Der Asrenkrieger - Janis Nebel - E-Book
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Janis Nebel

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Beschreibung

Ein Versprechen. Ein Schicksal. Ein Verrat. Mitja hat Neri Zuflucht gewährt. Doch sollte Fürst Nikolaj herausfinden, dass Mitja die verletzte Gestaltwandlerin versteckt, droht ihm das Schlimmste. Während Nikolaj ihn immer tiefer in dunkle Machenschaften hineinzieht, versucht Mitja mehr über Neri herauszufinden. Ist sie wirklich so harmlos, wie sie scheint? Trotz seines Misstrauens kann er sich ihrem geheimnisvollen Glanz kaum entziehen. Und als er erkennt, wie eng ihre Schicksale miteinander verknüpft sind, steht bereits mehr als nur seine Freiheit auf dem Spiel. Neri weiß, dass Mitja sie jederzeit verraten könnte. Die Flüsterstimmen drängen sie zur Flucht, wie so oft zuvor. Doch sie hat ihm ihr Wort gegeben, und zum ersten Mal seit Jahren fühlt sie sich nicht allein. Soll sie alles aufgeben und fliehen? Oder soll sie das Unmögliche wagen und Mitjas Vertrauen gewinnen? „Der Asrenkrieger“ ist Band 2 der vierteiligen Wandelblut-Saga. Tauche ein in eine fesselnde und emotional tiefgründige Geschichte über einen jungen Mann, der um seine Freiheit kämpft, und eine Gestaltwandlerin, die ihre Identität verbirgt. Zwei verlorene Seelen, ein gemeinsames Schicksal. Die Wandelblut-Saga verknüpft eine dunkle mittelalterliche Fantasywelt mit Coming-of-age und einem Hauch Liebesgeschichte. Für Leser ab 16 Jahren.

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DER ASRENKRIEGER

WANDELBLUT 2

JANIS NEBEL

IMPRESSUM

Copyright © 2024 by Janis Nebel

Erweitertes Korrektorat: Uwe Raum-Deinzer

© Buchsatz und Gestaltung der Fantasy-Landkarte: Janis Nebel - janisnebel.com

© Covergestaltung: Janis Nebel - janisnebel.com

Für die Erstellung des Buchcovers wurden sowohl Stockdaten als auch KI-generierte Bilddaten verwendet. Alle Kompositbilder wurden im Rahmen des Cover-Gestaltungsprozesses umfassend überarbeitet, verändert und individualisiert.

Alle Rechte sind vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

Ines Büttel

Oberer Geisberg 1

96129 Strullendorf

Germany

janisnebel.com

[email protected]

ISBN: 9783759224927

INHALT

1. Der Tod trägt Weiß

2. Das Waldläufermädchen

3. Gute & schlechte Taten

4. Wenn man den Mund zu voll nimmt

5. Stimmen im Zwielicht

6. Rot wie Zorn

7. Kalte Ketten

8. Verrat

9. Kalykte

10. Ava

11. Lichtspiele

12. Ein Platz in der Welt

13. Wenn es schmutzig wird

14. Heldengeschichten

15. Schuld & Zweifel

16. Nachtaugen

17. Ein Versprechen

18. Zubaida

19. Der erste Tag

20. Der zweite Tag

21. Der dritte Tag

22. Der Königssohn

23. Stubenjäger

24. Die Pfeilspitze

25. Ein Fehler

26. Die Drachenschuppe

27. Haut an Haut

28. Tiefblau

29. Wahrheit & Lüge

30. Enthüllungen

31. Der Glanz

32. Rabengeflüster

33. Vermurkste Leben

34. Lichtlos

35. Die Totenfeier

36. Bluttaten

37. Im Morgengrauen

38. Du Meister und Gebot

Epilog: Schlangenjagd

Der Blutschwur | Band 3 der Wandelblut-Saga

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1

DER TOD TRÄGT WEISS

NERI, GEGENWART

Der Tod ließ auf sich warten. Und als er dann endlich über sie hinstrich, wurde er gleich wieder blass und durchscheinend.

Warte!, rief Neri ihn an. Warte doch!

Sie wollte ihn festhalten und griff nach seinem weiten weißen Mantel. Aber ihre Finger fuhren durch ihn hindurch. Er bestand aus nichts als Licht und Luft. Der letzte Rest Substanz, den sie noch von ihm erkennen konnte, schien den Kopf zu schütteln, dann war er verschwunden. Und obgleich sie ihn weiterhin in der Nähe spürte, hielt er doch Abstand, als ob er sie aus dem Verborgenen beobachten wollte.

Genoss er etwa ihr Leiden? Überlegte er, ob ein solch sonderbares Mischwesen wie sie in seinen Verantwortungsbereich fiel?

Komm endlich!, brüllte Neri. Komm doch!

Aber der Tod kannte kein Mitleid. Wie sollte er auch? Er hatte ja schon alle Leiden gesehen, die ein Wesen zu erleben fähig war. Immer mehr wich er zurück, egal wie laut sie nach ihm rief, egal wie sehr sie sich erniedrigte und um sein Kommen bettelte.

Und dann konnte Neri an nichts anderes mehr denken als an den heißen Schmerz. Nichts anderes passte mehr in sie hinein außer dem Feuer und der Pein. Wie glühende Klingen fraß es sich in ihre Muskeln. Wie Maden nagte es an ihren Innereien. Hitze und Kälte strömten durch sie hindurch, als wäre sie nur noch eine leere Hülle. Das Einzige, was der klägliche Rest ihres Lebens noch zu bieten hatte, war Schmerz.

„Bitte, komm doch!“, wimmerte sie.

Aber anstelle des Todes rückten ihr die Schatten zu Leibe. Die Mantelträger, die aus den finsteren Winkeln des Hauses gekrochen kamen. Sie kicherten und zischten und wetzten ihre Messer. Sie schnitten ihr nicht sofort die Kehle durch. Oh nein! Sie diskutierten darüber, ob sie ihr langsam die Haut abziehen sollten, angefangen bei ihrem linken Oberschenkel.

„Das ist doch völliger Unsinn!“, begehrte Neri auf. „Wenn man ein Tier häutet, beginnt man niemals bei den Extremitäten! Immer am Bauch, an den Genitalien oder der Kehle. Wisst ihr das denn nicht? Habt ihr denn keine Ahnung, wie man so was anständig macht?“ Sie schluchzte.

Die Maskenträger lachten höhnisch und wetzten weiter die Messer.

Und dann, nach und nach, drang durch das Zischen und Schaben eine Stimme zu Neri hindurch. Es war eine körperlose Stimme. Sie gehörte nicht hierher, an diesen Ort der Pein. Weder zum Tod gehörte sie noch zu den Maskierten. Es war auch keine der Flüsterstimmen. Denn diese Stimme war tief und rau, und sie traf auf Neri wie ein warmer Lichtstrahl. Du musst noch ein wenig länger durchhalten, wisperte sie.

Aber das war unmöglich! Neri hätte fast vor Verzweiflung aufgeheult. Die hässlichen Maskenträger standen noch immer messerwetzend und raunend um sie herum – die Mörder ihrer Eltern, die Herrscher über ihre Albträume. Wie sollte sie da noch länger durchhalten können?

„Wo bist du?“, flüsterte sie und suchte die Finsternis ab, die sich hinter den Maskenträgern aufwölbte wie die Krone eines mächtigen Baumes. Saß dort nicht ein Rabe im Geäst?

„Bitte!“, flehte sie. „Wo bist du?“

Aber alles, was die Stimme sagte, war: Du musst noch ein wenig durchhalten.

Der Satz hallte in Neris Kopf nach wie in einer riesigen Höhle.

Du musst noch ein wenig durchhalten.

„Bitte, hilf mir. Bitte …“

Jetzt rückten die Maskierten erneut näher, das zähnefletschende Grinsen starr und scheußlich, für immer in ihre bestialischen Gesichter geprägt. Sie schienen nun mit dem Messerwetzen fertig zu sein. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen. Die Haut würden sie ihr zuerst abziehen, kicherten sie.

Neri hielt den Atem an und lauschte. Wo bist du? Aber die Stimme schwieg. Bitte!, flehte sie noch einmal.

Die Maskierten beugten sich über sie und grinsten, die Messerspitzen nach unten auf Neris Oberschenkel gerichtet. Einer packte ihre Schultern so fest, dass sie meinte, ihr Schlüsselbein würde brechen. Und dann – wie auf ein unhörbares Kommando hin – stießen sie zu. Alle auf einmal. Alle auf dieselbe Stelle. Alle in Neris linken Oberschenkel.

Und sie schrie.

2

DAS WALDLÄUFERMÄDCHEN

MITJA, ETWAS FRÜHER AN DIESEM TAG

Der Morgen graute bereits und Mitja trieb die müde Stute zur Eile an. Immer wieder blickte er zurück auf die Schleifspuren, die er hinter sich im frisch gefallenen Schnee zurückließ. Ob die dünner werdenden Flocken noch ausreichten, um die tiefen Rillen zu verbergen? Aber selbst wenn nicht, gab es nun kein Zurück mehr. Das Waldläufermädchen lag auf der Schleife und stöhnte jedes Mal im Fieber, wenn sie über einen Stein oder Ast holperte. Der Zustand der Wunde in ihrem Oberschenkel bereitete ihm Sorgen. Wahrscheinlich hatte er Glück, wenn das Mädchen überhaupt noch lebte, bis sie Avas Hof erreicht hatten. Oder Pech, wie man es eben nahm. Vielleicht wäre es für sie alle besser, wenn sie starb.

Als er die Lichtung seiner Großmutter endlich durch die Bäume schimmern sah, stieg er ab. Er führte die Stute am Zügel bis zur Scheune und öffnete das Tor. Hinter der Schleife, auf der das Mädchen lag, verschloss er es wieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Was hatte er nur getan? Was, wenn Nikolaj oder Wanja die Waldläuferin hier fänden? Was, wenn das Mädchen gefährlich war? Erschöpft rieb er sich die brennenden Augen. Nach zwei durchwachten Nächten konnte er nicht mehr klar denken. Die Pfeilwunde in seiner Schulter pochte heiß, und er hatte Hunger wie ein Wolf. Aber noch durfte er nicht ausruhen.

Er trat zu dem Mädchen und beugte sich über sie. Durch den Spalt der angelehnten Torflügel und die kleinen Luken unter dem Dach fiel nur ein wenig graues Tageslicht herein. Aber es genügte, um die Umrisse ihres Gesichts zu erkennen. Der Rest von ihr lag unter Mitjas Mantel verborgen.

„Wach auf!“, flüsterte er. „Wir sind da.“ Seine Stimme war belegt von der durchwanderten Nacht.

Da knarrte das Tor und Mitjas Hand zuckte zu seinem Gürtelmesser.

„Bist du es, Mitja?“ Seine Großmutter hielt eine Öllampe hoch. Sie trug ihr Nachtgewand und einen dicken wollenen Schal um die Schultern. Das graue Haar stand in alle Richtungen ab. Und als sie hereintrat, breitete sich das Laternenlicht in der Scheune aus und beleuchtete die vom Schweiß dampfende Stute.

Mitja ließ den Messergriff los und atmete aus. „Ja, ich bin’s.“

Er war plötzlich sehr froh, Ava zu sehen. Dabei war er nur zwei Tage fort gewesen.

Sie trat zu ihm und legte die Arme um ihn. „Dass du nur endlich zurück bist! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ Sie tätschelte ihm den Rücken. „Du bist ja ganz nass und kalt von der Nacht. Komm erst mal ins Haus. Wärme dich auf und iss etwas.“

„Ich muss noch das Pferd versorgen“, sagte er und trat von einem Fuß auf den anderen.

Ava beäugte ihn von oben bis unten. „Was ist los? Ist es deine Schulter? Ist die Wunde wieder –“

„Nein.“

Zögernd wandte Mitja sich um und gab Ava den Blick auf das Schleifgestell frei. Bis auf den Haarschopf und das Gesicht war das Mädchen noch immer unter dem Mantel verborgen. Sie lag reglos und schien zu schlafen, hoffentlich.

Ava presste sich eine Hand auf den Mund. „Ist sie das?“ Sie hielt die Lampe so, dass die blasse Stirn des Mädchens im Licht glänzte. Das verschwitzte Haar klebte ihr an den Schläfen.

„Ja“, antwortete Mitja.

Ava schob sich an ihm vorbei, um die Waldläuferin besser betrachten zu können. „Was ist mit ihr? Sie ist ja ganz verschwitzt.“

Mitja räusperte sich. „Sie ist verletzt. Sie hat einen Pfeil im Oberschenkel.“

„Bei den Göttern, Mitja! Hast du etwa auf sie geschossen?“

„Nein. Sonst hätte ich sie wohl kaum hierhergebracht.“

„Und was ist mit Nikolaj und den anderen?“ Die Sorge machte ihre Stimme schrill.

„Die halten sie für tot. Und so es muss auch bleiben.“ Warnend suchte er Avas Blick. „Hast du verstanden?“

Die Augen seiner Großmutter wurden ganz rund. „Du versteckst dieses Mädchen vor ihnen? Vor Nikolaj?“

„Ist es nicht das, was du wolltest?“, fragte Mitja gereizt.

„Na ja, also …“

„Beschütze sie, das hast du doch zu mir gesagt.“ Die ganze Anspannung der letzten Tage drohte sich nun Bahn zu brechen.

Ava zog die Brauen zusammen. „Ich sagte, du solltest dafür sorgen, dass ihr nichts passiert! Stattdessen bringst du sie mit einem Pfeil im Bein in meine Scheune.“

„Entweder das, oder sie wäre im Wald krepiert!“, hielt Mitja mürrisch dagegen. „Und wenn wir den Pfeil nicht bald rausholen, dann wird sie das vermutlich hier in deiner Scheune tun.“

Avas Blick war eisern; erst als sie wieder zu dem Mädchen schaute, wurde ihre Miene weicher. Sie strich ihr über die Wange. „Sie hat Fieber.“ Ava blickte auf. „Wir müssen sie ins Haus bringen. Ich bereite alles vor.“ Damit hängte sie die Lampe an den Haken und eilte aus der Scheune.

Mitja blickte ihr nach und seufzte. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Kopfschüttelnd hockte er sich neben die Waldläuferin und hob vorsichtig den Mantel von ihr herunter, darauf bedacht, den Pfeilschaft so wenig wie möglich zu bewegen. Aber sie regte sich dennoch. Ihre Augenlider flatterten, und das Lampenlicht spiegelte sich in der hellen Iris.

Mitja erschrak. Ihre Augen wirkten wie zwei Monde. Und sie flüsterte irgendetwas.

Er beugte sich zu ihr herunter. Aber ihr Gemurmel war völlig unverständlich.

„Hey“, flüsterte er. „Du musst noch ein wenig länger durchhalten, verstanden?“

Sie starrte ihn mit ihren glänzenden Mondaugen an, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie etwas ganz anderes sah als sein Gesicht. Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn. Dann nahm er sie hoch, ignorierte, wie sie dabei vor Schmerzen wimmerte, und trug sie hinüber ins Haus.

Dort hatte Ava mittlerweile Feuer gemacht und wahrscheinlich jede Öllampe entzündet, die sie besaß. Ein riesiger Kessel hing über dem Feuer, und sie war damit beschäftigt, saubere Stoffe zusammenzusuchen. Auf dem Tisch lagen Zange, Pinzette, Messer, Nadel und Faden. Mitja wurde flau im Magen. Ava war Tochter, Gemahlin und Mutter von Kriegern. Nur Mitja, ihr einziger Enkel, hatte in dieser stolzen Linie versagt. Seine Großmutter hatte von klein auf gelernt, wie man mit Wunden und Kriegsverletzungen umging. Wenn jemand in Aheelia dem Waldläufermädchen helfen konnte, dann war sie es. Dennoch graute Mitja vor dem, was nun kommen würde.

„Leg sie auf den Tisch“, wies Ava ihn an und holte ein Glasfläschchen mit einer braunen Flüssigkeit. „Und dann flöße ihr das hier ein. Sie muss alles trinken. Es wird sie betäuben, solange wir am Werk sind. Zumindest ein bisschen.“

* * *

Stunden später trat Mitja aus der Tür auf den Hof, streckte den Rücken durch, bis seine Wirbelsäule knackte, und holte tief Luft. Die Hände zitterten ihm noch immer, und seine Knie fühlten sich weich an. Im viel zu grellen Tageslicht fingen seine überanstrengten Augen an zu brennen. Aber die Waldläuferin hatte nun keinen Pfeil mehr im Bein. Sie lag vernäht und verbunden in seiner Kammer auf dem Bett – schlafend oder bewusstlos.

Auch Mitja hätte sich jetzt schlafen legen mögen, aber er war noch viel zu aufgekratzt. Er tappte hinüber zur Scheune, wo er die Stute Rotschopf noch immer gesattelt und mit angespannter Schleife hinter sich vorfand. Hoffnungsvoll wieherte das Pferd ihm entgegen. Er hatte das arme Tier völlig vergessen, nachdem er die Waldläuferin ins Haus gebracht und Ava bei der Entfernung des Pfeils geholfen hatte. Bei der Prozedur hatte das Mädchen viel Blut verloren. Die Wunde war Mitja riesig erschienen, nachdem Ava sie gereinigt hatte. Sein einziger Beitrag bei der ganzen Sache war es gewesen, die Waldläuferin festzuhalten und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht die Zunge abbiss.

Er erlöste die Stute von der Schleife, nahm ihr Sattel und Zaumzeug ab und entließ sie auf die Koppel. Dann schnallte er den Bogen seines Vaters vom Sattel los und strich über die feine Inschrift:

Mein Schuss ein Wille. Mein Pfeil ein Tod.

Ich Hand des Schicksals. Du Meister und Gebot.

Würde sein Vater die Entscheidungen, die Mitja gerade traf, gutheißen? Wahrscheinlich nicht. Es beschämte ihn, dass aus ihm kein Mann geworden war, auf den sein Vater hätte stolz sein können. Aber die guten Sitten und das Ansehen hatten auch Raik kein Glück gebracht. Mitjas Vater war ermordet worden, das zumindest hatte Nikolaj erzählt.

Wenn das Waldläufermädchen überlebte, könnte Mitja ihr Fragen stellen und hätte so vielleicht Gelegenheit, mehr über den Tod seines Vaters herauszufinden. Von jetzt an, beschloss er, würde er alles besser machen. Er würde die Kontrolle über sein Leben zurückerlangen. Er würde als freier Mann in Aheelia leben, und dafür brauchte er Nikolajs Wohlwollen. Mitja würde tun, was immer nötig wäre, um diese Freiheit für sich und seine Großmutter zu erlangen. Keine Gefangenschaft mehr! Kein Hunger und keine Armut! Das schwor er sich. Und er würde verdammt sein, wenn so ein Gör aus den Wäldern ihm da dazwischenfunkte.

Das Scheunentor knarrte und riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ich habe Tee gemacht“, sagte Ava. Klein und gebeugt stand sie da, die Miene bekümmert, die Hände ineinandergelegt. Sie rieb sich die geschwollenen Gelenke. „Setzt du dich zu mir auf die Bank?“

Mitja brachte Rotschopf Wasser und Heu und ließ sich dann neben seiner Großmutter nieder. Sie gab ihm eine dampfende Tasse und räusperte sich, was sofort einen Hustenanfall auslöste.

Im Straflager war das Husten seiner Kameraden Mitjas täglicher Begleiter gewesen – bei der Arbeit, in der Baracke, in seinen Träumen ... Die Sträflinge hatten kaum darüber gesprochen, weil es sich nicht ändern ließ, aber der Husten brachte sie alle früher oder später unter die Erde. Zumindest dann, wenn es weder der Hunger noch ein Unfall erledigte. Mitjas Herz krampfte sich zusammen, wenn er an seinen Freund Juri dachte, ohne den er das erste Jahr in den Minen nicht überlebt hätte. Es war im vierten Jahr gewesen, als Juri sich in den kalten Baracken zu Tode gehustet hatte.

Es wird Ava bald besser gehen, beruhigte er sich. Dies hier war nicht der Husten aus den Minen. Sicher hatte sie sich nur erkältet. Wenn Mitja erst wieder voll in Nikolajs Gunsten stünde, würde er genug Lohn bekommen, um sich ein oder zwei Sklaven zu halten. Die würden Ava dann die schwere Arbeit abnehmen. Und wenn seine Großmutter sich erst ausruhen könnte, dann würde auch dieser Husten allmählich verschwinden.

„Hast du Schmerzen?“, fragte er, als der Anfall endlich abebbte und weil er sah, wie Ava sich die Hand auf die Brust drückte.

Ein gezwungenes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Wenn man so alt ist wie ich, hat man ständig irgendwelche Wehwehchen. Sorge dich also nicht um mich.“ Dann verfinsterte sich ihr Gesicht. „Denk lieber mal darüber nach, wie wir jetzt weitermachen. Was soll mit dem Mädchen geschehen?“

Mitja legte die Finger fester um den Becher. „Wenn sie stirbt, bringen wir sie unter die Erde“, erwiderte er.

„Und wenn sie nicht stirbt?“, fragte Ava. „Schickst du sie dann wieder weg, sobald sie gehen kann? Das wird dauern. Außerdem scheint sie mir recht zart zu sein, um allein in den Wäldern zu leben.“

Mitja trank einen Schluck Tee. „Glaub mir, sie ist nicht halb so harmlos, wie sie aussieht.“

„Ach nein?“ Ava blickte ihn von der Seite an. „Dann erkläre mir doch endlich, wie es dazu kam, dass sie einen Pfeil im Oberschenkel hatte. Wer hat auf sie geschossen? Und warum macht Nikolaj Jagd auf sie? Sie hat doch niemandem etwas getan.“

„Sie hat mich fast erschossen!“ Mitja wies auf seine Schulter. „Und du selbst hast mir erzählt, dass sie von den Höfen stiehlt. Es ist Nikolajs Aufgabe als Fürst dafür zu sorgen, dass es in seinem Herrschaftsgebiet rechtens zugeht. Da kann er eine Diebin, die offenbar zu allem bereit ist, doch nicht einfach laufen lassen.“

„Erzähl mir doch nichts!“, brauste Ava auf. „Niemand betreibt solchen Aufwand für ein dürres Waldläufermädchen, das hin und wieder mal einen Sack Getreide stiehlt.“

„Nikolaj schon.“ In Mitjas Schläfen machten sich Kopfschmerzen breit.

„Du weißt, was uns blüht, wenn er herausfindet, dass du sie hier vor ihm versteckst? Das weißt du doch, oder?“, fragte Ava.

Und ob Mitja das wusste! „Was hätte ich denn sonst mit dem Mädchen tun sollen?“ Er rieb sich die Stirn und seufzte. „Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich da mit hineinziehe, Großmutter.“

„Du musst dich nicht dafür entschuldigen. Aber sag mir die Wahrheit! Du hast sie doch nicht nur wegen meiner Worte hierhergebracht, oder?“ Ava blickte ihn forschend an.

Mitja hielt die Augen stur auf seine Teetasse gerichtet. Seine Großmutter kannte ihn allzu gut. „Heißt du denn nicht gut, dass ich ihr geholfen habe?“

„Doch“, sagte Ava. „Dein Vater hätte es auch so gemacht. Aber du … als du gegangen bist, dachte ich, es wäre dir egal.“

Mitja schwieg.

„Hat es etwas mit Nikolaj zu tun?“, bohrte sie nach.

Hatte denn nicht alles in seinem verdammten Leben irgendwas mit Nikolaj zu tun! Mitja wollte über diese Dinge nicht sprechen. Nicht mit Ava und auch sonst mit niemandem. Denn wenn er gestand, dass er das Mädchen nur hierhergebracht hatte, um ihr Fragen zu stellen oder um sie gegen des Fürsten Gunst einzutauschen, würde ihn das vor seiner Großmutter in ein schlechtes Bild rücken. Und diesen Gedanken fand er unerträglich. Immerhin hatte Ava ihn großgezogen, und sie war die einzige Familie, die er noch besaß. Aber die Welt war grausam mit den Wehrlosen und Schwachen. Und er wollte alles dafür tun, um nie wieder zu diesen Schwachen zu gehören. Und ob Ava wollte oder nicht, er würde auch dafür sorgen, dass sie nicht mehr zu diesen Schwachen gehörte.

„Ich tue das alles für uns“, sagte er. „Nicht für Nikolaj. Dieses Mädchen ist nicht so unschuldig, wie sie aussieht. Vielleicht hat sie dein Mitgefühl gar nicht verdient.“

„Vielleicht.“ Ava nippte an ihrem Tee. „Aber vielleicht auch schon. Und das erklärt nicht, warum Nikolaj sie sucht.“

„Vertrau mir einfach“, bat Mitja. „Sorge dafür, dass das Mädchen nicht stirbt. Und … hänge dein Herz nicht an sie. Sie wird nicht lange bei uns bleiben, denke ich.“

Ava blickte ihn zweifelnd an. „Ich weiß nicht, Mitja. Es würde mir besser gefallen, wenn du mir alles erzählst. Wenn ich verstehen könnte, warum –“

„Nein!“

Ava atmete tief durch. „Na gut.“ Sie begriff wohl, dass sie nicht mehr von ihm erfahren würde. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte sie: „Ich werde mich um deine Waldläuferin kümmern. Hoffen wir, dass der Wundbrand sich nicht in ihr Bein frisst. Wenn das Fieber sinkt, hat sie es geschafft. Und bis dahin brauchen wir Lebensmittel, einige Heilkräuter und auch Kleidung für sie. Wenn es ihr besser geht, kann sie schließlich nicht nur in deinem zweiten Hemd herumlaufen. Meine Kleider sind ihr zu klein. Und ihre eigenen Sachen sind nichts als Lumpen.“

„Ich werde alles Nötige besorgen“, sagte Mitja.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust, mein Junge. Ich will dich nicht noch einmal verlieren.“

Mitja rang sich ein Lächeln ab. Er wusste tatsächlich nicht recht, was er tat. Aber er würde verdammt sein, wenn er das Ava gestand.

Wichtig war nur, dass sie auf ihre alten Tage sorglos leben konnte. Er würde nicht zulassen, dass sie wieder in Armut und Not versank. Und genauso wenig würde er zulassen, dass man ihm ein weiteres Mal die Freiheit raubte. Dieses Waldläufermädchen würde ihm erzählen, was er wissen wollte. Nämlich, wie sein Vater wirklich zu Tode gekommen war. Und dann würde er endlich – ein für alle Mal! – mit seiner Vergangenheit abschließen können.

3

GUTE & SCHLECHTE TATEN

MITJA, AM NÄCHSTEN TAG

Mitja sackte das Herz in die Hose, als Wanja auf den Hof geritten kam. Er hatte sich gerade am Brunnen Wasser ins Gesicht gespritzt, um den Schlaf aus seinem Kopf zu vertreiben. Der Mittag war schon vorüber. Er hatte viel zu lange geschlafen. Und erst bei Wanjas Anblick wurde ihm klar, dass Nikolaj ihn ja heute Morgen eigentlich auf der Burg erwartet hatte. Mitja wischte sich das Gesicht trocken und ging Wanja entgegen. Er musste ihn unbedingt davon abhalten, das Haus zu betreten, wo das Mädchen lag und sich im Fieber hin und her wälzte.

„Sag bloß, du kommst mich besuchen?“, fragte er leichthin.

Wanja war in voller Montur aufgekreuzt, mit Lederharnisch und Arm- und Beinschutz. Er trug ein Schwert am Gürtel und das Schild auf dem Rücken. Vom Pferd aus grinste er auf Mitja herab. „So kann man es nennen“, sagte er. „Du siehst aus, als hättest du eine kurze Nacht gehabt. Dabei ist es nicht mal mehr Morgen. Und wir dachten, du nutzt deine freien Tage, um dich auszukurieren.“

„Das habe ich auch“, hielt Mitja dagegen und rollte demonstrativ die linke Schulter, wo ihn vor vier Tagen das Waldläufermädchen mit dem Pfeil getroffen hatte. Die Bewegung ziepte und stach gewaltig. Aber das ließ er Wanja nicht merken. „Siehst du, ist fast wieder wie neu.“

Wanja stieg ab. „Na dann ist’s ja gut. Deine Ruhetage sind nämlich vorbei, mein Freund. Jetzt ruft die Pflicht wieder. Nikolaj hat einen Auftrag für uns. Und da du nicht wie verabredet auf der Burg erschienen bist, dachte ich, ich komme vorbei und hole dich ab.“

„Ah ja …“ Mitja hatte eine ungute Vorahnung. „Was für ein Auftrag denn?“

Wanja hob die Augenbrauen. „Na, wir suchen das Mädchen.“

Mitjas Herz setzte einen Schlag aus. „Ich … ich dachte, sie sei tot.“ Er versuchte, unbeschwert zu klingen. „Wenn sie bis jetzt nicht aufgetaucht ist, dann ist sicher nicht mehr damit zu rechnen, dass sie noch lebt, oder? Wir haben doch alle gesehen, wie der Fluss sie geholt hat.“

„Ach, Mitja“, Wanja schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf, „hast du noch immer nicht begriffen, wer hier das Sagen hat? Wenn Nikolaj will, dass wir das Mädchen suchen, dann suchen wir das Mädchen.“

„Aber er hat mir selbst gesagt, dass er sie für tot hält.“

„Nun, offenbar hat er seine Meinung geändert.“ Wanja zwinkerte ihm zu. „Während du dich hier auf die faule Haut gelegt hast, waren ich und die anderen ununterbrochen unterwegs und haben die Augen nach ihr offen gehalten. Abgesehen davon nutzen wir heute die Gelegenheit und werden unterwegs noch etwas anderes erledigen.“

„Und das wäre?“, fragte Mitja.

„Wir statten säumigen Bauern einen Besuch ab und bitten sie höflichst, ihre Abgaben an das Fürstentum nicht noch länger hinauszuzögern.“ Wanja grinste. „Es gibt immer ein paar Höfe, die nicht zahlen wollen. Und um die kümmern wir beide uns heute.“

„Das klingt ja … ganz ausgezeichnet“, sagte Mitja lahm. Es ging also um Faustarbeit. So zumindest hatte Nikolaj das genannt, als Mitja vor einigen Tagen bei ihm vorgesprochen hatte. Und eigentlich hatte Mitja diese Art von Arbeit nicht tun wollen. Aber nun hatte er das Mädchen im Haus. Nicht nur sein eigenes, sondern auch Avas Schicksal hing davon ab, dass er keine Aufmerksamkeit erregte. Er sollte Wanja also keinen Grund zum Misstrauen geben. Und Nikolaj schon gar nicht.

„Ähm ... in Ordnung. Gib mir einen Moment“, bat er. „Ich bin gleich fertig. Dann können wir aufbrechen.“

* * *

An diesem Tag besuchten sie mehrere Höfe, die in den Wäldern verteilt lagen, und überall sammelte Wanja Abgaben ein. Er musste sich niemandem vorstellen. Die Leute kannten ihn. Aber sie begrüßten ihn nicht freundlich, sondern meist mit gesenkten Köpfen und hochgezogenen Schultern. Die Mütter riefen die Kinder ins Haus und ließen sich nicht mehr blicken. Kaum einer wagte es zu murren, und das, obwohl selbst Mitja sehen konnte, dass sie alle arm waren.

Wanja aber schien das nicht zu interessieren. Er wirkte fröhlich und unbekümmert, als würde er die Not der Menschen nicht sehen. Mitja jedoch war sich dessen nur allzu bewusst. Die Tatsache, dass er sieben Jahre lang selbst in bitterer Armut gelebt hatte, mit nichts als den Kleidern am Leib, die er sein Eigen nennen konnte, führte dazu, dass ihm die Anzeichen des Elends sofort ins Auge sprangen. Waren die Leute in Aheelia schon immer so arm gewesen? Zum Glück hatte er bei diesem Auftrag nicht viel mehr zu tun, als auf dem Pferd zu sitzen und finster dreinzuschauen.

Erst am Ende des Tages, als sie beim letzten Hof auf der Liste ankamen, geschah es, dass Wanja widersprochen wurde. Er hatte den Bauern aufgefordert, ihm die geschuldete Summe in Münzen zu zahlen.

Aber der Mann lachte nur freudlos. „Münzen? Unsereins hat keine Münzen mehr, Krieger!“

„Dann gib mir deine Ziege.“ Wanja zeigte auf die Weide, wo das Tier graste.

„Wenn ich das tue, dann werden meine Kinder Hunger leiden! Die Milch ist alles, was wir für den Kleinsten haben.“

„Dann hättet ihr sparsamer sein sollen“, gab Wanja gleichgültig zurück. „Du kennst die Höhe der Steuern. Hättest du entsprechend gewirtschaftet, dann wärst du jetzt nicht in diese Lage gekommen.“

„Die Steuern verdoppeln sich mit jedem Winter, die Ernte aber nicht! Das kannst du deinem Fürsten sagen!“, fuhr der Mann auf. „Dem Wald ist es egal, wie gut ich wirtschafte!“

Wanja musterte den vor Zorn bebenden Mann kühl. „Mein Fürst, sagtest du? Ist es denn nicht auch der deine?“

Der Mann schob das Kinn vor. „Mein Fürst ist der König! Nicht ein dahergelaufener Emporkömmling, der sich mit Hinterlist und Falschheit den Titel von Aheelia erschlichen hat.“

Wanja hatte den Mann so schnell am Kragen gepackt, dass Mitja erschrocken die Luft anhielt.

„Was sagst du da?“ Wanjas Stimme war gefährlich leise geworden. „Ich hoffe, ich habe mich verhört.“

Doch bevor der Bauer antworten konnte, stürzte ein Junge hinter der Hausecke hervor. Er hielt einen Knüppel in den Händen und schwang ihn gegen Wanja. Dieser duckte sich gerade noch weg, bevor die Waffe ihm den Schädel zerschmettert hätte. Aber der Knüppel streifte ihn dennoch am Arm.

Mitja dachte nicht nach. Er sprang vom Pferd, blockte den nächsten Hieb des Jungen mit dem Arm ab, entwand ihm die Waffe und stieß den Halbwüchsigen so heftig fort, dass der gegen den Lattenzaun der Ziegenweide geschleudert wurde. Nun griff auch der Vater ein, der wohl glaubte, Mitja würde seinen Sohn tot prügeln wollen. Der dürre Bauer stürzte sich auf ihn. Mitja war gezwungen, ihn sich vom Leibe zu halten. Und so versetzte er ihm einen Schlag in die Nieren und einen weiteren gegen den Kiefer. Der Mann wankte rückwärts, und bevor er zu einem erneuten Angriff ansetzen konnte, hatte Mitja ihn schon am Hemd gepackt.

„Ganz ruhig jetzt!“, warnte er und hob drohend den Zeigefinger. „Du willst doch nicht, dass deine Kinder am Ende auch noch ohne Vater dastehen.“

Der Bauer atmete heftig. In seinem Gesicht war abzulesen, wie Zorn und Angst mit der Vernunft rangen. Er blickte sich um, erfasste wohl, dass er gegen Mitja und Wanja keine Chance hatte. Schließlich hob er zum Zeichen, dass er keinen Widerstand mehr leisten würde, die Hände.

Der Halbwüchsige hatte sich jedoch schon wieder aufgerappelt und wollte erneut angreifen.

„Nicht!“, rief der Vater. „Nicht, Pita!“

Aber der Junge gehorchte nicht. Mitja versetzte ihm einen halbherzigen Schlag ins Gesicht, sodass der Jugendliche erneut zu Boden ging. Blut lief ihm jetzt aus der Nase, und er blickte trotzig zu Mitja auf.

„Lass ihnen die Ziege, Pita!“, keuchte der Vater. „Lass sie nehmen, was sie wollen.“

Der Junge senkte den Blick. Tränen standen ihm in den Augen. Er ließ den Knüppel fallen.

Die Bauersfrau erschien mit bleichem Gesicht und fing die Ziege ein. Mitja zerrte das Tier ans Gatter und bat um ein Seil.

„Brauchen wir nicht!“, sagte Wanja und zog eine Kette mit einer Halsschelle daran aus der Satteltasche. Mitjas Hand zuckte davor zurück. Diese Ketten mit den Halsschellen kannte er nur zu gut. Er hatte sie selbst einige Male tragen müssen.

„Was willst du damit?“, fragte er finster.

Wanja lächelte wissend. „Na, für die Ziege. Wir müssen sie ja irgendwie zur Festung bringen. In die Schelle passt auch ein Ziegenhals hinein. Eigentlich würde ich sie ja viel lieber diesem Halbstarken da umlegen. Verdient hätte er es.“ Er rieb sich die Schulter, die von dem Knüppel getroffen worden war. „Aber ganz so hoch sind die Schulden seines Vaters dann doch nicht. Ich bin ja kein Unmensch.“ Er zwinkerte dem Bauern über Mitjas Schulter hinweg zu, und Mitja war froh, dass er dessen Gesicht nicht sehen musste. Zögernd nahm er die Kette entgegen und schloss den metallenen Ring um den Hals des Tieres. Die Ziege meckerte entrüstet.

Während Mitja aufs Pferd stieg, meinte er noch immer die anklagenden Blicke der Bauernfamilie auf sich zu spüren. Nun war es also schon so weit mit ihm gekommen, dass er Kinder schlug. Betreten rieb er über die brennende Haut an seinen Knöcheln. Der Junge war über einen Kopf kleiner als er gewesen und vermutlich nicht halb so schwer. Mitja hätte ihn nicht schlagen dürfen.

Aber Wanja machte sich darüber offenbar keine Gedanken. Während sie davonritten und den Hof hinter sich ließen, pfiff er eine fröhliche Melodie vor sich hin. Mitja schwieg. Diese Begegnung hatte einen schalen Nachgeschmack bei ihm hinterlassen.

„Du hast dich gut geschlagen“, sagte Wanja nach einer Weile, als sie schon fast bei der Festung angekommen waren. „Ich werde Nikolaj davon berichten. Er erwähnte schon, dass du flink mit den Fäusten bist.“

Mitja zuckte mit den Achseln, was ein Stechen in seine linke Schulter trieb. „Im Straflager gab es keine Waffen.“

„He, du hast alles richtig gemacht!“, sagte Wanja. „Kein Grund, dich zu schämen. Dieses Pack denkt sonst, es könnte unserem Fürsten auf der Nase herumtanzen.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Hast du eigentlich schon entschieden, ob du im Sommer mitkommst zum Ting?“

„Zum Ting?“ Verblüfft wandte Mitja sich ihm zu. „Wie kommst du denn darauf? Was soll ich dort?“

Das Ting war die jährliche Zusammenkunft der sieben Fürsten am Hof des Königs. Bei dieser Versammlung wurden Allianzen geschmiedet, über Krieg und Frieden bestimmt, Streitigkeiten zwischen den Fürsten ausgeräumt, und vor allem fanden die Wettkämpfe statt, in denen sich die freien Männer beweisen konnten, um dem König vorgestellt zu werden. Denn nur der König erwählte die Krieger unter den Gewinnern der Wettkämpfe. Und nur die Krieger waren berechtigt, Asren zu tragen und ihrem Fürstentum in Krieg und Frieden zu dienen. Als Krieger unterstand man seinem Fürsten direkt, und die mächtigsten bekamen meist Landbesitz oder Burgen zur Verwaltung übertragen. Früher war es Mitjas Traum gewesen, von einem dieser Ting-Treffen als erwählter Krieger der sieben Fürstentümer heimzukehren.

„Du könntest dich als Kriegeranwärter vorstellen“, schlug Wanja vor. „Du bist zwar schon recht alt dafür, aber du scheinst dennoch gut in Form zu sein, dafür dass du nicht trainierst. Du müsstest Nikolaj nur darum bitten, dass er dich mitnimmt. Und natürlich müsstest du kräftig üben, damit du in deinem ersten Zweikampf nicht den Kopf verlierst. Aber ein paar Monde ist noch Zeit dafür. Du könntest es schaffen.“ Er grinste herausfordernd.

Wenn man den Kriegerstatus erlangen wollte, musste man an drei von fünf Wettkampfdisziplinen teilnehmen, erinnerte sich Mitja. Und die angesehensten davon waren der Schwert- und der Lanzenkampf. Keine dieser beiden beherrschte Mitja besonders gut. Glänzen konnte er nur im Bogenschießen und vielleicht im freien Ringen. Letzteres bedeutete in den Fürstentümern so viel wie waffenloser Kampf. Ob das wohl genügte?

Der alte Ehrgeiz regte sich in ihm. Sollte er es versuchen? War es vielleicht doch noch nicht zu spät für ihn?

„Meinst du das ernst?“, fragte er Wanja und konnte die Hoffnung nicht ganz aus seiner Stimme verbannen.

Wanja neigte den Kopf. „Die Frage ist nur, ob du es auch willst. Und du willst doch, oder?“ Er grinste. Wanja wusste eben, was er tun musste, damit Mitja anbiss.

* * *

Auf dem Weg nach Hause kaufte Mitja auf dem Markt ein. Wanja hatte ihm in Nikolajs Namen Münzen für seine „Faustarbeit“ ausbezahlt. Viele Münzen. Mehr, als Mitja wahrscheinlich jemals zuvor besessen hatte. Und obwohl der Dienst, für die er sie bekommen hatte, gallig schmeckte, konnte er nicht leugnen, dass Einkaufen mehr Freude bereitete, wenn man nicht jede Münze dreimal umdrehen musste. Er kaufte Brot, Fleisch, Käse und die Heilkräuter für die Waldläuferin, die Ava nicht mehr vorrätig hatte. Außerdem suchte er ein Kleid für das Mädchen aus. Es war ein schlichtes gebrauchtes Stück, aber es war das erste Kleid überhaupt, dass er einkaufte. Warum hatte er Janna damals nicht mehr Geschenke gemacht? Verdient gehabt hätte sie es.

„Wer ist denn die Glückliche?“, fragte der Händler scheu, während er für Mitja das Kleid zusammenlegte und über den Ladentisch schob.

Mitja sah auf. Er hatte dem Verkäufer kaum Beachtung geschenkt, so wie er überhaupt recht in sich gekehrt über den Markt geschlendert war. Und als er nun dem Blick des Händlers begegnete, schaute dieser schnell wieder weg.

„I-ich wollte dir damit nicht zu nahe treten … also …“, stammelte der Mann. „Bitte verzeih, wenn das zu persönlich war.“

„Schon gut“, entgegnete Mitja. Der Mann wirkte jetzt so verängstigt, als hätte Mitja ihn mit einem Messer bedroht. Ob es sich auf dem Markt herumgesprochen hatte, dass er nun zu Nikolajs Schlägern gehörte? Oder war es die Sträflingsnummer auf seinem Handrücken?

„Das Kleid ... es ist für meine Großmutter“, sagte er, nur damit der Händler sich endlich beruhigte. Mitja fühlte seinen Kopf heiß werden. Schnell stopfte er das Kleidungsstück in die Satteltasche und ging weiter. Und während er den Markt überquerte, fiel ihm auf, dass die Leute Abstand zu ihm hielten. Sie traten ihm alle aus dem Weg. Es war, als ginge er allein und die Menschenmasse teilte sich vor ihm. Hinter ihm dagegen blieben die Leute stehen, blickten ihm nach und tuschelten. Kaum einer wagte es, seinem Blick zu begegnen. Und wenn doch, dann argwöhnisch. Nicht ein lächelndes Gesicht war unter ihnen. Es war nicht Verachtung, die sich in ihren Augen spiegelte, und sie sahen auch nicht auf ihn herab, wie er anfangs vermutet hatte.

Nein. Sie hatten Angst vor ihm.

* * *

Ava warf Mitja wegen seiner wunden Handknöchel einen missbilligenden Blick zu, als er nach Hause kam. Natürlich wusste sie, was diese Art von Verletzung bedeutete. Solchen Schürfwunden begegnete man, wenn man Leute verarztete, die es regelmäßig mit Kämpfen und körperlichen Auseinandersetzungen zu tun hatten.

Die Geschichte mit der Geldeintreiberei und vor allem dem Halbwüchsigen stieß Mitja noch immer sauer auf. Der Junge konnte höchstens fünfzehn Winter alt gewesen sein. Etwa genauso alt, wie Mitja damals, als Nikolaj ihn maskiert in den Wald mitgenommen hatte.

Um Ava abzulenken, präsentierte er ihr all die Dinge, die er vom Markt mitgebracht hatte. Und er genoss es, wie sie sich darüber freute. An diesem Abend aßen sie so reichlich wie schon lange nicht mehr.

„Wie geht es denn dem Mädchen?“, fragte Mitja, als Ava eine Schale voll Fleischbrühe schöpfte und vor ihn hinstellte.

„Das Fieber scheint langsam abzuklingen“, sagte sie. „Die Wunde sieht nicht schlechter aus als gestern. Das ist ein gutes Zeichen. Willst du ihr die Brühe bringen?“ Sie hielt ihm die Schale und einen Löffel hin.

Mitja zögerte. Aber dann nickte er, nahm die Schale entgegen und ging hinüber zu seiner Schlafkammer, die nun als Krankenzimmer für die Waldläuferin diente. Er setzte sich auf den Hocker neben dem Bett. Das Mädchen lag bis zum Kinn unter einer Wolldecke. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihr Mund stand leicht offen und Mitja konnte zwischen den hellen Haarsträhnen – heute wirkten sie fast golden – die etwas zu spitzen Ohren sehen. Ob es auch Ava aufgefallen war?

Er räusperte sich, in der Hoffnung das Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Aber ihre Lippen bewegten sich nur leicht, als würde sie im Traum mit jemandem reden.

„Hey“, sagte er. „Hast du Hunger?“

Ihre Augenlider zuckten ein wenig, aber mehr geschah nicht.

Ava trat in den Durchgang. „Sie wird nicht aufwachen“, sagte sie. „Ich habe ihr von dem Trank gegeben, damit sie ruhig bleibt. Du musst ihr die Suppe vorsichtig einflößen, damit sie sich nicht verschluckt. Mit dem Löffel. Ich zeige es dir.“

Er machte den Platz auf dem Hocker für Ava frei, und sie ließ dem Mädchen die Brühe Tropfen für Tropfen in den Mund rinnen. Hin und wieder konnte man sehen, dass sie schluckte. Schließlich gab Ava ihm Schale und Löffel zurück, und er machte weiter.

All das fühlte sich für Mitja seltsam friedlich an. Es gab ihm Gelegenheit, die fein geschnittenen, blassen Gesichtszüge des Mädchens zu betrachten – nein, wurde ihm bewusst, der jungen Frau. Denn sie war kein Kind mehr, das war offensichtlich. Ihre langen Wimpern wurden an den Spitzen so hell, dass man sie kaum noch sehen konnte. Das Farbenspiel ihrer Haut, das ihn im Wald so verwundert hatte, war verschwunden. Vielleicht hatte er es sich tatsächlich nur eingebildet. Womöglich lag nur ein entlaufenes Sklavenmädchen vor ihm, mit seltsamen Ohren, das einem Pelzjäger gehört und sich in den Wäldern durchgeschlagen hatte.

Aber was wollte Nikolaj dann von ihr?

„Willst du mir nicht erzählen, was du heute gemacht hast?“, fragte Ava nach einer Weile.

Mitja hielt mit dem Löffel inne, den er gerade an die Lippen des Mädchens hatte setzen wollen. Plötzlich nahm er wieder das Brennen der Schürfstellen an seinem Knöchel wahr.

„Wir haben … Aufträge für Nikolaj abgearbeitet“, antwortete er.

„Aha. So nennt man das also heutzutage. Abarbeiten.“

Mitja ließ den Löffel in die Schale fallen. Ein wenig Suppe spritzte auf seine Hose. „Freust du dich denn nicht über die Sachen, die ich dir mitgebracht habe?“

„Doch“, sagte Ava. „Aber ich mache mir auch Sorgen um dich. Ich habe Angst, dass du …“ Sie suchte nach Worten.

„Du musst keine Angst um mich haben“, erwiderte Mitja. „Ich weiß, was ich tue. Und Nikolaj bezahlt mich gut, wie du siehst.“

Ava presste die Lippen zusammen. „Ja. Aber woher kommen all die Münzen, die du von ihm erhalten hast? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“

Darüber musste er gar nicht rätseln. Er wusste es nur allzu gut. Mitja unterdrückte ein zynisches Lachen. „Er ist der Fürst. Fürsten besitzen eben Münzen“, sagte er. „Und wenn ich für ihn arbeite, wird er uns wenigstens keine Probleme machen.“

Avas Miene verfinsterte sich. „So wie damals, meinst du?“

Mitja schoss einen Blick zu ihr. Dann stand er auf und stellte die Schale ab. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was damals war!“

Ava hielt ihn am Arm fest, bevor er nach draußen stürmen konnte. „Dann sag es mir endlich!“, verlangte sie.

„Nein! Das ist allein meine Sache!“

Ava stemmte die Hände in die Hüften. „Und was ist mit ihr?“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Waldläuferin. „Was hast du mit ihr vor? Und was meinst du wohl, wie Nikolaj reagieren wird, wenn er herausfindet, dass du sie hier vor ihm versteckst?“

„Er wird es nicht herausfinden. Dafür werde ich schon sorgen.“

„Sei dir da nicht so sicher“, warnte Ava. „Du gibst dich mit ihm und seinen Leuten ab. Seit du hier bist, schleicht Wanja ständig in der Gegend herum. Und was Wanja weiß, das weiß auch Nikolaj, sei dir dessen gewiss. Du spielst mit unser aller Leben, Mitja.“

Er fasste sich. Ava hatte Angst, sonst nichts. Das war nur verständlich. „Dir wird nichts geschehen, Großmutter“, sagte er sanfter. „Ich habe Wanja im Griff. Und Nikolaj taucht hier nicht auf, das ist unter seiner Würde. Und wenn er es doch tun sollte und das Mädchen findet, dann werde ich einfach sagen, dass du mit alldem nichts zu schaffen hast. Ich werde alle Schuld auf mich nehmen, in Ordnung?“

Ava schüttelte resigniert den Kopf. „Ich kenne dich seit deiner Geburt, Mitja. Ich weiß, dass du die Schuld immer zuerst bei dir suchst. Aber ich bitte dich, mach denselben Fehler nicht zweimal. Nikolaj ist nicht zu trauen.“

Bevor er noch etwas sagen konnte, das ihm später leidtun würde, machte Mitja sich von ihr los und verließ das Haus.

4

WENN MAN DEN MUND ZU VOLL NIMMT

MITJA, AM NÄCHSTEN MORGEN

Mitja ritt den steilen Weg zur Festung hinauf. Die Menschen, die er überholte, musterten ihn verhalten. Die wenigsten grüßten ihn, und Mitja fühlte sich einmal mehr wie ein Ausgestoßener. Aber zumindest war er nun einer mit Pferd und Münzen in der Tasche. Das allein fühlte sich schon besser an als sein letzter Aufstieg zu Nikolajs Feste. Da hatte er nämlich mit wehem Knie und zerlumpter Kleidung vorsprechen müssen.

Er hörte das Geklapper von Pferdehufen. Jemand schloss von hinten trabend zu ihm auf. Mitja schob das Bein mit dem schmerzenden Knie in den Steigbügel und nahm die Zügel auf, damit der Reiter passieren konnte.

„Aha!“, dröhnte es da, und Mitja zuckte zusammen. „Heute hast du also nicht verschlafen. Ich dachte schon, einer von uns müsste dich wieder aus dem Bett scheuchen!“ Alexej grinste ihn von seinem Rappen aus an und fiel neben ihm in Schritt. „Habe ich dich etwa erschreckt?“

„Ich war nur in Gedanken.“ Mitja lächelte ihm zu.

„Pass nur auf, dass du nicht einer dieser Weisen wirst, die ihr Leben ausschließlich mit Nachdenken verbringen. Davon wird man nämlich nicht satt, habe ich gehört.“

Mitja lachte. „Keine Sorge. Ich arbeite daran, dass es nicht überhandnimmt, dieses Grübeln.“

„Gute Idee. Und einstweilen … wie war es gestern mit Wanja? Hattet ihr viel zu tun?“

Mitja strich über seine verschorften Knöchel. „Gelangweilt habe ich mich jedenfalls nicht.“

„Dann bleibst du also dabei?“ Man hörte den leisen Zweifel in Alexejs Worten. „Ich ziehe ja den Wachdienst vor. Wanja findet das immer zu eintönig.“ Er zeigte zur Befestigungsmauer und dem Tor, das sie soeben durchritten. Sie gelangten ins Innere der Vorburg und stiegen ab.

„Übrigens, danke noch mal für die Stute“, sagte Mitja. Alexej hatte ihm Rotschopf geliehen, als sie vor fünf Tagen von der erfolglosen Suche nach dem Waldmädchen zurückgekommen waren. Es war Zeit, das Pferd seinem Freund zurückzugeben. Er hielt Alexej die Zügel hin. „Sie ist ein ganz hervorragendes Tier.“

„Das ist sie!“, stimmte Alexej zu. „Und sie gehört dir. Du kannst sie behalten.“

„Machst du Witze? Die Stute ist ein Vermögen wert!“

Sein Freund grinste. „Ist sie, ich weiß! Und ich hoffe, dass du das nie vergisst und sie spüren lässt, was für ein Prachtmädchen sie ist. Eines der ersten Fohlen aus meiner Zucht. Ich habe vor sechs Jahren angefangen.“

Mitja lächelte in sich hinein, während ein Stallknecht ihnen die Pferde abnahm. Alexej hatte schon immer ein Händchen für Tiere gehabt. „Du weißt, dass ich das nicht annehmen kann, oder?“, sagte Mitja.

„Na klar kannst du!“

„Alexej …“

„Geschenkt ist geschenkt“, schnitt der ihm das Wort ab. „Zier dich nicht so. Diese Bescheidenheit steht dir schlecht. Früher warst du nicht so kleinlich.“

Mitja lehnte sich mit den Unterarmen auf die oberste Holzlatte des Gatters. „Aber du … du warst schon immer der Beste von uns vieren“, sagte er nachdenklich.

„Ganz recht!“, grinste Alexej. „Erzähle das doch auch den hübschen Mädchen, die bei dir Schlange stehen. Die scheinen das nämlich immer zu übersehen.“

Mitja musste lachen. „Von welchen Mädchen sprichst du denn?“ Leider standen schon lange keine Frauen mehr bei ihm Schlange. Wenn es überhaupt je so gewesen war.

Alexejs Äußeres machte es ihm nicht leicht beim anderen Geschlecht. Mit seinem kleinen Wuchs, den eng stehenden Augen und den abstehenden Ohren hatte er es schwer, das Interesse der Frauen zu gewinnen. Ganz im Gegensatz zum gut aussehenden Wanja, der ihn deswegen oft gehänselt hatte.

„Keine Sorge“, sagte Mitja. „Wenn dir die Richtige begegnet, wird sie erkennen, was sie an dir hat.“ Das zumindest hatte Ava ihm immer gesagt, damals, als er dreizehn, vierzehn Jahre alt gewesen war und seinem neusten Schwarm nachstarrte.

„Meinst du?“ Alexej wirkte nicht überzeugt und blickte ihn von der Seite an. „Wie sieht es denn eigentlich bei dir aus? Früher mochten dich die Mädchen. Vor allem Janna. Wenn du aufhörst, ständig so grimmig dreinzuschauen, flattern sie dir vielleicht wieder zu.“

Mitjas Laune sank. Janna war nun Nikolajs Besitz und Mutter seiner Kinder. Sie war weit außerhalb seiner Reichweite. Außerdem hatte sie nicht den Eindruck gemacht, als wollte sie Mitja wiederhaben. Sie schien … verängstigt.

„Du weißt, dass Janna keine Wahl hatte“, sagte Alexej ungewohnt leise. Der Schalk in seinen Augen war verschwunden.

„Es tut trotzdem weh, sie so zu sehen“, gab Mitja zu. „Mit Nikolaj … Ich verstehe nicht, warum er es so weit hat kommen lassen.“

Alexej strich sich Strähnen seiner kupferfarbenen Locken aus dem Gesicht. „Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Menschen verändern sich eben.“

„Du hast dich nicht sehr verändert“, sagte Mitja.

Alexej zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es ja auch leicht, ganz im Gegensatz zu dir oder Janna.“ Er räusperte sich. „Sei ihr nicht böse für die Wahl, die sie getroffen hat. Sie hielt dich für tot – wie wir alle übrigens. Und sie dachte damals an das Wohl ihres …“ Er stockte, entschied sich dann aber doch, es auszusprechen. „Des ungeborenen Kindes.“

Mitjas Gesicht versteinerte sich. Nikolaj hatte es zwar schon erwähnt, deshalb war es keine Überraschung mehr, aber es versetzte ihm dennoch einen Stich, wenn er von diesem Kind hörte – seinem und Jannas Kind –, das tot geboren worden war. Janna hatte ihre Freiheit also sinnlos verkauft. Und danach war sie Nikolajs Eigentum gewesen, und er hatte mit ihr tun können, was er wollte. So war es Sitte in Aheelia.

Damit Alexej keine Zeit hatte, tiefer in dieses Gespräch einzutauchen, stieß Mitja sich vom Gatter ab. „Wo ist Nikolaj eigentlich? Ich muss mit ihm sprechen.“

„Drüben in der Großen Halle, nehme ich an. Zusammen mit den anderen.“

Mitja nickte und machte sich auf, dorthin zu gehen.

„Vergiss deine Stute nicht, wenn du heute Abend heimgehst“, rief Alexej ihm hinterher. „Wie hast du sie eigentlich genannt?“

„Rotschopf!

---ENDE DER LESEPROBE---