Der Advokat und das Mädchen - Tabea Halbmeyer - E-Book

Der Advokat und das Mädchen E-Book

Tabea Halbmeyer

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Beschreibung

Tainbridge, Ende des 18. Jahrhunderts. Der Vater der 11-jährigen Mary-Ann wird unschuldig in ein Arbeitslager nach Australien verbannt. Für Mary-Ann und ihre Familie beginnt ein jahrelanger, harter Kampf ums Überleben im Angesicht von Hass, Ablehnung und Verachtung. Nach Jahren findet Mary-Ann Arbeit auf einem Gut. Wird es für die junge Frau Liebe, Gerechtigkeit und Vergebung geben? Und kann sie beweisen, dass ihrem Vater Unrecht geschehen ist?

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Seitenzahl: 440

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TABEA HALBMEYER

Der Advokat und das Mädchen

Bestell-Nr. 394.986

ISBN 978-3-7751-5092-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-4986-0 (lieferbare Buchausgabe)

© Copyright der deutschen Ausgabe 2009 by SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG . 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-haenssler.de E-Mail: [email protected] Umschlaggestaltung: oha werbeagentur gmbh, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch Titelbild: istockphoto.de, shutterstock.de Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by

Prolog

Die Sonne stand hoch am Himmel über dem Meer an der Ostküste Englands. Der Wind trug die Wellen ans Ufer, wo die Gischt des Meeres eine willkommene Erfrischung auf den glühenden Gesichtern der Menschen war.

Eine kleine Menschenmenge wartete vor einem großen Schiff, das bald ablegen sollte.

Ein Mädchen von elf Jahren war unter ihnen. Sie blickte den Mann, der vor ihr kniete und den sie Papa nannte, an. Tränen rannen ihr über das schmale Gesicht. Ihre Lippen bebten und ihr Herz pochte wie wild. Zitternd strich sie ihm über die Wangen. Die Angst, dass sie ihn niemals wiedersehen würde und die Angst, dass ihm womöglich so schreckliche Dinge angetan werden könnten, dass er sogar sterben würde, schnürte ihr die Kehle zu. Sie schaute ihn einfach an und weinte. Niemals wollte sie sein Gesicht vergessen. Die blauen Augen, die sie sogar jetzt noch liebevoll anblickten, die etwas zu große Nase und die raue Haut, das ihr liebste und schönste Gesicht. Fast panisch sog sie seinen Anblick in sich auf.

Auch der Mann blickte seine Tochter an. Er wischte ihr die Tränen von den Wangen und strich ihr mit seiner großen starken Hand über das blonde Haar. Sein einziges und bestes Mädchen. Dass er sie nie wiedersehen sollte! Oh Gott, bitte halte du sie in deinen Händen, betete er verzweifelt.

Da schlug ihm eine Hand fest auf die Schulter.

»Nun ist es genug! Komm mit. Es wird Zeit«, sagte eine barsche, unfreundliche Männerstimme.

Der geliebte Vater erhob sich, küsste seine Tochter, seinen Sohn und seine Frau und sagte mit brüchiger Stimme: »Der Herr sei mit euch!«

Die Frau nickte und flüsterte: »Und mit dir.«

Dann wurde er weggezerrt.

Das Mädchen wollte ihm hinterherlaufen, doch die Mutter hielt es zurück. Schluchzend rief es ihm hinterher: »Papa! Papa!«

Er schaute zurück und rief: »Ich liebe dich« – und dann war er auch schon die Rampe zu dem großen Schiff, das ihn von seiner Familie ins Ungewisse bringen sollte, hinaufgestoßen worden.

Auf dem Deck herrschte geschäftiges Treiben. Die Menschen liefen aufgeregt hin und her und suchten ihre Kabinen. Der Vater aber war kein freiwilliger Passagier.

Das Mädchen schaute ihm nach und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm mit ihrem Blick folgen zu können. Ja, sie sah ihn noch, denn er war groß.

Dann war er weg. Für immer?

1

Mary-Ann Barnes lief die schmutzigen alten Straßen ihrer Heimatstadt entlang. Der Novemberhimmel war düster. Tiefe graue Wolken hingen bis in die Spitzen der hohen Kirchentürme herab und zogen schnell über die Häuser hinweg. Ein leichter Nieselregen nässte ihr Gesicht, ihre Hände und die Straße, auf der sie lief. Sie fror erbärmlich, denn die Feuchtigkeit, die durch ihre dünnen Schuhe drang, ließen ihre Füße klamm werden. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung.

Die wenigen Leute, die bei diesem Wetter unterwegs waren, schenkten dem jungen Mädchen keinerlei Beachtung. Die Zeiten waren längst vorbei, in denen die Menschen noch ein Lächeln für Familie Barnes übrig hatten. Seitdem Michael Barnes, Mary-Anns Vater, vor einigen Jahren des Mordes angeklagt und nach Australien verbannt worden war, behandelte man die verarmte Familie wie Luft. Dabei hatten sie doch gar nichts getan! Mary-Ann könnte immer noch schreien vor Wut.

Die Leute hatten ihren Vater zu Unrecht angeklagt. Er hatte niemanden ermordet und auch ihre Mutter, Lucy, nicht. Sie waren keine Mörderfamilie. Doch was nützte es schon, sich darüber zu ärgern? Es glaubte ihnen ja doch niemand. Nicht einmal ihre Verwandten, nicht einmal ihre Freunde.

Mary-Ann schluckte dieTränen schnell herunter, die ihr in die Augen steigen wollten, als sie an ihre alte Schulfreundin Sara dachte. Sie hatte Sara so sehr vertraut, doch dann hatte sie ihr mit den anderen Kindern zusammen »Mörderkind« hinterhergerufen und ihr vor die Füße gespuckt. Wie konnte Sara nur?

Genauso hatten sie es mit ihrem vierjährigen Bruder Justin auch gemacht. Seit das passiert war, hatte ihre Mutter Mary-Ann von der Schule genommen. »Meine Kinder werden nicht angespuckt«, hatte sie geschrien. Doch die Lehrerin hatte nur erwidert, wenn es zu Recht geschehe, könne sie ihren Schülern dies nicht verbieten.

Wie ungerecht die Welt doch war! Ein jäher Zorn überfiel das junge Mädchen plötzlich. Irgendwann würde sie es ihnen schon heimzahlen, dass sie ihren Vater verhaftet hatten und sie so ungerecht behandelten! Sie erschrak selbst über ihre Wut.

Frierend sprang sie über eine Pfütze.

Seit sie nicht mehr in der Schule war, konnte sie nichts anderes tun, als durch die feuchten Straßen von Tainbridge zu laufen und ihrer Mutter, so gut es ging, zu helfen. Es war deprimierend.

Mary-Ann bog um eine Häuserecke, ging über die Straße und trat in eines der baufälligen schmutzigen Backsteinhäuser ein. Sie gab der Tür hinter ihr einen Schubs und diese fiel krachend ins Schloss. Das Mädchen zog ihre nassen Stiefel aus, hängte ihren alten zerschlissenen Mantel an den Haken und öffnete die einzige Tür, die es in dem dunklen Flur gab. Das schwache Licht einer Schirmlampe erhellte den düsteren Raum notdürftig. In dem gusseisernen Herd brannte ein Feuer. Mary-Anns Mutter stand vor dem Herd und rührte in einem Topf.

Mary-Ann betrachtete sie von hinten. Sie sah nicht gut aus. Sie war einmal sehr hübsch gewesen, das wusste Mary-Ann, doch nun war ihr sonst so glänzendes Haar matt, ihre Haut blass, ihre Hände kalt und dünn und ihre Schultern gebeugt, obwohl sie noch nicht sehr alt war, gerade mal sechsunddreißig Jahre alt. Doch Trauer lässt schnell altern.

»Ich war ein wenig spazieren«, begrüßte Mary-Ann ihre Mutter.

Die Frau blickte auf und nickte müde. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, die auf viele schlaflose Nächte hinwiesen. »Waren viele Leute unterwegs?«

Mary-Ann schüttelte den Kopf.

Wieder nickte die Mutter. Sie hatte keine andere Antwort erwartet.

»Was kochst du denn Leckeres?«, fragte Mary-Ann und versuchte einen fröhlichen Ton anzuschlagen.

Bitter lachte Lucy auf. »Lecker? Nun, lecker würde ich es nicht gerade nennen. Aber schließlich müssen wir ja irgendetwas essen, meinst du nicht auch?«

Mary-Ann hasste es, wenn ihre Mutter in solch einem sarkastischen Ton über ihre Lage sprach. Sie tat es zwar nicht oft, doch Mary-Ann verabscheute es. Es gab ihr das Gefühl, vor einem tiefen Abgrund zu stehen und nicht zurück zu können.

Lucy schluckte, als sie das Gesicht ihrer Tochter sah. Manchmal würde sie sich am liebsten ihre vorschnelle Zunge abbeißen. »Mary-Ann ...«, Lucy seufzte tief. »Mary-Ann, ich muss mit dir reden.«

Sie setzten sich an den wackligen Tisch in der Mitte des Zimmers.

Angespannt rieb sich Lucy die Schläfen. Dann holte sie Luft. »Wir schaffen es einfach nicht mehr. Wir haben noch nicht alles verloren, aber das werden wir, wenn wir nicht irgendwie noch Geld verdienen. Ich ... ich habe die Stelle bei Mr Anders verloren. Ich darf Justin nicht mehr mitnehmen. Niemand will die Frau von einem ...« Sie konnte den Satz nicht vollenden. »Verstehst du, was ich sagen möchte?«, fragte Lucy heftig schluckend. Es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen.

Mary-Ann nickte langsam.

»Es tut mir leid, dass ich dir kein besseres Leben bieten kann, und ich weiß, deinem Vater geht es genauso. Aber ... verstehst du, was ich dir sagen möchte?«

Wieder nickte Mary-Ann. Sie hatte verstanden. »Ich soll arbeiten gehen, nicht wahr?«

In Lucys Augen konnte Mary-Ann lesen, dass es stimmte, was sie vermutet hatte.

Ihre Mutter konnte nichts erwidern. Heftig unterdrückte sie den Drang loszuschluchzen.

Mit großen Augen starrte Mary-Ann sie an. Lucy hatte ihren Kopf in die Hände gestützt und weinte leise.

Arbeiten gehen. Aber wo? Bei wem? Und was?

Mary-Ann saß wie erstarrt da. Sie wusste gar nichts mehr.

Plötzlich schrie Justin im Nebenzimmer.

Mary-Ann löste sich aus ihrer Erstarrung und sprang erschrocken auf. Gemeinsam mit ihrer Mutter stürzte sie durch die Tür, die in ihr zweites und letztes Zimmer führte, das ihnen als gemeinsames Schlafzimmer diente. Dort hatte Justin gerade seinen Mittagsschlaf gehalten.

Schreiend stand er in einem der zwei Betten. Mutter und Schwester eilten auf den Fünfjährigen zu und Lucy nahm ihn in den Arm.

»Justin, was ist denn los? Wir sind ja hier. Hab keine Angst, Justin! Ist ja gut ...«

Dann fing Lucy an zu singen. Sie hatte eine wunderbare Stimme. Leise und beruhigend sang sie für ihren Sohn. Sie wiegte ihn hin und her, streichelte ihm über sein Haar und drückte ihn an sich. Justin hörte sofort auf zu schreien und seine Schluchzer wurden immer leiser.

Mary-Ann stand am Bettpfosten gelehnt und schaute der Szene zu. Wenn ihre Mutter sang, erschien die Welt gleich nicht mehr so schlimm. Alles wurde von einem anderen Licht beschienen, die Klänge und Töne hoben sie hinauf und beruhigten sie.

Justin löste sich aus der Umarmung seiner Mutter und schaute sie mit seinen großen tränengefüllten Kinderaugen an.

»Da waren ganz viele Kinder um uns rum und alle haben geschrien. Ganz böse Sachen haben sie gerufen.« Wieder fing er zu schluchzen an. Doch seine Mutter drückte ihn wieder an sich und sang: »Es war nur ein Traum, mein Kleiner, nur ein Traum. Es ist wieder vorbei ...«

Da ging nun auch Mary-Ann zu ihrem Bruder und ihrer Mutter und alle drei umarmten sich und kuschelten sich aneinander. In diesen Momenten der Geborgenheit tankte die Familie Barnes Kraft und Mut.

Doch leider hielt dies nie für lange Zeit.

»Nein! 15 Cent pro Stunde. Mehr geht nicht!«

Mary-Ann senkte den Kopf und nickte dann. Kleinlaut sagte sie: »Gut, 15 Cent.«

»Na also«, brummte der garstige Bäcker. Er reichte seiner neuen Gehilfin einen Korb voller Leckereien aus seinem Geschäft und schickte sie vor den Laden, um den Passanten die Waren anzupreisen. Das Wetter war immer noch schlecht. Der Wind pfiff eisig durch die kleine Stadt Tainbridge.

Mary-Ann lief vor der Bäckerei auf und ab, um sich ein wenig warm zu halten, und hielt den gefüllten Brotkorb den vorbeieilenden Leuten hin. Doch wie sie es gewohnt war, beachteten sie die meisten nicht. Einige Menschen blieben stehen und betrachteten die Brote und Süßwaren, kauften jedoch nichts. Nur wenige ließen einige Cent für eines der Gebäcke in die schmale Hand des vierzehnjährigen Mädchens fallen.

So schritt der Tag nur sehr langsam voran. Ihre Zehen spürte Mary-Ann schon nicht mehr, ihre Hände waren steif und der schneidige Wind trieb ihr die Tränen in die Augen.

Beständig hielt sie sich vor Augen, dass sie froh sein konnte, überhaupt eine Stelle gefunden zu haben. Drei Tage war sie durch die Stadt gelaufen und hatte überall gefragt, ob jemand einem tüchtigen Mädchen Arbeit geben könnte. Aber niemand hatte sie einstellen wollen. Manche, weil sie eine Barnes war; andere, weil sie niemanden bezahlen konnten. Nur dieser mürrische Bäcker ließ sie nun für ein wenig Geld für sich arbeiten. Dies war jedenfalls besser als nichts und deshalb musste sie bei dieser Stelle bleiben, auch wenn sie noch so unangenehm war.

Als ihr Gesicht vor Kälte brannte und Mary-Anns Arme drohten, den schweren Korb fallen zu lassen, ging sie zitternd in den Laden zurück. Der alte Bäcker stand hinter dem Tresen und rechnete seine Gewinne aus. Seine Gehilfin schien er gar nicht zu bemerken. Deshalb ging sie hinter den Tresen und stellte den Korb ab. Der Mann starrte sie an.

»Was machst du da? Du sollst den Kunden draußen etwas verkaufen, nicht innen! Los, geh wieder vor die Tür!«

»Aber ...«

»Willst du für mich arbeiten, oder nicht? Wenn ja, dann tu auch etwas für dein Geld und hör auf das, was ich dir sage!«

Zitternd griff Mary-Ann nach dem Gebäckkorb.

Sie würde eben stark sein müssen. Sie durfte die Stelle nicht aufgeben, sonst würde ihre Familie kläglich verhungern und das konnte sie auf keinen Fall verantworten. Sie würde für den Bäcker arbeiten, so gut sie konnte, und von dem Geld Brot und Milch kaufen.

Mary-Ann dachte an ihren Vater, während sie wieder vor dem Geschäft auf und ab ging. Ob er wohl noch lebte? Dachte er noch an sie? Vor drei Jahren war er mit einem Schiff nach Australien ins Arbeitslager verbannt worden. Damals war sie elf gewesen und Justin zwei. Er konnte sich kaum noch an seinen Vater erinnern, wohl aber Mary-Ann. Groß gewachsen war er gewesen und seine Hände waren stark und doch geschmeidig gewesen. Er hatte eine tiefe Stimme gehabt und hatte immer ruhig und sanft gesprochen. Oh, wie sehr sie ihn doch vermisste! Würde sie ihn jemals wiedersehen? Als ihr Vater noch bei ihnen war, hatten sie sich nie Sorgen um Kleidung oder Essen machen müssen. Er hatte für sie gesorgt und sie beschützt. Wie konnte überhaupt jemand glauben, dass er den Sohn seines reichen Auftraggebers umgebracht hatte? Das Opfer war zwar kein Kind mehr gewesen, aber doch noch ein junger Mensch von vielleicht fünfundzwanzig Jahren! Nie hätte ihr Vater ihm etwas zuleide getan! Schließlich hatte er selbst Kinder und gegenüber seinem Auftraggeber hatte er sich stets treu und zuverlässig verhalten. Ja, immer und überall war er freundlich gewesen. Zu allen Menschen.

Noch dazu hatte er in einer tiefen Ehrfurcht vor Gott gelebt. Mary-Ann erinnerte sich noch genau an seine Stimme, als er ihr von Jesus erzählt oder etwas vorgelesen hatte. Liebevoll und voller Demut und Gewissheit hatte er versucht, seinen Kindern ein Leben vorzuleben, wie es Gott gefällig war. Sonntag für Sonntag waren sie zusammen als Familie in die Kirche zum Gottesdienst gegangen.

Jetzt konnten sie sich nicht mehr in der Kirche sehen lassen. Zum einen wegen ihrer ausgebleichten und mehrmals geflickten Kleider. Ach, wie gerne hätte Mary-Ann ein neues Kleid! Oft stellte sie sich vor, wie es wäre, in einem wunderschönen Kleid mit weitem Rock und Spitzen durch die Straßen zu laufen. Aber auch mit dem schönsten Kleid hätte sie nicht in die Kirche gehen dürfen. Die Leute der Gemeinde wollten sie nicht mehr sehen. Sie hätten die Menschen in der Kirche in ziemliche Schwierigkeiten gebracht, wenn sie weiterhin gekommen wären. Denn in der Kirche, wenigstens dort, sollte man ja freundlich sein. Aber wie konnte man zu einer Familie freundlich sein, deren Vater gegen Gottes Gesetze verstoßen hatte?

Mary-Ann schüttelte den Kopf über diese verletzende Ironie. Warum hatte Gott nur zugelassen, dass ihr Vater angeklagt und verurteilt wurde? Er wusste doch auch, dass er unschuldig war. Wieder stieg eine heftige Wut in Mary-Ann auf. Gott hätte es verhindern können, das wusste sie genau! Warum war er nicht eingeschritten? Und warum half er ihnen nicht aus ihrer Lage heraus? Die reichen Leute durften in ihren feinen Gewändern an Festtafeln speisen, während sie in der Kälte stand und irgendwie versuchte zu überleben! Sie schluckte die Tränen der Wut hinunter und klagte Gott innerlich an: Wie kannst du dieser Ungerechtigkeit nur zusehen? Wer bist du, dass du das tust? Doch wie eine Antwort auf ihre Frage erinnerte sie sich plötzlich an eine Bibelstelle, die ihr Vater ihr einmal gesagt hatte: Und wir wissen, dass die, die Gott lieben und nach seinem Willen zu ihm gehören, alles zum Guten führt (Römer 8,28). Mary-Ann wusste, dass ihr Vater – wo immer er auch war – auf genau dies vertraute. Er glaubte fest daran, dass Gott in jeder Lage bei ihnen war und sie führen würde. Konnte sie diesen Frieden auch finden? Gott, zeig mir wer du bist! Zeig mir, wo du bist! Warum versteckst du dein Herz vor mir, warum zeigst du dich nicht?

Als es langsam dunkel wurde, ging Mary-Ann in die Bäckerei und stellte den Korb ab. Der Bäcker schaute hinein. Es war einiges weggegangen. Er brummte etwas, dass er das nächste Mal den Korb geleert sehen wolle, und gab Mary-Ann die abgesprochene Geldsumme.

So schnell ihre kalten Beine sie trugen, rannte Mary-Ann nach Hause.

Sie platzte in die Stube hinein.

»Mary-Ann! Wie ist’s dir ergangen?«, rief ihre Mutter und umarmte sie. Entsetzt nahm sie das bitterkalte Gesicht ihrer Tochter in die Hände.

»Du bist ja vollkommen durchgefroren! Hast du denn immer noch keine Stelle gefunden? Warte, ich mach dir einen Tee! Wärm dich doch am Feuer, Liebes!«

Noch völlig außer Atem erzählte Mary-Ann ihrer Mutter, was passiert war. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

Lucy brachte ihr einen heißen Tee. Dankbar wärmte Mary-Ann ihre kalten Finger an der Tasse.

Justin kletterte auf den Schoß seiner großen Schwester.

»Warum ist dir so kalt?«, fragte er und schaute sie mit großen Augen an.

»Weil ich sehr lange in der Kälte stehen musste, mein Kleiner.«

Mary-Ann drückte ihren Bruder fest an sich. Er wärmte sie zum einen mit seiner eigenen Körperwärme und zum anderen durch seine Anteilnahme.

»Er kann dich doch nicht den lieben langen Tag in der Kälte stehen lassen«, empörte sich ihre Mutter.

Mary-Ann zuckte die Schultern. Menschen konnten viel.

»Ach, ich weiß nicht, ob du diese Stelle behalten solltest. Wenigstens nicht im Winter«, überlegte Lucy und setzte sich besorgt zu ihr an den Tisch.

»Aber Mama, versteh doch! Es will mich sonst niemand haben! Ich muss morgen wieder dorthin gehen, sonst ...«

Ihre Stimme versagte, als ihr Justins Gegenwart bewusst wurde. Sie wollte ihn nicht unnötig beunruhigen.

Lucy seufzte schwer.

»Ja, ich weiß. Du hast recht.«

Nach einer dünnen Suppe, die ihr Lucy aufgewärmt hatte, ging Mary-Ann zu Bett. Aber sie schlief nicht sofort ein, denn ihre Füße waren immer noch wie Eisklumpen. Doch irgendwann siegte die Müdigkeit und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.

2

Mary-Ann schreckte auf. Es war noch dunkel draußen, doch sie hörte die Kirchturmuhr schlagen. Die Uhr, welche die Familie einmal besessen hatte, hatten sie an einen Antiquitätenhändler verkaufen müssen. Es war Zeit aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Noch immer müde quälte sie sich aus dem warmen Bett und war dabei sehr bedacht, Justin und ihre Mutter nicht zu wecken.

Sie schlüpfte in ihr abgetragenes Alltagskleid und schlich in die Küche. Schnell machte sie etwas Wasser für einen Kaffee heiß und setzte sich mit dem kleinen Rest Brot, den sie noch gefunden hatte, an den Tisch.

Hastig verschlang sie es, trank ihre Tasse leer und zog sich auch schon ihren Mantel, den Schal ihrer Mutter und die Stiefel an. Eine Mütze besaß sie nicht. Ihre Haube musste ausreichen. Sie erwog, ihre Handschuhe anzuziehen, doch sie ließ sie dann doch liegen. Lieber sollten ihre Finger frieren, als dass sie sich mit diesen durchlöcherten Lumpen zeigen würde. Genau genommen waren sie sowieso kein großer Schutz mehr.

Der Wind hatte aufgehört zu stürmen, doch dafür fielen sanft einige Schneeflocken auf die Erde. Sie blieben jedoch nicht liegen, sondern schmolzen sofort dahin. Mary-Ann stellte sich vor, dass die Schneeflocken die Träume der Menschen waren. Kein einziger wurde wahr. Jeder einzelne würde zu Matsch auf den schmutzigen Straßen zerrinnen, wenn erst die Zeit dafür gekommen war, dass die edlen Herren und Damen vorüberfuhren. Sinnlos erschien ihr die Welt.

Sie grub ihre Hände tief in die Manteltaschen, um sie vor der Kälte zu schützen, und zog die Schultern hoch. Würde ihr Leben denn ewig so aussehen? Würde sie für immer in dieser grausamen Welt stehen und zusehen müssen, wie sich die kleinen Mädchen aus den reichen Familien eine Zuckerbrezel nach der anderen in den Mund schoben? Die anderen Leute würden nur sehnsüchtig in den Korb voller Süßwaren blicken, um sich dann wieder abzuwenden und sich zu fragen, warum ihnen diese Köstlichkeiten vorenthalten werden. War sie tatsächlich zu diesem Leben bestimmt? War da nicht mehr?

Mary-Ann sehnte sich danach, ihren Vater all das zu fragen. Er hätte sicher eine weise Antwort gewusst. Sie wollte für ihn beten, doch konnte sie das wirklich tun? Konnte sie sich an den Gott wenden, der das alles zugelassen hatte? Doch sie erinnerte sich an die Bibelstelle, die ihr gestern eingefallen war, als sie über ihren Vater nachgedacht hatte. Herr, bitte beschütze du doch meinen Vater! Lass ihn nicht sterben und ... bitte, bring ihn wieder zurück, betete sie, obwohl sie wusste, dass dies eigentlich unmöglich war. Aber ... vielleicht würde Gott ihr Gebet ja erhören. Und wenn nicht, so würde sie sich eben damit abfinden müssen.

Mary-Ann betrat den Bäckerladen und flüsterte ein schüchternes »Guten Morgen!«

Der Bäcker brummte: »Da bist du ja endlich« und deutete auf den Korb, der noch leer unter dem Tresen stand. Er wies sie an, welche Gebäcke sie hineinlegen sollte und schickte sie schließlich hinaus, während er noch mit einer Tasse heißen Kaffees an einem Tisch saß und die Füße hochlegte.

Inzwischen war es hell geworden und schon einige Kutschen passierten die Straße der Läden. Wieder lag ein langer Tag vor Mary-Ann. Die Kälte kroch langsam an ihren Beinen hoch und die Haube, die Mary-Ann trug, verhinderte kaum, dass ihr Haar nass wurde. Es dauerte nicht lange und sie war bis auf die Haut durchnässt.

Als es Mittag wurde, bekam Mary-Ann Hunger. Doch sie sagte sich, dass sie es bis heute Abend schon noch aushalten würde. Dann würde sie einen Brotlaib bei dem Bäcker kaufen und zusammen mit ihrer Familie essen. Aber der Hunger wurde immer nagender und es war eine Qual für das hungrige Mädchen, den Duft der Streuselkuchenstücke, der weichen Butterbrötchen und der anderen Leckereien in der Nase zu haben. Sie hatte schon gestern und heute früh nichts Richtiges gegessen. Und vorgestern. Ja, wann hatte sie sich das letzte Mal eigentlich so richtig satt gegessen? Sie konnte sich nicht erinnern. Immer hatte sie darauf geachtet, dass Justin genug zu essen hatte.

Sie blickte an ihrer schmalen Gestalt herunter. Kein Wunder, dass sie immer so schnell fror!

Würde es der Bäcker merken, wenn sie einfach schnell einen Bissen, nur einen ganz kleinen von der Brezel probieren würde? Sollte sie? Verstohlen blickte sie sich um, und als sie merkte, dass der Bäcker gerade hinten in der Backstube verschwand, zog sie die Brezel heraus und biss ab. Schnell kaute sie und schluckte herunter. Er war immer noch nicht da! Sie nahm einen weiteren Bissen und dann noch einen, bis sie fast die ganze Brezel verspeist hatte. Sie blickte hinter sich. Da, jetzt kam er aus der Backstube heraus. Schnell bot sie einem Passanten einen Sandkuchen an.

Sie war zwar nicht mehr allzu hungrig, doch ihr Gewissen zwickte sie noch den ganzen Tag.

Am Abend kam sie wieder völlig durchgefroren nach Hause. Heftiges Zittern schüttelte ihren ganzen Körper.

Verzweifelt rang Lucy die Hände. »Wenn das so weitergeht, holst du dir noch den Tod! Dass dieser kaltherzige Mensch von einem Bäcker nicht merkt, dass du schon fast nicht mehr sprechen kannst, da du so sehr mit den Zähnen klapperst!«

Mary-Ann kannte ihre Mutter. Sie regte sich schnell auf und sagte immer ihre Meinung. Mary-Ann hoffte inständig, dass der Tag nicht kommen würde, an dem sie zornig in den Bäckerladen stürzen und ihrer Wut Luft machen würde. Denn dann würde Mary-Ann ihre Stelle verlieren! Und das durfte nicht passieren.

Was sollte sie tun? Was war nur der Sinn des Ganzen? Was war der Sinn ihres Lebens?

Auch am nächsten und am übernächsten Tag ging Mary-Ann zu dem Bäcker und verkaufte seine Waren.

Auch an diesen Tagen hielt sie ihren Hunger nicht aus und stahl eine Brezel.

»Ich werde sowieso ungerecht bezahlt«, rechtfertigte sie sich vor ihrem Gewissen, »da werde ich doch wohl eine kleine Brezel essen können, damit ich nicht vor Hunger umfalle!«

Gerade wollte sie wieder in eine Brezel beißen, als sie plötzlich einen heftigen Schlag auf ihrer Schulter spürte. Entsetzt drehte sie sich um. Der wutentbrannte Bäcker stand mit hochrotem Kopf vor ihr. »Was fällt dir ein, du dumme Göre! Einfach von meinen Brezeln zu klauen!«

Er zerrte sie in seinen Laden hinein, in das Hinterzimmer und schlug ihr ins Gesicht. »Ihr seid eben doch alle gleich, ihr Barnes! Der eine tötet, der andere stielt!«

Mary-Ann war noch nie geschlagen worden. Sie stolperte zurück und lehnte sich voller Angst gegen die Wand. Sie schmeckte Blut auf ihrer Lippe. Es tat weh, doch am meisten schmerzten sie die Worte des Bäckers.

Als der Bäcker wieder auf sie zukam, hielt sie schützend ihre Hände vor das Gesicht und flehte: »Bitte, bitte! Nicht! Ich wollte nicht ..., es tut mir leid! Ich werde selbstverständlich für die Brezel bezahlen!«

Wohl selbst ein wenig entsetzt über seine Tat hielt der Mann inne und schnaubte dann: »Wenn das noch einmal vorkommt, schmeiße ich dich eigenhändig raus, verstanden? Los wieder an die Arbeit! Woanders als draußen will ich dich nicht mehr sehen!«

Als Mary-Ann nach Hause kam, erzählte sie ihrer Mutter, dass sie über die Stufe zu dem Bäckerladen hinauf hingefallen war und deshalb eine aufgeschlagene Lippe hatte.

Kein einziges Mal ließ sie sich nochmals von den Backwaren im Korb verführen.

Endlich war Sonntag und sie ruhte sich einen Tag aus. Doch in der nächsten Woche ging es wieder los. Jeden Abend kam sie eiskalt, mit blauen Lippen und weißen Gliedern nach Hause. Die Nacht war der einzige Schutz vor der bitteren Kälte, denn da konnte sich Mary-Ann an ihre Mutter und Justin kuscheln.

Schließlich kam es, wie es kommen musste. Mary-Ann war am letzten Tag mit vor Eiseskälte steifen Fingern heimgekommen. Am Morgen war sie mit einem stechenden Schmerz in ihrem Kopf aufgewacht. Ihr war immer noch kalt und sie zitterte heftig. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine wollten sie nicht tragen. Sie fühlten sich an wie Pudding. Alles drehte sich um sie und Mary-Ann stöhnte. Das durfte doch nicht wahr sein!

Lucy wachte auf. »Mary-Ann? Was ist los? Geht es dir nicht gut?«

Mary-Ann antwortete mit einem Hustenanfall. Sie schüttelte den Kopf. Au, das tat weh! Wieder hustete sie.

Lucy fühlte ihre Stirn. »Du bist total heiß! Leg dich wieder hin! Du kannst so nicht zur Arbeit gehen!«

»Mama! Wenn ich nicht gehe, dann verliere ich die Stelle und wir müssen verhungern! Ich muss gehen«, antwortete Mary-Ann schwach.

Lucy fing an zu weinen. Sie drückte Mary-Ann an ihr Herz und half ihr, sich anzuziehen.

Mary-Ann machte sich mit wackligen Schritten auf den Weg.

»Pass gut auf dich auf«, rief ihr Lucy hinterher. Im Stillen betete die besorgte Mutter inbrünstig, Gott möge doch seine Hand über ihre einzige Tochter halten.

Mary-Ann stand schließlich an ihrer gewohnten Stelle. Sie wurde von heftigem Husten geschüttelt. Einmal ließ sie den Korb fallen, da ihre schwachen Arme ihn nicht mehr halten konnten. Mühsam sammelte sie eilig die Gebäcke wieder ein, bevor es der Bäcker bemerken konnte. Zitternd lehnte sie ihren Kopf gegen die Hauswand. Sie schloss die Augen. Sie hörte nur noch ein lautes Dröhnen in ihrem Kopf. Wann hört es denn endlich auf? Wie sollte sie diesen Tag nur überleben?

Plötzlich berührte sie jemand sanft an der Schulter.

»Miss? Ist Ihnen nicht wohl?«, fragte eine besorgte Stimme.

Mary-Ann öffnete die Augen. Vor ihr stand ein junger Mann und blickte sie besorgt an. Mit glasigen Augen schüttelte sie den Kopf und hustete heftig.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann und nahm ihr den Korb ab. Er bot ihr seinen Arm zum Halt, doch vor Mary-Anns Augen verschwamm alles. Sie wollte einen Schritt gehen, um nach dem Arm zu fassen, doch alles drehte sich um sie und dann war nur noch alles schwarz.

Als Mary-Ann die Augen wieder aufschlug, war sie in eine Decke gehüllt und die Umgebung fühlte sich warm an. Doch es holperte stark. Wo war sie?

Sie musste husten. Es tat immer noch weh in ihrem Kopf. Was war passiert? Mühsam hielt sie die Augen offen – und blickte direkt in das Gesicht eines jungen Mannes, der vor ihr kniete und ihren Kopf in den Händen hielt. Mary-Ann wollte sich aufsetzten, doch er drückte sie sanft zurück. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch wieder musste sie husten.

»Wo bin ich?«, brachte sie schließlich heraus.

»In meiner Kutsche«, antwortete ihr Gegenüber.

»Wie ...? Wohin ...?«

»Keine Angst, ich bin dabei, Sie nach Hause zu bringen.«

Mary-Ann nickte und hustete. Bevor sie sich bedanken konnte, wurde es wieder dunkel um sie.

»Mary-Ann? Liebes, kannst du mich hören?«

Mary-Ann öffnete verwirrt die Augen. Sie lag in ihrem Bett und ihre Mutter strich ihr mit einem kühlen Tuch über die Stirn. »Wie fühlst du dich?«

Mary-Ann antwortete nichts.

»Du wirst dich jetzt sehr viel ausruhen müssen, in Ordnung? Oh, es tut mir so leid, ich hätte dich nie zur Arbeit gehen lassen dürfen!«

Arbeit! Das rief eine Erinnerung in ihr wach! Sie musste ihre Familie versorgen! Sie durfte ihren Platz nicht verlieren! Sie musste wieder zurück! Der Bäcker war sowieso schon verärgert, weil sie seine Brezeln gegessen hatte.

Mary-Ann setzte sich ruckartig auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie und sie bekam einen Hustenanfall, der sie heftig durchschüttelte.

»Mary-Ann!« Lucy packte sie bei den Schultern. »Sei vernünftig! Du wirst nie wieder dorthin gehen! Dazu bist du im Moment sowieso viel zu schwach!«

Mary-Ann erkannte, dass ihre Mutter recht hatte. Sie würde ihre Krankheit auskurieren müssen. Ein sterbenskrankes Mädchen würde niemand haben wollen. Sie würde warten müssen. Doch wenn sie gesund war, würde sie sich wieder eine Arbeit suchen.

3

William George Auburn stand an dem großen Fenster seiner Suite und blickte in den gepflegten Rosengarten hinaus.

Er war verwirrt. Immer, wenn er in der Stadt gewesen war, war er sehr nachdenklich gewesen. Sah er doch dort, dass es vielen anderen Menschen wesentlich schlechter ging als ihm, seiner Familie und ihrem Bekanntenkreis. Es waren arme Menschen. Menschen, die sich um Essen und ein Dach über dem Kopf Sorgen machen mussten. Menschen, die nicht wie er alles hatten, was sie zum Leben brauchten.

Er wollte nicht wegsehen. Er wollte kein eingebildeter Reicher sein, der auf andere hinabsah und nur froh war, dass es ihm so gut ging. Er wollte helfen, doch selbst wenn er half, schien es nichts an dieser kalten Welt zu ändern.

Heute war er wieder einmal durch die Straßen der Stadt gefahren, von der er nur wenige Kilometer entfernt wohnte.

Abermals kam ihm die Szene vor Augen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ und die ihn so verwirrte und aufwühlte: Ein junges Mädchen – er schätzte sie auf ungefähr fünfzehn – war mit einem riesigen Brotkorb voller Gebäck an eine Hauswand gelehnt dagestanden. Ihr zierlicher Körper war von heftigen Hustenanfällen geschüttelt worden. Der zerschlissene Mantel hatte eindeutig auf die schlechten Verhältnisse hingewiesen, in denen sie sich befinden musste. Sie hatte so unglaublich verloren und hilflos auf ihn gewirkt, dass er einen unwiderstehlichen Drang gefühlt hatte, zu ihr hinzugehen und ihr zu helfen. Er hatte den Kutscher halten lassen, war zu ihr gegangen und dann war sie in Ohnmacht gefallen. Er hatte sie gerade noch auffangen können. Da war sie dann in seinen Armen gelegen. Wie leicht sie gewesen war, viel zu leicht. Und wie erschrocken war er über ihre kalten Hände – und im Gegensatz dazu die glühend heiße Stirn.

Den Bäcker, dem er über die Ohnmacht des Mädchens Bescheid gegeben hatte, hatte das alles völlig kalt gelassen. Er hatte sich nur nach den übrigen Gebäckstücken erkundigt!

Das machte William auch jetzt noch fassungslos. Diese Situation hatte ihm wieder einmal gezeigt, wie gleichgültig und grausam Menschen sein konnten.

Schließlich war er mit dem Mädchen auf dem Arm zu seiner Kutsche gegangen. Was sollte er nur mit dem ohnmächtigen jungen Mädchen anfangen? Wo wohnte sie? Wer war sie überhaupt?

Der Kutscher hatte Rat gewusst. »Das ist die Barnes-Tochter! Weiß schon, wo sie wohnt«, hatte er gemeint.

In der Kutsche hatte William das Mädchen auf die Sitzbank gebettet und sie so gut wie möglich zugedeckt. William wusste noch, wie seine Hände gezittert hatten. Er hatte es sich erlaubt, ihr das dichte blonde Haar aus dem Gesicht zu streichen und hatte wieder und wieder ihren Puls gefühlt.

Aufmerksam hatte er ihr Gesicht beobachtet, ob sie vielleicht aufwachen würde. Ihre Wangen waren von dem Fieber stark gerötet gewesen. Er erinnerte sich genau, wie sie ausgesehen hatte. Sie hatte eine hohe Stirn, ein ebenmäßiges Gesicht, eine gerade Nase und schön geschwungene Lippen.

Dem jungen Mann stieg in der Erinnerung daran vor Verlegenheit, das hübsche Mädchen so genau betrachtet zu haben, die Röte ins Gesicht, obwohl niemand bei ihm im Zimmer war.

Irgendwann hatten ihre Augenlider geflackert und mit weit aufgerissenen Augen hatte sie ihn angestarrt als wäre er ein Monster! Trotz aller Aufregung war er von ihren großen Augen beeindruckt gewesen. Eine Mischung aus Blau und Türkis.

Als sie, zwar mit leiser Stimme und mit starkem Husten dazwischen, gesprochen hatte, war ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Sie war bei klarem Verstand!

Doch dann hatte sie auch schon wieder das Bewusstsein verloren.

Die Mutter war sehr dankbar gewesen, dass er ihre Tochter gebracht hatte. Er hatte das Mädchen in die kleine Wohnung getragen und auf ihr Bett gelegt. Noch nie zuvor hatte er die Wohnung einer verarmten Familie betreten. Nur zwei kleine Zimmer für drei Personen! Wie konnte man in einer solchen Umgebung leben? Scham hatte ihn überkommen, als er sich später in seinem eigenen Zuhause umgeschaut hatte.

Am meisten quälte ihn die Frage, wie es dem Mädchen jetzt wohl gehen mochte. Würde sie sich erholen? Ganz offensichtlich hatte sie eine Lungenentzündung. William vermutete, dass sie wenigstens teilweise zum Überleben der Familie beitrug. Warum sonst hätte sie in diesem Zustand zur Arbeit gehen sollen. Würde die Familie durchkommen? Sollte er ihnen vielleicht ein wenig Brot vorbeibringen? Nein, bestimmt wollten die Leute keine Almosen. Was war mit einem Arzt? Konnte sich die Familie überhaupt Medikamente leisten? Konnte man auch ohne ärztliche Unterstützung eine Lungenentzündung auskurieren? Wohl kaum ... Er musste etwas tun. Aber was?

Unruhig ging William in seinem Zimmer auf und ab. Er wusste ja nicht einmal, wie das Mädchen hieß!

Er blieb stehen und schaute nachdenklich in den schönen gepflegten Garten, der die Villa umgab, und hörte plötzlich eines der Pferde wiehern.

Vielleicht ... vielleicht wusste der Kutscher auch den Vornamen des Mädchens!

Beschwingt, ein Ziel zu haben – wenn auch nur ein kleines –, eilte er aus seinem Wohnbereich und sprang zwei Stufen auf einmal nehmend die breite Treppe im Herrenhaus seines Vaters hinunter.

Plötzlich zerriss eine scharfe Stimme die Stille der Eingangshalle.

»Wo willst du denn so eilig hin?«, fragte sein Großvater Leonhard Auburn neugierig. Der alte graubärtige Mann saß in einem der Ledersessel, die in der Halle standen, und rauchte eine Pfeife. William hatte ihn nicht bemerkt.

»Ich, ... ich wollte noch einen kleinen Ausritt machen!«

»Bei diesem Wetter?« Mit hochgezogener Augenbraue schaute der Großvater seinen einzigen Enkelsohn an, während dieser verzweifelt nach einem guten Grund suchte, weshalb man bei Schneetreiben und Matsch ausreiten sollte.

»Nun, ich dachte, dass sich die Pferde sicherlich trotz schlechten Wetters gerne bewegen und nicht nur im Stall stehen wollen«, meinte er schließlich.

Leonhard Auburn blickte tief in die Augen Williams. Er wollte gerade ansetzen, ihm zu erklären, dass er ihm das nicht abnehmen würde, als der hochgewachsene, fast ein wenig dürre Butler Henry in die Empfangshalle trat. »Sir, Ms Auburn wünscht sie dringend zu sprechen.«

Sofort erhob sich Mr Auburn, denn nichts war ihm lieber als eine kleine Abwechslung in seinem langweiligen Alltag. Er hatte oft nichts zu tun, weshalb er nicht selten seine schlechte Laune an den anderen Bewohnern des Hauses ausließ. Vielleicht hatte seine Enkelin ihm etwas Wichtiges über eine Angestellte zu sagen, die sich nicht richtig benahm? William schien er völlig vergessen zu haben.

Dankbar lächelte William Henry zu, der fröhlich zurückzwinkerte.

Der gute alte Henry, seufzte William erleichtert. Seit er denken konnte, waren der gutmütige Butler und seine Frau Molly, die hier als Haushälterin arbeitete, schon in ihren Diensten. Wie oft hatte er ihm bewusst oder auch ungewollt aus der Patsche geholfen. Henry kannte genauso gut wie William selbst die Tücken und Launen seines Großvaters, die nicht immer berechtigt waren.

Im Stall fand William den Kutscher.

»Satteln Sie mir Bellafontee! Ich will noch einen kurzen Ausritt machen!«

Von wegen wollen, dachte der Neunzehnjährige.

Während der Kutscher den braunen Hengst sattelte, fragte William wie beifällig: »Sagen Sie, wissen Sie zufällig, wie das Mädchen vorhin aus der Stadt hieß?«

»Mary-Ann Barnes. Ist die Tochter von Michael Barnes!«

Mary-Ann also, dachte William, aber wieso erwähnt er ihren Vater? Doch er sagte nur: »Ah ja, sicher! Michael Barnes! Klar!«

Verwundert blickte der Kutscher sich um.

William biss sich auf die Lippe.

»Sie wissen schon, wer das ist, oder?«

»Nun ja, ich, äh ... Nein!«

»Das ist der Mörder von Abraham Howard-Smith.«

Howard-Smith! Sir Howard-Smith, ein ziemlich bekannter und einflussreicher Mann in Tainbridge! Schon manches Mal war er zu Gast bei seinem Vater gewesen.

»Mörder? Ihr Vater hat ihn ermordet?«

»Ja, so erzählen’s die Leute!« Nach einer Pause fügte der Kutscher hinzu: »Waren mal ganz anständige Leute, die Barnes. Die Mutter ist ne Tochter von welchen aus Frankreich. N’ hoher Offizier oder so was. Aber dann, na ja ...«

Bellafontee war nun fertig gesattelt und William nahm die Zügel.

»Danke!«, sagte er immer noch verwirrt und saß auf.

Ungeduldig trabte das kräftige Tier in das Schneegestöber hinaus. William spürte die angespannten Muskeln des Hengstes spielen und ließ ihm schließlich freien Lauf. Bellafontee stob schnaubend über die Felder und wirbelte dabei den Schnee auf, der die Wiesen bedeckte.

William liebte den Winter. Die weiße Schneedecke lag über allem, bedeckte den Boden, bedeckte alles. Die sonst so dunklen Tannen und die Luft waren weiß von den Flocken, die vom Himmel herabfielen, um zu bedecken, was schwarz und schlecht war. Zu Hause konnte man sich zum Aufwärmen vor den Kamin setzen und wurde mit Gebäcken verwöhnt.

Jäh wurde William aus seinen warmen Träumen vom Kaminzimmer in die Wirklichkeit zurückgerufen, als er eine frostige Windböe in seinem Gesicht spürte und von dem fallenden Schnee nass wurde. Er zügelte Bellafontee, um sich den schneidenden Wind wenigstens ein wenig aus dem Gesicht zu nehmen.

Er dachte an Mary-Ann und ihre Familie. Hatte ihr Vater wirklich einen Mord begangen? Das konnte er sich bei diesem zerbrechlichen Mädchen, das er in seinen Armen gehalten hatte, überhaupt nicht vorstellen. Doch wenn es tatsächlich so war? Wieder einmal spürte er in sich den Wunsch, einmal in seinem Leben zu prüfen, was wahr und was falsch, was gelogen und was echt war. Er wollte Menschen, die zu Unrecht beschuldigt wurden oder Opfer waren, helfen. Um der Ungerechtigkeit dieser Welt, soweit er konnte, ein Ende zu bereiten und Verbrecher hinter Gitter zu bringen, wünschte er sich nichts sehnlicher, als Rechtsanwalt zu werden! Er war sich nur noch nicht sicher, ob dies den Vorstellungen seines Vaters und Großvaters entsprach.

Wieder rief William sich das Mädchen in Erinnerung. Mary-Ann, wiederholte er in Gedanken ihren Namen immer wieder. Er passte zu ihr, fand William. Ob es ihr schon besser ging? Himmel noch mal, dachte er plötzlich ärgerlich über sich selbst, sie ist doch nur ein ganz normales Mädchen!

Aber dennoch ließ sie ihm einfach keine Ruhe.

Er würde etwas unternehmen. Wieder versprach sich der junge Mann, irgendetwas zu tun, um sie nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen – auch, wenn ihr Vater ein Mörder sein mochte. Es ging hier um ein krankes Mädchen und er durfte sie nicht für die Taten ihres Vaters verantwortlich machen. Genauso wenig, wie er sich nicht wünschen würde, für die Taten seiner Eltern verantwortlich gemacht zu werden. Jeder sollte für seine eigenen Handlungen die Konsequenzen tragen – und das war genug.

Mit Entschlossenheit wendete er sein Pferd und ritt zurück nach Hause.

Mary-Ann lag nun schon seit einer Woche hustend und mit schwerem Atem im Bett. Wenn sie wach war und nicht im Fieberwahn lag, fragte sie sich oft, wozu sie überhaupt auf dieser Erde war. Vielleicht würde sie die Welt schon bald wieder verlassen. Würde sie sterben, ohne wirklich gelebt zu haben? Würde sie sterben, ohne erkannt zu haben, was ihre Aufgabe im Leben ist und ohne diese zu erfüllen? Doch so sehr sie auch nachdachte, sie fand keine Antwort. Das Einzige, das ihr blieb, war die Hoffnung. Die Hoffnung auf einen Gott, der sich um sie kümmerte. Die Hoffnung auf einen Gott, der auf sie warten würde, wenn sie starb. Die Hoffnung auf jemanden, der sie aus dieser Lage befreien würde. Mit dieser Hoffnung, mit diesem kleinen letzten Licht in ihrem Herzen, sprach sie so manches verzweifelte Gebet.

Lucy bangte um das Leben ihrer Tochter. So gut sie konnte, umsorgte sie Mary-Ann. Sie fütterte sie, half ihr sich zu waschen, sang für sie und vieles mehr.

Geschafft von der vielen Arbeit, die Mary-Ann ihr nun nicht wie sonst erleichtern konnte, setzte sie sich ans Bett und strich Mary-Ann liebevoll über die Hand. Mary-Ann lächelte ihr müde zu.

»Weißt du eigentlich, wer dich hierher gebracht hat?«, fing Lucy ein Gespräch an.

Mary-Ann besann sich. Ja, sie erinnerte sich an den Mann, der sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt und sie dann mit seiner Kutsche mitgenommen hatte.

»Ein junger Mann war’s, so um die zwanzig«, fuhr Lucy fort. »Er war groß und schlank. Hat der dich da einfach so in unsere primitive Wohnung hereingetragen! Einer von den Reichen war er bestimmt. Er kam mit einer Kutsche, Mary, mit einer großen, Kutsche! Und schöne Kleidung hat er getragen, sag ich dir!«

Verwundert schaute Mary-Ann ihre Mutter an. Sie schwärmte ja richtig!

Lucy hatte den Blick ihrer kranken Tochter bemerkt. »Ich meine ja nur! Dachte, du wüsstest vielleicht gerne, wer dein Retter war!«

Ihr Retter? »Nun, ob das eine Rettungsaktion wert war«, sagte Mary-Ann kaum hörbar.

Lucys Augen füllten sich mit Tränen. Sie presste die Lippen aufeinander und drückte die Hände Mary-Anns. Sofort tat es Mary-Ann leid, diese Bemerkung gemacht zu haben.

»Kind! Ich will dich nicht verlieren! Alles können sie mir nehmen, wenn mir nur meine Kinder bleiben!«

Mary-Ann schaute in das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter und beobachtete die Tränen, die ihr über die Wangen rannen. Nichts regte sich in ihr, als wäre ihr Herz aus Stein. Nichts hätte sie lieber getan, als ihre Mutter zu trösten! Aber wie? Ihre Lage war aussichtslos, daran konnte kein Mensch etwas ändern! Sie wünschte sich, auch weinen zu können, doch sie hatte keine Tränen mehr. Mary-Ann lag wie versteinert da und konnte nichts tun. Still flehte sie: Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann rette uns doch!

4

William saß mit seiner Familie an dem großen Marmortisch in der Mitte des Esszimmers des Herrenhauses.

Der Älteste am Tisch, Leonhard Auburn, regte sich gerade über die Unschicklichkeiten des Dienstpersonals auf:

»Ich kann nur sagen: unmöglich! Unerhört, dieses Benehmen! Unerhört!«

»Nun, Vater, wir haben mitbekommen, dass es etwas gibt, das dein Missfallen erregt. Möchtest du uns nicht auch mitteilen, was dich so aus der Fassung bringt«, sagte George L. Auburn, genervt von den ewigen Nörgeleien seines Vaters.

Bevor dieser etwas erwidern konnte, griff Elisabeth Lowery Auburn, Williams Mutter, ein, um einen Streit zwischen den beiden Männern zu verhindern.

»George, da gibt es tatsächlich etwas. Du erinnerst dich an das Dienstmädchen Joanna?«

Ihr Ehemann nickte.

»Sie hat während des Staubwischens die kleine goldene Uhr in meiner Suite auf dem Kamin mitgenommen.«

»Wie bitte? Woher weißt du das?«, fragte Mr Auburn erbost.

»Henry hat behauptet sie dabei gesehen zu haben. Es hat sich bestätigt, als ich Joanna fragte, ob es wahr sei und sie mir daraufhin weinend die Uhr brachte. Die Uhr hatte unter ihrem Kopfkissen versteckt gelegen.«

»Was war ihre Entschuldigung?«

»Sie wäre jeden Morgen zu spät in die Küche zum Frühstück servieren gekommen. Sie dachte, wenn sie eine Uhr hätte, würde das vielleicht nicht mehr passieren«, erwiderte Elisabeth mit einem Seitenblick auf ihren Schwiegervater.

George wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und fragte seine Frau: »Was denkst du?«

Stets war er darauf bedacht, die Meinung seiner Ehefrau einzuholen.

Er sprach oft von ihrer Klugheit und dies war tatsächlich so. Mrs Auburn handelte immer weise und war rücksichtsvoll gegenüber jedermann.

»Ich denke«, sagte sie, ohne sich erst noch eine Meinung bilden zu müssen, »Joanna hat die Wahrheit gesagt.«

»Pah!«, fiel ihr Leonhard ins Wort. »Die ist doch nur auf den Wert der teuren Uhr aus gewesen! Wahrscheinlich hätte sie das kostbare Stück bei ihrem nächsten Einkauf in der Stadt zu Geld gemacht!«

George beachtete ihn nicht weiter und lauschte weiter den Ausführungen seiner Frau.

»Doch trotzdem hätte sie niemals die Uhr ohne Erlaubnis mitnehmen dürfen. Solchem Personal können wir nicht trauen. Wir dürfen nicht noch einmal den Fehler machen wie bei Flora.«

Flora war eine frühere Angestellte gewesen, die dem Hause durch Betrug beträchtlichen Schaden zugefügt hatte.

George nickte. »Wir werden sie entlassen.«

Leonhard schien auf einmal zufrieden mit dem Gesprächsverlauf.

Megan, die einzige Tochter der Auburns, meldete sich zu Wort. »Wir werden eine Neue brauchen. Ella schafft die Arbeit nicht alleine.«

»Wie wär’s mit dir?«, neckte William seine große Schwester.

Megan tat die Bemerkung nur mit einem missbilligenden Stirnrunzeln ab. Sie war die Sprüche ihres kleinen Bruders gewohnt.

George nickte. »Ich werde mich umschauen müssen.«

Während er weitersprach, kam William eine Idee.

Mary-Ann könnte doch als Dienstmädchen bei ihnen arbeiten! Sie würde gut bezahlt werden, müsste nicht in der Kälte stehen und ...! Das wäre einfach genial! Das Problem war, dass Mary-Ann krank und sicher noch nicht in der Lage zum Arbeiten war. Doch wie sollte sie ohne ärztliche Unterstützung wieder gesund werden? Vielleicht könnten sie ihren eigenen Arzt schicken?

William würde mit seiner Mutter reden. Sie würde ihn verstehen und vielleicht guten Rat wissen.

Nach dem Abendessen klopfte er an die Tür, die zu den Räumen der Herrin des Hauses führte.

»Herein!«, ertönte die vertraute Stimme und William trat ein.

Mrs Auburn saß auf einem der Sofas und trank eine Tasse Tee. »William! Setz dich zu mir! Was gibt es?«

»Ich glaube, ich weiß, wen wir als Dienstmädchen einstellen könnten.«

»Du?«, fragte Mrs Auburn langgezogen.

»Ja, ich.« Er holte tief Luft. »Da wäre nur noch ein Problem ...«

»Ach so! Na, das dachte ich mir schon«, schmunzelte sie.

William ließ sich nicht beirren. »Dieses Mädchen hat wahrscheinlich eine Lungenentzündung. Ich fürchte, dass sie kaum gesund werden wird, wenn sie keine ärztliche Hilfe bekommt. Deshalb ...«

»Deshalb möchtest du, dass wir unseren Arzt schicken und sie dann bei uns einstellen?«, fragte die Mutter zweifelnd.

William nickte. Innerlich flehte er zu Gott, sie möge ihm doch seine Bitte erfüllen. Erwartungsvoll blickte er sie an.

Mrs Auburn sah in ihre Teetasse, als gäbe es dort irgendetwas Interessantes zu sehen, und drehte sie in den Händen.

»William? Du wünschst es dir sehr, oder?«, fragte sie dann leise ohne aufzusehen.

»Na ja, ... wenn man schon von einem todkranken Menschen weiß, sollte man ihm auch helfen, meinst du nicht auch?«, wich er ihr aus.

Mrs Auburn nickte. »Ja, ich denke, du hast recht.« Sie blickte lächelnd auf und stellte die Teetasse ab.

William atmete erleichtert auf. »Wirst du mit Vater sprechen?«, fragte er hoffnungsvoll. Das wäre noch das letzte Problem, das zu lösen war. Ihm war von vornherein klar gewesen, dass er seine Mutter schnell auf seiner Seite haben würde, doch bei seinem Vater war er sich da nicht so sicher. Deshalb wollte er diese schwere Aufgabe lieber seiner Mutter überlassen. Von ihr würde sich sein Vater eher überzeugen lassen.

»Das kannst du nun aber wirklich nicht von mir verlangen, William!«

»Aber ... aber ...«

»Ich werde natürlich meine Meinung nicht für mich behalten, da kannst du sicher sein. Doch fragen musst du ihn schon selbst! Schließlich ist es ja deine Idee.«

William nickte resigniert. Vielleicht sollte er sich die ganze Sache doch noch einmal überlegen?

»Aber jetzt erzähl mal! Woher weißt du von ihr? Und weshalb ist sie so geeignet? Wie heißt sie überhaupt?«

William erzählte seiner Mutter was sich zugetragen hatte. Während er das tat, wurde ihm klar, dass er auf keinen Fall aufgeben durfte.

»Sie ist sogar mit einer schlimmen Krankheit zur Arbeit gegangen und das will doch was heißen«, schloss er.

Mrs Auburn erwiderte nichts darauf. Sie würde sich ihr eigenes Bild von dem Mädchen machen müssen. Schönheit soll ja blenden, dachte sie bei sich.

William stand vor dem Zimmer seines Vaters und biss auf seiner Unterlippe herum. Wie sollte er das Gespräch mit seinem Vater nur anfangen? Wie sollte er ihn davon überzeugen, dass Mary-Ann ein tüchtiges Mädchen war? Er fuhr sich übers Gesicht und hielt die Hand an die Tür. Sollte er klopfen? Aber was sollte er sagen? Er atmete tief durch und lockerte seinen Hemdkragen. Er setzte wieder zum Klopfen an, da öffnete sich plötzlich die Tür und der in Gedanken versunkene George rempelte gegen William.

»Oh, Vater, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken! Ich wollte gerade anklopfen ...«

»Was gibt’s?«, fragte George verärgert.

»Ich wollte mit dir wegen der fehlenden Hilfskraft sprechen.«

Verwundert schaute George ihn an. »Welche ...? Ach so. Hm. Setz dich schon mal in den Herrensalon, ich komme sofort. Muss nur noch schnell etwas erledigen!«

Und weg war er.

William seufzte. Ausgerechnet in den Herrensalon! Da konnte seine Mutter ihm nicht zu Hilfe kommen!

Er ging zu dem Salon, in dem sie sich treffen wollten, und setzte sich. Sein Vater musste den Butler schon informiert haben, dass er sich im Salon eine Kaffeepause gönnen wollte, denn Henry stand schon im Zimmer. Das Kaminfeuer knisterte leise und der Kaffee stand bereits auf dem Tisch. Gedankenversunken stand William da.

»Wünschen Sie auch eine Tasse Kaffee, Mr Auburn?«, fragte Henry.

»Wie?«, stotterte William.

»Eine Tasse Kaffee?«

»Ja, bitte.«

William setzte sich. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich endlich die Tür öffnete und George hereinkam. William hatte es nicht anders erwartet. Nichts war George wichtiger als seine Arbeit und er nahm sich immer sehr viel Zeit dafür.

Ächzend setzte sich der Hausherr neben William und nahm die Tasse entgegen, die Henry ihm entgegenhielt.

»Danke, Henry. Sie können jetzt gehen!«

George nahm einen Schluck von seinem Kaffee und seufzte zufrieden. »Also, Sohn, nun erzähl mal! Wer ist dieses Mädchen?«

»Na ja, sie ist sehr tüchtig und ich glaube, sie würde glänzend zu uns passen. Sie ... sie heißt Mary-Ann Barnes und ...«

»Barnes? Barnes ... irgendwoher kenne ich diesen Namen!«

»Ja, Vater, du kennst vielleicht die Geschichte um Michael Barnes. Aber seine Tochter wohl kaum.«

Stirnrunzelnd blickte George seinen Sohn an. »Aha«, sagte er dann langsam. »Jetzt erinnere ich mich! Das ist dieser Mörder! Der, der den Howard-Smith-Jungen umgebracht hat, nicht wahr?«

William nickte.

»Und seine Tochter willst du in unser Haus holen? William, das kann doch nicht dein Ernst sein«, brauste er auf.

William begann zu schwitzen. Wenn er ihn doch nur überzeugen könnte!

»Nun, du selbst hast mir beigebracht, dass man jeden Menschen ausschließlich für seine eigenen Taten verantwortlich machen soll.« William war erstaunt, wie ruhig seine Stimme klang.

George rieb seinen Bart zwischen den Fingern und schaute seinen Sohn mit zusammengekniffenen Augen an. Das war ein Argument.

»Außerdem ist sie todkrank!«

»Und da sagst du außerdem?«

»Du kannst doch ein junges Mädchen nicht einfach so sterben lassen! Noch dazu, wenn sie genau die Richtige für uns wäre!«

»Und wer garantiert mir das?«

»Du könntest deinem Sohn glauben. Und unseren Doktor schicken, damit sie wieder gesund wird.«

»Ha! Dass ich nicht lache! Unseren Doktor willst du schicken? Zu einem dahergelaufenen Mädchen?«

»Sie ist kein dahergelaufenes Mädchen«, hielt William verzweifelt dagegen.

»Ach nein?«

William schüttelte den Kopf. »Bitte, Vater.«

Der Angesprochene seufzte. »Du willst also tatsächlich, dass wir unseren Arzt zu der Tochter eines Mörders schicken, damit sie wieder gesund wird und für uns arbeiten kann?«

»Ihre Mutter ist dieTochter von einem hohen Offizier aus Frankreich. Nur weil der Vater einen Fehler ...«

»Einen Fehler? Ich würde sagen ein Verbrechen!«

»Ich gebe zu, einen sehr großen Fehler. Aber nur weil er einen sehr großen Fehler begangen hat, darf man nicht die ganze Familie verachten. Wenn sie stirbt, ist niemand mehr da, der die Familie versorgen kann. Soweit ich weiß, reicht das Einkommen der Mutter nicht aus. Außerdem hat sie noch einen kleinen Bruder, der wäre dann auch nicht versorgt!«

Still hatte George zugehört. Er war auch immer sehr für Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft gewesen. Aber die Tochter eines Mörders? Es wollte ihn innerlich fast zerreißen. Er blickte in die Augen seines Sohnes, die ihn flehend ansahen. Seufzend rieb er sich seine Stirn.

»Es schadet uns doch nichts, wenn wir den Doktor schicken«, sagte William gerade.

»Woher kennst du sie überhaupt?«

»Na ja, ich ... ich fuhr gerade in der Kutsche vorbei und da stand sie an einer Straßenecke, sterbenskrank und, na ja, dann ist sie in Ohnmacht gefallen und ich habe sie nach Hause gebracht«, stotterte William verlegen.

George lehnte sich zurück. Ach so war das also!

Vielleicht hatte sein Sohn ja wirklich recht. Schließlich schadete es ihnen ja nicht, wenn sie den Hausarzt schicken würden.

»Hast du deine Mutter schon informiert?«

»Ich habe ihr die Sache ans Herz gelegt.«

»Und was meinte sie?«

»Sie ist einverstanden.«

George nickte. »Nun gut, Sohn. Wenn du unbedingt willst, schick den Arzt! Aber lass mich dann in Frieden mit der Geschichte. Wenn sie gesund werden sollte, können wir weiterreden.«