Die Glückseligkeit des Himmels - Katharina Kraemer - E-Book

Die Glückseligkeit des Himmels E-Book

Katharina Kraemer

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Beschreibung

Ein ganzes Dutzend Kurzgeschichten aus dem Leben, denen der Tod und auch die Sehnsucht nach beidem nicht fremd sind. Eine Enkelin als einsame Retterin in der Not, eine Selbstmörderin trifft auf ihren Widersacher. Der Leser begleitet vier Engel mit Leintuch bei der Arbeit und noch Vieles mehr. Findet sich himmlische Glückseligkeit da, wo man sie am wenigsten vermutet, oder doch auf Erden? Ein Buch mit nachdenklich stimmenden, so doch humorvollen Geschichten für jeden Stundenschlag.

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Ein ganzes Dutzend Kurzgeschichten aus dem Leben, denen der Tod und auch die Sehnsucht nach beidem nicht fremd sind.

Eine Enkelin als einsame Retterin in der Not, eine Selbstmörderin trifft ihren Widersacher. Der Leser begleitet vier Engel mit Leintuch bei der Arbeit … und noch Vieles mehr. Findet sich himmlische Glückseligkeit da, wo man sie am wenigsten vermutet, oder doch auf Erden?

Ein Buch mit nachdenklich stimmenden, so doch humorvollen Geschichten für jeden Stundenschlag.

Katharina Kraemer

Geboren 1964, aufgewachsen am Niederrhein, lebt die Autorin mit ihrer Lebenspartnerin und zwei Hunden heute im Süden Ungarns.

Eine Vielzahl an Geschichten ist entstanden, mal nachdenklich, mal humorvoll.

Inzwischen sind vier Bücher erschienen, darunter zwei Kinderbücher – Oma Marthas Märchenbuch und Der Bläuling und die Wasserjungfer (Tiergeschichten) – sowie der autobiografischer Roman "Cabo da Roca - Fels der Entscheidung" und eine gute Handvoll Kurzgeschichten aus ihrer »neuen Heimat« Ungarn.

Geschichten aus dem Leben

Das Kleeblatt

Der Admiral und die Lady

Johann

Herbstzeitlose

Der Schrei

Der Ruf der Eule

Das Debüt

Die Glückseligkeit des Himmels

Die Erde steht still

Das Klassentreffen

Vier Engel mit Leintuch

Wo das Land endet und das Meer beginnt

Das Kleeblatt

Noch saß Einauge allein vor dem weißen Blatt Papier. Er wartete wie jeden Sonntag auf seine Mitstreiter: Papierflieger, Rotstift und Adlerauge. Papierflieger war stets redselig, aus Rotstift sprudelten geradezu tausend Ideen auf einmal und Adlerauge pickte immer die Krümel vom Tisch, die sie fallenließen, auf dass alles sauber blieb. Als Kleeblatt-Stammtisch waren sie nach allen Seiten berühmt und manchmal auch berüchtigt.

Als sich die Tür öffnete, sah Einauge erwartungsvoll auf, doch fremde Augen waren es, die fast mitleidig zu ihm sahen. Dann setzten sie sich an einen Tisch, manche mit einem guten Buch in der Hand, andere diskutierten erregt mit den Nachbarn über Gelesenes. Ihm blieb das verwehrt. Ungeduldig trommelten seine Finger wie auf einer Schreibmaschine auf der Tischplatte herum – tock, tock, tocktock ... Und immer wieder glaubte er, dass die anderen ebenso abwartend zu ihm sahen. Ohne seine Freunde war der Stammtisch einfach fad! Unser Held begann sich zu langweilen. Da ihm nichts anderes übrig blieb, schielte er neugierig auf die Lektüre seiner Nachbarn. Da ein Krimi, dort ein Liebesroman. Ein Anderer hielt ein Buch mit spannendem Cover in der Hand. Jener dort hinten im Eck las sicher etwas Geheimnisvolles; er hielt sein Buch unter dem Tisch versteckt. Und wieder andere setzten sich um einen Tisch und redeten mit wilden Händen, mancher winkte gelangweilt ab. Nur unser tragischer Held tat nichts von alledem. Er stierte auf das weiße Blatt vor sich.

Wenn seine Freunde nicht bald kämen, würde es leer bleiben. Er erinnerte sich an frühere Stammtische, an denen er mit ihnen angeregt um jedes Wort gefeilscht hatte. Das waren noch Zeiten gewesen! Papierflieger zauberte auf jedes Blatt kleine Kunstwerke, die Rotstift noch eigenwillig verzierte, ehe Adlerauge das Werk unter die Lupe nahm und alles herausfischte, was ihm mundete. Manchmal blieb ihm viel, ein anderes Mal weniger. Aber alle blickten am Ende zufrieden in die Runde. Dann traf ihr Blick erwartungsvoll auf den Freund.

»Was sagst du dazu? Magst du es haben?« Er überflog die Seiten, nickte und ließ sich nicht lumpen. »Diese Runde geht auf mich, Wirt!«

Gegen Abend, wenn sich die Terrasse leerte, die Nachbartische verwaisten, verließen auch die Stammtischler den heimeligen Ort, auf den Gesichtern Zufriedenheit und ein feines Lächeln.

Er erinnerte sich aber auch der letzten gemeinsamen Stunden. Er hätte es voraussehen müssen.

»Das hat ja so kommen müssen!«, raunte es vom Nachbartisch. Er sah auf und blickte in ein mitleidig lächelndes Augenpaar.

»Was habe ich damit zu schaffen?«

»Nichts, mein Freund, nichts«, kam es nachdenklich zurück. Die Nase senkte sich kopfschüttelnd zwischen die Seiten.

Inzwischen verließ mancher Gast die Gaststube, nicht ohne zum Abschied auf fast jeden Tisch zu trommeln, an dem noch jemand saß. An seinem Tisch kam keiner vorbei. Er blickte ihnen gedankenverloren nach.

Papierflieger, Rotstift und Adlerauge werden sicher nicht mehr kommen, dachte unser Freund wehmütig und knüllte das jungfräulich gebliebene Blatt zu einer festen Kugel. Er ließ sie in die Hosentasche gleiten, in der schon eine Handvoll Platz gefunden hatten. Da merkte unser Freund plötzlich auf. Stimmen kamen vom Nebentisch. Getuschel drang an seine Ohren. Eindeutig. Er wandte den Kopf. Doch, da saß niemand! Jetzt rief jemand empört: »Ich suche mir eben selber einen Verlag! Basta!«

Verwirrt rieb Einauge sich das Auge.

Das konnte nicht wahr sein! Denn einzig ein Stapel Papier lag auf der Bank. Unser Freund stutzte.

»Jawohl. Das mache ich!« Der Stapel raschelte erregt. »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

Unser Freund grinste belustigt. »Was soll denn das werden?«

Das oberste Blatt sah mit böser Miene zu ihm hoch. »Ach, du bist ja noch schlimmer! Lass mich bloß in Ruhe!«

»Ich will dir ja nichts, aber … Wenn du so plärrst, dass alle Welt es hört, wird man halt neugierig. Was ist denn passiert?«

»Ich weiß nicht, ob dich das interessiert. Angehen tut es dich sicher nichts.« Das Blatt stellte sich halb auf. »Aber, da du der Einzige bist, der mit mir spricht ... Nicht einmal die Verfasserin dieser Seiten interessiert sich mehr für uns.« Das Blatt wies mit einem Eselsohr auf seine Kollegen. »Nur, weil sie nicht genug Mut hat, liegen wir achtlos als vergessener Stapel in dieser Spelunke herum.«

»Wer sei Ihr denn?«

»Ich bin eine mehr oder weniger lose Sammlung von Geschichten. Eines von vielen Skripten, wenn dir das was sagt.«

Der Stapel beruhigte sich. »Wenn das so weitergeht, habe ich bald nicht nur diese blöden Eselsohren, sondern auch noch graue Haare – wie du. Wenn wir nur endlich einen schönen Platz fänden! Vielleicht sogar noch schön gebunden. Aber so«, der Stapel raschelte heftig, »so ist es nicht schön!«

»Das ist doch nur äußerlich, Freunde. Mir reicht es, wenn ich ein paar Blätter in der Hand rascheln höre.« Er strich tröstend ein Eselsohr glatt. »Darf ich?«

»Wie gern!«

Einauge nahm den Stapel und blätterte flüchtig durch. »Was haben wir denn da?«

»Das kitzelt!«

»Ich bin vorsichtig.«

Auf der ersten Seite war etwas handschriftlich vermerkt. »Wahrscheinlich von der Autorin«, murmelte er skeptisch. Durfte er das überhaupt lesen? Ach, das hat dich doch noch nie gestört. Er nahm die Augenklappe ab. Mit zwei Augen las er lieber.

»Du glaubst, ich habe nicht genug getan, dass du hier – wie du so schön sagst – nutzlos herumliegst. Das ist aber nicht wahr.«

Einauge hob verwundert die Brauen. Sollte das etwa an jemand Bestimmten gerichtet sein? Aber an wen? Vielleicht kam er der Antwort näher. Er las weiter.

»Wenn es nach den Leuten da draußen ginge, wärest du längst im Schredder gelandet, oder schlimmer noch: im Haifischbecken der Bezahl-Verlage. Also sei dankbar, dass ich dich nicht verscherbelt habe. So viele Skripte möchten Bücher werden, sie alle hecheln ihren Träumen hinterher, oder glauben sich am Ziel, wenn sie über einen Dienstleister einen handfesten Beleg im eigenen Regal stehen haben. Sie kriegen Stielaugen, wenn sie ihre Position betrachten, als wäre sie ihr Herzton. Sei es drum, Freunde! Ich lasse euch hier liegen, vielleicht kommt jemand vorbei, der euch zu schätzen weiß. Ich kann nicht anders. Lebt wohl.«

Einauge kamen fast die Tränen. Er bekam sogar ein klein wenig ein schlechtes Gewissen. Bislang hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, wie Bücher entstanden. Er wollte sie nur lesen. Viele Male hatte er in Buchläden gestöbert und manchmal auch ein Buch gefunden, dass ihn interessierte. In der letzten Zeit allerdings war er dort nicht mehr gewesen.

»Bücher sind einfach zu teuer geworden. Das kann ich mir nicht mehr leisten«, hatte er Kopf schüttelnd festgestellt.

Dass er dennoch etwas zu lesen hatte, lag an Papierflieger und seinen Freunden vom Stammtisch. Sie versorgten ihn mit Lesestoff, denn auf sein Urteil waren sie gespannt. Er brauchte nur warten, bis die neue Geschichte fertig war.

Papierfliegers Geschichten hatte er immer gern gelesen, und sein Lob ließ das Gesicht des Schreiberlings strahlen. Nur Rotstift und Adlerauge hatten manchmal komisch geguckt. War es doch auch ihr Werk. Ohne ihre Unterstützung waren sie nur halb so schön.

Als es dunkelte, begann der Wirt die Tische abzuräumen und die Stühle hochzustellen. »Feierabend, mein Freund. Ich möchte kassieren.«

»Aber ich habe doch gar nichts konsumiert!«, empörte sich unser Freund.

»Nun, mein Lieber, du musst verstehen, ich hätte diesen Tisch gerne besetzt, ich musste sogar Kundschaft heimschicken, weil ich keinen Platz frei hatte. Und deine Freunde …«, der Wirt wies stirnrunzelnd auf die leere Bank, »mir entging was. Und das zahlst du mir, das verstehst du doch, oder?«

»Wie käme ich dazu?«, empörte er sich und rückte die Lesebrille zurecht. »Was kann ich dafür, dass sie nicht gekommen sind? So sind dir aber auch keine weiteren Kosten entstanden, Wirt. Ich habe selbst noch eine Rechnung mit ihnen offen.«

Er erhob sich und ließ mit einem verächtlichen Seufzer ein paar Münzen auf den Tisch kullern.

»Da, mehr ist mir dieser Tag nicht wert.«

»Wenn du es sagst, mein Freund.« Der Unterton in der Stimme verhieß nichts Gutes. Der Wirt begleitete seinen Gast zur Tür und sah ihm wortlos nach.

Das Holzbein machte weithin hörbar tocktock, während Einauge mit gesenktem Kopf durch die verlassenen Straßen heimging. In der Hand raschelten seine neuen Freunde.

Der Admiral und die Lady

Es war einmal …

So fangen Märchen an, sinnierte Admiral König. Er saß auf dem Balkon seines Appartements in der altehrwürdigen Seniorenresidenz und hing den Gedanken nach. Er wartete auf Magda. Sie saßen am selben Tisch und verbrachten so manch vergnügliche Stunde zusammen. Sie rührte sein Männerherz. Ja, wenn er noch viel jünger wäre!

»Du siehst toll aus, Herr Admiral Henning König«, lachte sie oft, und ihr wirrer weißer Lockenkopf hüpfte auf den Schultern umher.

»Du hast dich aber auch hübsch zurechtgemacht. Das freut meine Augen, auch wenn sie nicht mehr so genau hinsehen können.«

Vor seinem geistigen Auge erstand ein wenig schmeichelhaftes Bild: Magda in Unterrock und Bettsocken. Das wäre ein Bild für die Götter! Ein Lächeln zierte das sonnengegerbte Gesicht mit dem weißen Vollbart. Die Orden an der Galauniform, die er nur sonntags trug, blitzten in der Vormittagssonne wie seine meerblauen Augen.

Es gefiel ihm hier. Der Charme der guten, alten Zeit wehte durch das Entree. Eine weite Treppe führte zur Galerie hinauf. Aus den Gesellschaftsräumen drang heiteres Gelächter, wenn sie beim Kartenspiel saßen oder sich Geschichten erzählten. Aus der Bibliothek oder dem angrenzenden Salon waberte der feine Duft einer Havanna oder einer mit edlem Tabak gefüllten Pfeife. Die höfisch anmutende Stimmung passte zu den Teppichen auf dem Marmorboden. Das Personal huschte Schatten gleich über die Flure. Das Anwesen mit dem hohen schmiedeeisernen Tor ließ nur selten einen Blick hinter die Mauern zu. Wenn zu einem Ball oder sonstigen Festlichkeit eingeladen war, betraten Gäste in festlicher Robe die Eingangshalle. Dann sah man Herren in Uniformen oder im glänzenden Smoking. Die Damen trugen Abendkleider und Schmuck, der für gewöhnlich in seinen Schatullen wartete. Admiral König hatte in den vergangenen Monaten gerne diese Bälle besucht. Er verfolgte dann auf den Gehstock gestützt in einem der Clubsessel mit auf und ab schwingenden Füßen die Walzer. Als junger Offizier hatte er so manchen Abend auf dem Parkett verbracht.

»Alter Kaffee!«, schmunzelte er, obwohl er noch immer eine gute Figur abgab. Das zumindest behauptete eifrig die holde Weiblichkeit, wenn er mit seinem Gehstock auftauchte. Das schmeichelte seinem Ego. Er genoss auch die neidvollen Blicke der Herren. Sie bildeten seine Bühne – wie in alten Zeiten. Er liebte die Rolle, die sie ihm zudachten. Auf manche Erfahrungen hätte er gern verzichtet, andere hatte er aber gern gemacht. Beide fesselten jetzt als markante Züge sein Gegenüber. Mit Fleiß und einer Portion Glück hatte er es zum Kapitän eines Kreuzfahrers gebracht. Das waren wilde Zeiten gewesen, abenteuerlich und auch ein wenig romantisch. Verheiratet war er nie gewesen, was ihn inzwischen wehmütig stimmte. »In meinem Alter findet der Sturm vielleicht im Wasserglas oder in nostalgisch anmutenden Träumen statt.«

Die Sonne kitzelte ihm die Augen. Er schloss die Lider und atmete den süßen Duft, den Magda stets ausströmte. Ihm war, als ob sie ihn rief. »Gut so. Gehen wir?« Er nahm den Gehstock in die Rechte und hakte sie galant ein. Sie verließen die Seniorenresidenz für einen Spaziergang durch den angrenzenden Stadtpark. Die bunten Kieselsteine knirschten unter den Schuhen. Der Gehstock machte ein regelmäßiges Tocktock und aus den Wipfeln uralter Bäume in hellem Grün zwitscherte es vielstimmig. Sie schlenderten um den Teich, in dessen Mitte eine Fontäne ihr Wasser in den strahlenden Himmel ergoss.

»Lass uns setzen«, flötete Magda. »Gerne.« Henning König ließ sich neben ihr nieder.

Was würde sie sagen, wenn er sie mit den Fingerspitzen berührte? Nie würde er das wagen! Er biss auf die Unterlippe. »Möchtest du vielleicht noch eine Runde drehen?«, fragte er aufgewühlt.

Sie zuckte zusammen wie ein ertapptes Mädchen und ihm entging die plötzliche Röte auf ihren Wangen nicht. »Ja, gerne, wir könnten doch in das Café am Eck gehen.«

Sie bogen in die Geschäftsstraße und saßen wenig später bei einem Stück Torte und Kaffee auf der Sonnenterrasse. Er genoss ihre Leichtigkeit, mit der sie ihn zu unterhalten verstand, sie gab ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Er wusste, dass das Leben mit ihr nicht zimperlich umgegangen war, es hatte sie körperlich gebeugt. Einmal hatte sie sich ihm offenbart. Wenn er jetzt daran zurückdachte, ballten sich seine Fäuste.

»Er scheint das Klopfen nicht zu hören«, murmelte Magda ungeduldig, als sie in sein Zimmer trat. Sein Kopf lehnte im Sessel. »Henning, es ist Zeit fürs Mittagessen«, rief sie zum Balkon hinaus. »Du alter Seebär! Schläfst du etwa?« Geblendet von der Sonne folgte sie seinem stummen Blick hinaus. Dann legte sie ihre Hand auf die seine.

Bittersüß schmeckte ihr erster Kuss.

Johann

Johann trat unzufrieden vom Schreibpult zurück und ging hinüber in sein Schlafgemach. Er legte seufzend den Rock ab und seine knielangen Hosen über den Stuhl. Da erhaschte er einen Blick auf sein Konterfei im Spiegel über der Waschschüssel.

»Du siehst alt aus, mein Freund«, rief es ihm zu, »nicht mal vierzig, blass und an den Schläfen schon grau. Was ist bloß aus dir geworden? Eine Reise wird dir guttun. Du solltest auf Göschens Angebot eingehen und Urlaub machen. Italien ist im Herbst besonders schön.«

Johann nickte bedächtig und wenig erstaunt. »Vielleicht hast du recht«, antwortete er tonlos.

Seine administrative Tätigkeit auf dem herzoglichen Parkett war ihm lästig geworden, auch seiner Beziehung zu Christiane fehlte das Romantische, obwohl die Liebe doch groß war. Und die Poesie? Johann erinnerte sich an die Worte, die er seinem Namensvetter Johann Wilhelm Tischbein, der unter Freunden nur den Spitznamen Goethe-Tischbein trug, Jahre zuvor geschrieben hatte: Meine Schriftstellerei subordiniert sich dem Leben. Leider, fügte er in Gedanken hinzu, aber das muss ja nicht so bleiben.

Zu einer Reise durch Italien entschlossen, ließ Johann tags darauf durch seinen Sekretär beim Herzog Urlaub ankündigen und entkam inkognito mit der Postkutsche Richtung Süden. Ab Verona nahm er das Schiff nach Venedig, weil ihm die Kutsche nicht komfortabel genug war. Zudem kam er so schneller voran. Es drängte ihn fort.

Kaum abgelegt, bemerkte er zwei Mönche hinten beim Ruderstand. Sie mühten sich, die Fragen des Steuermannes zu verstehen, der immer wieder das Wort an sie richtete. Sie werden kaum Konversation machen können, schmunzelte er bei sich und gesellte sich zu ihnen.

Sie erklärten, weiter gen Rom reisen zu wollen, um nach dem Hohen Fest zu Ostern wieder kehrt zu machen. Zu ihrer wenigen Habe zählte eine Blechdose, in der sie Nähzeug für notwendige Reparaturen verwahrten, und eine Schüssel für Almosen. Beides hing am Gürtel der Kutte.

»Die Frömmigkeit in katholischen Landen ist eine recht eigenwillige. Sie behandeln uns oft wie Landstreicher«, schimpfte der Ältere. »Da sind wir bei Protestanten weitaus willkommener. Besonders die Frau eines Landgeistlichen in Schwaben ist uns wohl in Erinnerung. Sie überzeugte ihren widerstrebenden Mann, uns etwas zu essen zu geben. Diese Frau schließen wir seither täglich in unsere Gebete ein und bitten Gott, dass er ihre Augen öffne, wie er ihr Herz für uns geöffnet hat. Er möge sie, in den Schoß der alleinselig machenden Kirche aufnehmen. Und so hoffen wir, ihr im Paradies zu begegnen.«

Johann zweifelte, dass dies gelingen mochte. Mit einem freundlichen Lächeln dankte er den beiden Mönchen, ihm die Passage so kurzweilig gestaltet zu haben.

Über Venedig thronte die Sonne. Sein Blick ging aus dem Fenster seines noblen Quartiers auf den schmalen Kanal zwischen den hohen Häusern unweit des Markusplatzes. Der Duft des Südens füllte seine Lungen und befriedete sein Herz.

»Eine Zeit lang mag ich mir das trefflich vorstellen«, mutmaßte er, »nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, hier kennt mich vielleicht nur ein Mensch, und der wird mir nicht gleich begegnen.«

Es drängte ihn hinaus.

Sein Mantel wehte lebhaft um die Beine, während er kurze Zeit später den Platz überquerte. Die herrschaftlichen Fassaden rahmten den freien Blick auf die Lagune. Er betrat die Terrasse einer Taverne und setzte sich an einen der Tische, die in der Sonne standen. Seine Gedanken folgten seinem Blick, der unstet alles um ihn herum aufnahm. Die Menschen auf dem Platz, die lichten Fassaden und das Glitzern der Sonnenstrahlen auf den Wassern.

Plötzlich wurde er aus seiner stillen Betrachtung gerissen. Ein Mann – wohl Franzose mit Pariser Zungenschlag – versuchte, mit ungelenken Worten, einen Kaffee zu bestellen.

Er scheint gut in den Fünfzigern, bemerkte Johann still amüsiert, ein Mann von sehr guter Lebensart, der aber nicht aus sich heraus kann. Er wandte sich lächelnd eine Verbeugung andeutend zu ihm und bestellte das Gewünschte bei der Bedienung.

»Entschuldigt, ich wollte nur behilflich sein.«

»Danke, Herr Geheimrat, für diesen Beistand«, erwiderte der Mann auf Deutsch. »Nun bin ich schon so lange hier und finde mich aber in der Sprache nur schwer zurecht.«

»Mich verwundert mehr, in der Fremde auf den Einen zutreffen, der mein Inkognito aufzuheben imstande ist.«

»Ach, das ist ja interessant, Herr Geheimrat. Sie sind in intimer Mission unterwegs?«

»Nicht direkt.« Johann zwinkerte. »Doch nun, wo wir uns kennengelernt haben, darf ich mich auf eine Plauderei zu Ihnen setzen?«

»Aber gerne, wenn ich Ihnen ein Getränk offerieren darf? Wie lange seid Ihr hier in Venedig, Herr Geheimrat? Ich werde morgen weiterreisen.«

»Eine Weile werde ich Land und Leuten hoffentlich ein Stück weit begegnen können. Gottseidank verstehe ich mich auf das Italienische.«

»Es scheint, dass Sie Ihre Zeit nicht verschwendet haben.«

Es erheiterte Johann, einen eingefleischten Versailler in der Fremde zu sehen, der reiste, ohne etwas außer sich gewahr zu werden. Dabei ist er in seiner Art ein recht gebildeter, wackrer, ordentlicher Mann, dachte er, ich trage das reiche, sonderbare, einzige Bild mit mir fort.

Als es dunkelte, verabschiedeten sich die beiden Männer freundschaftlich, und Johann hoffte, dass es nicht die einzige Begegnung mit Nachklang bliebe.

In den nächsten Tagen erkundete Johann die Stadt und ihre Bewohner, wie es seine Art war: wachsam auf kleine Dinge achtend. Die überall anzutreffende Langsamkeit mäßigte auch seinen preußisch-tugendhaften Herzschlag. Einzig eine Sache erzürnte ihn. »Sauberkeit ist nicht ihr Ding«, tadelte er still, als er über den allgegenwärtigen Unrat auf den Gassen und Wegen stieg.

Der Wind verwehte, was auf den Gassen zusammengekehrt wurde, und trieb es über die Kanäle der Lagune zu. Die eigens erbauten Rinnsteine verstopften, dass die Plätze bei nassem Wetter überschwemmten. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Menschen durch ihren eigenen Mist stiefelten. An schönen Tagen verblasste die Erinnerung an den Gestank und den Dreck.

»Wie wahr ist es gesagt: Das Publikum beklagt sich, dass es schlecht bedient sei, und weiß es nicht anzufangen, besser bedient zu werden.«

Er schritt auf eine Brücke zu, über die er dem Markusplatz entgegenkam. Nach wenigen Schritten erreichte er sein Quartier. »Heute mal mit sauberen Schuhen.«

Dem Portier wünschte er eine gute Nacht.

»Felicissima notte.«

Johann fiel ein, dass der Italiener das nur einmal am Abend sagt, wenn das Licht in das Zimmer gebracht wurde. Eigentlich meinen sie damit etwas ganz anderes, schmunzelte Johann in sich hinein. Ein eigenartiges Völkchen, diese Italiener.

Tage später saß er in der Oper an der Moseskirche, wo ein Ballettstück gegeben wurde. Doch das Ganze geriet zu einem Fiasko. Enttäuscht, ja fast verärgert, verließ er am Ende das Theater. Mit wehendem Mantelschößen lief er durch die abendlichen Gassen. »Es fehlt dem Poem, der Musik, den Sängern eine innere Energie, welche allein eine solche Darstellung auf den höchsten Punkt treiben kann. Man konnte von keinem Teil sagen, er sei schlecht; aber nur die zwei Frauen ließen sich’s angelegen sein, nicht sowohl gut zu agieren als sich zu produzieren und zu gefallen. Es sind zwei schöne Figuren, gute Stimmen, artige, muntere, gütliche Persönchen. Unter den Männern dagegen keine Spur von innerer Gewalt und Lust, dem Publikum etwas aufzuheften, sowie keine entschieden glänzende Stimme. Das Ballett, von elender Erfindung, ward im ganzen zu Recht ausgepfiffen. Einige Springer und Springerinnen jedoch, welche die Zuschauer mit jedem schönen Teil ihres Körpers bekannt zu machen vermochten, wurden besonders leidenschaftlich beklatscht.«

Es drängte ihn, seine Reise nach Rom fortzusetzen. Er würde bei seinem Freund Johann Wilhelm Tischbein Quartier beziehen – eine einfache Kammer, jedoch mit dem Komfort, den er sich wünschte.

Während der ersten Tage genoss er lange, einsame Spaziergänge, die einige Male mit einem Krug Wein in einem Gasthaus endeten. Zumeist trat er am späten Vormittag in Mantel und Hut gekleidet auf die Straße. Wohin heute? Er antwortete mit einem Schulterzucken, überquerte den Platz und bog in eine schmale Gasse ein. Handwerker und Händler boten unüberhörbar ihre Dienste und Waren feil, Laufburschen zogen schwer beladene Karren durch die Menge und Mägde trugen eilig Einkäufe vom Markt. Gut gelaunt warf er einem Bettler eine kleine Münze in den Hut. Dieser bedankte sich mit einem angedeuteten Bückling, während er sich auf seine Krücken stützte.

In einer Gasse entdeckte er eine unscheinbare Buchhandlung. Es ist lange her, dass ich geschrieben habe, die Lektüre eines guten Buches bringt mich vielleicht wieder an das Pult, ermutigte er sich.

Als er die Tür öffnete, empfing ihn ein helles Glöckchen.