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Der Brandsachverständige und ehemalige Legionär Jean Sarre wird zu einer Unfallstelle gerufen und entdeckt bei der Untersuchung des Autowracks, dass es sich keinesfalls um einen Unfall, sondern um einen Brandanschlag gehandelt hat. Dies ist der Anfang zu einer Ermittlung, die immer größere Ausmaße annimmt. Dabei ergibt sich aus der Mitwirkung eines nicht immer sehr bemühten Kriminalinspektors, eines korrupten Bauunternehmers, mehrerer Kleinkrimineller, eines gewissenlosen Arztes und hinreißender Frauen eine explosive Mischung!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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Buchbeschreibung:
"Der andere Judas" wird vor allem in schwierigen und ausweglosen Situationen angerufen.
Gläubige, die den Apostel um Hilfe anflehen, berichten oft von Wundern. Der heilige Judas Thaddäus gilt als Schutzpatron des Unmöglichen und großer Helfer in schweren Lagen.
Jean Sarre, der Sachverständige und ehemalige Legionär, kommt in Nordspanien kriminellen Machenschaften auf die Spur.
Schnell findet er sich in einem Teufelskreis aus Gier, Macht, Sex und Gewalt wieder.
Doch der Antiheld weiß aus Erfahrung, dass himmlischer Beistand nicht schaden kann.
Über den Autor:
Oliver J. Petry, geboren 1965, lebt und arbeitet im Saarland.
für Elke und Hanna
Danke an Gabriele Rach für ihr unermüdliches Lektorat und an alle, die mich nach wie vor unterstützen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
VORSCHAU
Im fahlgelben Scheinwerferlicht wirkten die Serpentinen zwischen Roses und Cadaqués irgendwie unwirklich und weitestgehend gefahrlos. Kein Wunder, schließlich konnte man bei Dunkelheit nur schwer erkennen, dass es hier stellenweise, fast siebzig Meter in die Tiefe ging. Der Fahrer der großen, silbernen Limousine war so gut gelaunt, wie schon lange nicht mehr und aus dem Autoradio ertönte melodische Rockmusik. Er hatte es endlich geschafft. Gerard besaß nun Geld genug, um sich für immer absetzen zu können. Jetzt musste er nur noch seine Geliebte abholen und dann nichts wie raus, aus Spanien.
„Irgendwie verdammt romantisch, fast wie bei Shakespeare!“, dachte er sich grinsend und drehte - Liquid Love- noch eine Idee lauter.
Gerard Brieaux war ein Mann, Ende dreißig, bei dessen Anblick das weibliche Geschlecht oftmals in Verzückung geriet. Der gepflegte, südländische Typ mit dem schulterlangen, pechschwarzen Haar verkörperte durchaus das „Latin-Lover“-Klischee und wurde oft auf seine frappierende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Antonio Banderas angesprochen. Ohne dieses Kapital hätte es Gerard die letzten Jahre auch sehr schwer gehabt. Die Arbeit als investigativer Journalist funktionierte nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Zudem war als Fotograf auch kein großes Geld zu verdienen.
Vor zwei Jahren hatte er sich noch als Paparazzo durchgeschlagen.
Doch dann unterlief ihm ein folgenschwerer Fehler, der ihn auch in diesem Metier disqualifizierte.
Damals stellte er in Barcelona einer Hollywood-Diva nach. Blödsinnigerweise handelte es sich dabei um ein Filmdouble, das ihn aufs Glatteis führte. Es dauerte nicht lange, bis er letztlich Hohn und Spott zu spüren bekam. Nachdem der Shitstorm im Internet abgeklungen war, hatte Gerard auch diese Berufsperspektive verloren und zudem keine Einkünfte mehr. Deshalb kam er nicht umhin, sich ab und an, von ein paar wohlhabenden Damen aushalten zu lassen. Denn schließlich musste sein Leben, respektive sein exklusiver Lebensstil, ja auch weiter finanziert werden. Gerard hatte noch nie Spaß daran, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Schon als Kind schwebte er gedanklich in höheren Sphären und schuf sich seine eigene glamouröse Traumwelt. Sollten die anderen doch malochen. Dafür war er sich definitiv zu schade. Da bekanntlich Kleider Leute machen und der sportlich ambitionierte Gerard selten Geld in der Tasche hatte, ließ er sich also von gutsituierten und zugleich unbefriedigten Frauen einkleiden, damit die ihn anschließend wieder entkleiden konnten. Die große Liebe vorzugaukeln, hatte ihm niemals wirklich etwas ausgemacht. Er ließ sich nur allzu gerne durchfüttern. Schließlich zahlte er ja, sagen wir mal, in Naturalien zurück. Doch als er diese dunkelhaarige Schönheit auf einer Charitéparty kennenlernte, sollte es damit grundsätzlich vorbei sein. Außerdem hatte er mit ihrer Mithilfe den großen Fisch an Land gezogen.
Gerard begann plötzlich zu frösteln und schaltete daraufhin die Heizung noch zwei Stufen höher.
Dieses verdammte elektrische Schiebedach ließ sich seit ein paar Tagen einfach nicht mehr schließen. „Auch egal“, dachte er sich, da er den alten BMW nur noch heute Abend brauchte. Alles würde gut gehen, denn seine Süße und er, wären morgen ohnehin schon in der Karibik.
Wie aus dem Nichts tauchte hinter seinem Wagen plötzlich ein einzelner Scheinwerfer auf. Gerard wurde einen Moment lang über seinen Innenspiegel geblendet und klappte ihn hektisch hoch. Sekunden später setzte jemand zum Überholen an. „So ein Wahnsinniger und das, bei den scharfen Kurven“, dachte er sich, als ein Motorrad an ihm vorbei brauste. Gerard ärgerte sich noch eine ganze Zeit lang über das waghalsige Überholmanöver, als er auf einmal das besagte Bike führerlos am Straßenrand stehen sah. Kurz vor einer gefährlichen Linkskurve begann er herunterzubremsen und überlegte noch, ob er zurücksetzen sollte. Im gleichen Moment erblickte Gerard eine Person, die mit irgendetwas Flackerndem auf ihn zulief. Brieaux erschrak, wollte anhalten, doch dann, wie aus dem Nichts, flog etwas Grellleuchtendes gegen sein Auto. Innerhalb von Millisekunden brannte das Wageninnere und Blut lief ihm über die Stirn. Irgendwas hatte ihn geschnitten. Warmes Blut nahm ihm die Sicht. Überall war Feuer. Das Letzte, was Gerard denken konnte, war „Er hätte niemals zurückkommen dürfen!“ Schon zerschlug die große silberne Limousine lichterloh brennend die Leitplanke, wurde zum Feuerball, überschlug sich und stürzte unaufhaltsam in die felsige, schwarze Tiefe.
„Verdammter Tramuntana, fühle mich wie sandgestrahlt“, dachte Jean, während er dem schlanken, aber muskulösen Hund erstmal eine große Blechschüssel mit frischem Wasser hinstellte. Der Dobermann machte sich sofort geräuschvoll über das kühle Nass her.
Breit lächelnd öffnete sich der blasse Mann währenddessen eine eiskalte Dose „San Miguel“. „Das habe ich jetzt aber wirklich gebraucht“, dachte er, als er sich das spanische Bier in großen Schlucken einverleibte. Dann riss er die Balkontür auf. Im Gegensatz zur Hausfront schien die Veranda auch weitgehend windgeschützt.
Draußen vor dem Pool lag ein großer Kalbshautknochen in der Nachmittagssonne. „Sieht irgendwie -strange- aus“, sinnierte er, aber zeitgleich hatte sein Hund den klobigen Knochen schon im Maul.
„Junge, wo hast du das Teil denn die ganze Zeit versteckt? Na, komm schnell wieder in den Schatten!“ Der Hund ließ sein Spielzeug daraufhin sofort fallen. Dann legte er sich vor Jean und wartete auf ein neues Kommando. Vielleicht himmelte er den Menschen auch einfach nur an.
Arthos liebte sein Herrchen. Schließlich hatte der Mann ihn aus extrem schlechter Haltung gerettet. Vor nicht allzu langer Zeit galt der Dobermannrüde, der seine Jugend an der Kette verbrachte, noch als unvermittelbar.
Nur durch einen Zufall kamen die beiden vor ungefähr zwei Jahren zusammen und waren seitdem unzertrennlich.
Nachdem Jean eine katalanische Tageszeitung vor sich ausgebreitet hatte, begann er zu lesen. Zwei Minuten später legte er sie wieder genervt weg und ging zum Pool. Es war einfach zu heiß, um sich auf irgendwelche Wirtschaftsnachrichten konzentrieren zu können. Außerdem dachte er gerade mal wieder über sein bisheriges Leben nach.
Der Mann schaute zu seinem Hund und hatte auf einmal das gleiche lange Gesicht.
Er wurde vor fast 48 Jahren in einem kleinen Dörfchen, nahe der französischen Grenze geboren. Obwohl er sein Leben bislang irgendwie gemeistert hatte - richtig zufrieden-war er bis dato doch selten gewesen. Es wurde auch allerhöchste Zeit, wieder mal „auszusteigen“. Jean Sarre hatte schon fast überall gearbeitet, auch einige Zeit im verregneten Deutschland. Unter anderem, als Sachverständiger mit Schwerpunkt Brandschäden.
Man verdiente einigermaßen und hatte einen mehr oder minder leichten Job. Allerdings verschlechterte sich die wirtschaftliche und soziale Lage in seiner alten Heimat zusehends. Im Übrigen wurden immer mehr Menschen einfach wegrationalisiert, damit die Aktienkurse, wie auch die Dividenden weiter steigen konnten. Hier in Nordspanien, konnte er die gleiche Arbeit für eine Versicherung auch leisten. Zumindest das Klima und die mediterrane Lebensart der Menschen, gefielen ihm weitaus besser.
Jean Sarre war mittelgroß, mittelalt, mittelgutaussehend. Oft fühlte er sich einfach mittelmäßig. Genau das, störte ihn derzeit auch am meisten an sich selbst. Aber schließlich konnte er doch mit seinem jetzigen Leben zufrieden sein. Zumindest redete er sich das immer wieder ein.
Sein Werdegang hatte er sich vor Jahren dann doch anders vorgestellt; ganz klassisch ... mit Frau, mit Kindern ... gut, zumindest den Hund hatte er. Und wenigstens für den, konnte er sich ja auch verantwortlich fühlen.
Bei immer noch über 30 Grad im Schatten war er froh ein Haus mit kleinem Außenpool gemietet zu haben. Noch genoss er diesen Luxus in vollen Zügen.
Plötzlich klingelte sein Mobiltelefon. Der schwarz-braune Hund schreckte hoch und bellte. Leise fluchend, stieg er tröpfelnd aus dem Pool und nahm das Telefon in seine noch nassen Hände… „Sarre!“
„Hola Señor Sarre“, meldete sich am anderen Ende eine helle Frauenstimme. „Perdón für die sonntägliche Störung… Und übermorgen haben Sie 14 Tage Urlaub, wie ich gelesen habe. Hätte ich auch gern. Na ja, …Können Sie morgen früh sofort in Richtung Cadaqués fahren? Letzte Nacht ist dort ein Wagen von der GI 614 in eine Schlucht gestürzt. Sie kennen doch die Serpentinenstraße…
Untersuchen Sie bitte das Fahrzeug; es ist total ausgebrannt...
Der Fahrer ist übrigens tot. Schlimme Sache... ein Franzose, ein Fotograf... Sie fahren dann..., die Polizei, Señor Inspector Ruiz... er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen... Hasta luego y Gracias!“
Nachdem er der Sachbearbeiterin versichert hatte, morgen früh gegen 8:00 Uhr, vor Ort zu sein, legte Sarre das nasse Smartphone auf den weißen Tisch. Er griff ein großes, dunkelblaues Badetuch, begann sich abzutrocknen und dachte währenddessen über seine derzeitige Auftragslage nach. Momentan konnte er sich über zu wenig Arbeit nicht beklagen. Er war erst wieder seit ein paar Monaten im Land und fast jeden Tag beruflich ausgelastet.
Aber am Wochenende nahm er sich die Zeit, um mit Arthos die Gegend zu erkunden und seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Zudem liebte er Musik über alles. Wenn er nicht gerade gutgemachte Rockmusik hörte, griff er sich seine Westerngitarre. Er klimperte dann ein paar Akkorde oder versuchte sich gar an einem Solo.
Jean ging ins Haus, nahm die Zeitung und warf sie mit Schwung in den Bodenrundordner, auch Papierkorb genannt. Als Nächstes nahm er seine alte Gibson J45. Auf der akustischen Gitarre spielte er ein paar Akkorde in Folge. „Am, Em, Am, G, C, F, Em, Am, G, F, Em, Am.“
Das erinnerte ihn an einen Italowestern, bei dem es ein alternder Revolverheld, gespielt von H. Fonda, mit einer Übermacht, der sogenannten „Wilden Horde“, aufnehmen musste. Der geniale Ennio Morricone, hatte damals Richard Wagners „Ritt der Walküre“ gecovert und sogar mittels Autohupen aufgefrischt. Geradezu episch das Ganze!
Er spielte das Thema drei- viermal. Aber als Arthos leise jaulte, legte er sein geliebtes Instrument wieder in den verbeulten Koffer.
„Hahaha… Scheiß doch der Hund ins Feuerzeug! Haha... Ist gut, ich hör ja mit dem Geschrammel auf, Arthos!“
Jean lachte, als er den Gitarrenkoffer wieder schloss.
Der Hund sah Jean interessiert dabei zu und begann dann ausgiebig zu gähnen. Der Sachverständige musste unwillkürlich über seinen unmusikalischen Dobermann lächeln, wobei das Hundegähnen natürlich auch ein Beschwichtigungssignal sein konnte.
Allerdings gähnte Jean jetzt auch und fühlte eine gewisse Müdigkeit aufkommen. Dann würde er heute Abend also doch früher schlafen gehen müssen. Am besten gleich nach dem Abendessen. Er musste morgen schließlich halbwegs fit sein.
Circa zwanzig Kilometer weiter, etwa um die gleiche Zeit, schwamm auch Juan Falgas in seinem Pool. Mit dem Unterschied, dass dieser Swimmingpool eher die Größe eines öffentlichen Freibades hatte. Er war einfach riesig und man konnte herrlich Bahnen schwimmen.
Der durchtrainierte Mann, von fast 58 Jahren, stieg leichtfüßig aus dem Wasser und betätigte einen Kippschalter.
Es dauerte höchstens 30 Sekunden, dann lief auch schon einer seiner Bediensteten, mit einem großen Badetuch, die Treppen zum Pool hinunter. Sobald der Butler seinem „Jefe“ das Tuch überreicht hatte, musste er sich einige Beleidigungen anhören.
„Oye Cabron, wo hast Du meinen Rioja und meine Cohibas? Ihr Idioten müsstet doch allmählich die Wochentage kennen. Heute ist Sonntag und was sollt Ihr -Möchtegerndiener- mir sonntagabends immer bringen? Mierda – Los tonto, jetzt lauf und bring, bevor ich Dir in Deinen lahmen Arsch trete!“
Nachdem der verängstigte Diener, unter wüsten Beschimpfungen, wieder die Treppen zum Haupthaus erklommen hatte, richtete sich das Agressionspotential gegen die hübsche dunkelhaarige Frau auf der anderen Poolseite.
„Alles Deine Schuld, Mercedes! Wie suchst du eigentlich unser Personal aus? Du bist genauso weich wie dein Vater! Das Einzige, was du kannst, ist schön zu sein!“
Die ausgesprochen hübsche Frau zeigte keine Reaktion. Sie wusste, dass das bei ihrem zuweilen cholerischen Ehemann nichts brachte. Also schluckte Sie und versuchte, an bessere Tage zu denken.
Früher war „Ihr Juanito“ ganz anders gewesen. Nett, höflich und immer respektvoll gegenüber seinen Mitmenschen. Ihr Vater hatte in ihm, seinen „Traumschwiegersohn“ gefunden und es dauerte nicht lange, bis der alte Patriarch die gesamte Firma überschrieb.
Heute wusste Mercedes Falgas, geborene Leon, dass Liebe wirklich blind machen konnte. Sie wollte nur noch weg.
Außerdem war sie zurzeit noch trauriger als sonst, denn sie erwartete einen Anruf von einem Mann, der sie von ihrer permanenten Angst befreien konnte. Aber das Telefonat war längst überfällig.
Ihr Vater Pedro Leon sah zu seinen Lebzeiten nur das Gute im Menschen. Nachdem er als Jungunternehmer in der Baubranche zu sehr viel Geld gekommen war, unterstützte er alle möglichen karitativen Organisationen. Vor allem in den angrenzenden Pyrenäen ließ er kleinere Krankenhäuser, Pflegeheime und Schulen bauen, um eine geistige und medizinische Grundversorgung für die Einwohner zu schaffen.
Er selbst stammte aus einem dieser kleinen abgeschiedenen Bergbauerndörfer und kannte die Einheimischen und deren Probleme nur zu gut. Aber vor knapp zwei Jahren hatte Pedro Leon dann unverhofft diesen schweren Herzinfarkt, den der „große Baulöwe“ nicht überlebte.
Montagmorgen, gegen fünf Uhr dreißig, waren ein noch müder Jean und sein großer Dobermannrüde bereits am menschenleeren Strand unterwegs. Hier in Empuriabrava, durften die Hunde offiziell weder an den Strand noch auf irgendwelche Grünflächen. Überall waren mittlerweile Verbotsschilder mit der Aufschrift: - No Perros- aufgestellt. Jean Sarre fragte sich, wo denn die vielen Hunde hier im Ort eigentlich hinsollten.
Klar, wer mochte schon immer und überall in Hundedreck treten. Aber ein verantwortungsvoller Hundehalter hatte ohnehin eine Plastiktüte dabei, um die Tretminen seines Lieblings an geeigneter Stelle zu entsorgen.
Trotz allgemeinen Verbots, kannte Sarre so seine „Hundeplätze“. Schließlich hatte er seine Freizeit schon öfter in der Bucht von Roses verbracht.
Gerade der wilde Strand zwischen der Flussmündung des Muga und dem Fischerort San Pere de Pescador, hatte es Jean und höchstwahrscheinlich auch Arthos angetan.
Dahinter lag das Vogelschutzgebiet Aiguamolls.
Wenn man dort kilometerweit über den feinkörnigen Sand marschierte, hatte man wirklich nicht das Gefühl, sich in einer von Touristen überlaufenen Gegend zu befinden.
Gott sei Dank hatten auch die Spanier über die Jahre eingesehen, dass Natur- und Artenschutz wichtige Aufgaben sind, die letzten Endes auch das Gesicht der Costa Brava, der „wilden Küste“ ausmachten.
Für den fünfjährigen Rüden war dieses Revier mehr oder minder neu. So blieb er öfter als gewohnt stehen, um Witterung aufzunehmen. Sein Herrchen achtete dabei darauf, dass er keine Dummheiten machte, aber auch der Hund musste schließlich „Zeitung lesen“.
Nachdem Jean anschließend auf seiner Veranda gefrühstückt hatte, nun ja, „Frühstück“ konnte man den doppelten Cortado und die Lucky Strike nicht unbedingt nennen, versorgte er erstmal Arthos. „So, mein Freund. Dann halt du hier mal schön die Stellung und lass die Ledercouch in Frieden!“ Jean musste unwillkürlich grinsen, als der Hund daraufhin leise knurrte, so ganz nach dem Motto „Hier darf man ja gar nix!“
Jean nahm sein Arbeitsmaterial und fuhr seinen alten Geländewagen aus der Einfahrt.
Anschließend stieg er wieder aus, um das große, eiserne Eingangstor abzuschließen. Eigentlich war das Absperren, verhältnismäßig unnötig, denn schließlich hielt Arthos Wache.
Nun ja, Jean liebte mittlerweile einfach doppelte Sicherungen. Vielleicht war das ja einer der Gründe, für sein abgesichertes, aber auch fades und zurzeit wirklich unspektakuläres Leben.
Schon vor etlichen Jahren, wollte oder eher musste, er das ungemütliche Deutschland verlassen. Damals wäre, es für ihn jedoch bedeutend risikoreicher gewesen in einem fremden Land Fuß zu fassen. Aber jetzt hatte er seinen „Ausstieg“ geplant und es getan. Wahrscheinlich gaben aber eher andere Aspekte den endgültigen Anstoß dazu.
Wie auch immer. Jean Sarre hatte vor fast zwei Jahren den einzigen Menschen verloren, mit dem er wirklich über alles reden konnte. So wurde seine langjährige Freundin plötzlich todsterbenskrank und innerhalb weniger Wochen hatte der Bauchspeicheldrüsenkrebs gewonnen.
Oftmals dachte er unweigerlich an die herrliche und viel zu kurze Zeit mit der Schwedin Inga zurück. Er zündete sich dabei meistens trotzig und gedankenverloren eine Zigarette nach der anderen an.
Bald schon hatte er auf dem Weg ins Hinterland die Urbanisation hinter sich gelassen. „Hier wohnt man ausgesprochen ruhig. Auch ganz schön, wenn nicht alles so verbrannt wäre“, dachte er sich und der Sachverständige wusste natürlich, dass dahinter meist keine unbedarften Touristen, sondern die Bau-Mafia steckte. Skrupellose Geschäftemacher, die Menschen in Gefahr brachten und die Natur vorsätzlich zerstörten, nur um anschließend zu billigem Bauland zu kommen.
Ein Name, der in diesem Zusammenhang oftmals fiel, war „Falgas“, aber das waren nur unbestätigte Gerüchte.
Als er zur Unfallstelle kam, waren die Polizei und ein Kranwagen bereits vor Ort.
Er parkte seinen Geländewagen hinter dem Bergungsfahrzeug, doch bevor er aussteigen konnte, kam bereits ein blonder Mann wutschnaubend auf ihn zu.
„Sie da, verschwinden Sie! Das ist eine Polizeiaktion. Los weg! Journalisten haben hier keinen Zutritt, machen Sie Ihre Fotos sonst wo!“
„Momentmal, ich bin Jean Sarre, der Gutachter der Estrella-Versicherung und kein Zeitungsfuzzi!“, entgegnete Jean dem Mann vor ihm.
Schlagartig wurde der Polizist mit dem strähnigen Haar und der riesigen Nase kleinlaut und der verärgerte Jean merkte, dass dem Ordnungshüter das Ganze doch sehr peinlich war.„Oh, das tut mir leid Señor Sarre, ich habe Sie für einen von diesen „Zeitungszecken“ gehalten. Ich bin Inspector Carlos Ruiz und ich dachte mir, Sie kämen erst später in die Werkstatt nach Figueres.
So früh habe ich außerdem noch gar nicht mit Ihnen gerechnet.
Sie sehen ja, wir bergen den ausgebrannten 7er BMW gerade. Der tote Franzose, oder eher das, was von ihm noch übrig ist, liegt seit Sonntagmorgen in der Gerichtsmedizin von Girona“, sagte der stämmige Mann fast leise und Jeans Pulsfrequenz normalisierte sich langsam wieder.
Mittlerweile hatten sich auch einige Zaungäste eingefunden, die der Bergung euphorisch beiwohnen wollten.
Gaffer hielten hinter dem Bergungsfahrzeug an und schauten durch Ferngläser und Kameras hinunter in die Schlucht. Jean Sarre gab Carlos Ruiz daraufhin einen Wink, worauf der Inspektor lautstark einige Anweisungen rief.
Umgehend sperrten die Polizisten die halbe Straße. Danach begannen sie die Schaulustigen mit Nachdruck zu verscheuchen.
Jean wollte sich eine Zigarette anzünden und suchte in seinen Bermudashorts verzweifelt nach Feuer.
Der Inspektor zog ein messingfarbenes Sturmfeuerzeug aus seiner Hosentasche und reichte es ihm. „Nehmen Sie und behalten Sie es ruhig, habe mir das Rauchen gerade abgewöhnt. Sie wissen ja, -fumar puede matar-“, bemerkte Carlos Ruiz grinsend.
Jean lächelte, bedankte sich höflich und nach einer kurzen Lagebesprechung machten sich die beiden auf den beschwerlichen Weg zur Unfallstelle.
Der Gutachter war froh, gerade noch rechtzeitig dazu gekommen zu sein, bevor ein Bergungstrupp schwere Seile am Unfallwagen befestigen konnte.
Das ausgebrannte Fahrzeugwrack lag circa 50 Meter unterhalb der Kurvenstraße, zwischen zwei Felsen, auf dem Dach. Der Fahrer des ehemals silbernen BMW hatte scheinbar in einer Linkskurve, die Kontrolle über sein Auto verloren. Dann musste der Wagen durch die Leitplanke geschossen sein, stürzte in die Schlucht, hatte sich mehrfach überschlagen und brannte dann aus.
Nachdem Jean Sarre das Auto untersucht, die Fotos zur Beweissicherung gemacht und den Berg wieder heraufgekraxelt kam, spürte er dann doch ein gewisses Hungergefühl aufkommen. Wirklich kein Wunder, bei dem „opulenten Mahl“ das er sich heute Morgen zubereitet hatte.
Außerdem machte er sich Gedanken um Arthos und die neue Ledercouch. Daher fuhr er ziemlich zügig nachhause.
Nach typischer Singlenahrung, die aus einer, ihr Mindesthaltbarkeitsdatum knapp überschrittenen, aufgebackenen Pizza bestand, kümmerte er sich um seine Hausaufgaben. Zuerst überspielte er die Digitalfotos auf seinen Laptop. Anschließend rief er in der Kraftfahrzeug-Werkstatt an, um einen zweiten Besichtigungstermin auf der Hebebühne zu vereinbaren.
Die Aufnahmen waren gelungen, doch auf einem Foto erkannte er einen hellen Punkt, den er sich nicht ganz erklären konnte. Irgendwas reflektierte die Sonnenstrahlen. Er vergrößerte das Bild, konnte aber immer noch nicht erkennen, um was es sich dabei handelte. Vielleicht eine Dose, Münze oder Ähnliches? Langsam, aber sicher wurde er dann doch neugierig.
Wieder musste Jean an den alten Italowestern denken. Henry Fonda konnte die herangaloppierenden Bösewichte nur deshalb erledigen, weil die silbernen Sterne auf den Satteltaschen, die Sonne reflektierten. In den Taschen befanden sich abstruserweise Dynamitstangen. Fonda, alias Jack Beauregard, musste also nur auf die Lichtblitze zielen, um die »Wilde Horde« zu pulverisieren. Jetzt fiel ihm auch der Filmtitel wieder ein. Ein Sergio Leone Western von 1973, der unter dem Namen „My name is Nobody“ in die Kinos kam. Natürlich hatte bei dem Film der schlitzohrige Terence Hill alias Nobody eine Paraderolle. Jean mochte diese alten „Spaghetti-Western“.
Gut zwei Stunden später, machte er sich dann erneut auf den Weg zur Unfallstelle. Er stellte seinen Wagen in einer nahen Parkbucht ab, kletterte über die zerschundene Leitplanke und kraxelte mühsam den Abhang hinunter. Unten angekommen war er vollkommen durchgeschwitzt. Kein Wunder, denn gegen 13:00 Uhr brannte die Sonne wieder mal erbarmungslos.
Es dauerte zwar eine Zeit lang, aber er fand, was er suchte. Unterhalb eines Felsens lag eine braune Wildledertasche mit Chromverschlüssen. Schnell steckte er sie in seinen Rucksack und machte sich auf den Rückweg.
Als er den Berg hinaufblickte, sah er, dass ein Auto hinter seinem parkte. Wie Sarre unschwer erkennen konnte, handelte es sich dabei um einen Polizeiwagen.
Mit einem komischen Gefühl in der Magengegend und jede Menge Ausreden im Kopf, machte er sich an den Aufstieg.
Doch als er oben ankam, stand sein Auto mutterseelenallein da. Jean fühlte sich irgendwie schuldig. Dabei fragte er sich, ob es nicht besser wäre, die Tasche sofort zum Polizeirevier zu bringen. Auf der anderen Seite konnte er das ja immer noch tun. So legte der Sachverständige sie unter den Fahrersitz seines Geländewagens und fuhr, erst einmal einkaufen.
Am Nachmittag saß Jean auf seiner Veranda und hatte die Ledertasche vor sich auf dem weißen Kunststofftisch abgelegt. „Dann schauen wir mal was drin ist; komm mir fast vor, wie ein kleiner Junge am Weihnachtsabend“, dachte er sich, während Arthos nur leise gähnte. Als er die Tasche ausleerte, war er jedoch ziemlich enttäuscht. Das einzig Interessante war ein kleiner Schlüssel. Der musste zu einem Schließfach gehören. Anhand einer zerknitterten Tankquittung tippte er auf den Flughafen von Barcelona.
Er fand noch eine Werbebroschüre einer Baufirma. Zudem einen Zettel mit einer Telefonnummer und den Initialen „MF“.
Sollte er die Tasche morgen früh zu Inspektor Ruiz bringen? Das wäre wohl am besten! Er könnte aber auch morgen zum Flughafen fahren. Einfach mal nachschauen, ob seine Vermutung wirklich zutraf.
Er überlegte und überlegte. Was sollte der tote Franzose schon Wertvolles deponiert haben? Aber Jean war einfach zu neugierig geworden. Außerdem hatte er in Barcelona ohnehin geschäftlich zu tun.
Zwei Jahre zuvor war Juan Falgas bereits der größte Bauunternehmer in der Region. Allerdings war er zumindest bei den einfachen Leuten, bei weitem nicht so angesehen wie sein verstorbener Schwiegervater. Kein Wunder, denn seit dem Tod Pedro Leons, hatte Juan sich sowohl privat, als auch geschäftlich, um 180 Grad gedreht. Er machte sich innerhalb kürzester Zeit einen Namen im Baugeschäft.
Und wenn die Leute heute ehrfürchtig über den herzensguten „Don Pedro“ redeten, so flüstern sie nur leise, über den vornehmen, aber verschlagenen Juan.
Es wurde einiges erzählt über den „Baulöwen“ Falgas und seine dubiosen Geschäfte, aber alles hinter vorgehaltener Hand. Er hätte Beziehungen bis hin zum spanischen Königshaus, dulde keinen Widerspruch und wer sich ihm in den Weg stelle, dem würde was passieren.
Es war sozusagen eine immer brodelnde Gerüchteküche, die Juan Falgas umgab.
Natürlich kam auch viel Neid hinzu. Seine Angestellten und Arbeiter verdienten zwar übertariflich, dafür mussten sie sich aber seine Launen gefallen lassen.
Jedenfalls manche, denn früher hatte Falgas auch einige kolumbianische Arbeiter einschiffen lassen.
Kurz bevor die Sache mit den Illegalen rauskam, bekam Juan einen Tipp, von einem guten Freund bei der Staatsanwaltschaft.
Jetzt zahlten sich die Pflegeheime, weit oben in den unzugänglichen Bergen endlich aus. Kein Mensch würde die Billigarbeiter dort vermuten. Allerdings kosteten ihn die Kolumbianer jetzt täglich Geld, und er überlegte sich unentwegt, was er mit den Isolierten machen sollte.
Etwa drei Wochen nach der „Evakuierung“ kam ihm dann ausgerechnet im Golfclub von Peralada eine grandiose Idee. Sein alter Schulfreund der Bezirksstaatsanwalt Rodriguez klagte ihm mal wieder sein Leid. Sein Sohn Franco Junior plagte ein schlimmes Nierenleiden und ohne Spender hatte er, trotz Dialysebehandlung keine Überlebenschance.
„Was würdest du tun, wenn ich für deinen Sohn eine neue Niere besorge?“
Der Staatsanwalt wurde stutzig. „Wie willst du das denn hinkriegen? In ganz Spanien kann man zurzeit keine bekommen!“
„Eine Hand wäscht die andere, Franco! Du hast mir einen Tipp gegeben und jetzt bin ich dran, dir einen Gefallen zu tun!“
„Besorg mir sämtliche medizinischen Daten, ich kümmere mich um alles Weitere.“
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück fuhr Juan Falgas im Porsche Cabriolet in die Berge. Eigentlich hatte er überlegt, im Vorfeld den Chefarzt zu kontaktieren. Aber die Sache war einfach zu heiß, um sie am Telefon zu regeln.
Als er um die Mittagszeit in Vidasacra ankam, war er bereits ziemlich genervt.
Auf den engen und mit Schlaglöchern übersäten Straßen brachte auch der schnelle Porsche nichts. Ein paarmal hatte er Lastwagen überholen können. Allerdings konnten Juan und sein nigelnagelneuer 911 Turbo auf diesen „Thrill“ gut verzichten.
Außerdem ging ihm die alte Frau nicht mehr aus dem Kopf. Ungefähr auf halber Strecke stand diese, ganz in schwarz gekleidete Oma und winkte ihm vom Straßenrand aus zu. Scheinbar wollte das gebrechliche Großmütterchen einmal Anhalter spielen, denn plötzlich torkelte sie unvermittelt auf die Fahrbahn.
Juan hupte wie wild, wich der Frau aus und verabschiedete sich ziemlich rüde, mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Fast hätte er sich bei diesem Ausweichmanöver auch noch eine, seiner sauteueren Cup-Felgen ruiniert.
Niemals hätte Falgas diese alte Vettel mitgenommen. Dazu war der Sportwagen definitiv zu chic. Auf die Ledersitze seines Porsche ließ er nur Frauen, weit vor der Menopause.
Juan Falgas war eben ein absolut empathieloser Emporkömmling, der seine eigene Mutter verraten und verkauft hätte. Und das war, weiß Gott nicht alles!
Damals, nachdem Juan sich sicher war, »Schwiegervaters Liebling« zu sein, hatte er einen perfiden Plan geschmiedet.
Sobald der alte Patriarch seine Firma überschrieben hatte, musste er gehen und das möglichst schnell. Schließlich kam es oft genug vor, dass Leute kurz nach Renteneintritt starben.
Ein Bekannter brachte Juan seinerzeit auf eine fabelhafte Idee. In einem botanischen Garten fand Falgas dann auch, was er suchte, den »Blauen Eisenhut«.
Aconitin, der Hauptwirkstoff, der in allen Teilen der Pflanze vorkommt, war schon im Mittelalter bei Giftmischern beliebt. Vor allem die Wurzelknollen des Eisenhutes sind extrem giftig. Selbst bei getrockneten Wurzeln liegt die tödliche Dosis für einen Erwachsenen, bei nur ein bis zwei Gramm. Der »Traumschwiegersohn« Juan lud seinen Schwiegervater damals zu einem Golfmatch nach Peralada ein. Nachdem er sich von Don Pedro besiegen ließ, wollten die beiden Männer diesen schönen Tag noch etwas feiern. Pedro Leon zeigte sich gönnerhaft und man aß und trank, ohne sich ums liebe Geld, Gedanken machen zu müssen. Eine halbe Stunde nach dem ersten Drink war Don Pedro tot.
„Um die Zeit, finde ich den fetten Doktor Kremer mit Sicherheit bei seiner Lieblingsbeschäftigung“, dachte sich der Bauunternehmer und machte sich auf den Weg in die Krankenhauskantine.
Doktor Eugenio Kremer machte sich seinerseits gerade über seinen zweiten Nachschlag her, als Falgas ihn lächelnd begrüßte. „Hola Doctor, gut sehen Sie aus. Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Lassen Sie uns in Ihr Büro gehen, dort haben wir etwas mehr Ruhe. Los kommen Sie schon!“
Dr. Kremer war ein großer, käseblasser Mann, der fast vier Zentner auf die Waage brachte. Irgendwie hatte er Ähnlichkeit mit einem ungepflegten Teddybären. Seine kleinen dunklen Knopfaugen, die hinter der dicken, schwarzen Hornbrille riesig aussahen, verstärkten diesen Eindruck noch.
Der Doktor mochte es gar nicht, dass man ihn beim Essen störte. Aber schließlich handelte es sich bei dem ungebetenen Gast, um seinen Geldgeber. So kam sogar ein gezwungenes Lächeln über seine wulstigen Lippen.
„Ah mein Freund, der liebe Señor Falgas, wie kann ich Ihnen helfen …nur raus damit“, entgegnete der Doktor mit einer hohen Falsettstimme, die so gar nicht zu dem Pfundskerl passte.
Nachdem Falgas dem Doktor seinen Plan vorgetragen hatte, herrschte eine Zeitlang Stille in dem gut klimatisierten Raum.
„Soso, eine Nierentransplantation und ein unfreiwilliger Spender, darauf brauche ich erstmal was zu trinken… Wollen Sie auch Einen?“ Juan Falgas wusste, dass Doktor Kremer das hinbekam. Schließlich war er nur deshalb in diesem verlassenen Pyrenäendörfchen, weil ihn hier niemand kannte. Noch vor fünf Jahren hatte er als Chirurg in Madrid gearbeitet, bis die Sache mit dem Giftschrank aufflog. Dabei wollte er sich doch damals nur von seiner Lebensgefährtin „trennen.“
„Nein, ich muss noch zurückfahren und Sie sollten jetzt auch nichts trinken. Jedenfalls nichts Alkoholisches. Untersuchen Sie schnellstens unsere Kolumbianer, erzählen Sie denen irgendwas und leiten Sie alles in die Wege.
Wenn sie den Spender haben, rufen Sie mich nicht an, sondern schicken Sie mir eine SMS. Schreiben Sie „Kidney“ und ich lasse den kranken Jungen zu Ihnen bringen. Außerdem soll es Ihr Schaden nicht sein, Doc!“
Damals, war zwei Wochen später die ganze Sache gelaufen. Der Doktor war um einige Euro reicher und der Sohn des Staatsanwaltes hatte endlich die lang ersehnte Niere. Die Chancen standen nicht schlecht, dass er damit weiterleben konnte.
Das Ganze lief gut. Dr. Kremer war überaus zufrieden mit sich und seiner Arbeit. So zufrieden, dass er Juan Falgas per SMS eine Offerte machte. „Kidneyernte hervorragend.
Weitere Interessenten erwünscht!“
Falgas war kaltschnäuzig genug, darauf einzugehen. Jetzt endlich brachten ihm die isolierten Billigarbeitskräfte gutes Geld – wenn auch anders – als er sich das gedacht hatte. In nur wenigen Monaten konnte er mit Hilfe von Dr. Eugenio Kremer, dem Internet und nicht zuletzt „seinen Isolierten“ einen regen Organhandel aufbauen. Die Nachfrage nach verschiedenen Organen stieg so rapide an, dass Falgas das Angebot aufstocken musste. So heuerte er über einen kolumbianischen Freund weitere Arbeiter „zur Verwertung“ an. Die illegalen Arbeitskräfte wurden ins Land geschmuggelt und zuerst einmal von Doktor Kremer untersucht. Schließlich wurde ihnen weisgemacht, dass sie eine gewisse Zeit in Quarantäne müssten, um anschließend das große Geld zu machen.
Der kolumbianische Vermittler verdiente jetzt bedeutend besser und stellte niemals Fragen. Das Einzige, was Juan Falgas etwas Bauchschmerzen bereitete, war die Vorstellung, was Dr. Kremer wohl mit den menschlichen Überresten machte. Aber für die Entsorgung der Leichen sollte der Doktor verantwortlich sein. Schließlich war das seine Sache und er verfügte über das richtige „Knowhow“.
Der Organhandel florierte und es dauerte ungefähr zwei Jahre, bis Juan Falgas daraufhin erpresst wurde. Er würde wohl zahlen müssen, aber er würde auch dafür sorgen, dass der Fotograf aus dem Leben seiner Mercedes verschwand.
Die Fahrt nach Barcelona verlief eigentlich problemlos. Jean Sarre kannte sich in der katalonischen Landeshauptstadt einigermaßen aus und kam mit seinem Motorrad auch in der „Rushhour“ gut voran.
Nachdem er seine geschäftlichen Aufgaben erledigt hatte, (er musste kurz beim Hauptsitz seines Arbeitgebers vorsprechen), machte er sich auf den Weg zum Aeropuerto.
Mit dem Auto wäre Jean Dienstag vormittags, mit Sicherheit, fast doppelt so lange unterwegs gewesen. Außerdem hatte er mit seiner „Triumph“ keine Probleme einen Parkplatz zu finden. Allerdings war die Lederkombi nicht besonders sommertauglich und der spanische Asphalt strahlte in der Mittagssonne eine unglaubliche Hitze ab. Nachdem Jean seine Dreizylinder unmittelbar am Eingang des imposanten Flughafengebäudes abgestellt hatte, betrat er durchgeschwitzt und mit Helm und Rucksack in der Hand die Eingangshalle.
Innen war die Luft vorneweg zwanzig Grad kühler als draußen und man hatte das Gefühl regelrecht „schockgefrostet“ zu werden. Kaum war Jean drinnen, wurde er fast von einer fünfköpfigen Familie samt Gepäck über den Haufen gerannt.
Zumindest der Vater entschuldigte sich bei Jean. Nachdem die Koffer und Reiseutensilien wieder auf dem Schiebekarren verstaut waren, versuchte, sich der Sachverständige einen Überblick zu verschaffen.
Gar nicht so einfach, bei all den vielen Menschen. Jean hatte das Gefühl, sich in einem Bienenstock zu befinden. Oder vielleicht war eine Massenpanik, doch eher der bessere Vergleich.
Nach einiger Zeit fand er schließlich den Raum mit den Schließfächern. „635“, dachte er laut, irgendwo musste doch das Schließfach sein. Es vergingen geschlagene drei Minuten, bis er es entdeckte. Dann suchte er in der Innentasche seiner Motorradjacke den kleinen Schlüssel. Fand ihn nach längerem Suchen und verglich wiederum die Nummern.
Jean merkte, dass er beim Suchen regelrecht panisch wurde. Er setzte sich erstmal auf eine Holzbank, um sich zu beruhigen. Der Sachverständige wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als ein Sicherheitsbediensteter ihn auf ein Blechschild aufmerksam machte. „Prohibido a fumar“ stand darauf und Sarre verfluchte sich in diesem Moment selbst.
Das Einzige, was er jetzt wirklich nicht brauchen konnte, war unnötiges Aufsehen. So lächelte er den Mann von der Security reuevoll an und packte die Zigaretten demonstrativ wieder weg.
Nachdem sich der Sicherheitsbedienstete mit strenger Miene und erhobenem Zeigefinger von ihm entfernt hatte, erhob sich Jean von der alten Holzbank und ging erneut zum Schließfach.
Mit zittrigen Händen steckte er den kleinen Schlüssel ins Schloss. Eigentlich war er ziemlich verdutzt, dass das Teil auch wirklich passte.
„Also doch richtig kombiniert“, dachte Jean, „dann schauen wir mal was drin ist.“
Er öffnete das Fach, sah hinein, danach brach ihm endgültig der kalte Schweiß aus.
Im Schließfach befanden sich eine kleine Metallkassette voller Geld, eine CD, zwei abgelaufene Flugtickets, mehrere Quittungen, sowie eine Pistole mit zwei gefüllten Magazinen.
„Volltreffer“, dachte Sarre. Unter jeder Menge Adrenalinausstoß schaufelte er die Sachen schnell in seinen Rucksack und ging, wobei er sich extrem zusammenreißen musste, halbwegs unauffällig zu wirken.
Als er das gut klimatisierte Flughafengebäude verließ, sich wiederum auf einen physischen Temperaturschock einstellte, fiel ihm neben seiner Triumph eine mattschwarz lackierte Ducati auf. Dieses italienische Motorrad gab es zwar in schwarzer Farbe, aber die hier sah aus, als wäre sie mit der Spraydose lackiert.
„Grauenhaft“, sinnierte er, „und das bei einem neuen Motorrad.“ Außerdem hatte die "Duc" ein modifiziertes Cockpit. Er glaubte so eine Art Navigationssystem, darin zu erkennen. Doch Jean hatte weder Zeit noch Nerven, um sich irgendwelche Technikfeatures an fremden Motorrädern anzuschauen. Also stieg er auf seine englische Lady und fuhr los. Auf der Rückfahrt dachte Sarre ein paar Mal daran, irgendwo stehenzubleiben, um „seine Beute“ nochmals in Augenschein zu nehmen. Doch aus Sicherheitsgründen verwarf er diesen Gedanken schnell wieder.
Kurzfristig hatte der Sachverständige das Gefühl verfolgt zu werden. Doch im gleichen Moment lächelte er über sich selbst und seine aufkommende Paranoia.
Logisch, dass Jean solche Gefühle entwickelte, schließlich musste er einige tausend Euro spazieren fahren.
Urplötzlich überholte ihn ein schwarzes Motorrad. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um die mattschwarze Ducati 900 Monster handelte, die am Flughafen neben seiner Speed Triple parkte.
Sobald der ganz in schwarz gekleidete Fahrer auf gleicher Höhe war, nahm er seine Ducati aufs Hinterrad. Jean ließ sich durch einen solchen „Wheely“ nicht provozieren. Wahrscheinlich spekulierte der Angeber auf ein kleines Rennen. Die Freude wollte der Sachverständige dem Hitzkopf jedoch nicht gönnen.
Zudem war Jean Sarre über die Jahre ruhiger geworden.
Er wusste nur zu gut, wie schnell man hier auf den sandigen Straßen ausrutschen konnte.
Als der Gutachter nachhause kam, zeigte sein Handy zwei unbeantwortete Anrufe und eine SMS an. Der Inspektor wollte wissen, was er denn nun über den ausgebrannten BMW in Erfahrung gebracht hätte.
„Na toll!“, dachte Jean, den Werkstatt-Termin in Figueres hatte er jetzt doch glatt vergessen.
Der Sachverständige hatte die Eingangstür noch nicht ganz hinter sich zugezogen, da stürmte auch schon der große Dobermann auf ihn zu. „Aaaarthos, neiiiiin, … nicht springen, PLAATZ!“ Zwei Sekunden später, lag er rücklings auf dem Flurboden und wurde ausgiebig und nach allen Regeln der Kunst abgeschleckt. Es dauerte ein paar Minuten, bis er die überschwängliche Wiedersehensfreude des Hundes ein bisschen einschränken konnte. Danach zog er sich die durchgeschwitzten Motorradklamotten aus und nahm erstmal einen kühlen Drink.
Natürlich Mineralwasser, aber Sarre nahm sich vor, heute Abend mal in die Kneipe, um die Ecke zu gehen, um seinen "Fund" ein wenig zu feiern.
Erstmal musste er sich den Inhalt des Rucksacks genau ansehen. Die Pistole, eine Glock 17 und die dazugehörigen Magazine interessierten ihn nur am Rande. Genauso wie die Musik-CD, die Quittungen und so weiter; diese Dinge würde er sich später mal genauer anschauen. Aber wie viel Geld in der Kassette war, das war wirklich wichtig!
Er fing an, die Geldscheine zu zählen. Es waren Fünfziger, Hunderter, Zweihunderter und mittlerweile seltene Fünfhunderter. Glücklicherweise waren sie alle gebraucht.
Sarre zählte genau fünfhunderttausend Euro.
Bei all der Freude über die halbe Million fiel ihm plötzlich ein, dass die Haustür noch offenstand. Ihn überkam ein seltsames Gefühl. Er ging schnell zur Tür und verschloss sie.
Beim Absperren hörte er ein Motorrad vorbeifahren. Der Sachverständige kannte den Zweizylinder-Sound des Desmomotors gut. Es war der Sound einer Ducati.
Schnell schaute er durch eines der vergitterten Fenster, doch er konnte kein Motorrad sehen.
„Mach dich jetzt bloß nicht verrückt“, sagte Jean sich selbst. Dann überlegte er sich erst einmal, wo er das Geld am besten verstecken könnte.