Der Atem des Feuers - Daniel Arenson - E-Book

Der Atem des Feuers E-Book

Daniel Arenson

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Beschreibung

Ihr Atem ist so heiß wie Feuer, doch gegen das Licht der Sonne sind sie machtlos!

Im uralten Reich Requiem besitzen die Menschen eine phantastische Fähigkeit: Sie verwandeln sich in Drachen. Doch der Frieden des verschneiten Landes steht auf dem Spiel, als aus dem Süden ein Feuersturm auf die Drachen trifft: Unverwundbare Phönixe, bestehend aus Flammen, versuchen Requiem zu zerstören. An ihrer Spitze steht Solina, die alle Drachen auslöschen will. Bis auf einen: Elethor hat Solina einst geliebt – um ihre rasende Wut zu löschen und sein Volk zu retten, muss er sich einem Abenteuer stellen, das ihn weit von Requiem fortführt und mit seinen unheimlichsten Ängsten konfrontiert.

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Seitenzahl: 510

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Buch

Vor dreihundert Jahren brannten die mörderischen Greifen das Königreich Requiem nieder und töteten nahezu alle Bewohner. Die Vir Requis, die Nachfahren der Drachen von einst, eroberten ihre Heimat zurück und schützen ihr Reich mit Feuer, Klauen und Zähnen. Doch nun erhebt sich ein neuer Feind in die Lüfte: Angeführt von der rachsüchtigen Solina fliegt eine Armee aus Phönixen nach Norden, um Requiem mit Tod und Zerstörung zu überschütten. Um das zu verhindern, begeben sich die Geschwister Mori und Elethor auf eine finstere Mission: Sie müssen die sagenumwobene Mondscheibe finden, um Solina und ihre unverwundbaren Phönixe aufzuhalten. Doch niemand ahnt, wo sich das rettende Artefakt befindet. Wird die Mondscheibe Requiem rechtzeitig erreichen, bevor das Sonnenfeuer das Reich der Drachen für immer zerstört?

Autor

Der Kanadier Daniel Arenson ist glühender Fan von Dungeons & Dragons, dem Herrn der Ringe und Star Wars. Müsste er sich entscheiden, wäre er lieber Hobbit als Elf, eher Stark als Lennister und mehr Ravenclaw als Hufflepuff. Als Autor veröffentlichte er im Selbstverlag bereits vier Trilogien aus dem Requiem-Universum. In den USA haben sich seine Bücher mehr als 400 000 Mal verkauft und sind Fantasy-Bestseller.

Daniel Arenson

Der Atemdes Feuers

Drachenlied 1

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Jörn Pinnow

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »A Dawn of Dragonfire«.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung August 2015bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2012 by Daniel ArensonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung und -illustration:© Melanie Miklitza, InkcraftRedaktion: Friedel WahrenHerstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-15801-9www.blanvalet.de

Mori

Mori stand auf der Festungsmauer, als sie den Phönix aufsteigen sah.

Der Feuervogel erhob sich über dem schneebedeckten Horizont, die Flügel ausgebreitet wie Sonnenstrahlen. Allem Anschein nach war er riesig – so groß wie ein Drache, womöglich noch größer. Mori erschauerte. Der Wind fuhr in ihren Umhang, es roch nach Feuer, die Luft war viel zu warm für den Winter. Hinter ihrem Rücken ergriff sie den sechsten Finger an ihrer linken Hand, ihren Glücksfinger. Ihre zahme Maus klammerte sich an ihre Schulter, auch sie hatte die flammende Kreatur erblickt.

»Orin«, flüsterte Mori mit bebenden Lippen. Sie wollte lauter rufen, wollte den Alarm auslösen, ihren Bruder und die Wachen herbeirufen … doch die Angst versiegelte ihre Lippen, während die endlosen Wälder zu ihren Füßen im Frost erstarrten.

In der Ferne drehte die anmutige und schöne Gestalt des Phönix ihre Kreise und stieg höher hinauf. Er schien aus nichts als Feuer gewoben zu sein und zog eine Welle aus Funken hinter sich her. Trotz der Entfernung hörte Mori sein Rufen, das wie das Krächzen eines vielfarbenen Vogels aus dem Süden klang.

Mori wollte fliehen. Ihr fielen all die Geschichten ein, die ihre Brüder erzählt hatten, furchtbare Geschichten von Greifen, die Requiem angegriffen und Millionen ihres Volkes getötet hatten. Selbst in Drachengestalt könnten wir sie nicht aufhalten, hatten ihre Brüder gesagt und wie Greifen gekreischt, woraufhin Mori schluchzend weggerannt war und sich versteckt hatte.

»Doch das ist lange her«, flüsterte Mori, deren Finger jetzt zitterten. Auch der Glücksfinger. Es war Hunderte Jahre her, dass die Greifen über sie hergefallen waren. Inzwischen war Requiem so mächtig geworden, dass kein Feind ihm etwas anhaben konnte. In Nova Vita, der schönen Stadt im Norden, lebten fünfzigtausend Vir Requis, und jeder von ihnen konnte sich Schuppen und Flügel wachsen lassen, um als Drache aufzusteigen und sie zu verteidigen.

Aber, so hielt sie es sich vor Augen, Nova Vita lag weit im Norden, so viele Flugstunden entfernt, dass sie gar nicht daran denken mochte. Hier im Süden, im kalten und einsamen Castellum Luna, verweilten nur fünfzig Vir Requis. Ihr Bruder Orin. Einige Soldaten. Und sie … Prinzessin Mori, ein achtzehnjähriges Mädchen mit einem überzähligen Finger, einer zahmen Maus und genügend Angst, um daran zu ersticken.

Sie kniff die Augen zusammen und spähte zum Horizont. Der Phönix erhob sich kreisend gen Himmel wie eine Kerzenflamme, die sich vom Docht losgerissen hat. Sein Lied wurde vom Wind herangetragen. Moris Maus zupfte sich an den Schnurrhaaren, huschte unter ihren Umhang und verschwand in der Tasche. Mori war neidisch auf ihre kleine Freundin – wie oft wünschte sie sich, ebenfalls so einfach verschwinden zu können.

»Vielleicht ist er ja gar nicht böse«, flüsterte sie. »Vielleicht wird er uns gar nichts tun, Pip.«

Ohne Pip, ihre geliebte Maus, wäre sie längst verrückt geworden. Es war so einsam hier unten im südlichen Hinterland. So … so kalt und abgelegen, alles an diesem Ort machte ihr Angst. Nova Vita fehlte ihr. Sie vermisste die marmornen Säulen, die so anmutig zwischen den Birken der Stadt aufragten, ganz anders als die rohen Backsteinmauern dieses Außenpostens. Sie vermisste ihren Vater, den König, ihre Freundin Lady Lyana, die Minnesänger und Priester, die Gaukler und Geschichtenerzähler. Doch vor allem vermisste sie die Bibliothek von Nova Vita, den gewölbten großen Raum mit so vielen Büchern, dass sie am liebsten ihr ganzes Leben dort verbracht hätte.

Warum hatte ihr Vater sie ausgerechnet hierhergeschickt? Warum brauchte Requiem noch eine weitere Siedlung? Nova Vita sollte doch genügen. Das hatte Mori ihrem Vater zu erklären versucht, doch er hatte nur davon gesprochen, dass Requiem sich vom Angriff der Greifen erholen und sich wieder bis zu den alten Grenzen ausdehnen müsse. Noch dazu werde ihr die Luft im Süden guttun und ihr Mut verleihen und … Mori hätte am liebsten geweint. Keine dieser Begründungen überzeugte sie, und bislang war sie auch um keinen Deut mutiger geworden. Wenn überhaupt, dann war beim Blick auf die kalten Steinmauern, auf die froststarrenden Wälder und den Feuervogel ihre Angst nur gewachsen.

Wie sie so dastand, unbeweglich vor Ängstlichkeit, entzündete sich der Horizont. Aus weit entferntem Nebel stieg ein orangefarbenes Glühen auf, das seine Ranken über den weißen Himmel ausbreitete; es sah aus wie ein Sonnenaufgang im Süden. Der verschneite Wald färbte sich rot, der Geruch von Feuer stieg Mori in die Nase, und ihr wurde schwindelig. Flammen knisterten, und endlich fand sie ihre Stimme wieder.

»Orin!«, rief sie von der Mauer hinab. »Feuer, Orin! Der Wald brennt!«

Doch was sie vor sich sah, war kein Waldbrand. Und auch keine irdischen Flammen. Unzählige Phönixe breiteten ihre Schwingen aus. Unzählige Feuerschweife stiegen kometengleich auf. Der Horizont war von einem Heer aus zornentbrannten Feuervögeln entflammt, von Boten des Unheils. Das Gekreisch und das Kriegsgeräusch wurden lauter. Die Wolken selbst fingen Feuer, der Wald erzitterte, das Eis schmolz, die Bäume barsten.

»Orin!«, schrie Mori. Sie wollte ihre Magie einsetzen, die Magie von Requiem. Sie wollte sich Schuppen und Flügel wachsen lassen, Feuer spucken und sich wie ein Drache erheben. Doch sie konnte nur auf diesen Mauern stehen, ein Mädchen, starr vor Angst, mit einem Glücksfinger, einer kleinen Maus und Tränen in den Augen.

Waffen klirrten, Schwerter wurden gezückt, Stiefel trampelten. Orin erklomm die Mauer, seine Männer folgten ihm. Sie stellten sich auf der Brustwehr ins Glied, und ihr Geruch drang zu Mori herüber: der Duft von Öl, Leder, Schweiß und Geborgenheit. Ihr Bruder legte einen Arm um ihre Schultern und betrachtete die flammenden Vögel, die im Süden aufgetaucht waren. Er war ein stattlicher Mann, zehn Jahre älter als sie. Sein braunes Haar und die grauen Augen ähnelten den ihren, doch sein Gesicht war ungleich härter, seine Seele ungleich stärker. Seine Rüstung war dick und sein Schwert schwer, und Mori hing an ihm. Er war Orin Aeternum, der Sohn des Olasar, Kronprinz Requiems, und er war der stärkste Mann, den sie kannte.

»Was ist das, Orin?«, flüsterte sie.

Seine Männer, allesamt kräftig und in Stahl gekleidet, beugten sich mit düsterem Blick über die Brüstung. Ihr Atem erzeugte Rauchwolken, und Frost bedeckte ihre Bärte. Sie waren die besten Krieger Requiems, die hierhergeschickt worden waren, um diesen südlichen Außenposten, die Grenze und Mori zu verteidigen. Ihre Hände umklammerten die Griffe ihrer Schwerter. Orin starrte mit ihnen, seine Miene verfinsterte sich.

»Ich weiß es nicht«, sagte er sanft. »Aber wir werden es herausfinden.« Seine Stimme wurde lauter. »Ihr Männer Requiems! Wir fliegen!«

Er warf den Kopf zurück, streckte die Arme aus und setzte seinen Zauber ein, die Magie der Sterne Requiems. Silberne Schuppen umschlossen ihn. Flügel entfalteten sich auf seinem Rücken, Finger wurden zu Klauen, und in seinem Mund wuchsen Fangzähne. Schon bald erhob er sich über die Mauern, ein fünfzehn Meter langer, Feuer speiender, silberner Drache. Seine Männer verwandelten sich ebenfalls. Auch ihnen wuchsen Schuppen und Flügel. Fünfzig Drachen, aus deren Mäulern das Feuer züngelte, stiegen in die Luft auf.

Mori atmete tief ein und bereitete sich ebenfalls für die Verwandlung vor. Sie konnte nicht zu einem solch stämmigen, starken Drachen werden wie diese Kämpfer, doch auch ihre Schuppen waren hart, ihre Atemstöße heiß und ihre Flügel schnell. Viele hielten sie sogar für den schnellsten Drachen Requiems. Und dennoch warf Orin, als er sich von der Mauer abgestoßen hatte, einen stechenden Blick über die Schulter zurück.

»Bleib hier, Schwester!«, rief er ihr zu. Seine Flügel wirbelten den dichten Schnee auf. »Geh in die Halle, verriegele das Tor und bleib dort, bis ich zurück bin!«

Damit stieß er einen Flammenstrahl aus und fauchte so laut, dass sein Schreien in Moris Ohren dröhnte. Die anderen Drachen flogen an seine Seite, überall glitzerten Schuppen und flammte heißer Atem auf. Mori sah ihnen zu und drückte hinter ihrem Rücken den elften Finger.

Hilf ihnen, Glücksfinger!, betete sie. Aus der Ferne drang das Kreischen der Phönixe zu ihnen. Sie kamen näher.

Nun konnte sie die Vögel besser erkennen. Ihre Körper waren aus geschmolzenem Feuer gewebt, das wie Stürme auf der Sonne aufgewickelt war. Ihre Schnäbel waren weiß und lodernd, ihre Augen verwirbelte Sterne. Bei jedem Flügelschlag schossen Flammen aus ihrem lodernden Gefieder. Die Hitze traf Mori sogar über diese Entfernung hinweg. Der Wald unter ihnen triefte, der geschmolzene Schnee lief in Bächen in Richtung der Festung, auf der Mori stand. Zehntausend Feuervögel waren am Himmel, vielleicht noch mehr. Die fünfzig Drachen sahen dagegen winzig aus – wie Staubkörnchen in einem Ofen.

»Verschwindet, Kreaturen des Feuers!«, brüllte Orin ihnen mit donnernder Stimme entgegen. Seine Flügel fachten ihre Flammen an. »Bleibt unseren Grenzen fern!«

Die Phönixe kreischten und stürzten auf ihn hinab.

Mori sah entsetzt zu und drückte ihren Glücksfinger so fest, dass sie fürchtete, er könne abreißen. Die Phönixe fuhren ihre lodernden weißen Krallen aus. Flammen umspielten ihre Flügel, und ihre Augen leuchteten wie Sterne. Die Feuervögel rasten in die Drachen hinein und hüllten sie in Flammen.

»Orin!«, rief Mori. Sie konnte ihn kaum noch sehen, nur Feuer und Rauch waren noch zu erkennen … aber sie hörte ihn. Sie hörte ihn schreien.

Was konnte sie tun? Er hatte ihr gesagt, sie solle sich in der Festung verstecken, doch … sie waren dabei, ihn zu töten! Sie starrte hinüber und biss sich so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. Die Drachen heulten, traten um sich und fuhren ihre Krallen aus. Sie erkannte peitschende Schwänze, die Schuppen und viele Rachen, aus denen Schmerzensschreie drangen. Sie kämpften. Ihre Fangzähne erwischten nur Feuer, und ihre Schwänze ließen nur Funken aufstieben. Einige Drachen spuckten Feuer, doch das heizte das Feuer der Phönixe nur weiter an.

»Orin, komm zurück!«, rief Mori mit Tränen in den Augen. Die Hitze drang bis zu ihr vor, und sie war schweißgebadet. Der Umhang haftete ihr am Körper, das feuchte Haar hing ihr ins Gesicht. Sie hustete und konnte nur mühsam atmen.

Sein Brüllen und seine Schmerzensschreie trafen sie. Mori wollte zu ihm fliegen. Sie wollte sich verstecken. Sie bekam kaum noch Luft, und sie wusste, dass die Phönixe sie entdeckt hatten; ihre Augen funkelten in ihre Richtung. Ein Drache kreischte in Todesqualen, ein Geräusch, das ihr bis ins Mark drang. Die Kralle eines Phönix schlitzte den Drachen auf, und die Magie von Requiem verließ ihn. Wo eben noch ein Drache geflogen war, stürzte nun ein brennender Mann hinab und schlug dumpf auf den Baumwipfeln auf. Noch drei weitere Drachen brannten, und im Schmerz des Todes verschwand ihre Zauberkraft. Drei weitere Körper stürzten ab.

»Mori!«, rief ihr Bruder aus dem Inferno heraus. Feuer hatte ihn umschlungen, um seine Schuppen loderte es weiß. Seine Flügel peitschten die Flammen auf, Funken stoben wie explodierende Sonnen umher. »Lauf, Mori! Versteck dich!«

»Orin …«, flüsterte sie zitternd. Hinter dem Rücken verknotete sie ihre Finger.

»Lauf, Mori!«, schrie er, als die Phönixe an ihm zerrten. Ihre Schnäbel, gewebt aus erhärtetem Feuer, hieben auf ihn ein. Ihre Klauen bohrten sich in seinen Körper. Ihre Flammen umhüllten ihn. Orin Aeternum, der Sohn des Olasar, der Kronprinz Requiems … verlor seine Zauberkraft, verwandelte sich vom Drachen in einen brennenden Menschen und stürzte vom Himmel.

Etwas in Mori zerbarst. Ihr Herz zersprang. In ihrer Brust platzte ein Schmerz auf und schoss durch sie hindurch. Ein Schrei verließ ihre Lippen, und noch bevor sie sich dessen bewusst geworden war, hatte sie sich in einen Drachen verwandelt. Goldene Schuppen bedeckten sie, ihre Flügel entfalteten sich, und sie erhob sich in Richtung des südlichen Feuers.

»Orin, wo bist du?«, rief sie, als sie durch die Flammen stob. Das Feuer ringsum loderte so heiß, dass sie die Augen zukneifen musste und die Schuppen sich anfühlten, als würden sie jeden Moment schmelzen. Drei Phönixe stießen auf sie herab, jeder einzelne größer als sie. Drei Schreie dröhnten in ihren Ohren. Sie erwischten den Drachen an den Schuppen, und Mori brüllte vor Schmerzen, taumelte, schlug mit den Flügeln und heulte laut. Getroffen schwang sie sich auf und erhob sich durch ein Inferno von Hitze und Lärm und Zorn. Überall glühende Augen, Schnäbel aus Feuer und Krallen, die nach ihr hieben. Sie stieg weiter auf, brach durch den Schwarm der Angreifer hindurch und schoss wieder hinab. Sie musste ihren Bruder finden. Sie musste Orin finden, ihren geliebten Orin, ihren Helden, ihre einzige Möglichkeit zu überleben. Sie schlug sich zwischen Phönixen und hinabstürzenden Drachen hindurch, dann sah sie ihn im Schnee liegen.

Seine Kleidung dampfte. Versengt, wie sie war, hielt sie sein geschmolzenes Fleisch zusammen. Sein Gesicht glich zur Hälfte einer verbrannten Ruine, rot und schwarz und glühend. Die Haut löste sich ab. Mit einem Auge sah er sie noch an, seine Lippen bewegten sich, und er versuchte zu flüstern, sie zu rufen.

»Oh, Orin«, flüsterte sie. Entsetzen übermannte sie. Er war am Leben. Noch konnte sie ihn retten. So vorsichtig wie möglich hob sie ihn mit ihren Krallen hoch, doch er schrie heiser auf. Seine Augen verdrehten sich.

War er tot? Hatte sie ihn getötet? Ihr blieb keine Zeit, dies zu überprüfen. Die Phönixe stürzten wie eine wütende Heerschar auf sie herab. Mori stieg auf. Feuer umspülte sie. Sie schoss durch die Flammen hindurch, ihre Flügel wühlten den Rauch auf.

Ich bin der schnellste Drache in Requiem, hat Orin mir immer gesagt. Also kann ich es schaffen. Sie kreischte und tauchte aus den Flammen auf, den schlaffen menschlichen Körper des Bruders noch immer in den Krallen. Das Heer der Phönixe war dicht hinter ihr, als sie über die Mauern von Castellum Luna flog, auf den Hof hinabstieß und vor den Türen der großen Halle landete.

Sie passen nicht hinein, sprach sie zu sich selbst. Sie sind zu groß. Sie legte Orin auf dem steinernen Boden ab, verwandelte sich in ein Mädchen zurück und riss an den Toren. Sie öffneten sich knarrend und gaben den Blick frei auf eine Halle mit Wandteppichen, Speeren und Tischen, die auf Böcken standen.

Hinter ihr kreischten die Phönixe. Deren Hitze warf sie fast um. Mori stürzte in die Halle, zog ihren Bruder hinter sich her und entdeckte unzählige Phönixe, die im Hof landeten. Im gleichen Moment warf sie das Tor zu, das Feuer blieb draußen.

»Mori …«, flüsterte Orin mit heiserer Stimme. »Lass mich, Mori … Flieg in den Norden! Flieg nach Nova Vita!«

Mori griff nach einem Balken und verriegelte das Tor in seinen Angeln. Keuchend stand sie da. Konnten die Phönixe das Tor durchbrechen? Es war dick und in Eisen gefasst, es sollte Feuer und Äxten widerstehen. Und was war mit den anderen Drachen? Ihre Sterne, waren noch welche am Leben oder hatte sie alle zum Tode verurteilt? Sie zitterte.

Vor dem Tor kreischten die Phönixe. Ihr Licht schien unter der Tür hindurch, und Feuerzungen leckten am Türrahmen. Jaulend drückten sie gegen das Tor. Bei jedem Schlag winselte Mori.

Ich muss tiefer hineingehen, dachte sie. In das Verlies. Die Tür dort ist klein, viel zu klein für sie.

Sie beugte sich über Orin, und ihr stockte der Atem. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sein Gesicht war zur Hälfte geschmolzen. Die Hälfte seines Körpers bestand aus Quaddeln, Rauch und versengter Kleidung, die sich ins Fleisch gefressen hatte. Mori würgte und war eine Weile unfähig, irgendetwas zu tun. Dann riss sie sich zusammen. Die Phönixe hämmerten gegen das Tor. Sie musste ihren Bruder retten.

Sie spähte zur östlichen Mauer hinüber. Dort stand eine kleine Tür offen, dahinter führte eine Treppe ins Dunkel. Mori spannte die Lippen an. Das Verlies von Castellum Luna lag dort unten, am Ende der Treppe. Dieser Ort hatte ihr immer Angst gemacht – sie stellte sich Geister vor, die in den Schatten lauerten. Nun aber würde sie sich genau dorthin retten.

»Komm schon, Orin!«, sagte sie, legte ihre Arme um ihn und zog. Sie stöhnte und stemmte die Füße gegen den Boden. »Komm schon, Orin! Steh auf! Stell dich hin!«

Es gelang ihm, sich unter Husten und Keuchen auf die Knie zu erheben. Mit einer Kraft, die sie von sich nicht erwartet hatte, stellte Mori ihn auf die Füße. Er, der doppelt so viel wog wie seine Schwester, lehnte sich an sie. Sie hatte Angst, jeden Moment zusammenzubrechen, und doch gelang es ihr, Schritt für Schritt vorwärtszukommen und Orin zur Treppe zu führen. Sie schloss die Tür hinter sich und stieg treppab, wobei er sich schwer auf sie stützte. Während die Phönixe heulten und das Tor der Festung knarrte, begaben sie sich unter Blut und Tränen nach unten.

Endlich hatte Mori das Verlies von Castellum Luna erreicht, einen kalten Ort voller Schatten, mit Getreidesäcken, Weinfässern und nun auch dem Gestank nach verbranntem Fleisch. Eine Öllampe glimmte auf einem Tisch und hüllte den Raum in rötliches Licht. Ächzend legte Mori ihren Bruder auf dem Boden ab und strich ihm übers Haar. Er keuchte, und von seinem Fleisch stieg noch immer Rauch auf.

Von oben hörte Mori, wie das Tor der Festung zerbarst. Sie zuckte zusammen. Die Schreie großer Adler hallten von den Mauern wider. Sogar hier unten im Verlies spürte Mori die Hitze der Phönixe, als sie die Halle erstürmten.

»Es ist alles in Ordnung, Orin«, sagte sie leise und hielt seinen heißen, klebrigen Körper umfangen. »Sie passen hier unten nicht hinein. Die Treppe ist zu eng für sie. Hier sind wir sicher. Wir sind sicher. Ich kümmere mich um dich.«

Er stöhnte nur, und Mori spürte, wie sein Blut über ihre Kleidung lief und sie befleckte, doch sie hielt ihn fest umarmt. Sie zitterten beide. Das Kreischen der Phönixe drang aus der Halle zu ihnen, sie schienen die Festung erschüttern zu wollen mit ihren hasserfüllten, zornigen, blutdurstigen Rufen. So muss es geklungen haben, als die Greifen unsere ehrwürdigen Mauern zum Einsturz gebracht haben.

»Mori …« Orins Stimme war heiser, das Sprechen fiel ihm schwer. »Mori, du musst nach Norden fliegen. Du bist schnell. Du …«

Mehr konnte er nicht sagen. Mori hielt ihn fest. Wie sollte sie nach Norden fliegen? Wie sollte sie so vielen Phönixen entkommen, diesem Flammenheer? Ihre Gedanken überschlugen sich. Vielleicht hätte sie sich nicht in die Festung retten sollen, aber … Orin hatte ihr doch gesagt, sie solle sich hier verstecken. Und jetzt wollte er, dass sie floh? Was sollte sie tun? Ihr Kopf dröhnte, und sie schüttelte ihn kräftig.

»Ruh dich aus, Orin!«, flüsterte sie. »Bitte. Ruh dich aus!«

Jetzt musste sie die Dinge in die Hand nehmen. Sie musste die Entscheidungen treffen. Sein Leben hing von ihr ab. Bleib ruhig, Mori!, sagte sie zu sich selbst. Sie bemühte sich, tief und langsam zu atmen, und bezwang ihre zitternden Lippen.

»Wir warten, bis die Phönixe verschwunden sind«, sprach sie leise. »Irgendwann werden sie abziehen. Sie müssen. Hier unten ist es zu eng für sie. Wenn sie weg sind, fliegen wir nach Norden. Ich bringe dich zu den Tempeln, zu den Heilern, Orin. Die machen dich gesund. Sie können … sie stellen dein …«

… dein verwüstetes Gesicht wieder her, wollte sie sagen. Dein verbranntes Fleisch. Die zerstörte linke Hälfte deines Körpers, diese Wunde aus Blut und Knochen. Aber konnte er überhaupt noch gerettet werden? Konnte sie noch gerettet werden?

Vorsichtig zog sie sich von ihm zurück. Ihre Körper trennten sich mit dem widerlich klebrigen Laut, den ein Verband verursacht, wenn er von einer Wunde abgezogen wird. In der Dunkelheit kroch Mori die Treppe zum Ausgang des Verlieses nach oben. Feuer brannte dahinter. Die Phönixe saßen in der Halle. Sie hörte ihr Krächzen, das Knistern ihrer Feuer. Gegen die Hitze und das Licht anblinzelnd, kniete Mori nieder und spähte durch das Schlüsselloch.

Zwei Phönixe bewegten sich durch die Halle. Ihre Flammen fackelten die Wandteppiche und aufgebockten Tische ab. Einer warf den Kopf nach hinten und kreischte, und Mori bedeckte ihre Ohren. Sie fürchtete, dieser Schrei könne ihr Trommelfell zerreißen und ihre Rippen zerbrechen.

Bitte, geht fort!, betete sie. Bitte, bitte, verlasst diesen Ort, fliegt fort von hier! Und möge dies alles nur ein Albtraum sein. Hinter dem Rücken umklammerte sie ihren Glücksfinger und betete zu ihm. Bitte, schick sie fort! Bitte, lass mich einfach wieder in Nova Vita aufwachen, mit Lady Lyana und Vater und allen anderen!

Doch die Phönixe blieben in der Halle. Sie schnüffelten, dabei kräuselten sich Flammenzungen über ihren Schnäbeln. Ihr Sterne, können sie mich riechen? Die Feuervögel wandten sich der Tür zu, hinter der Mori sich verbarg, krächzten und kamen auf sie zu. Aus ihren Klauen regnete es Funken. Mori hielt den Atem an. Sogar für eine Flucht war sie viel zu verängstigt.

Sie können mir nichts tun, sagte sie zu sich selbst. Sie sind zu groß, um durch diese Tür zu passen, sie kommen hier nicht herein. Die steinernen Wände des Verlieses können sie nicht verbrennen. Sie zwang sich zu atmen. Hier sind wir sicher.

Während sie durch das Schlüsselloch spähte, versagte ihr der Atem.

Die Phönixe warfen die Köpfe nach hinten, kreischten so laut, dass die Halle erzitterte, und streckten die Flügel. Ihre Flammen stoben wutschnaubend in die Höhe. Es schien, als würden sie … Nein, sie schrumpften nicht. Sie schienen … sich selbst zusammenzufalten. Ihre Flammen verbogen sich, wurden dunkler, nahmen neue Formen an. Plötzlich erschienen ihr die Wesen beinahe menschlich, mit glühenden langen Gliedmaßen und brennenden Köpfen. Die Flammen verschmolzen und formten einen Mann und eine Frau aus flüssigem Feuer. Die Lava erhärtete sich. Letzte Flammen züngelten aus den Gestalten hervor und zogen sich dann in Kristalle zurück, die die beiden um den Hals trugen. Schließlich glühte das Feuer der Phönixe in den Amuletten – zwei glühende kleine Lichter.

Mori rang nach Luft und wimmerte. Sie griff in ihre Tasche und umklammerte Pip so fest, dass die Maus sie biss.

Die zwei Wesen standen in der Halle, noch immer stieg Rauch von ihnen auf. Beide trugen Rüstungen aus mattem Stahl, vergoldete Helme und geschwungene Schwerter an ihren Hüften. Ihr Haar war platinblond, so bleich, dass es fast weiß wirkte. Sie haben Haare wie Geister. Mori zitterte, als sie das sah.

Der Mann blickte in ihre Richtung und starrte auf die Tür des Verlieses. Er war groß und breitschultrig, sein Gesicht wirkte wie verwittertes Leder. Seine Augen waren klein, blau und funkelten böse. Auf seiner Brustplatte war eine goldene Sonne eingraviert. Mori erkannte das Emblem wieder – die goldene Sonne Tiranors.

Tiraner!, dachte sie. Sie hatte schon viele Geschichten über die Tiraner gehört. Sie waren ein grausames, kriegliebendes Volk aus der südlichen Wüste, die hinter den Bergen, dem See und den Sümpfen lag.

Die Frau hatte der Tür den Rücken zugekehrt. Sie war kleiner und schmaler, ihr Haar war lang und weich. Zwei Säbel hingen an ihrem Gürtel, geformt wie die Schnäbel von Kranichen, mit goldenen Knäufen. Langsam drehte sich die Frau um. Ihre Augen waren blau, das Gesicht golden und mit hellen Sommersprossen übersät wie Sterne beim Sonnenuntergang. Eine Narbe, vielleicht von einem alten Feuer, lief über ihr ganzes Gesicht bis zum Kinn und wand sich dann den Hals hinunter, bis sie hinter ihrem Brustpanzer verschwand.

Mori bekam kaum Luft.

Sie kannte diese Frau.

»Solina«, flüsterte sie.

Sie fasste ein wenig Mut. Solina war ihre Freundin! Die Prinzessin Tiranors, deren Eltern erschlagen worden waren, war in Requiem aufgewachsen. Mori erinnerte sich an viele Abende, an denen sie auf Solinas Schoß gesessen und ihr zugehört hatte, wie sie Geschichten aus Tiranor erzählte. Von den weißen Türmen mit ihren vergoldeten Spitzen, die über die Wüste ragten, von den Oasen mit üppigen Palmen, warmen Quellen und paradiesischen Vögeln. Von dem stolzen Volk mit der goldenen Haut, dem hellen, leuchtenden Haar und den blauen Augen, die weit in die Ferne blicken konnten.

Solina wird mir nichts tun, dachte Mori, die noch immer ein wenig zittrig atmete. Sobald sie mich sieht, sobald sie verstanden hat, dass ich es bin, wird Solina erkennen, dass alles ein Fehler war. Ich war wie eine Schwester für sie.

Und dennoch … Mori zögerte. Wie versteinert blieb sie sitzen. Die Narbe, die in Solinas Gesicht zu sehen war … konnte die von jener Nacht stammen? Von der Nacht, als Solina ihren Vater mit einer Klinge angegriffen hatte und Orin sie verbrannte? Mori erschauerte. Nein, das konntenicht sein! Doch sie wusste, dass es so sein musste. Es war eine Narbe, wie Drachenfeuer sie hinterlässt.

Sie hat sich daran erinnert, erkannte Mori, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Und nun ist sie gekommen, um auch uns zu verbrennen.

Die stattliche große Frau näherte sich der Tür und spähte mit ihren blauen Augen durch das Schlüsselloch, direkt in Moris Augen. Solinas Lippen kräuselten sich zu einem Lachen.

Sie hat mich gesehen! Mit pochendem Herzen trat Mori von der Tür weg. Sie hörte Schritte auf sich zukommen und kroch die Treppe hinab. Sie kniete sich zu Orin in die Schatten. Er stöhnte, sein verbrannter heißer Körper stank nach Tod. Sie umklammerte seine Hand.

»Keine Angst, Orin!«, flüsterte sie, als oben die Tür erzitterte. »Ich beschütze dich.«

Splitter flogen durch die Luft. Die Tür zerbarst, und Feuerschein erhellte das Verlies.

Mori wollte sich in einen Drachen verwandeln. Sie wollte Schuppen auf sich wachsen und Flammen aus ihrem Schlund züngeln lassen. Doch sie zögerte. Das Verlies war so klein, kaum drei Meter breit. Wenn sie sich verwandelte, würde sie den ganzen Raum ausfüllen und Orin zu Tode quetschen. Stattdessen ergriff sie ihres Bruders Schwert, richtete sich auf und zog die Klinge hervor. Sie zischte und glänzte im Licht.

Solina kam die Treppe herunter, die Hände an den Griffen ihres Schwertes. Auf ihrem Brustpanzer prangte die goldene Sonne. Im Schein des knisternden Feuerkristalls, der um ihren Hals hing, leuchtete ihr Gesicht orangefarben und rot. Der stämmige Mann mit den lodernden Augen und gefletschten Zähnen folgte ihr.

»Bleibt stehen!«, rief Mori und hielt das Schwert ihres Bruders vor sich. Ihre Stimme zitterte, und das Schwert schwankte. Sie legte noch ihre linke Hand an das Heft, die Hand mit den sechs Fingern, ihre Glückshand. Bring mir heute Glück!, bat sie.

Solina trat auf sie zu. Die Narbe, die ihr Gesicht in zwei Hälften teilte, hatte auch ihre Lippen getroffen. Entweder lächelte sie selbstgefällig, oder ihr Mund war durch die Narbe zu ewigem Hohn geformt. Sie kam Mori unmenschlich vor – die Haut aus Gold, das Haar aus Platin, die Augen wie Saphire. Sie schien eher eine Statue denn ein Wesen aus Fleisch und Blut zu sein.

»Wenn das nicht die kleine Mori ist!«, rief sie aus. Und dieses Mal wusste Mori, dass sie lachte. Die vernarbten Lippen öffneten sich und zeigten blendend weiße Zähne. »Das letzte Mal, als wir uns sahen, warst du noch ein Mädchen, ein schlaksiges Ding ohne Brüste, dafür mit spitzen Knien. Du bist eine Frau geworden!«

Mori stand vor ihr, das Schwert in den zitternden Händen, hinter ihr stöhnte ihr Bruder.

»Bleib zurück, Teufel!« Tränen rollten ihr die Wangen hinab. »Bleib zurück, oder mein Vater, der König, wird davon erfahren und dich töten!«

Solinas Gesicht entspannte sich – das Gesicht einer Frau, die ein wütendes Hundejunges betrachtete, das ihr Herz zum Schmelzen brachte. Der Mann neben ihr allerdings schien ihr Vergnügen nicht zu teilen. Er verschlang Mori mit seinen gemeinen kleinen Augen und entkleidete sie förmlich.

»Oh, liebes, liebes Kindchen! Du machst mir Angst«, säuselte Solina und schnalzte mit der Zunge. »Aber wir waren doch so gute Freundinnen, oder etwa nicht? Wir waren wie Schwestern. Ich erinnere mich, wie ich dich in meinem Schoß hielt, dir dein Haar zerzauste und Geschichten von Liebe und Abenteuern vorlas. Ich verspreche, dir geschieht nichts, mein Vögelchen … Aber bitte, stell dich nicht zwischen mich und deinen Bruder, sonst muss Lord Acribus dir Schmerzen zufügen. Und er wird dir sehr wehtun, mein Vögelchen. Schlimmer, als du es je erlebt hast.«

Der Mann mit dem ledrigen goldenen Gesicht leckte sich über die Lippen. Seine Zunge war ungewöhnlich lang – er konnte damit beinahe seine Augen erreichen – und weiß wie Knochen. Es sah aus, als wohne eine Schlange in seinem Mund. Aus seinen Augen triefte die Lust, sowohl auf Fleisch als auch auf Blut.

Hätte ihr jemand vor einer Stunde diese Begegnung vorhergesagt, hätte Mori sich schon ohnmächtig weinen oder gar vor Angst sterben gesehen. Nun aber stand sie fauchend da. Die Liebe zu ihrem Bruder und die Angst um ihn waren stärker als die Angst um sich selbst. Zähnefletschend schwang sie ihr Schwert und schnitt damit durch die Luft.

»Bleibt zurück!«, rief sie. »Du fasst ihn nicht an!«

Solina seufzte. »Mein Kindchen.« Mit einem Finger fuhr sie an ihrer Narbe entlang, von der Stirn über das Kinn bis hinunter zum Hals. Dann führte sie den Finger weiter über die Brustplatte bis hin zu ihrem Oberschenkel. »Siehst du diese Narbe, Mori? Ich nenne sie meine Feuerlinie. Sie verläuft vom Kopf bis zum Fuß. Dein Bruder hat sie mir vermacht. Und du mit deiner abartigen linken Hand weißt es besser als jeder andere deines Volkes, was es bedeutet, verunstaltet zu sein.« Sie warf einen Blick auf den verbrannten, ächzenden Orin. »Also habe ich auch ihn verbrannt. Aber noch bin ich nicht fertig mit ihm. Er wird noch so viele weitere Schmerzen erleiden, bevor er sterben darf. Aber du, Mori, du musst diese Qualen nicht erdulden. Du warst wie eine Schwester für mich, und ich möchte dir diese Pein ersparen. Tritt beiseite … oder ich übergebe dich meinem Haustier neben mir. Du wirst schreien und mich um deinen Tod anflehen, noch bevor er mit dir fertig ist.«

Mori war verängstigt, so verängstigt, dass sie nicht atmen konnte. Kalter Schweiß durchnässte sie, und ihr Herz schien zu zerreißen. Sie dachte an ihren Bruder Orin, so gut aussehend und stark, der nur noch das Wrack eines Mannes war. Sie dachte an ihren älteren Bruder, den weisen Elethor, der bei den Birken im Norden lebte.

Jetzt übernehme ich die Aufgabe. Ich, die kleine Schwester, das schlanke Mädchen, das immer so schnell weint, sich immer so schnell versteckt. Zitternd atmete sie ein und aus. Jahrelang haben meine älteren Brüder mich beschützt. Nun ist es meine Aufgabe, für sie zu kämpfen.

Mit einem wortlosen Schrei ließ sie ihr Schwert auf Solina niedersausen.

So schnell, dass Mori die Bewegung kaum sah, zog Solina ihr Schwert von der linken Hüfte. Die Klinge war gekrümmt, der weiße Stahl und das Gold glitzerten. Die zwei Schwerter krachten zusammen, eine vom Sternenlicht geküsste Klinge aus dem Norden, eine Feuerscheibe aus der Wüste. Funken stoben. Noch bevor Mori begriff, was geschah, schoss Solinas Klinge abermals herab und schnitt in Moris Hand. Blut spritzte.

Moris Schwert fiel polternd zu Boden.

Fast so schnell wie Solinas Schwert bewegte sich nun ihr Begleiter Lord Acribus nach vorn. Er hatte auf Mori eher wie ein Tier denn wie ein Mann gewirkt, eher wie ein wilder Hund mit spitzen Hauern, grausamen Augen und Hunger auf Fleisch. Sie schrie auf, als er ihren Arm packte und seine Finger in sie hineinbohrte. Sie hatte Angst, diese Finger könnten ihr die Knochen brechen.

»Solina!«, rief sie. »Solina, bitte! Wie kannst du das tun? Wir … wir haben dich in unsere Familie aufgenommen. Du … mein Bruder Elethor hat dich geliebt. Ich …«

Doch die Worte verfehlten ihre Wirkung. Solina starrte sie mit kalten blauen Augen an. Sie waren wie Eissplitter in einer goldenen Maske. Es lag nichts Menschliches darin, kein Mitleid, nichts außer gnadenloser Härte.

»Lord Acribus«, befahl die Frau, »sorgt dafür, dass sie zusieht!«

Die Finger des Lords gruben sich so tief in Moris Arme, dass an ihren Ellbogen Blut entlangrann. »Sie wird zusehen, meine Königin, und wenn ich ihr die Augenlider herausreißen muss.«

Mori erschauerte in dem furchtbaren Griff, ein Mäuschen in den Krallen eines Aasgeiers. Schließlich reichte sie ihm nicht einmal bis zu den Schultern. Zitternd sah sie zu, wie Solina sich dem verwundeten Kronprinzen Requiems näherte.

»Bitte«, flüsterte Mori, doch Solina achtete nicht auf sie.

Orin lag versengt, stöhnend und schmerzgekrümmt auf dem Boden. Es gelang ihm, sich auf die Ellbogen aufzurichten. Schweiß und Blut hatten ihn durchtränkt.

»Sol… Solina«, konnte er nur so heiser röcheln, dass Mori ihn kaum verstand.

Solina stand über ihm, den Säbel gesenkt, die Augen kalt. Wenn Orin ein verwundetes Tier war, ein Geschöpf im Todeskampf, dann war Solina die Königin der Schönheit, eine Statue aus Gold und Stahl und Eis.

»Ich grüße dich, Orin«, sagte sie weich. »Du erinnerst dich also auch an mich. Vielleicht wegen der Narbe, mit der du mich entstellt hast.« Sie strich sich über die Stirn. »Meine Feuerlinie. Ist es nicht merkwürdig? Früher hatte ich Angst vor dem Feuer. Als ich in Requiem lebte, unter euch Schuppen- und Flügelwesen, da hatte ich Angst.« Sie lachte freudlos. »Stell dir das vor – ein verängstigtes junges Mädchen aus Tiranor, ihrem Zuhause entrissen. Ihr alle konntet euch in Drachen verwandeln – edle, ehrwürdige Kinder Requiems, die ihr eure Sternenlichtmagie stolz zur Schau gestellt habt. Ja, ich hatte Angst vor diesem Feuer, das ich nie zu beherrschen vermochte. Und ich habe geschrien, Orin. Ich habe geschrien, als du mich verbrannt hast.«

»Du …« Er ächzte und fröstelte. Die abgelöste Haut hing an ihm herunter. »Du hast meinen Vater angegriffen, du …«

Wieder durchdrang ihr bitteres Lachen die Luft. »Ich habe König Olasar angegriffen, ja. Ich habe den Mann angegriffen, der meine Eltern ermordet hatte. Der mich versklavt hatte. Der mich verbannen wollte, nur weil ich Elethor zu lieben wagte, deinen Bruder, den Mann, der mir am teuersten war. Hatte ich je eine andere Möglichkeit, Orin? Konnte ich davon träumen, ihn mit meinem Dolch zu erwischen, wenn du in der Nähe warst, um mich zu verbrennen? Der Schmerz deines Feuers trieb mich an den Rand des Wahnsinns, und du spürst diesen Schmerz nun auch. So habe ich euch verlassen, Orin. Und ich habe das Feuer gezähmt.« Sie knurrte wie ein wildes Tier, und ihre Stimme wurde lauter. »Ich habe es niedergerungen und zu meinem Eigen gemacht, bis ich selbst zu einer Flamme wurde. Und ich habe dich verbrannt. Nun will ich zusehen, wie du unter Schmerzen stirbst.«

Ihr Schwert schlug zu.

Mori schrie.

Acribus lachte.

Mit einem pfeifenden Geräusch zerschnitt Solinas geschwungene, glitzernde Klinge Orins Leib und verspritzte Blut über die Wände. Mori schloss winselnd die Augen, doch Acribus öffnete ihr mit groben Fingern die Lider. Sie wollte den Kopf abwenden, doch er hielt ihn fest, zwang sie zu schauen, zwang sie zuzusehen. Ihr Sterne, nein … nein, bitte, ihr Sterne, nein … Ihre Tränen strömten.

Orin schrie. Er presste seine Wunde zusammen, versuchte sie zu verschließen, versuchte zu verhindern, dass das glänzende, blutige rote Grauen aus ihm herausfloss. Halb verbrannt und aufgeschlitzt rief er nach Requiem. Er rief nach seiner Mutter. Mori weinte.

»Bitte, Solina, bitte, bitte, bitte …«, flüsterte sie.

Doch Solina stand wie angewurzelt da, blickte auf den sterbenden Mann, und noch immer war kein Gefühl in ihren Augen zu erkennen, nicht der kleinste Funken Mitleid, aber auch kein Abscheu und nicht einmal Freude.

»Du kannst dafür sorgen, dass es endet, Orin«, sagte sie sanft. Blut bildete Pfützen um ihre Stiefel. »Erzähl mir von Olasars Truppen. Sag mir, wie viele Drachen seine Brigaden aufweisen, wo sie stationiert sind, wer sie befehligt. Erzähl mir alles … und ich werde mein Schwert in dein Herz stoßen und deinen Schmerz beenden. Wenn du aber nicht sprichst … Nun, ich kann hier noch Stunden stehen. Und es wird noch Stunden dauern, bis du ohne mein Mitleid gestorben bist, zweifle daran nicht. Vielleicht sogar Tage.« Sie lächelte weich. »Solange es eben dauert.«

Er brüllte auf. Und er erzählte. Er erzählte ihr alles, während er sich krümmte und darum bettelte, der Schmerz möge enden.

Mori zitterte, trat um sich, wollte nicht hinsehen, sich losmachen, versuchte irgendetwas zu tun, nur um den Untergang ihres Bruders nicht mitansehen zu müssen, seine Schreie nicht hören zu müssen, nicht sehen zu müssen, wie sein Blut und seine Eingeweide sich auf dem Boden verteilten. Bis endlich, endlich und nach langer, langer Zeit Solina ihm ihre Klinge in die Brust bohrte. Endlich waren Gefühle in den Augen der Königin zu erkennen. Vergnügen. Tiefes, schreckliches, heißes Vergnügen. Sie drehte die Klinge herum, Orins Atem erstarb, seine Schreie verstummten … und sein Schmerz endete. Es war vorüber.

Dank sei den Sternen, es ist vorbei, dachte Mori, während sie schluchzte und schwankte.

Aber es war nicht vorbei. Nicht für sie.

»Meine Königin?«, fragte Acribus mit einer Stimme wie Schotter. Sein heißer, stinkender Atem stach Mori in die Nase.

Sie sah ihn an, hob die Brauen und nickte. »Nehmt Euch Euren Teil, Hund!«

Nun versuchte sich Mori in einen Drachen zu verwandeln, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Körper gegen die Wände stieß und das Verlies sie erdrückte. Sie wollte ihre Zauberkraft anrufen, sich Schuppen, Fangzähne und Krallen wachsen lassen, mit denen sie Acribus aufschlitzen konnte. Doch die Schmerzen waren zu groß. Bevor sie ihre magischen Kräfte erreichen konnte, umklammerten seine Finger ihren Hals, und sie rang nur noch um ausreichend Luft. Er zerriss ihr Kleid. Er warf sie über den Tisch. Sie spürte, wie ihre Maus, gefangen in ihrer Tasche, unruhig über ihre Brust huschte, was sich wie ein schlagendes Herz anfühlte. Schatten bedeckten ihre Welt, und ihre Augen verdrehten sich. Schmerz und Blut erfüllten das Verlies. Solina lächelte.

Feuer.

Schwebende Sterne.

Darunter Finsternis.

Draußen kreischten die Phönixe. Myriaden brennender Schwingen erhoben sich, häuften Hitze, Licht und Feuer auf. Die Wälder Requiems brannten, Rauch verschleierte den Himmel, färbte ihn rot und schwarz. Eine einzelne Festung widerstand dem Inferno, sie verbarg ihre Schande im Keller. Brennendes Wild floh, Bäume stürzten um, und Asche fiel wie lodernde Tränen zu Boden. Das Land weinte. Ihre Seele zerriss.

Als er mit ihr fertig war, stieß er sie zur Seite. Mori fiel auf den Boden des Kerkers und schlug sich den Ellbogen wund. Sie weinte und zitterte, sie sah Sterne vor den Augen. Ihre Maus lag still in ihrer Tasche, ein totes Herz, erdrückt von Moris Gewicht.

»Steh auf!«, befahl ihr Acribus angewidert. Er spuckte sie an. »Du kommst mit uns. Du wirst jede Nacht mir gehören, bis wir deinen Vater gefunden und getötet haben.«

Mori lag auf dem blutüberströmten Boden, ihre Stirn nur eine Handbreit von Orins Kopf entfernt. Sein rechtes Auge blickte sie an, groß und schmerzverzerrt aus der tropfenden roten Wunde seines Gesichts. Mori rang nach Luft. Sie konnte nicht aufstehen. Sie konnte kaum etwas sehen. Schmerz hatte sich in sie eingegraben wie eine kalte Eisenstange. Sie schloss beschämt die Augen und betete um ihren Tod. Bitte, Solina, bitte, töte auch mich! Bohr dein Schwert in mein Herz und beende mein Leid!

»Steh auf, süße Kleine!«, sprach Solina von oben herab. Ihre Stimme schien unendlich weit entfernt zu sein. »Steh auf, oder er wird dir wieder wehtun.«

Mori betrachtete den Körper ihres Bruders. Sie zwang sich, genau hinzusehen. Dies war nicht mehr der Held Orin, den sie geliebt hatte, der Kronprinz Requiems. Vor ihr lag nichts als Fleisch, eine verschmorte und durchlöcherte Hülle. Deine Seele speist nun in den von Sternenlicht erleuchteten Hallen unserer Väter. Du ruhst im Sternbild des Draco, und ich weiß, dass du auf mich achtest.

Der Knauf eines Dolches, geformt wie eine Drachenklaue, ragte aus Orins Stiefel. Mori hatte sich stets vor diesem Dolch gefürchtet, hatte sie doch geglaubt, er sei aus einer echten Drachenklaue gefertigt. An diesem Tag aber ging es nur darum, Ängste zu zerstören. Acribus packte ihr Haar und zog daran. Mori war schon immer der schnellste Drache Requiems gewesen. So rasch sie konnte, griff sie nach dem Dolch ihres Bruders, sprang auf und stach zu.

Der Dolch glänzte in ihrer Hand, ihrer Glückshand. Mori schrie. Der Dolch kratzte über Acribus’ Brustpanzer und traf ihn unter dem Arm. Dort trug er nur ein Kettenhemd, das viel dünner war als seine Brustplatte aus Stahl. Es war dem im Sternenlicht geschmiedeten Dolch eines Prinzen Requiems nicht gewachsen. Die Klinge glitt durch das Hemd, Blut bespritzte Mori, und Acribus heulte auf.

Es tut mir leid, Orin, dachte sie, während sie losrannte, mit Tränen auf den Wangen und Blut an den Schenkeln. Es tut mir so unendlich leid.

Sie ließ Acribus stehen und stürmte die Treppe hinauf. Solina schrie und wollte sie packen, doch Mori war zu flink. In ihren Ohren pochte das Blut. Bei jeder Stufe durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Es fühlte sich an, als hätte sich die Brut eines Dämons in ihr eingenistet und schlitze sie von innen mit seinen Krallen auf. Und doch rannte sie, brach aus dem Verlies aus und hastete durch die Halle. Sie war schon immer so schnell gewesen. Du hast mir gesagt, dass ich schnell bin, Orin, immer wenn wir durch den klaren blauen Himmel über dem Wald des Königs geflogen sind.

Nun war der Himmel rot, voller Rauch und Feuer. Mori rannte über den Burghof, verwandelte sich in einen Drachen und stieg in die Flammen auf. Zehntausend Phönixe heulten in dem Inferno über ihr, und es sah aus, als wäre die Sonne auf die Erde gestürzt. Mori stieß einen heiseren Schrei aus, der sie fast verzehrte – ein Schrei des Schmerzes und des Zorns, ausgelöst durch den Tod ihres Bruders. Sie hörte ihre eigene Stimme, die Stimme eines verängstigten Mädchens, das auf dieser Erde nie wieder Freude fühlen würde. Sie erhob sich durch das Feuer und schnellte in nördliche Richtung. Ihre Flügel wirbelten Rauch und Hitze auf.

Sie flog, ein kleiner goldener Drache, mit schlagenden Flügeln, zusammengekniffenen und feuchten Augen. Der Wind umtoste sie. Hinter ihr schrien zehntausend Phönixe.

Wenn Mori über die Schulter zurückblickte, entdeckte sie ein Heer aus Sonnenfeuer, das ihr folgte. War Solina unter ihnen, die Frau, die ihren Bruder getötet hatte? Flog Acribus mit ihnen, der Mann, der … Mori fletschte die Zähne, Scham flammte in ihr auf. Er hatte ihr etwas angetan, etwas in ihr zerbrochen, ihr etwas genommen, das sie nicht wiedererlangen konnte. Das schmerzte. Sie wollte sterben, um diese Unreinheit nie wieder spüren zu müssen, doch sie flog weiter.

Sie hatte noch immer einen zweiten Bruder in Requiem. Sie hatte noch einen Vater. Ich muss sie warnen. Ich muss überleben. Was auch geschehen mag, wie oft sie mich auch noch verletzen mögen, ich muss am Leben bleiben.

Sie flog nach Norden, mit Tränen und Eis, mit der Wut und der Hitze Tiranors im Gefolge.

Elethor

Er stand, umringt von weißen Säulen, in seiner Werkstatt und starrte auf die Statue. Die Frau war aus Marmor gearbeitet, die Haut glatt, der Körper nackt und geschmeidig. Elethor hatte Stunden darauf verwandt, ihre vollen Lippen, die gerade Nase und ihr Haar, das wie Seide herabfiel, aus dem Stein herauszumeißeln. Und dennoch besaß die Statue noch nichts von Solinas wahrer Anmut.

Wärst du doch noch immer hier, dachte Elethor, der Hammer und Meißel noch in der Hand hielt. Könnte ich doch nur deine wirkliche Schönheit bewundern und müsste mich nicht mit dem kalten Marmor zufriedengeben. Könnte ich doch nur deine weiche Haut streicheln, deine Lippen küssen und dich ein letztes Mal in den Armen halten.

Er seufzte, legte sein Werkzeug auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank. In seiner Werkstatt standen noch sechs weitere Statuen von Solina, manche nackt, andere mit fließenden Gewändern aus Stein bekleidet, alle wunderschön, und alle konnte er nur unter Schmerzen betrachten. Dennoch fuhr er fort, sie in Stein zu hauen, auch wenn ein solches Bildnis monatelange Arbeit bedeutete.

Ich erschaffe jedes Jahr eine Figur, so lange, bis ich dich wiedersehe. Sieben Statuen. Sieben Jahre. Sieben verlorene Hoffnungen, seine Liebe wiederzuerlangen.

Die Sonne ging unter, wie er erst jetzt bemerkte; er hatte den ganzen Tag gearbeitet, ohne auf das Verstreichen der Zeit zu achten. Er stand auf, entzündete eine Öllampe und stellte sich dann zwischen die Säulen seiner Werkstatt. Das Haus erhob sich auf einem Hügel, von hier aus sah er auf Nova Vita hinab. Elethor stand häufig zwischen den Säulen und blickte auf die ausgedehnten Birkenwälder, die Häuser aus weißem Marmor und die Drachenherden, die darüber hinwegflogen. Die Stadt erschien ihm noch immer schön, trotz der tiefen Trauer, die sich seit Solinas Verschwinden in ihm eingenistet hatte.

Bald schon berührte die Sonne den Horizont, und die Sterne erschienen. Das Sternbild des Draco glitzerte über ihm, die Sterne seiner Ahnen, das Licht seines Volkes. Er war ein Prinz Requiems. Diese Sterne segneten ihn, und die Menschen dieser Stadt dienten ihm, doch Elethor hätte beides für die Berührung einer Hand, einen Atemhauch im Nacken, ein Flüstern ihrer Stimme aufgegeben.

»Solina«, flüsterte er. Eine Frau des Sonnenlichtes und ein Prinz der Sterne. Solina. Das Feuer seiner Nacht. Der Schmerz, der für immer in seiner Seele gärte.

Während er den Anbruch der Nacht verfolgte, erkannte er einen schlanken saphirfarbigen Drachen, der auf seinen Hügel zuflog. Das Licht der Sterne schimmerte auf den Schuppen des Drachen. Elethor seufzte.

»Großartig«, murmelte er. »Ein Besuch von Lyana. Einen passenderen Zeitpunkt hätte sie sich nicht aussuchen können.«

Der blaue Drache glitt durch die Nacht, Feuer züngelte aus seinem Schlund. Bald darauf landete Lyana auf dem Hügel hinter den Säulen, ihre Krallen wirbelten Gras und Staub auf. Ein letztes Mal schlugen ihre Flügel, sie neigte den Kopf und musterte Elethor.

»Man hat dich beim Mahl vermisst«, sagte sie und verbarg ihre Zähne. »Dein Vater ist verärgert.«

»Ich war nicht hungrig«, entgegnete er matt.

Lyana spuckte verächtlich eine kleine Flamme. Brummend verwandelte sie sich. Ihre Flügel verschwanden im Rücken. Die Zähne und Klauen zogen sich zurück. Ihre Schuppen lösten sich auf. Kurze Zeit darauf stand eine junge Frau vor ihm. Sie trug eine silberne Rüstung, in die ein Drache eingraviert war – die Rüstung der Bellatoren, Requiems altem Ritterorden. Ein Schwert und ein Dolch, beide Hefte wie eine Drachenklaue geformt, hingen von ihrem Gürtel.

Elethor hasste ihren Anblick. Er hasste dieses aufgerichtete Näschen. Er hasste diese grünen Augen, die stets so hochmütig dreinblickten. Er hasste sogar ihre roten Locken, und sei es nur, weil sie deswegen so eingebildet war.

»Verdammt, nicht hungrig?«, fragte die junge Kämpferin mit erhobenem Kinn. Sie war ein schlankes Mädchen, gut einen Kopf kleiner als er, doch sie stolzierte umher, als wäre sie eine Riesin. »Elethor, es ist mir völlig gleichgültig, ob du gerade ein Walross verspeist hast. Du bist ein Prinz Requiems. Solange sich dein älterer Bruder im Süden aufhält, ist es deine Pflicht, dich bei Hofe blicken zu lassen. Lord Deramon hat nach dir gefragt und …«

Elethor stöhnte auf. »Lyana! Ich will keinen weiteren Vortrag von dir hören.«

Dieses Mädchen war unausstehlich; besonders schlimm war es seit der Verlobung mit Orin im letzten Sommer geworden. Hatte sie schon zuvor mit ihrem Ritterorden geprahlt – was schon schlimm genug gewesen wäre –, so gerierte Lyana sich nun als kommende Prinzessin, als zukünftige Königin. Das hatte ihren Stolz ins Unerträgliche gesteigert. War sie auch kleiner als Elethor und fünf Jahre jünger, so gab sie sich doch, als wäre sie seine Mutter und er ein fehlgeleiteter Jüngling.

Sie trat auf ihn zu, presste die Lippen zusammen und reckte dabei das Kinn so hoch, dass ihr Kopf jeden Moment abzuknicken drohte. Sie schnaubte – das laute Geräusch reiner Geringschätzung.

ENDE DER LESEPROBE