Was bleibt ist Erinnerung - Katharina Kraemer - E-Book

Was bleibt ist Erinnerung E-Book

Katharina Kraemer

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Beschreibung

Eine transidente Biografie - ein halbes Leben für ein ganzes ... Die Autorin lernte Nicole 1991 als Frau kennen. Ihr erzählte sie ihre Geschichte. WARUM entflieht ein Mann seinem Ich und wie erkennt er, dass in seinem Körper eine Frau lebt? WIESO ist es für seine nächste Umgebung so ein Schock, das anzuerkennen? WESHALB hat Nicole versucht, ihre Vergangenheit auszulöschen, und WIE gelingt es ihr, sich in einem veränderten – und dennoch ihrem – Körper als Frau einzurichten und das Sein einer Frau auch zu leben? Die Vorgehensweise als Erzählerin die Geschichten, Gefühle und Beweggründe von Rainer/Nicole aufzublättern und ein Bild ihrer neugeborenen Persönlichkeit zu gewinnen, ging einher mit dem Kampf Nicoles/Rainers um ihre/seine Vergangenheit und Zukunft, der Drang und gleichzeitig die Angst, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Nicoles Lebensweg im Körper eines Mannes und ihren Weg ins eigene Leben zu beschreiben, ist eine Expedition ins Bewusstwerdens über das eigene Ich, das jeder auf diese oder jene Weise unternehmen muss.

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Eines Tages wird sich finden,

was sich sucht, was wirklich ist,

werden Lebenslinien sich verbinden,

wird ihm geschenkt, was er vermisst.

So kann er hoffen, glauben, sehen,

seinen Weg aufrecht zu Ende gehen;

im Vertrauen auf sein eigenes Ich,

wird sein Inneres nun äußerlich.

Inhaltsverzeichnis

Die unsichtbare Hand

Der Garten

Die Mauer

Die Erkenntnis

Der Spiegel

Die Entscheidung

Zwei bunte Kreise

Der erste Schritt

Der Fluss ohne Wiederkehr

Die Brücke

Verbrannte Erde

Das Geständnis

Nachwort

Die unsichtbare Hand

»Guten Morgen, Rainer!«

Er schrak hoch. Was war das? Wer rief da seinen Namen? Woher kam diese Stimme? Woher kannte sie seinen Namen? Wer oder was konnte das sein? Was war das? Eine Illusion, ein Traum, der in seine Stille platzte? Er hielt einen Moment inne.

Einen Augenblick lang dachte er, seine Sinne hätten ihm einen Streich gespielt. Da war wieder diese Stimme, eindringlicher und lauter als zuvor: »Hallo, Rainer!«

Es hätte seine eigene Stimme sein können, der Tonfall war gleich. Er hatte doch nichts gesagt! Was sollte das sein? Eines der Trugbilder, die einen in der Stille schon mal erfassen? Rainer wagte nicht, sich zu rühren, ein flaues Gefühl breitete sich in der Magengegend aus. Seine Zunge schien staubig und trocken am Gaumen festzukleben. Alles ihn ihm war zum Zerreißen gespannt und er wusste nicht, was er tun sollte. Langsam fühlte er wieder Leben in den Gliedern, die vor Anspannung steif geworden waren, und blickte sich in seinem Zimmer um. Nichts! Nichts deutete darauf hin, dass etwas in diesem Raum anders war, als noch vor wenigen Minuten. Da richtete diese Stimme abermals das Wort an ihn: »Rainer, es ist wichtig! Höre mich an!«

»Wer ist da? Woher weißt du meinen Namen? Was willst du von mir?«, stammelte er ängstlich und neugierig zugleich.

»Ich bin es. Dein Ich.« Jetzt verstand er noch weniger, was hier vor sich ging. »Ich bin dein Ich und ich muss mit dir reden. Ich weiß, dass es für dich schwer ist, mit jemandem zu reden, den du nicht zu kennen glaubst. Vielleicht lernen wir uns noch richtig kennen.«

»Was willst du von mir?« Rainer begriff immer noch nicht. Träume ich, oder ist das tatsächlich wahr, was hier passiert? Da redete jemand, der sein ›Ich‹ sein wollte und den er nicht sehen oder fassen konnte. Das war ihm zu hoch! Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Zögernd wandte er den Kopf – nichts! Was sollte das alles? Die Stimme schien ebenso wahrhaftig wie die Hand, die seine Schulter berührte.

»Es ist für uns wichtig, mich dir begreiflich zu machen. Es kann für uns beide eine neue Erfahrung werden, neue Wege und Erkenntnisse aufzeigen und das Leben aus einem anderen Licht erscheinen lassen«, hörte er die Stimme sagen. »Rainer, ich weiß um dich, deine Ängste und Unsicherheiten. Du glaubst, dass es wenig Grund gibt, mit dir und deinem Leben glücklich sein zu können. Du gehst deinen Weg, und es ist Zeit, dass dir klar wird, was du willst.«

»Wer bist du? Was soll das alles?« Rainer wollte nicht glauben, dass die Stimme seinem Ich gehören sollte. Was waren das für Worte? Er hatte das Gefühl, dieser Stimme vertrauen zu können, andererseits hatte er unbändige Angst. Es dauerte nicht lange, da gewöhnte er sich an die Existenz der Hand und an den unwirklichen Klang der Stimme, die auf ihn einredete. Er hätte sich ihr auch nicht zu entziehen gewusst. Neugierig hörte er der unsichtbaren Stimme zu. Was wusste sie, was er nicht wissen konnte?

»Habe Geduld, du wirst es noch erfahren. Es ist seltsam für dich, was im Augenblick passiert. Du willst mich nicht wahrhaben, weil ich für dich nicht sichtbar und fremd bin. Vertraue auf dich, auf dein Ich, das mit diesen Worten zu dir spricht.«

Rainer sah fragend in die Richtung, aus der die Worte zu ihm drangen, während die Hand ihren Platz auf seiner Schulter nicht verließ, und lehnte sich misstrauisch in seinem Stuhl zurück. »Wie kann ich glauben, was es nicht geben kann?«

»Wenn du davon überzeugt bist, dass es wahr ist? Warum nicht? Nenne mir einen plausiblen Grund! Du glaubst nicht, dass du es kannst? Das ist Unsinn. Nicht immer werden deine Entscheidungen richtig sein, aber es sind deine, und das zählt. Und nicht alle deine Wege werden in eine Sackgasse führen. Mit Niederlagen wirst du zurechtkommen, wenn nicht sofort, dann später.Das ist das Wesentliche.« Die Stimme war mit jedem Wort heftiger und lauter geworden und die mysteriöse Hand schien sich noch fester auf seine Schulter zu legen.

»Was ist richtig? Wohin führt mein Weg?«, stammelte Rainer verunsichert.

»Du wirst es wissen, wenn es so weit ist«, kam die wenig befriedigende Antwort.

»Du hast gut Reden! Wie soll ich herausbekommen, was richtig ist, wenn es nichts gibt, woran ich mich halten kann?« Was wollte diese Stimme von ihm? Und dann die geheimnisvollen Antworten.

»Und du meinst, das wird so bleiben? Das glaubst du doch nicht! Du musst anfangen, dich zu akzeptieren. Nicht immer wird dein Weg gelingen, gleichmäßig geradeaus, ohne Tücken, die an der nächsten Ecke auf dich warten.«

Rainer begann diese bizarre Unterhaltung zu gefallen. Er hoffte, von dieser gespenstischen Stimme Antworten auf die vielen Fragen zu erhalten, die ihn quälten. Seine Wünsche waren nie ernst genommen worden – am wenigsten von ihm selbst. Was ist mein Weg? Was ist mein Leben? Wer bin ich überhaupt?

»Du kommst den Antworten bald näher«, wandte die unsichtbare Hand ein. »Ein Weg ist die Niederschrift der Fragen und der Versuch, eine Lösung darauf zu finden. Lebe dein eigenes Leben und trage die Konsequenzen aus den Erfolgen wie den Enttäuschungen. Sie sind dein Werk, dein Weg und dein Streben. Es geht um dich, um deine eigene Anschauung, deine Vorstellungen. Die Meinung anderer ist nicht wichtig, sie darf dich nicht beherrschen. Wenn sie dich führt und lenkt, ohne dass es dir möglich ist, eine eigene Denkweise zu entwickeln, dann bist du ausgeliefert und unfrei und kannst nie deinen eigenen Weg gehen. Dann … dann bist du zwar ein angenehmer Zeitgenosse, ein Steigbügelhalter, Sklave und Fußabtreter. Und wo bleiben deine eigenen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, Ziele und Wünsche?«

»Ich kann nicht!«

Rainer hatte es gern ruhig um sich, wo es kaum Unwägbarkeiten gab. Woher hatte diese Stimme bloß all diese Weisheiten? Er schüttelte unwillkürlich den Kopf.

»Du traust dich nicht! Du willst keinen Streit oder Auseinandersetzungen, keine Konflikte. Das ist absurd und utopisch. Du steckst immer in Konflikten, sei es in dir oder in der Gesellschaft, von der du ein Teil bist. In der Auseinandersetzung mit dir und deiner Umwelt erreichst du den Platz, der für dich freigehalten wird. Wenn du ihn nicht einnimmst, nimmt ihn sich der, dessen Steigbügel du zuvor gehalten hast. Er reitet auf deinem Weg davon und du hechelst hinterher, bis dir die Puste ausgeht.«

»Ich kann doch nicht …!«

»Du willst niemandem wehtun, die ganze Zeit praktizierst du seelischen Masochismus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Spaß daran hast. Du denkst, das Leben sei zu schwer und ernst und es gäbe kaum Grund zu Freude und Zufriedenheit, und niemand würde deine Erfolge anerkennen. Du bist es, der deine Fortschritte nicht sehen will. Manchmal mag das stimmen, dass dir etwas misslingt, aber nach Regenzeiten kommen Sonnenstrahlen in deinem Leben an. Du musst nur fest daran glauben.«

Die unsichtbare, unheimliche Stimme war heftiger geworden. Rainer wurde das Gefühl nicht los, sie schon ewig zu kennen, trotzdem war sie ihm fremd. Er hätte gern mehr über sie gewusst! »Das Leben ist ein einziger Kampf«, fuhr die Stimme fort. »Es ist nicht, dass du immer der Verlierer sein musst. Es gibt zwei Seiten, mal stehst du auf der einen, mal auf der anderen. Jeder Standpunkt kann dir nützen, du musst deine Chancen nur erkennen. Wenn du zu viel auf andere hörst, statt deiner eigenen Stimme zu folgen, wirst du zu einer Marionette, die ihren vorbestimmten Platz nicht ohne Einwilligung anderer verlassen kann.«

Rainer wusste zu gut, dass es ihm unmöglich war, zu tun, was auf Kritik stoßen konnte. Er sagte meist Ja zu den Dingen, die andere von ihm wollten. Und wenn er getan hatte, was er wollte, plagte ihn ein schlechtes Gewissen.

»Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du Nein gesagt hast oder deinen eigenen Weg gegangen bist! Ist das dein Ernst?«, entrüstete sich die Stimme. »Du hast verweigert, was man von dir erwartet hat, weil du es nicht wolltest! Was soll daran schlimm sein? Es ist wichtig, dass du sagst, wenn dir etwas nicht gefällt, weil der andere es nicht ahnen kann. Du siehst, du lebst noch und gerade taucht der erste Sonnenstrahl zwischen den Wolken auf. Nein, davon geht die Welt nicht unter. O.

k. Dabei hast du nur das getan, was du für richtig gehalten hast. Ich finde es mutig von dir … Ach, du weißt nicht, ob es richtig war. Wie kann es falsch sein, wenn du es wolltest? Außerdem steht nicht fest, dass die anderen immer richtig handeln.«

»Aber was ist dann recht?«, fragte sich Rainer. »Wann weiß ich, dass ich recht habe und mein Weg richtig ist?«

»Richtig ist, was weder dir noch anderen Menschen schadet«, antwortete die Stimme. »Jeder Weg kann in die richtige Richtung führen. Dein Schritt kann mal in die Irre gehen, davon geht die Welt nicht unter. Wenn du dich nur danach richtest, was die anderen sagen, findest du nie zu einem eigenen Stil. Und glücklich wirst du damit auch nicht. Du hast Angst, Fehler zu machen. Jeder muss seine eigenen Fehler machen. Die Ansichten anderer sind wichtig, können dich dazu bewegen, es ebenso zu machen. Das Beste ist, die Meinungen anderer kritisch zu betrachten und mit der eigenen Einstellung zu vergleichen. Und was dir zusagt, verbindest du mit deinen eigenen Gedanken und findest zu einer befriedigenden Lösung von Konflikten und Unsicherheiten. Es ist dein Leben und du bist verantwortlich! Und keiner kann dir vorschreiben, was du zu denken und zu fühlen hast. Deine Meinungen unterliegen nur deiner eigenen Zensur. Wenn du eine Entscheidung getroffen hast, solltest du sie mit Nachdruck vertreten. Es kann sein, dass du mal danebenliegst. Dann scheue nicht, deine Meinung zu revidieren. Seine Meinung zu ändern, ist genauso wenig falsch, wie seine Meinung zu behalten.«

Rainer verstand langsam, worauf sein Ich hinaus wollte. Bisher hatte er nicht den Mut gehabt, sich zu widersetzen, wenn er mit etwas nicht einverstanden war.

»Du musst nur fest daran glauben. Wir können Freunde sein, die miteinander leben, und nicht Feinde, die gegeneinander kämpfen. Es gibt vieles, was du nicht richtig interpretierst. Ich weiß, du hast Angst, in den Spiegel zu schauen, aber es hilft nicht, die Augen zu verschließen, damit grenzt du dich vor dir aus. Und außerdem ist unser Gespräch der erste Schritt in die Richtung.«

»Welche Richtung meinst du? Was willst du überhaupt von mir?« Schritt für Schritt vertiefte sich dieses ungewöhnliche Streitgespräch, dessen Sinn ihm unklar war. Er nahm sie als einen Teil seines Lebens wahr, von dem niemand erfuhr.

»Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du bereit bist, dich auf mich einzulassen und mir zu vertrauen, dann helfe ich dir, deinen Weg zu finden. Und all dies kann bedeuten, dass du zu dir findest und deine Einstellung dir gegenüber korrigierst. Du wirst es richtig machen, es kann nichts schief gehen. Du kannst deine Gegenwart ändern und deine Zukunft gestalten. Wenn du dich mit deinen guten Anlagen vertraut machst, wird es dir weniger Mühe machen, deine Fehler zu akzeptieren und eventuell zu beseitigen.«

»Wer bin ich., was kann ich denn?« Ein dicker Kloß legte sich auf seine Stimmbänder.

»Ach so, du siehst deine guten Seiten nicht. Öffne deine Augen und versuche, dich mit den Augen eines neutralen Beobachters zu sehen. Mache dir deinen Lebenslauf klar, schreibe ihn, wenn nötig, auf. Füge alles bei, an das du dich erinnern kannst. Achte darauf, dass es in erster Linie Erfolge sind, und konzentriere dich darauf. Lass das andere erst mal weg. Darum kümmerst du dich später. Dir fällt nichts ein? Dann lass dir Zeit und lenke deine Gedanken nicht in die dunklen Ecken des Zimmers. Du erkennst mit der Zeit, dass du viel Gutes und Schönes erlebt hast; Dinge, die von Bedeutung waren; Dinge, die dir in der Sorge entfielen, obwohl sie viel Schönes geboten haben; Dinge, die lobend erwähnt wurden, du hast nicht hingehört. Und jetzt versuchst du, alles mit ungünstigen Attributen zu belegen. Sie haben dich geleitet, geformt und geprägt. Und es ist da und wartet darauf, von dir entdeckt zu werden.«

Dunkel und still war es um ihn geworden, so dass Rainer die Gitarre in seinen Händen nur tasten konnte. Zaghaft spielte er eine Saite an. Der Ton hallte suchend in die Stille der Nacht. Wie ein ferner Donnerschlag breitete er sich aus, ebenso wie die Erinnerung an die Begegnung mit dieser unsichtbaren Stimme. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen Angst und Unsicherheit. Dieser unerwartete Besuch hatte ihn total aufgewühlt. Nichts mehr war, wie es bis dahin gewesen war. Und seine Gitarre spielte sich plötzlich anders. Die Töne, die sich unter seinen Händen zusammenfanden, drangen wie ein Flehen an sein Ohr. Konnte und durfte er dieser Stimme trauen? Welchen Sinn hatte das alles? Rainer fühlte sich befremdet und gleichzeitig angezogen. Wer war diese Stimme? Wer war er? War er noch der, den er zu kennen glaubte, wenn seine Gitarre mit einem Mal eine andere zu sein schien? Und wieder schien ihm der Ton ein anderer, obwohl er die gleichen Saiten angespielt hatte. Was war in ihn gefahren? Warum fühlte er sich so seltsam berührt von dieser Stimme, die er nicht fassen konnte? Was wollte sie von ihm?

Vieles kam ihm in den Sinn, das er zuvor vernommen hatte. Manches davon leuchtete ihm ein, anderes verwirrte ihn. Und dann diese Bilder, die er kaum zu deuten wusste. Er fühlte sich ohnmächtig dieser Stimme ausgeliefert, die sich unvermittelt in seine Welt eingemischt hatte. Sie machte ihm Angst, weil sie mehr von ihm wusste als er. Vielleicht war das eine Chance für ihn, hoffte er. Langsam beruhigte er sich und seine Gedanken wanderten nicht mehr ziellos umher. Die Gitarre gab ihm Halt. Ihre Melodien fügten sich wie ein Regenbogen in eine aufgerissene Wolkendecke.

Mit unendlicher Sehnsucht bahnte sie sich ihren Weg. Ein Ton fand den nächsten, wie eine Frage auf die nächste folgte, auf der Suche nach der passenden Antwort. Er hatte keinen Einfluss auf die Tonfolge, sie entglitt ihm, ohne sie erdacht zu haben. Und doch trieb ihn der Gedanke vorwärts, diese Melodie zu vollenden. Nie zuvor hatte er Derartiges gespielt. Es klang nach Sehnsucht, fordernd, fragend und suchend. Rainer ließ sich in diese Melodien fallen und folgte ihnen ängstlich und gleichzeitig erwartungsvoll. Er sah sich am Meer sitzen, in den Händen seine Gitarre, deren Töne über die Wellen hinweg ihren Weg suchten. Sein Blick schweifte über das Wasser, das ruhig in der Sonne lag. Gleißende Lichter blitzten auf den Schaum gekrönten Wellen, die anmutig im leisen Wind ihren Weg an den Strand fanden. Dieses Bild trug er in sich, ein Traum, den er gerne Wirklichkeit werden lassen wollte. Rainer vermochte nicht, es festzuhalten., es entglitt ihm. Er hatte zwar die Illusion dieses friedlichen Bildes, doch in seiner Seele tobte die See. Wie ein Orkan überrannte der Sturm der Gezeiten den feinen Strand, der stetig in den Wassern versank. Schäumende Gischt prallte an den nackten Felsen empor, die eben noch mit weichem Sand bedeckt gewesen waren. Der Zwiespalt seiner Gefühle ließ Rainer niedergeschlagen und traurig zurück.

»Rainer, das muss kein Traum, keine Illusion bleiben. Du kannst diese Harmonie erleben, wenn du dich selbst gefunden hast.«

»Wer bist du, dass du auf alles eine Antwort hast?«, fragte Rainer in die finstere Nacht hinein.

»Es wird die Zeit kommen, dass du verstehst, was ich meine. Du musst Geduld haben.«

Rainer ließ seine Gitarre klingen. Es behagte ihm nicht, dass sie in Metaphern zu ihm sprach, die er nicht verstand. Zweifel kamen auf, ob das alles wirklich und nicht nur die Verwirrung seines einsamen Lebens war. Es konnte nicht sein, dass es zwei Seiten gab, von denen die eine weise Worte fand und die andere unscheinbar und dumm schien!

Die Gitarre half ihm, diese Zeit zu überstehen. Sie lenkte ihn ab und wies ihm den Weg in eine Welt, die ihn ruhiger werden ließ. Ihre Saiten vibrierten leise, und die Musik fügte sich in seinen Herzschlag ein. Er sah sich in einem Lichtkegel sitzen, in der Hand die Gitarre und um ihn herum nichts als die Harmonie seines Spiels. Die Gedanken lösten sich von seiner körperlichen Existenz. Neugierig folgte er der Melodie, lauschte er den Tönen, die in der Finsternis entschwanden. Zu gern wäre er ihnen gefolgt, doch wollte er die Sicherheit des Lichts nicht aufgeben. Diese unbändige Angst, die Angst vor der Dunkelheit! Einer Dunkelheit, die sein Leben umfasste und ihn nicht mehr klar sehen ließ. Und er hörte nicht mehr den lieblichen Klang seines Spiels, sondern sah nur noch in die Finsternis hinein. Nicht das erste Mal zweifelte er an seinem Verstand. Die Begegnung mit der mysteriösen Stimme und der unsichtbaren Hand, all das war schier unfassbar. Hatte er eine andere Wahl? Sie war fest und sicher und würde bestimmt nicht aufhören, ihn zu fordern.

Mitten in diese Überlegungen hinein begann seine Gitarre zu spielen, wie er sie noch nie gehört hatte, aus dem Hintergrund erklang ein geheimnisvoller Gesang. »Ich weiß, dass dies alles schwer zu verstehen ist, Rainer, und dass dich verwirrt, was hier geschieht. Doch kann ich nichts unversucht lassen, mich dir verständlich zu machen. Du hast Angst vor mir und kommst doch nicht los. Lass uns in eine neue Zeit aufbrechen in eine neue Zeit.«

Und da spürte Rainer eine zweite Hand auf seinen Schultern. Jetzt war er völlig verwirrt! Hatte er sich gerade erst mit der Anwesenheit der einen abgefunden, tauchte wie aus dem Nichts eine zweite rätselhafte Hand auf. Als erwachte er aus einem schlechten Traum, unfähig, seine Gedanken zu sortieren, aufgewühlt, verunsichert und neugierig, harrte er der Dinge, die noch kommen konnten, unfähig, seine Gedanken zu sortieren, aufgewühlt, verunsichert und neugierig. Er dachte an die Worte, die er vernommen hatte. Nie zuvor hatte er sein Leben so betrachtet. Was hatte er Großartiges bisher erreicht, geschweige erlebt? Was wusste diese Stimme von ihm, was er nicht wusste? Welchen Weg würde sein Leben nehmen, wenn er sich auf sie einließ? Hatte er eine andere Wahl? Und was sollte diese zweite Hand auf seinen Schultern? Er traute sich nicht, diese mysteriöse Stimme zu fragen, glaubte er zu wissen, wie die Antwort lautete: Du wirst es wissen, wenn es so weit ist.

»Ich denke, wir können uns nun freundschaftlicher begegnen, nachdem wir uns kennengelernt haben«, hörte er diese Stimme sagen. »Meine Hoffnung ist, dass wir Freunde werden. Es ist mein Wunsch, dass du ihn mit mir teilst.«

»Was habe ich davon?«

»Was du davon hast? … Ich denke alles: das Leben, die Freude daran und mich, dein Ichgefühl. Deine Persönlichkeit, dein Wesen und dein Wirken werden dadurch berührt. Deine Umwelt bzw. das, was du davon wahrnimmst, erlangt eine andere Qualität. Du lernst, leichter mit deinen Schwächen zu leben und deine Stärken zu nutzen. Dieser Weg ist nicht leicht, er ist allerdings besser, als weiterhin dir und deinen ungenutzten Fähigkeiten und Anlagen nachzutrauern. Es sind dir bisher eine Menge Freuden entgangen, auf die du ein Anrecht hast. Vertrau mir, vertraue dich mir an und suche deinen Weg – er wird dich zu mir führen. Ich kann und will dir Stütze sein, dich vor Gefahren und Abgründen warnen und dir den Weg erklären. Du willst mit mir zusammen arbeiten …? Gut. Wir müssen über verschiedene Dinge reden, die für uns wichtig sind. So kann ich meine Aufgabe erfüllen. Ich muss diesen Weg gehen, weil es für dich die einzige Möglichkeit ist, deinen Weg zu finden. Vertrau mir!«

Rainer spürte eine gewisse Vertrautheit und Vertrauen; das ließ ihn ruhiger werden. Nervosität wich gespannter Erwartung. Es wuchs in ihm das Gefühl, diese Stimme könnte ihm all seine Fragen beantworten. Wie gern wollte er ihr glauben, dass er seinen Weg fand. Er nahm die Gitarre zur Hand und vertiefte sich in diese seltsame Melodie, die aus seinem Herzen kam. Er folgte den Tönen in eine Welt, die ihn magisch anzog, verwirrte und forderte. Mysteriöse Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, die er nicht zu deuten wusste. Er ahnte, dass sie ursächlich mit seiner Zerrissenheit zu tun hatten. Wie sollte es sein, sein Leben, wenn nicht, wie er es lebte? Die Gitarre vermochte nicht zu antworten; sie blieb stumm. Sie erreichte zwar sein Ohr, allein sein Herz blieb frei von den Empfindungen, die er ausdrücken wollte. Lag es daran, dass er der Steigbügelhalter seines Lebens war und ein anderer im Sattel saß? Unsicher lauschte er den Klängen seines Spiels, das ihn nicht mehr erfreute, obwohl es sein Spiel, seine Gedanken und seine Gefühle waren.

Diese Zwiesprache war der Beginn, zu seiner wahren Identität zu finden. Zu viel irritierte ihn noch, doch er folgte der Stimme, die sich unvermutet in sein Leben eingemischt hatte. Er konnte nicht anders. Für ihn lag noch alles im Dunkeln, außer der unbewussten Erkenntnis, dass diese fantastische Begegnung für sein weiteres Leben von großer Bedeutung sein würde. Sein Leben würde fortan Wege gehen, die ihm neu und unbekannt waren. Er war sicher herauszufinden, was sie beide tatsächlich miteinander verband.

Rainer war ein ruhiges Kind. Seiner Umgebung schien er oft verschlossen und ernst. Dennoch machte sich niemand Gedanken um ihn. Er war ein guter Schüler mit guten Anlagen und Fähigkeiten, besonderen Wünschen und Fantasien, Träumen und Gefühlen.

Weder seinen Eltern noch den Lehrern fiel auf, dass er tatsächlich anders als andere Kinder war. Mit seinen Eltern wohnte Rainer, solange er zurückdenken konnte, in der gleichen engen Dachwohnung. Er hatte in den ersten Jahren kein eigenes Zimmer gehabt, wohin er sich zurückziehen konnte. Was sein Vater verdiente, reichte gerade für kleine Geschenke an ihren einzigen Sohn.

Einen langgehegten Wunsch erfüllten seine Eltern ihm seine Eltern zu seinem vierzehnten Geburtstag – nichts Besonderes, eine Wandergitarre mit Stahlseiten, aber Rainer war unendlich glücklich. Diese Gitarre wurde ihm zur ständigen Weggefährtin. Seine Eltern hätten ihm gern Unterricht ermöglicht. Das war noch weniger drin gewesen. Rainer spielte, wie er wollte, guckte anderen über die Schulter und entwickelte eine eigene Art, seine Gitarre zu spielen. Täglich spielte er stundenlang auf ihr, und bald beherrschte er die Kunst, sie zum Klingen zu bringen, ohne richtigen Unterricht gehabt zu haben. Wenig später durfte er in der Jugendband seiner Gemeinde mitspielen. Zu dieser Zeit gelangte er an die erste elektrische Gitarre. Und wenig später kaufte sich Rainer von seinem Lehrgeld die erste Konzertgitarre. Damit war das Fundament gelegt und die Gitarre entfaltete sich unter seinen Händen zu einem Sprachrohr. Wenn er auf ihr spielte, forderte er sie heraus und brachte ihr seine eigene Sprache bei – eine Sprache voll Temperament und Melancholie. Er entlockte ihr Töne, die sich zu schönen Bildern formten. Sie spiegelten seine Suche nach Harmonie, die ihm trotz liebevoller Eltern fehlte. Diese Interpretationen waren seine Ebene, auf der er sich seiner Gitarre anvertraute. Stundenlang saß er in seinem Zimmer und sprach mit ihr. Dann begaben sich seine Gedanken auf abenteuerliche Reisen in die Welt der Fantasie. Er liebte diese Bilder, gaben sie ihm das Gefühl, eins mit sich zu sein – ein Gefühl, das er in Wirklichkeit nicht kannte. Er ahnte nichts von dem, was sich still und leise in seinem Leben tat.

Beharrlich aber kam ihm ein und dieselbe Melodie aus den Fingern, vertraut und fremd zugleich. Er suchte nach Worten, die seine Musik beschreiben konnten. Um sich zu entspannen und seine wirren Gedanken zu sammeln, lehnte er sich im Sessel zurück und ließ den Blick über die Welt vor seinem Fenster schweifen. Er sah sein Leben gleich einem Film vor seinem geistigen Auge ablaufen. Bisher war es nicht erfreulich verlaufen. Ihn bedrückten die Bescheidenheit und der andauernde Verzicht auf die kleinen Annehmlichkeiten, die anderen seines Umfeldes oftmals Gewohnheit waren. Dazu kamen jene nagenden Zweifel, die in ihm rumorten und nicht zur Ruhe kommen ließen. Wer war er? Wohin führte ihn sein Weg? Was war überhaupt sein Weg, sein Ziel? Was hieß es, glücklich zu sein? Was brauchte er, um sich wohlzufühlen? Er fand keine Antworten auf diese Fragen und es gab niemanden, den er hätte fragen können. Je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr Fragen lasteten auf seiner jungen Seele. Er starrte hinaus in den gräulich weißen Nebel, der schwer auf den Dächern seiner Heimatstadt lag, und glaubte, in seinen Gedanken das Spiegelbild dieser Landschaft wiederzuerkennen. Um ihn herum war nichts als Stille – eine Geräuschlosigkeit, die sich im ganzen Raum wie eine bleierne Flutwelle ausbreitete; ein Schweigen, das in ihm zu wachsen schien.

Der Garten

Diese Begegnung hinterließ bei Rainer tiefe Spuren. Seit ihrem ersten Besuch war nichts mehr wie zuvor. Er freute sich, wenn er sie auf seinen Schultern spürte und die Stimme vernahm, die ihm ein gekanntes Gefühl der Sicherheit gab. Die Stimme klang entschlossen und die Hände legten sich fest auf seine Schultern.

»Unser Beisammensein wird viele Fragen in dir aufgeworfen haben. Ich kann dir ein paar davon nach und nach beantworten. Zuvor möchte ich dir erzählen. Es wird dir viele Dinge in einem neuen Licht zeigen und manche Fragen beantworten. Lass die Bilder auf dich wirken und versuche, ihren Sinn zu verstehen. Du erkennst dich in dieser Geschichte und findest die Antworten auf deine Fragen. Es ist die Geschichte des Lebens, die ich gehört habe. Sie hat mich viele Dinge klarer sehen lassen und neue Wege und Erkenntnisse gebracht. Ich hoffe, dass sie für dich ebenso zu einem Wegweiser werden kann.

Höre zu, Rainer. Ein neuer Tag erwacht. Die ersten Sonnenstrahlen blicken durch blasse Baumwipfel auf eine junge Landschaft. Die weißen Kelche der ersten Schneeglöckchen vertreiben den Winterschlaf und Vorboten des aufkommenden Frühlings recken ihre Knospen aus den Zweigen dem Licht der aufgehenden Sonne entgegen. Der auflebende Morgen gibt nach und nach dem Blick frei auf einen Garten, dessen Größe und Grenzen nicht auszumachen sind. In der Dämmerung verscheucht die Sonne sanft den letzten aschgrauen Nachtnebel und lässt uns einen Blick auf das Leben werfen.

Gerade zu dieser frühen Stunde ist es noch ruhig, kein Lüftchen regt sich und allmählich erkennt man seine Unendlichkeit. Man glaubt, ewig laufen zu müssen, um alle Winkel kennenzulernen. Es scheint alles grenzenlos und unheimlich fremd, dass man Bedenken hat, die ersten Schritte hineinzugehen und alles auf sich wirken zu lassen. Die Neugierde ist größer als die Angst vor dem Unbekannten. Man kann nicht umhin, diese Stimmung in sich aufzunehmen, zuerst zaghaft und später mit festem Schritt voranzugehen und erste Wege zurückzulegen. Wir wissen nicht, was uns erwartet - mit kindlicher Arglosigkeit, Fröhlichkeit, Vorfreude und Optimismus stürzen wir uns hinein, ihn Schritt für Schritt auszukundschaften. Stelle dir das Leben als jenen Garten vor, der jedem Menschen Platz bietet, wo er sich entwickeln und darstellen darf, wo durch das jeweilige Denken, Handeln und Fühlen und die individuellen Fantasien Neues entsteht und jeder seine Aufgabe und ungeahnte Möglichkeiten der Entfaltung hat.

Dieser Garten lebt und wächst mit den Lebewesen, die in ihm gedeihen. Alles Streben von Mensch, Tier und Pflanze ist ursächlich darauf gerichtet, ihn zu gestalten und mit Leben zu füllen. Und der Mensch wächst mit der Zeit in seine Aufgabe hinein, alles Leben zu hegen und zu pflegen. Da wird der Mensch zum Menschen, dort darf er leben, dort darf er sein ganzes Dasein einbringen, sein Ich ausleben und versuchen, alle Winkel und Wege zu erobern. Jeder Mensch wächst in seinem Garten, um von Beginn seiner Zeit über die Wege zu wandeln. Und in jedem Geist formt sich eine eigene Anlage, die Teil seiner Gedanken und seines Gefühlsgutes ist.

Ursprünglich ist der Mensch hier glücklich, es gibt nichts Aufregenderes und Unergründlicheres, nichts Schöneres und Traurigeres in seinem Diesseits als sein Leben – und nichts ist gegensätzlicher. Er wird schwer die Zusammenhänge begreifen, die zu seinem oder einem anderen Lebenslauf führen. Unterschiedliche Fähigkeiten, Voraussetzungen, Träume, Wünsche und Vorstellungen formen verschiedene Wege. Es ist ein einziges, einmaliges Abenteuer, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Gerade, weil sich das Leben in vielen Dingen voneinander unterscheidet, potenzieren sich die möglichen Lebenswege ins Unendliche. Kein Weg gleicht einem anderen, sobald sich eine Komponente ändert. Man kann ihn zwar nochmals gehen; er wird anders, dass uns andere Menschen begleiten oder wir in einer anderen Stimmung sind, mit neuen Gedanken und Gefühlen. Dann verändert sich das Gesicht der Umgebung, die Farben werden leuchtender oder blasser, es wird mal bunter und mal grauer sein. Es bleibt das eigene Leben. Für jeden Menschen hält dieser Garten Bewährungsproben, Denkanstöße, Nackenschläge und zugleich viele schöne Dinge bereit, die das Leben bereichern. Bei manchen Menschen setzen gleich zu Beginn ihres Weges Schwierigkeiten ein. Sie vertrauen mehr oder minder auf ihre Fähigkeiten sowie die Fürsorge und Förderung ihrer Umgebung und formulieren eigene Ziele. Andere haben das Glück, eine Zeit lang ohne viel Hickhack durch den Garten des Lebens vorangehen zu dürfen. Auch sie sind jedoch nicht von Prüfungen und Aufgaben befreit. Vom Paradies ist dieser Park weit entfernt. Ein Schlaraffenland gibt es nicht. Es gilt, seiner eigenen Rolle, seiner Position und seinen Aufgaben gerecht zu werden. Viele bewältigen dies ohne große Probleme; für sie bedarf es wenig großer Anstrengung. Andere mühen sich redlich und kommen scheinbar nicht vom Fleck. Jeder bringt andere Voraussetzungen mit. Oder sind die Grundlagen für alle gleich, wir sehen das subjektiv anders? Es gibt ein Auf und Nieder, nur die Wellenhöhe ist individuell.«

Rainer lauschte regungslos mit geschlossenen Augen den Worten, die sich wie Untertitel in seine Fantasien einfügten.

»Nach welchem Prinzip funktioniert dieser Garten? Und wer setzt die Grenzen, es sie gibt? Die meiste Zeit verbringt der Mensch damit, Unkraut zu säen und zu jäten, Hütten zu bauen und Mauern einzureißen, andere zu führen oder geleitet zu werden. Da das auf Dauer langweilig wäre, bietet das Leben für jeden Menschen Möglichkeiten, die man sich