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Auch in der Tierwelt geht es zuweilen menschlich zu. Sei es in der Liebe, im Umgang mit den Fremden oder an Hundstagen zwischen Freund und Feind. Manchmal hilft es, dem Alten ein Ohr zu schenken, uns den Spiegel vorzuhalten - mit neun Ansichten.
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Seitenzahl: 89
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Auszug aus »Oma Marthas Märchenbuch« und »Der Bläuling und die Wasserjungfer« bebildert von Helga Sadowski. BoD 2016
Der alte Kauz und die vergessenen Ostereier
Wiktor und die Waldmäuse
Der Bläuling und die Wasserjungfer
Hinter der Maske eine Fabel
Die sieben Todsünden (ausnahmsweise menschlich)
Hundstage
Der alte Kauz und der kleine Spatz
Der Kolibri eine Fabel
Der Holzknecht (ausnahmsweise menschlich)
Es wollte endlich Frühling werden! Viel zu lang hatte Väterchen Frost die Natur in eisigen Fängen gehalten. Jetzt beeilten sich alle Pflanzen mit Wachsen. Überall grünte und blühte es nach Kräften und auch die Tiere waren nicht untätig.
Die Vögel feierten unter lautstarkem Trällern Hochzeit und bauten ihre Nester in die noch blassgrünen Wipfel der Bäume. Eine Armee bunter Schmetterlinge und Bienen ließ sich keine Zeit, den grünen Wiesen ein buntes Kleid zu geben. Überall war geschäftiges Treiben. Stopp! Nicht überall. Da oben in der lichten Krone einer knorrigen Eiche saß ein alter Kauz, still und unbeweglich, als ob er schliefe. Alle nannten ihn mal ehrfürchtig Professor, weil er unendlich viel zu wissen schien, mal den Alten. Ihm war das egal. Er hatte nach all der Zeit seinen wahren Namen vergessen.
Tatsächlich aber schlief er nicht. Er blinzelte unter buschigen weißen Augenbrauen in die Sonne. Dabei betrachtete er aufmerksam das Treiben um sich.
Ab und an schwankte sein betagtes Haupt. Er hob nachdenklich die dichten Augenbrauen. Ob das alles richtig war, was da unten zu seinen Füßen passierte? Dass ja alles pünktlich fertig würde.
Es sollte jetzt endlich Frühling werden!
Er kannte die sonderbare Sitte der großen Menschen, bunt bemalte Eier in den Wiesen zu verstecken, die dann kleine Menschen in kurzen Röckchen und Hosen mit freudig geröteten Wangen wieder einsammelten. So erfahren der alte Kauz war, er hatte nie begriffen, warum sie das machten. Es kann mir egal sein! Er schloss müde die Augen. Ein kleines Nickerchen wäre jetzt richtig. Bald würde er nicht mehr dazu kommen; am Abend zuvor waren wieder Eier im Gras und unter den Sträuchern versteckt worden. Und am folgenden Tag kamen Mädchen und Buben, laut rufend und lachend. Da war es mit seiner Ruhe vorbei!
Mit stoischer Gelassenheit ertrug er das Geschrei, das sogar das Zwitschern der Vögel übertönte. Mit wachsamen Augen verfolgte er ihre eigenartig anmutende Suche nach den bunten Eiern, das Lachen und Rufen, mit dem jeder Fund in einem Körbchen verschwand. Doch er wusste, nicht jedes Ei fand seinen Weg in die Körbe, ein paar blieben meist unbemerkt im Gras oder unter Büschen zurück. Daran wollte er sich gütlich tun, wenn erst wieder Ruhe eingekehrt war. Wäre es nur schon so weit, sein Magen knurrte.
Später am Nachmittag, als der Abend dämmerte, schaute er auf die friedliche Wiese hinab. Die Kinder waren fort und alles war idyllisch, wie es nur sein konnte. Das Zwitschern der Vögel verging, und die bunten Falter und die Bienen flogen heim. Nur sein Hunger war in den vergangenen Stunden nicht kleiner geworden. Da bemerkte er eine ungewohnte Bewegung im Gras, die ihn still auf seinem Ast hocken ließ. Er sah zwei Eier scheinbar zielstrebig aufeinander zurollen! Das eine Ei war zitronengelb und das andere blaurot gesprenkelt.
Fasziniert beobachtete er die beiden, die sich unaufhaltsam näherkamen. Das konnte nicht sein! So etwas hatte er in all den langen Jahren seines Lebens nicht gesehen! Plötzlich hörte er es knacken. Was war denn das jetzt?! Alles hatte er erwartet, doch hier war er mit seiner Weisheit am Ende!
Aus den Eierschalen schlüpften zwei zitronengelbe Küken, fix und fertig gekleidet für die Hochzeit. Sie hatte ein winziges weißes Brautkleid an und er trug einen schwarzen Frack mit Zylinder über seinem Gefieder.
Als sie sich aufgerappelt hatten, begannen sie miteinander zu tanzen. Die langen Grashalme störten zwar bei jedem Schritt, doch die beiden schritten unbeirrt weiter nach einer Melodie, die nur sie vernahmen. Im Dämmerschein der untergehenden Sonne verschwand das Paar trippelnd und sich drehend in den Weiten der Wiese. Er verlor die beiden aus den Augen.
Dieses Jahr werde ich erstmals leer ausgehen, dachte er enttäuscht, während er sich hoch in die Luft hob. Er musste die Gegend nach einem anderen Ei absuchen, das ihm als Mahlzeit reichen konnte. Doch nirgends fand er eines.
Während er sich auf die lästige Suche nach einem Nachtmahl begab, wünschte er ihnen im Stillen eine schöne Hochzeit, ein langes Leben und viele kleine Küken.
Wenngleich er seinen Namen und vieles andere vergessen hatte, diesen Tag würde er so schnell nicht vergessen. Den Tag, an dem er kein buntes Ei abbekommen hatte, weil die beiden letzten sich gesucht und gefunden hatten.
»Ich kann froh sein, dass der Tod mich nicht ereilt hat«, brummelte der alte Bär Wiktor verschnupft vor sich hin und knotete seinen roten Schal fester um den Hals. Seine knielange Hose aus grauem Filz wäre ihm ohne Hosenträger von den Hüften gerutscht, denn er hatte sich in der Winterruhe auf dem nasskalten Höhlenboden eine Grippe zugezogen und viel Gewicht verloren. Doch jetzt war er auf dem Weg der Besserung.
Nur wenige Wolken zogen am blassblauen Himmel. Die Sonne wärmte schon ein wenig. Er folgte dem holperigen Weg vorbei an hellgrünen Wiesen und brachliegenden Feldern. Es sollte endlich Frühling werden. Erste Insekten labten sich an Blüten und die Luft hallte von den Brautrufen der gefiederten Freier.
»Der Winter ist Geschichte«, riefen die fleißigen Bienen.
Wenig später führte sein Weg durch einen zart grün schimmernden Wald. Zirp, zirp, und dort ein einzelnes Pieppiep, Tocktock! Es war, als riefen sie: Wiktor, Wiktor. Er erinnerte sich schmunzelnd daran, wie seine Eltern über den Meldebeamten gelästert hatten. Der blinde, alte Esel, wie sein Vater immer betonte, hatte sich verschrieben, als er den Namen ins Register eintrug. Seither hieß er Wiktor statt Viktor. Seine Mutter hatte es als gutes Omen gesehen. Ein besonderer Bär brauche eben einen originellen Namen, hatte sie gesagt, und er sei schließlich speziell – für sie.
»He, Alter, was treibt dich hier in den Wald?«, kam es plötzlich abschätzig an sein Ohr. Das hatte er gar nicht gern! Solch ein Benehmen war er nicht gewohnt. Wiktors Nackenhaare stellten sich auf. Seine kleinen Augen suchten die Gegend ab, doch er konnte den Urheber dieser ungehörigen Anrede nicht ausmachen.
»Das sieht nicht gut für dich aus«, stellte die Stimme fest. »Dein stumpfes Fell schlottert um die Gebeine. Das Geklapper ist durch den gan-zen Wald zu hören.«
»Was soll das? Wie sprichst du mit mir? Zeig dich, du Lausebengel!«, rief Wiktor zurück. Er würde dem Knirps schon eine Lektion erteilen, wenn er ihn nur endlich ausmachte. Denn er war sich sicher, es nicht mit einem großen Waldbewohner zu tun zu haben. Da entdeckte er eine kleine Maus mit ungewöhnlich großen Ohren, bekleidet mit einer blauen Latzhose, gradewegs vor ihm auf dem Weg.
»Hallo, alter Bär, ich bin Felix, eine Waldmaus. Hast du auch einen Namen?«
»Na, du machst mir Spaß! Ganz schön frech für dein Alter. Haben dich deine Eltern keine Manieren gelehrt? So spricht man nicht mit Älteren«, fügte der Bär hinzu und bückte sich umständlich hinunter. »Ich heiße Wiktor, mit W.«
»Aha, also Wiktor. Du bist ja nur ein Schatten deiner selbst. Bist du etwa krank?« Felix rümpfte die spitze Nase und flitzte geradewegs ins Unterholz zurück. »So wie es aussieht, sollte ich besser Abstand halten …«
»Bleib doch.« Wiktors Unmut war schneller verflogen, als er aufgekommen war. Irgendwie fand er die Maus putzig. Er ließ sich auf einem Baumstumpf nieder.
Die kleine Wanderung hatte ihn ermüdet. »Ich war lange krank, doch jetzt geht es mir schon viel besser. Was machst du hier im Wald? Ich dachte, Mäuse leben auf Feldern und Wiesen.«
Felix trat vorsichtig wieder auf den Waldweg. »Ich bin ja auch eine Waldmaus. Da draußen leben nur die Feldmäuse«, fügte er verächtlich hinzu.
»Ach, dann ist ja alles klar.« Eine steile Falte zeigte sich auf Wiktors Stirn. »Dir steht es nicht zu, so über deine Vettern zu reden. Das macht man nicht.«
Felix überhörte die Belehrung. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie soll ich dir das erklären?«, gab er naseweis zurück. »Die ersten Mäuse lebten wie wir im Wald. Doch irgendwann reichte der Platz nicht mehr für alle aus. Da haben meine Ururahnen eine Art Wettbewerb ausgerichtet. Die Verlierer mussten aufs Feld hinausziehen. Und ich gehöre halt zu den Siegern.« Felix schlug sich mit einem breiten Grinsen auf die Brust. Dann machte er noch einen Purzelbaum. »Der Wald gehört uns. Was da draußen geschieht, ficht uns nicht an.«
»Weil du hier geboren bist, oder wie?« Wiktor wusst nicht, ob er lachen oder schimpfen sollte. Der Kleine ist ganz schön keck, meinte er zu sich. Wie kann man nur glauben, etwas Besseres als andere zu sein. Nur weil man wo geboren ist. Das ist doch Zufall! Vielleicht kann ich ihm eine Lehre erteilen, so ganz nebenbei, überlegte Wiktor. Ihm würde sicher noch was einfallen.
»Na, komm, Kleiner. So breche ich mir nur das Kreuz.« Er hielt Felix die Pranke hin. Die Maus kletterte flink darauf und saß sodann auf seinem Schenkel.
»Was redest du für einen Unsinn. Niemand ist besser, nur seiner Herkunft wegen, und niemand schlechter.« Das hatten ihm seine Eltern beigebracht, und die hatten es von ihren Eltern. »Niemand ist mehr als der andere.«
Wiktor flößte Felix aufgrund seiner Größe gehörigen Respekt ein, aber irgendwas begehrte in ihm auf, er hatte es nicht gern, zurechtgewiesen zu werden. Schließlich war er doch eine Waldmaus. »Wir sind halt etwas Besseres. Feldmäuse haben einen eher speziellen Intellekt.«
»Was ist das für ein Unsinn, du Wicht!« Wiktor wiegte verärgert sein Haupt. »Hochmut kommt vor dem Fall, hat schon mein Großvater gesagt.«
»Meine Eltern kriegen immer mal was Leckeres vom Feld. Gebratenen Mais, zum Beispiel. Hm! Aber sonst?«
»Ach, das nehmt ihr selbstverständlich«, meinte Wiktor nachdenklich. »Allerdings würde ich den jetzt auch nehmen oder irgendwas anderes. Ich habe lange nichts Anständiges mehr gehabt.«
Felix sah wieder etwas freundlicher zu Wiktor auf. »Magst du Honig? Ganz frisch und zuckersüß.«
Ihm lief allein bei dem Gedanken das Wasser im Maul zusammen. »Dein Jahresvorrat wird nur ein Häppchen für mich sein. Wie glaubst du, dass ich satt werden soll, Felix?«
»Ich kann dich doch nicht verhungern lassen!« Die Maus stemmte die winzigen Ärmchen in die Seite.
»Na dann, Felix, nehme ich deine Einladung an. Wo darf ich dich mit hinnehmen?«
»Lass mich bloß nicht fallen.« Felix setzte sich auf das bequeme Daumenpolster und wies in den Wald hinein. »Da geht es lang, alter Bär.«