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„Manche Fesseln bestehen nicht aus Eisen oder Seilen. Sie sind gewoben aus Versprechen und Hoffnungen, aus Sehnsüchten und Ängsten.“ Neri fürchtet nichts mehr, als in die Gewalt der Menschen zu geraten, denn Wesen wie sie werden gejagt und getötet. Nun ist es dem Fürsten von Aheelia gelungen, sie gefangen zu nehmen. Doch statt sie zu töten, macht er ihr ein unerwartetes Angebot. Neri muss erkennen, dass die größte Gefahr vielleicht nicht von ihm ausgeht, sondern von ihr selbst. Mit Neris Gefangennahme ist auch Mitjas schlimmste Angst wahr geworden. Das Land steht am Rande eines Krieges, und er ist gezwungen, Partei zu ergreifen. Um Neri zu retten, muss er ein riskantes Doppelspiel betreiben, bei dem weit mehr als nur sein Leben auf dem Spiel steht. "Der Blutschwur" ist Band 3 der vierteiligen Wandelblut-Saga. Tauche ein in eine fesselnde und emotional tiefgründige Geschichte über einen jungen Mann, der um seine Freiheit kämpft, und eine Gestaltwandlerin, die ihre Identität verbirgt. Zwei verlorene Seelen, ein gemeinsames Schicksal. Die Wandelblut-Saga verknüpft eine dunkle mittelalterliche Fantasywelt mit Coming-of-age-Elementen und einer Liebesgeschichte, die die Tropes "slow burn" und "forbidden love" bedient. Für Leser ab 16 Jahren.
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Copyright © 2024 by Janis Nebel
Erweitertes Korrektorat: Uwe Raum-Deinzer
© Buchsatz und Gestaltung der Fantasy-Landkarte: Janis Nebel - janisnebel.com
© Covergestaltung: Janis Nebel - janisnebel.com
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Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Impressum
Ines Büttel
Oberer Geisberg 1
96129 Strullendorf
Germany
https://janisnebel.com
ISBN: 9783757993085
Janis Nebel wurde 1985 in Bayern geboren und studierte Archäologie und Geographie. Danach arbeitete sie als Archäologin in Rettungsgrabungen an verschiedenen Orten Süd- und Mitteldeutschlands. Nach einem kurzen Abstecher in die Welt der Wirtschaft und den Büroalltag zog sie 2017 nach Frankreich und erfüllte sich dort den lang gehegten Traum, einen Roman zu schreiben. Ihr Debüt „Die Gabe des Roten Königs“ erschien 2019.
Mehr über die Autorin: https://janisnebel.com
Die Merles Fluch-Trilogie:
Band 1 | Die Gabe des Roten Königs
Band 2 | Im Bann des Roten Königs
Band 3 | Der Turm des Roten Königs
Wandelblut-Saga
Band 1 | Die Waldläuferin
Band 2 | Der Asrenkrieger
Band 3 | Der Blutschwur
Band 4 | Der Abschlussband erscheint 2025!
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1. Lügen
2. Das Asrenschwert
3. Der Käfig
4. Der Auftrag
5. Der Junge
6. Das Gasthaus
7. Der Fürst von Aheelia
8. Die Sklavin
9. Die Festung von Aheelia
10. Die Sache mit dem Vertrauen
11. Nebelschweif
12. Alte Geschichten
13. Der Stein
14. Der Rabe
15. Das Fest
16. Der Tanz
17. Alina
18. Die Narbe
19. Die Initiation
20. Außer Kontrolle
21. Der Blutschwur
22. Finneas
23. Rede und Antwort
24. Geheimnisse
25. In der Bibliothek
26. Die Hinrichtung
27. Verhandlungen
28. Geständnisse
29. Gute Gründe
30. Im Fieber
31. Im Wald
32. Der Hinterhalt
33. Der Schwarze
34. Jeder ist sich selbst der Nächste
35. Schattenwesen
36. Der Verdacht
37. Blut und Licht
38. In der Schmiede
39. Durch die Schatten
40. Tränen
41. Fackeln in der Nacht
42. Die Unschuld
43. Der Verräter
Epilog: Der Antiquar
Mehr von Janis Nebel
Es gibt Momente im Leben, die so unwirklich erscheinen, dass man glaubt, sich in einem Traum zu befinden. Mitja war es so gegangen, als er zum ersten Mal die bunten Himmelslichter des Nordens gesehen hatte, die die Sempka Nishkas Haut nannten.
„Nishka fliegt heute Nacht wieder“, hatte Reda, die Stammesälteste, damals zu den Kindern gesagt und zu den verwaschenen Lichtschlieren hinaufgezeigt, die sich still über den Nachthimmel fächerten und schließlich verblassten. Wie ein Wunder waren sie Mitja vorgekommen. Sie hatten ihm Hoffnung gegeben.
Aber manchmal nahmen diese unwirklichen Momente eine Wendung, die das Leben in einen Albtraum verwandelte. Auch das hatte Mitja bereits erlebt. Deshalb hasste er es, wenn ihm die Kontrolle entglitt. Bisweilen wendeten sich Wunder gegen ihre Bewunderer, und nichts war schlimmer, als Glück zu erwarten, nur um sich dann in einem Desaster wiederzufinden.
Und genau so kam es Mitja jetzt gerade vor. Das Glück hatte sich umgekehrt. Eben noch hatte er in Neris Armen am Flussufer gelegen, von einem anderen Leben geträumt und darüber nachgesonnen, wie er ihr die Wahrheit beibringen würde. Wie es wäre, wenn sie ihm seine Schuld am Tod ihrer Eltern verzeihen könnte.
Doch dazu würde es wohl nicht kommen. Denn fünfzig Schritte von Mitja entfernt stand Nikolaj, der Fürst von Aheelia. Die Spitze seines Asrenschwertes zeigte geradewegs auf Neri. Sie saß vor ihm auf dem Sand des Flussstrandes. Ihr langes, schimmerndes Haar fächerte sich wie ein durchscheinender Schleier um ihren nackten Oberkörper auf. Sie duckte sich mit gespanntem Körper, als wollte sie jeden Augenblick losschnellen.
„Denk nicht einmal daran!“, warnte Nikolaj sie. Und die vier anderen Krieger, die Neri umringten, hoben ihre Waffen.
Aber der Fürst hatte den Satz kaum beendet, da schoss Neri schon auf die Lücke zwischen Nikolaj und dem Krieger Jaros zu. Wanja, der hinter Neri gestanden hatte, haschte mit beiden Armen nach ihr, doch sie glitt ihm durch die Finger. Jaros griff ebenfalls ins Leere. Neri stob zwischen den Bewaffneten hindurch und wäre entkommen, wenn Nikolaj sie nicht an der Schulter gefasst und grob zurückgestoßen hätte.
Sie taumelte, im Fall erwischte Nikolaj ihren Unterarm und zerrte sie zu sich heran. Ihre Haut schillerte dabei, bis sie im Sonnenlicht so hell strahlte, dass Mitja davon geblendet wurde. Das Nächste, was er sah, war, wie Nikolaj sich den Umhang von den Schultern riss und ihn über Neri warf.
Ihr Licht erstarb darunter. Und sie … sie war verschwunden. Einfach weg!
Nicht nur weil sie unter dem Umhang nicht mehr zu sehen war, sondern sie befand sich wirklich nicht mehr dort! Zumindest nicht in menschlicher Gestalt. Denn das Kleidungsstück lag am Boden. Nur etwas viel Kleineres wand sich hektisch darunter und schlug unter dem schweren Stoff um sich. Nikolaj schlang den Mantel fest um das zappelnde Wesen, sodass es sich nicht mehr befreien konnte, und hob es hoch.
Jaros, Ezra und der vierte Krieger Irkin erbleichten. „Wo ist sie hin?“, fragte Letzterer. „Was, bei allen Göttern, ist passiert?“ Die drei wichen zurück. Sogar Wanjas herablassende Miene fiel in sich zusammen. Doch Nikolaj grinste atemlos. Das in den Mantel geschlungene Wesen hielt er vor sich in den Händen.
Da hob Wanja plötzlich den Blick, und seine Augen trafen die Mitjas. „He! Da drüben steht Mitja!“, rief er den anderen zu und deutete auf ihn.
Nikolajs Kopf schoss herum. „Holt ihn euch!“, knurrte er. „Schnell! Bevor er abhaut!“
Jaros, Irkin, Wanja und Ezra sprinteten los.
Mitja dagegen regte sich nicht. Wie festgewachsen stand er da. Neri hatte sich gerade verwandelt. Und wenn Nikolaj das weiße Hermelin erblickte, das sich in dem Mantel befinden musste – dasselbe Hermelin, das sich vor einigen Tagen unter Avas Bett versteckt hatte –, dann würde er sofort daraus folgern, dass Mitja ihn belogen hatte. Nikolaj würde begreifen, dass Neri sich die ganze Zeit auf Avas Hof verborgen gehalten hatte und dass Mitja davon gewusst haben musste. Das durfte nicht geschehen!
Aber mehr als einen zögerlichen Schritt rückwärts brachte er nicht zustande.
Jaros erreichte ihn als Erster und rammte ihn so heftig, dass es Mitja fast von den Füßen riss. Gleich darauf war Wanja neben ihm, packte seinen rechten Arm und verdrehte ihn ihm auf dem Rücken.
Mitja stöhnte vor Schmerz und ging in die Knie. „Nicht so grob!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich laufe nicht weg! Lasst mich los, verflucht! Ich werde nicht fliehen!“
Natürlich ließen sie ihn nicht los. Wanja zog ihn auf die Füße und bugsierte ihn vor sich her auf Nikolaj zu. „Hast dir ganz schön was eingebrockt“, zischte er ihm dabei ins Ohr.
Nikolaj musterte Mitja mit glühendem Blick. Und der wurde sich bewusst, wie er mit dem von seinem morgendlichen Bad im Fluss feuchten Haar und dem von der Totenfeier blutbefleckten Hemd auf seinen älteren Cousin wirken musste. Avas Bestattung, die durchwachte Nacht und seine furchtbare Vision von Neri als geflügelter Bestie waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Dennoch bemühte sich Mitja um eine beherrschte Miene.
„Grundgütiger!“, sagte Nikolaj in einem Tonfall, der klang, als hätte er am liebsten losgebrüllt. „Hattest du ernsthaft vor, in diesem Aufzug abzuhauen?“ Sein abfälliger Blick wanderte über Mitjas besudeltes, halb offen stehendes Hemd und die Kratz- und Bissspuren auf seinem Oberkörper und Hals.
Was immer Mitja jetzt von sich gab, es musste Nikolaj davon überzeugen, dass Neri nichts damit zu tun hatte! Nur so könnte er seine Freiheit bewahren. Und nur so würde er in der Lage sein, Neri zu helfen. Er befeuchtete sich die Lippen. „Glaubst du wirklich, ich würde hier stehen und mich einfach einfangen lassen, wenn ich vorgehabt hätte, zum König überzulaufen?“, fragte er.
Nikolajs Augen verengten sich. „Ich habe dich gewarnt. Du wusstest, was passieren wird, wenn du mir noch einmal Grund zum Zweifel an dir gibst. Wir haben Wagenspuren gefunden, die von deinem Hof wegführten. Du warst nicht da. Ava ist ebenfalls fort. Das Pferd fehlt, und in deinem Haus herrscht Chaos. Da lag die Erklärung doch nahe, dass du dich hastig aus dem Staub machen wolltest. Und wenn du schon dabei bist, dich herauszureden, dann kannst du mir auch gleich erklären, was du und die Wandlerin hier draußen tut, so ganz allein.“ Mit der Schwertspitze schob er Mitjas Hemdkragen weiter auseinander, sodass die Bissmale in seiner Halsbeuge vollständig entblößt lagen. „Ist schon merkwürdig, dass ich euch beide hier am Fluss finde, denkst du nicht?“ Jeglicher Spott war aus seiner Stimme verschwunden.
„Ich habe keine Ahnung, was sie … was diese … diese Kreatur hier tut“, brachte Mitja heraus, und sein Blick zuckte zu dem Stoffbündel unter Nikolajs linkem Arm.
Der Fürst lächelte eisig. „Ach nein? Dann wollen wir doch mal sehen, was ich hier eingefangen habe. Ich habe da nämlich so eine Ahnung, dass ich ihm schon einmal begegnet bin, diesem Herme–“ Er verstummte mitten im Wort, denn während er den Stoff seines Mantels zurückschob, sodass das darin gefangene Wesen wieder zu zappeln begann, kam statt eines Hermelins ein flatternder Flügel zum Vorschein. Ein Flügel mit weißen Federn.
Mitja klappte der Mund auf. Und auch Nikolaj war sichtlich überrascht. Er schob den Stoff noch etwas weiter zur Seite, und der Kopf einer Eule erschien. Der Vogel hatte dunkle Melierungen auf dem Rücken und auf der Oberseite der Flügel. Der Kopf war schneeweiß, der Schnabel schwarz, und die Augen schimmerten in einem auffälligen Goldton.
„Ich habe diese Eule noch nie gesehen!“, sagte Mitja fest. Und es war nicht mal gelogen. „Was soll das Ganze hier? Warum lässt du mich gefangen nehmen?“
Nikolaj starrte die Eule an, dann wandte er sich wieder Mitja zu. „Und das da?“ Er wies auf die Bissmale an Mitjas Hals. „Wie ist das geschehen, hä?“
Mitja schüttelte in einer hilflosen Geste den Kopf und lachte nervös. „Sieht das etwa aus, als stammte es von einem Menschen? Oder von einer Eule? Das war … Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, was es war. Aber sie“, er zeigte auf den Vogel, „sie war es auf jeden Fall nicht.“ Noch einmal lachte er. Und es klang hart und abgehackt in seinen Ohren.
„Das ist wohl die dümmste Ausrede, die mir je untergekommen ist!“, zischte Nikolaj und drückte die Eule mitsamt dem Mantel in Jaros’ Hände. Der nahm das Bündel entgegen, als könnte er sich daran die Finger verbrennen. Der Fürst hob sein Schwert und richtete die Spitze erneut auf Mitja. „Willst du mich etwa für dumm verkaufen, Cousin?“ Das letzte Wort betonte er sarkastisch.
Mitja blieb das Lachen im Halse stecken, als er das kalte Metall an seinem Kehlkopf spürte. Er sah sich bereits gefangen in dem Felsloch-Gefängnis oben auf der Burg, mit Ketten an seinen Hand- und Fußgelenken. Die Erinnerung an die Kälte der Sträflingsbaracken in der winterlichen Tundra ließ ihn schaudern. Barbaras, der Oberaufseher, würde ihn sicher nicht noch einmal lebend aus dem Steinbruch kriechen lassen.
Doch das Schlimmste war, dass er diesmal nicht nur sich selbst, sondern auch Neri mit ins Verderben zog. Sie war genauso gefangen wie er. Aber sie trug keinerlei Schuld. Sie kannte die Welt der sieben Fürstentümer nicht so wie er, und sie konnte sich nicht wehren. Die Tatsache, dass Nikolaj sie in seiner Gewalt hatte und mit ihr anstellen würde, wonach immer ihm beliebte, dieser Gedanke war Mitja unerträglich. Und doch konnte er rein gar nichts dagegen unternehmen.
Er presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Bei den Göttern, er hatte versagt! Es geschah schon wieder, er war dabei, die Kontrolle über sein Leben und seine Freiheit zu verlieren. Panik breitete sich heiß in seinem Bauch aus. Er suchte nach Worten, nach Erklärungen, nach irgendetwas, das ihm und Neri den Hals retten könnte.
„Ich hab sie gefunden, Mitja!“, schallte da eine Stimme zu ihnen herüber. Alexej kam am anderen Ende des Flussstrandes in Sicht. Er führte Mitjas Stute Rotschopf am Halfter und winkte. Seine Schwester Alina spazierte neben ihm, und seine Fröhlichkeit schien völlig fehl am Platze – zumindest in Mitjas Augen. „Deine Stute hat da drüben bei den Grabhügeln gegrast“, fuhr er fort, und während er näher kam, spielte das Pferd an seiner Seite nervös mit den Ohren.
Nikolaj wandte sich ihm zu, seine Schwertspitze noch immer an Mitjas Kehle. „Was hast du damit zu tun, Alexej?“
Der schaute verwirrt drein. „Ich? Na, du hast mir doch den Auftrag gegeben, auf dem Hof zu warten, und aufzupassen, ob Mitja zurückkommt. Tja, und er ist zurückgekommen. Er sagte mir, sein Pferd sei ihm nach der Bestattung ausgekommen, und er würde schon den ganzen Morgen danach suchen. Da hab ich ihm natürlich bei der Suche geholfen. Du weißt ja, mit Pferden kenne ich mich aus.“ Stolz hob er das Kinn.
Nikolaj ließ das Schwert an Mitjas Kehle sinken. „Von was für einer Bestattung sprichst du denn da?“
Alexej blickte ratlos zwischen Mitja und dem Fürsten hin und her. „Na, ich dachte … Mitja, hast du es ihm etwa nicht erzählt?“
„Was erzählt?“, fragte Nikolaj fahrig. „Nun red schon!“
„Ava ist gestorben“, presste Mitja heraus. „Gestern früh. Heute Nacht habe ich ihr die letzte Ehre erwiesen.“ Er schaute zu Boden. „Deshalb sehe ich auch so aus. Der Totentrank, du weißt schon.“
„Ava ist tot?“, fragte Nikolaj überrascht. „Und du hast sie bestattet? Allein?“
„Ja“, bestätigte Mitja. „Allein.“
„Und sie?“ Mit dem Schwert deutete Nikolaj auf das Bündel mit der Eule, das Jaros noch immer vor sich hielt, als könnte es ihm jeden Moment mit Klauen und Zähnen ins Gesicht springen.
Mitja zuckte mit den Schultern. „Ich sagte doch, ich habe keine Ahnung wie sie hierherkommt. Ich war allein. Die ganze Nacht. Zumindest soweit ich mich daran erinnern kann, und … und danach habe ich nach meinem Pferd gesucht. Und so habe ich euch hier gefunden.“ Hilflos hob er die Hände. „Mehr weiß ich nicht.“
„Das kann ich bestätigen!“, mischte Alexej sich eifrig ein. „Kurz nachdem du, Nikolaj, mit den anderen den Wagenspuren nachgegangen bist, kam Mitja nämlich zurück zum Hof gelaufen und hat mir all das genauso berichtet. Er habe Ava heute Nacht bestattet und suche jetzt nach seinem Pferd, hat er gesagt. Und die Stute habe ich gerade bei den Grabhügeln gefunden.“ Er klopfte Rotschopf den Hals.
Mitja räusperte sich. „I-ich versichere dir, Nikolaj, ich habe sie … also dieses … dieses Mädchen, die Eule … hier noch nie gesehen. Ich dachte, sie wäre damals im Fluss ertrunken. Sie muss –“
Unvermittelt schlug Nikolaj Mitja mit dem Heft seines Schwertes ins Gesicht. „Stammle nicht herum! Du behauptest, du hättest Ava heute Nacht bestattet, ja? Und mit dem Mädchen hast du nicht das Geringste zu tun?“
Mitja taumelte und spuckte Blut von seiner aufgeplatzten Lippe in den Sand. Dann hob er den Kopf und erwiderte Nikolajs Blick. „So ist es!“, bestätigte er. „Nicht das Geringste.“
Nikolaj trat so nah zu ihm, dass ihre Nasen sich fast berührten. „Schwörst du mir, dass das die Wahrheit ist?“
„Ja“, log Mitja, während ihm das warme Blut übers Kinn lief. „Ich schwöre es.“ Jedes Wort widerte ihn an. Einen falschen Schwur abzulegen, so weit hatte er es also gebracht.
Nikolaj hielt seinen Blick noch einen Moment, ehe ein kühles Lächeln sein Gesicht verzog. „Na gut.“ Er trat zurück und bedeutete Ezra und Wanja, Mitja loszulassen. „Ich werde dir glauben.“
Mitja atmete auf und wischte sich das Blut vom Mund.
„Ich werde sogar noch mehr für dich tun“, fuhr Nikolaj fort, und ein listiges Schimmern trat in seine Augen. „Du sollst Zeit haben, um Avas Tod zu betrauern. Ich weiß doch, wie viel dir deine Großmutter bedeutet hat.“ Er lächelte. „Aber gib mir besser keinen Grund mehr, an dir zu zweifeln, Cousin.“ Sein Blick wanderte weiter zu Alexej, der noch immer Rotschopf am Halfter festhielt. „Und dir und deiner Schwester übertrage ich die Verantwortung für Mitja. Sorgt dafür, dass er keinen Unsinn anstellt. Kümmert euch um ihn, immerhin ist das ist eine schwere Zeit für ihn. Und vor allem: Gebt acht, dass er es sich nicht anders überlegt und doch die Seiten wechselt. Habt ihr verstanden?“
Alexej erbleichte, sein Lächeln erstarb. Und auch Mitja erstarrte.
Auf Nikolajs Miene dagegen breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus. „Da ihr beide euch ja so nahesteht, dürfte das doch kein Problem darstellen. Aber ich warne dich, Alexej, sollte Mitja abhauen, oder sollte sich irgendetwas, was er heute gesagt hat, als Lüge herausstellen, dann werde ich nicht nur ihm, sondern auch dir die Schuld daran geben. Und natürlich auch deiner Schwester.“ Er zwinkerte Alina zu, die eingeschüchtert neben ihrem Bruder stand. „Überlegt euch also genau, was ihr tut, ihr drei.“ Er ließ den Blick über sie streichen, dann wandte er sich ab „Gehen wir!“, forderte er seine Krieger auf. Wanja, Ezra, Jaros und Irkin setzen sich in Richtung der Pferde in Bewegung.
„Ach ja!“ Nikolaj blieb noch einmal stehen. „Und mein Beileid natürlich für deinen Verlust, Mitja. Ava wird uns allen fehlen.“ Sein Tonfall strafte diese Worte Lügen.
Mitja verbiss sich eine Antwort und unterdrückte den heißen Zorn, der in ihm aufstieg. Er sah zu, wie Nikolaj auf den Wald zuging. Ezra, Irkin und Jaros, der die im Mantel gefangene Eule trug, folgten ihm.
Wanja dagegen zögerte noch. Er sah Mitja und Alexej mit einem mitfühlenden Lächeln an. „Nehmt’s nicht so schwer!“, sagte er. „Das wird schon wieder. Wenn ihr wollt, komme ich später vorbei und sorge für ein wenig Ablenkung?“, schlug er mit einem schelmischen Ausdruck vor – als hätte Nikolaj Mitja nicht soeben mit dem Tod bedroht.
Wanjas Kur für so ziemlich alle Leiden bestand grundsätzlich aus Trinken und Frauen. Und nach beidem stand Mitja gerade gar nicht der Sinn. „Danke, nein“, gab er harsch zurück. Und dabei sah er Wanja nicht einmal an. Stattdessen folgte Mitjas Blick Jaros. Denn der trug Neri zu den Pferden, die zwischen den Bäumen warteten.
Wanja zuckte mit den Schultern. „Na gut. Dann … dann sagt Bescheid, wenn ihr eure Meinung ändert. Wir sehen uns!“ Er wandte sich ab und folgte den anderen.
Neris Federn, die wenigen, die aus dem Mantelbündel herausschauten, schimmerten in der Mittagssonne, als wären sie mit Eiskristallen bestäubt. Und die Tatsache, dass sie sich jetzt in Nikolajs Gewalt befand, ließ Mitja die Fäuste ballen. Er hätte alles dafür gegeben, um ihr diese Situation zu ersparen. Aber er war, verdammt noch mal, zu spät gekommen! Er hatte Neri nicht schützen können. Ohne es zu bemerken, machte er einen Schritt, als wollte er ihr folgen.
„Wehe, du rührst dich!“, flüsterte Alexej und packte ihn am Arm, die Augen ebenfalls nach vorn auf die Bewaffneten und die Pferde gerichtet.
Und so standen sie, Seite an Seite, und sahen zu, wie Jaros’ Pferd einen Satz machte, weg von dem Bündel, das er im Arm hielt. Der Krieger griff in die Zügel und wollte seinen Wallach beruhigen. Doch das Tier rollte mit den Augen, stieg hoch und wich zugleich immer wieder zurück. Auch die anderen Pferde gerieten in Aufruhr. Sie fürchteten sich vor dem Bündel, begriff Mitja. Vor dem Wandelblut. Die Krieger fluchten.
Nur auf Nikolajs Lippen lag ein wissendes Lächeln. „Hört auf!“, befahl er, und es klang amüsiert. „Das hat keinen Zweck. Die Pferde wissen, was wir da eingefangen haben. Wir werden uns den Wagen ausleihen, der drüben bei den Hügeln steht. Du hast doch nichts dagegen, Mitja?“
Der schüttelte stumm den Kopf. Selbst wenn er genickt hätte, wäre das vermutlich egal gewesen. Nikolaj hätte die kleine Lastenkutsche, mit der Mitja gestern Ava und das Totenmahl zu den Grabhügeln gefahren hatte, dennoch genommen. Mit tänzelnden Pferden verließen der Fürst und seine Bewaffneten den Flussstrand.
Mitja, Alexej und Alina blieben schweigend zurück.
Eine wilde Entschlossenheit erwachte in Mitja. Mühsam löste er die Fäuste und fuhr sich mit zittrigen Händen über das Gesicht und das blutverschmierte Kinn. Könnte er doch ungeschehen machen, was sich soeben ereignet hatte! Warum hatte er Neri nicht geweckt, bevor er zu Avas Hof zurückgegangen war? Er war ein solcher Trottel! Warum hatte er sie nicht mitgenommen? Er musste etwas unternehmen! Er musste sie da wieder rausholen, koste es, was es wolle! Er musste –
„Was geschehen ist, tut mir so leid, Mitja!“, hörte er Alina in weinerlichem Ton sagen. Sie trat vor ihn hin und rang mit den Händen. „Das mit Ava, das ist wirklich furchtbar! Bitte sag, was ich für dich tun kann. Ich könnte –“
„Würdest du uns bitte entschuldigen, Schwesterherz?“, unterbrach Alexej ihren Redeschwall mit unterdrückter Wut in der Stimme. Aber sein Zorn galt nicht Alina. „Warum gehst du nicht schon vor? Mitja und ich haben etwas zu besprechen.“
Alina war sichtlich überrumpelt. Offenbar war sie es nicht gewohnt, von ihrem Bruder weggeschickt zu werden. Es war nicht Alexejs Art, derart ruppig mit ihr umzugehen. Sie schien etwas erwidern zu wollen, aber beim Anblick ihres Bruders schloss sie den Mund und entfernte sich.
„Du hättest es mir sagen sollen!“, begann Alexej, als seine Schwester außer Hörweite war. „Bei den Göttern, Mitja! Du hättest gerade um ein Haar dein Leben verspielt! Und meins und das meiner Schwester obendrein!“
„Was meinst du?“, fragte Mitja abweisend, obwohl er natürlich ganz genau wusste, was Alexej meinte.
Alexej verschränkte die Arme vor der Brust. „Verkauf mich nicht für dumm, verdammt! Ich kenne meine Pferde. Rotschopf war das einzige, das nicht vor dem Mädchen oder der Eule oder was immer sie ist, scheute. Was nur bedeuten kann, dass dein Pferd diese Wandlerin kennt.“ Er hob das Kinn. „Habe ich nicht recht?“
Mitja schwieg.
Und Alexejs Miene verhärtete sich. „Meinethalben spiele weiter den Geheimniskrämer! Aber du hast schon verstanden, dass Nikolaj mir gerade bei seinem Abgang die Verantwortung für dich übertragen hat. Wenn du abhaust oder sonst irgendwelche Dummheiten anstellst, dann werde ich, aber auch Alina dafür büßen müssen. Also überlege dir gut, was du jetzt tust, mein Freund. Ich habe nämlich keine Lust, der Nächste zu sein, der im Straflager landet. Und jetzt sag mir, wo du all diese Kratzer und Bisse herhast? Du siehst aus, als wärst du von einem Rudel Wölfe angefallen worden.“
„Die Totenfeier ...“, antwortete Mitja, als wäre das Erklärung genug.
Alexej rieb sich die Stirn. „Du hast wirklich diesen Trank genommen?“
„Ava wollte es so.“
„Das ist gefährlich! Diese alten Sitten müssen sich Verrückte ausgedacht haben! Hast du vergessen, wie oft Leute nach dem Trank nicht mehr dieselben waren? Wie sie den Verstand verloren haben?“ Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Dass Ava dir diesen Unsinn aufgebürdet hat!“
„Es ist kein Unsinn!“, fuhr Mitja ihn an. „Und sprich nicht so von meiner Großmutter!“
Alexej musterte ihn mit schmalen Augen. „Warst du wirklich allein da drin, in dem Hügelgrab?“
Mitja schob sich wortlos an Alexej vorbei und ging mit langen Schritten in Richtung der Grabhügel davon.
Alexej folgte ihm auf dem Fuß. „Was hast du vor?“, rief er. An seiner Miene war abzulesen, wie aufgebracht er war. „Ich erkenne dich nicht wieder! Ich dachte, wir wären Freunde!“
„Wir sind Freunde“, sagte Mitja.
„Warum lügst du mich dann an?“
Mitja zog die Mundwinkel nach unten.
„Warum?“, verlangte Alexej zu wissen.
„Es gibt Dinge, die ich dir nicht sagen kann, verstehst du? Geh mit Alina nach Hause, Alexej. Das ist sicherer für euch. Du kannst nichts für mich tun.“
„Es ist nicht sicherer!“, hielt Alexej dagegen und riss Mitja am Arm herum. „Mach die Augen auf, Mann! Nikolaj gibt mir die Verantwortung für dich. Wenn ich dir also irgendetwas wert bin, dann überdenke, was du da gerade gesagt hast. Du bist nämlich kurz davor, mich und meine Schwester mit dir ins Verderben zu ziehen, wenn du so weitermachst!“
Mitja löste seinen Arm aus Alexejs Griff. „Das würde ich niemals tun.“
„Nicht wissentlich, meinst du wohl. Aber dasselbe hättest du damals wohl auch zu Janna gesagt!“ Den letzten Satz schrie Alexej.
Mitja blieb stehen. Das hatte getroffen.
Alexejs Oberlippe zuckte. Sein Gesicht war ganz rot geworden vor Erregung. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. „Hör zu … hör zu, es tut mir leid, was ich da gerade gesagt habe. Aber du musst doch verstehen, dass deine Taten nicht mehr nur für dich Konsequenzen haben.“ Bittend sah er ihn an. „Ich will, dass du mit zu mir kommst, auf meinen Hof. Ich will, dass du die nächsten Tage dort verbringst, damit ich dich im Auge behalten kann, bis Nikolaj sich wieder einkriegt. Und ich will, dass du nichts unternimmst – gar nichts, hörst du! –, ohne es vorher mit mir abgesprochen zu haben!“
Mitja presste die Lippen aufeinander. „Du willst mich also bei dir einsperren.“
Alexej hob in einer verzweifelten Geste die Hände. „Ich will nur verhindern, dass du mich, meine Schwester und dich selbst noch tiefer ins Unglück reißt.“
Mitjas Schultern sanken herunter, er wandte sich ab und ging weiter.
Alexej packte ihn erneut am Arm. „Bleib stehen, verflucht! Du wirst mich nicht los, hast du gehört! Du musst mich schon niederschlagen und festbinden, wenn du willst, dass ich dich in Ruhe lasse!“
Mitja machte seinen Arm los. Er hatte keinen Nerv, sich mit Alexej zu streiten. Er musste nachdenken, und er wollte allein sein. Aber Alexej … er hatte schon recht. Nikolaj hatte ihm und Alina den Auftrag gegeben, Mitja im Auge zu behalten. Es würde düster für die beiden aussehen, wenn ihnen das nicht gelang.
Mitja fuhr sich durch das feuchte Haar. „Ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber lass mich einen Moment in Ruhe. Ich werde ein paar Sachen zusammenpacken. Danach komme ich mit dir.“
„Den Göttern sei Dank!“ Alexej atmete auf. „Aber wehe, du machst dich davon! Dann schwöre ich, dass ich dich eigenhändig zu Nikolaj schleife und ihn bitte, dich ins Loch zu werfen.“
* * *
Während Mitja zum Grabhügel ging und dort die Werkzeuge einsammelte, die er zum Öffnen und Schließen des Eingangs gebraucht hatte, behielt Alexej Rotschopf am Halfter bei sich. Wahrscheinlich, um zu verhindern, dass Mitja sich aufs Pferd schwang und davonritt.
Mitja trat an die Feuerstelle neben dem Hügeleingang, wo die Öllampen, das Geschirr, die Decken und all die anderen Utensilien der Totenfeier noch genauso dalagen, wie er sie am Morgen zurückgelassen hatte. Nur der Wagen fehlte. Den hatte Nikolaj genommen, um Neri auf die Burg zu bringen.
Bei dem Gedanken stach es in Mitjas Herzgegend. Eine Welle der Trauer brach über ihm zusammen und trieb ihm Tränen in die Augen. Avas Tod hatte eine schmerzende Wunde gerissen, tausendmal tiefer als die Kratzer und Bisse von Neris Krallen und Zähnen. Mitja schämte sich für seine Lügen, seine Feigheit, Neris Gefangennahme. Zum Glück musste Ava all das nicht mehr miterleben.
Verstohlen wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln und packte alles zusammen. Dann stieg er hinauf auf den Hügel, auf dem er im Morgengrauen gesessen und mit Neri gesprochen hatte. Einen Moment stand er dort, wie betäubt, und wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. Das Schwert seines Vaters lag noch immer im Gras. Trotz des bläulichen Scheins hatte Nikolaj die Asrenwaffe nicht entdeckt, sonst hätte er sie gewiss mitgenommen. Mitja bückte sich, hob das Schwert auf und schlug es in eine der Decken, damit Alexej und Alina es nicht sahen. Dann trug er es nach unten zu den anderen Sachen, und die Geschwister halfen ihm, alles zurück zu Avas Hof zu schaffen.
Mitja entging nicht, wie Alexej ihn beobachtete. Alina versuchte hin und wieder die gedrückte Stimmung mit ein paar freundlichen Worten aufzuhellen. Aber keiner der beiden Männer ging auf ihr Geplapper ein, und so gab sie es bald auf.
Schweigend räumte Mitja im Haus herum und packte seine Sachen. Während Alina und Alexej draußen auf ihn warteten, starrte er in die kalte Asche der Feuerstelle im Wohnraum. Dies war jetzt sein Haus, sein Hof. Er war ein freier Mann und ein Krieger der sieben Fürstentümer. Eigentlich besaß er nun alles, was er sich gewünscht hatte, damals, als er das Straflager verließ. Dennoch hatte er das Gefühl, kein Stück weitergekommen zu sein. Er war tiefer gesunken als je zuvor. Neri war gefangen. Ava war tot. Nikolaj traute ihm nicht mehr über den Weg. Was nützte diese verfluchte Freiheit, wenn man sie mit niemandem teilen konnte? Wenn man seine Lebenszeit dafür opferte, diese fragile Freiheit um jeden Preis zu bewahren.
Mitjas Blick fiel auf das in die Decke eingewickelte Asrenschwert. Er nahm es in die Hand, strich über die kalte Klinge. Warum hatte er es eigentlich mitgenommen aus dem Reich der Toten? Wenn Nikolaj es sah, würde er es ihm abnehmen. Der Fürst schätzte es nicht, wenn auch andere Asrenwaffen trugen. Und deshalb tat es auch keiner – nicht einmal die wenigen, die sich eine solche Waffe hätten leisten können.
Kurz entschlossen griff Mitja nach dem Schürhaken und wuchtete eine der schweren Steinplatten hoch, mit denen der Boden rund um die Herdstelle ausgelegt war. Dann kratzte er ein längliches Loch darunter, legte das Schwert hinein und stampfte die trockene Erde darüber fest. Zum Schluss schob er die Steinplatte zurück an ihren Platz und verwischte Asche und Staub darüber, damit man nicht sah, dass der Stein erst kürzlich bewegt worden war. Besser, niemand erfuhr von diesem Schwert.
An seiner Stelle holte Mitja den Bogen seines Vaters von der Halterung an der Wand. Wie so oft las er den darauf ziselierten Spruch:
Mein Schuss ein Wille. Mein Pfeil ein Tod.
Ich Hand des Schicksals. Du Meister und Gebot.
„Du Meister und Gebot“, wiederholte Mitja flüsternd.
Und dabei wurde ihm klar, dass er genau darin bisher versagt hatte. Er war nie Herr über sein Schicksal gewesen. Die ausführende Hand eines anderen hatte ihn über das Spielfeld des Lebens geschoben. Nikolajs Hand.
Aber das würde sich ändern! Mitja wollte Hand und Kopf seines Schicksals werden. Und er würde Neri nicht tatenlos Nikolaj überlassen, das schwor er sich. Er hatte sich schon einmal vor der Verantwortung gedrückt. Damals vor über sieben Wintern hatte er alles mit sich geschehen lassen, alles mitangesehen und nichts unternommen, um es zu verhindern. Er hatte den Falschen sein Vertrauen geschenkt. Das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Aber er durfte nicht hitzköpfig handeln. Er musste bedachtsam vorgehen, wohlüberlegt und geduldig. Nicht mit dem jugendlichen Eifer und der Gutgläubigkeit, die ihn damals in die Minen gebracht hatten. Von jetzt an würde Mitja hart daran arbeiten, Herr über sein Schicksal zu werden.
Entweder das, oder er würde beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, untergehen.
Das blasse Licht des Mondes sickerte durch die Ritzen der groben Bretterwand. Es erfüllte Neri mit Tatendrang, denn es bedeutete, es war Zeit für die Jagd. Schon seit Stunden knurrte ihr der Magen. Unruhig breitete sie die Schwingen aus und schlug ein paarmal damit. Aber kaum hatten ihre Krallen die Sitzstange losgelassen, streiften ihre Federn schon die Käfiggitter. Ihr Gefängnis war zu klein, um zu fliegen. Zu klein, um zu jagen. Zu klein, um irgendetwas anderes zu tun, als dazusitzen und zu warten.
Sie stieß einen schrillen Schrei aus und schlug noch einmal mit den Flügeln. Dann hopste sie von der Stange auf den staubigen Boden des Zwingers. Unzählige Male war sie bereits die Untergrenze des Gitters abgeschritten auf der Suche nach einer Lücke oder einer Schwachstelle. Gestern hatte sie in den Ecken zu kratzen begonnen. Aber der trockene Lehm war bretthart, und die Krallen einer Eule waren nicht zum Graben geeignet. Schon bald taten ihr die Zehen davon weh, ohne mehr als ein paar schmale Rillen im Staub hinterlassen zu haben. Dennoch begann sie wieder mit dem Scharren und hielt erst inne, als Schritte näher kamen. Menschliche Schritte. Argwöhnisch flatterte sie wieder auf die Stange.
Die Tür des Schuppens öffnete sich, das Mondlicht fiel herein, und Neri erspähte die Gestalt eines Mannes, der über die Schwelle trat. Er trug einen dunklen Umhang, und die Kapuze hatte er weit ins Gesicht gezogen. Doch in den schimmernden gelblich-grünen Augen darunter wurde das wenige Licht reflektiert. Seine Pupillen richteten sich trotz der Finsternis auf Neri, und sie zweifelte nicht daran, dass er sie in dem dunklen Schuppen ebenso gut erkennen konnte wie sie ihn mit ihren Eulenaugen.
Er trat vor die Gittertür des Käfigs und streifte die Kapuze vom Kopf. Sein Gesichtsausdruck war nicht freundlich, eher beherrscht. Er hatte langes schwarzes Haar, und eine blasse Narbe reichte von seiner linken Augenbraue bis zur Wange hinunter. Am Tag trug er stets einen Kriegerzopf, wie es in Aheelia Sitte war. Doch jetzt, in der Nacht, lagen seine dunklen Strähnen ihm offen über den Schultern.
„Es ist Zeit, dass du dich zurückverwandelst“, sagte er grimmig.
Es war nicht das erste Mal, dass er vor ihrem Käfig auftauchte. Und jedes Mal verlangte er, dass sie sich in einen Menschen verwandeln sollte. Aber Neri wagte es nicht. Und das, obwohl sie wusste, wie es um sie stand. Umso länger sie in diesem Vogelkörper verweilte, umso schwerer würde das Zurückkehren werden. Schon jetzt waren ihre Gedanken diffus, die Instinkte des Nachtvogels übermächtig. Ihre Zeit lief ab. Wenn sie nicht bald handelte, würde sie für immer eine Eule bleiben müssen. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihr nächtlicher Besucher darüber im Bilde war.
Unerbittlich waren seine Augen. Sie hatten etwas Vertrautes an sich und etwas Beängstigendes. Die Flüsterstimmen wurden in seiner Gegenwart stets besonders aufdringlich. Flieh!, riefen sie. Versteck dich! Sie dürfen dich nicht sehen! Niemals! Dabei war es längst zu spät. Nikolaj, der Fürst von Aheelia, hatte sie gesehen. Er war Zeuge ihrer Verwandlung geworden. Das, was sie seit ihrer Kindheit am meisten fürchtete, war eingetreten: Menschen hatten sie erkannt, eingefangen und eingesperrt.
Aber warum tötete er sie nicht, sondern stand mitten in der Nacht vor ihrem Gefängnis und drängte sie, sich zurückzuverwandeln?
Er starrte sie durch das Gitter an und verschränkte die Hände auf dem Rücken. „Da habe ich dich nach Jahren vergeblicher Suche endlich gefunden, und nun weigerst du dich, mit mir zu sprechen.“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Ich habe dich nicht hierhergebracht, damit du dich in dieser Eulengestalt versteckst!“, fuhr er sie an. „Verwandle dich! Hast du nicht gehört?“
Und als Neri nur weiter dasaß und ihn anblickte, schlug er mit der Hand zornig gegen das Gitter, sodass es dröhnte. Neri sprang verschreckt hoch und flatterte durch den ganzen Käfig, wobei sie sich Kopf, Flügel und Beine schmerzhaft an den Gitterstäben stieß. Auch die Stichwunde von Mitjas Asrenschwert brannte dabei. Doch unter den Federn war sie gut vor Blicken verborgen.
Nikolaj mahlte wütend mit dem Kiefer und trat zurück. Erst als Neri sich wieder auf der Stange niedergelassen hatte, kam er erneut näher und schloss die Finger um die Eisenstäbe. „Möchtest du, dass ich dich anbettle? Ist es das, was du willst?“ Er presste die Lippen aufeinander. „Verwandle dich, verdammt!“ Eindringlich sah er sie an. „Tu es!“
Draußen hoben die ersten Vögel zu singen an. Das Morgengrauen war nicht mehr fern. Noch immer loderte Zorn in Nikolajs Augen. Aber jetzt beherrschte er sich. Ohne ein weiteres Wort stieß er sich vom Gitter ab und verließ mit langen Schritten den Schuppen. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Der Schwung war so heftig, dass sie gleich wieder halb aufsprang. Niemand schloss sie hinter dem Fürsten.
Und als auf der Festung von Aheelia der Tag anbrach, floss ein staubiger Strahl Sonnenlichts in Neris Käfig.
Ein Rabe flog vom Waldrand her über die Pferdekoppel. Er kreiste über dem Stallgebäude, dann ließ er sich herabsinken und landete auf einem der Pfosten, mit denen die Weiden eingezäunt waren.
Mitja hielt im Schaufeln inne. Es war ein ungewöhnlich großer Rabe, der geradewegs zu ihm herüberspähte. Die Entfernung war zu weit, um die Farbe seiner Augen zu erkennen, aber Mitja hätte seine Asrenfiebel darauf verwettet, das sie golden waren. Er lehnte die Mistforke, mit der er Alexejs Pferdestall ausgemistet hatte, gegen die Bretterwand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das musste Finneas sein. In den letzten Tagen hatte er ihn einige Male hier gesehen.
Ein ungutes Gefühl befiel Mitja. Der Rabe konnte ihn nicht leiden, das hatte er ihm mehr als einmal deutlich gezeigt. Warum also kam er hierher? Ob es etwas mit Neri zu tun hatte?
Sechs Tage waren vergangen, seit Nikolaj sie eingefangen hatte. Seither saß Mitja auf Alexejs Hof fest. Von Wanja, der jeden Tag hier aufkreuzte, um nach dem Rechten zu sehen, hatte er erfahren, dass Nikolaj die Eule in einem Käfig eingesperrt hielt.
Aber nun war Finneas wieder hierhergekommen. Was mochte das bedeuten?
Mitja blickte sich um. Alexej und Alina ließen ihn kaum aus den Augen. Doch gerade jetzt befand sich Alexej im Stallgebäude. Und Alina bereitete im Wohnhaus das Morgenmahl zu. Mitja stellte die Schubkarre neben dem Misthaufen ab und ging langsam auf den Zaunpfahl zu, auf dem der Rabe hockte. Er wusste nicht recht, was er damit bezweckte, denn er konnte mit dem Vogel ja nicht sprechen. Aber wenn irgendetwas mit Neri geschehen war, wenn Finneas ihm etwas mitteilen wollte, dann musste Mitja es wissen!
Doch Finneas breitete plötzlich die Flügel aus und schwang sich in die Luft.
„He!“ Mitja lief schneller. Als er das Gatter erreichte, war der Rabe schon über die halbe Weide geflogen. „He, warte!“, rief er. „Warte doch!“
Er kletterte über das Gatter und hastete hinter dem Raben her auf den Waldrand zu. Sein linkes Knie zwickte, aber er achtete nicht darauf. Er durfte Finneas nicht aus den Augen verlieren, der mit lautem Gezeter nach Osten davonflog. In Richtung Fluss, in Richtung von Neris Tal. Wollte der Rabe ihm etwas zeigen? Wollte er, dass Mitja ihm folgte? Vielleicht war Neri entkommen und wartete dort auf ihn. Mitja begann zu laufen.
Er erreichte das jenseitige Weidegatter, hinter dem Alexejs Hof endete und der Wald begann, und schwang sich darüber. Finneas konnte er jetzt nicht mehr sehen, nur dessen Krächzen hörte er noch. Der Rabe flog irgendwo über den Baumkronen.
„Mitja!“, schallte es da vom Hof herüber. „Bleib stehen! Wo willst du hin?“ Das war Alexej.
Aber Mitja blieb nicht stehen. Das Krächzen verklang bereits im Wind. Es drängte ihn, diesem Raben zu folgen. Er lief schneller. Sein Knie stach bei jedem Schritt. Er hörte kein Krächzen mehr. Der Rabe war verschwunden.
Mitja fluchte. Er hielt an und stützte keuchend die Hände auf die Oberschenkel. Neris angsterfüllter Blick schoss ihm durch den Kopf, wie sie Nikolaj dort am Flussstrand angestarrt hatte, während der ihr das Schwert an die Kehle hielt. Überhaupt beherrschte Neri Tag und Nacht seine Gedanken. Mal meinte er, ihre Stimme zu hören, mal glaubte er, ihren Zorn zu spüren oder ihre Verachtung. In seinen Träumen verfolgte ihn dieser verfluchte weiße Drache, dem er das Schwert in Herz stieß. Wahrscheinlich wurde er langsam verrückt. Mitja schloss die Augen, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und richtete sich auf.
„He!“ Alexej rannte das kurze Stück durch den Wald auf ihn zu. Als er sah, dass Mitja stehen geblieben war, wurde auch er langsamer. „Verdammt noch mal, was machst du denn?“ Mit roten Wangen und ganz außer Atem erreichte er Mitja. „Wo wolltest du hin? Du weißt genau, dass du den Hof nicht verlassen sollst!“
Mitja ließ die Hände sinken und blickte sich noch mal nach Finneas um. Nichts. Der Rabe war fort.
„Ich rede mit dir!“, fuhr Alexej ihn an. „Du hast mir versprochen, nicht abzuhauen!“
„Ich wollte nicht abhauen“, entgegnete Mitja.
„Ach, nein? Und warum rennst du dann einfach los in den Wald?“
„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Aber ich habe mich wohl geirrt.“
Alexej strich sich das kupferrote Haar aus dem Gesicht. Er hatte Schatten unter den Augen. Die Heiterkeit, die für ihn so typisch war, schien ihm in den letzten Tagen abhandengekommen zu sein. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, sagte er vorwurfsvoll.
Mitja musste lächeln und deutete auf sein wehes Knie. „Du bist doch viel schneller als ich. Zu Fuß könntest du mich mit Leichtigkeit einholen, selbst wenn ich abhauen wollte.“
„Einholen, ja. Aber machen wir uns nichts vor, ich könnte dich nicht aufhalten, wenn du es darauf anlegen würdest.“ Seine Miene war todernst.
„Du glaubst, ich würde dich niederschlagen?