen Sitznachbarn, der angesichts ihrer Nähe dieselbe verhaltene Peinlichkeit empfand wie sie selbst – in solchen Fällen fängt man entweder ein rasch wieder versiegendes freundliches Gespräch an oder tut gleich so, als wäre man durch eine unsichtbare Barriere getrennt, hinter der der andere weder zu sehen noch zu hören ist, und schaut wie gebannt aus dem Fenster. Verzehren lässt sich ein vegetarisches Sandwich auch in dieser Lage, aber genießen lässt es sich nicht, denn das Papier raschelt, die Krümel rieseln nur so auf den Schoß, und das Ganze ist eine einzige Attacke auf das Schweigen und die Distanz des anderen.

Der Sitznachbar der Schriftstellerin M. steckte trotz der Hitze in einem grauen Anzug, der besser zu einem klimatisierten Büroraum gepasst hätte; man sah, dass der Anzug ihm zu eng war und dass er noch eine lange Strecke vor sich hatte. Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden – draußen drehten sich Windräder auf fahlen Hügeln, Pferde auf Koppeln betrachteten eingehend den Boden, und in der Ferne erstreckten sich weitere Felder und landwirtschaftliche Betriebe –, versuchte M. zu erraten, was der Mann beruflich machte. Aus irgendeinem Grund hielt sie ihn für einen Versicherungsvertreter oder Klimaanlagenverkäufer, der wie sie von Stadt zu Stadt fuhr, auf Reisen, die schon lang keine mehr waren. Der beste Moment des Tages wäre der, in dem er das Hotelzimmer betrat, sein Jackett auf einen Plastikbügel hängte, sich, ohne die Hose auszuziehen, rücklings auf das gemachte Bett fallen ließ, kurz an die Decke starrte und dann die Augen schloss. Später würde er doch noch einmal aufstehen müssen, um seine Hose über die Stuhllehne zu hängen, damit sie am nächsten Morgen nicht verknittert war, vielleicht ging er auch nach unten und bestellte in der Hotelbar ein Bier, rief noch zu Hause an, löschte früh das Licht.