Die Klauen des Feuers - Daniel Arenson - E-Book

Die Klauen des Feuers E-Book

Daniel Arenson

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Beschreibung

Ihre Heimat ist zerstört, doch ihre Feinde gönnen ihnen keinen Frieden

Das uralte Reich Requiem, dessen Bewohner die Fähigkeit besitzen, sich in Drachen zu verwandeln, hat sich auch ein Jahr nach dem verheerenden Angriff der Phönixe noch nicht erholt. Mühsam gelingt es den Menschen, die Stadt wieder aufzubauen, doch noch längst sind nicht alle Wunden an Körper und Seele verheilt. Da nähert sich ein riesiges Heer, dessen größte Bedrohung die drachenartigen Wyvern sind. Wird es König Elethor und den Bewohnern Requiems gelingen, diese Invasion aufzuhalten?

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Buch

Ein Jahr ist vergangen seit dem verheerenden Angriff der Phönixe auf Requiem. Mühsam gelingt es den Menschen dort, die Stadt wieder aufzubauen, doch in den Körpern und Seelen sind noch längst nicht alle Wunden verheilt.

König Elethor hat zwei Kundschafter losgeschickt, die die neuen Pläne von Solina aufdecken sollen: Seine Verlobte Lyana hat sich als blinde Tänzerin Tiana in ein Gasthaus geschlichen. Mit gefärbtem Haar und einem von außen undurchsichtigen Schleier gibt sie vor, ein blindes Mädchen aus der Wüste zu sein, und tanzt vor tiranischen Soldaten. Sie belauscht die Krieger, um mehr über den bevorstehenden Angriff in Erfahrung zu bringen.

Ihr Bruder Bayrin ist der zweite geheime Kundschafter Requiems: Er lebt als Bettler und überbringt regelmäßig wichtige Informationen. So weiß Elethor inzwischen, dass Solina ein enormes Heer aufbaut, dessen größte Bedrohung die Wyvern sind: riesige Drachen mit zwei Beinen, scharfen Zähnen und metallischen Schuppen. Doch es ist vor allem das, was die zwanzigtausend Wyvern ausspeien, was sie so gefährlich macht: Sie spucken eine tödliche Säure, die sich durch alles frisst, womit sie in Berührung kommt – auch durch jede Drachenschuppe und Rüstung.

Elethors Heer wirkt dagegen winzig, und auch die Herrscher der Nachbarreiche bieten keine Hilfe. Wird es König Elethor und den Bewohnern Requiems trotzdem gelingen, diese Invasion aufzuhalten?

Autor

Der Kanadier Daniel Arenson ist glühender Fan von Dungeons & Dragons, dem Herrn der Ringe und Star Wars. Müsste er sich entscheiden, wäre er lieber Hobbit als Elf, eher Stark als Lannister und mehr Ravenclaw als Hufflepuff. Als Autor veröffentlichte er im Selbstverlag bereits vier Trilogien aus dem Requiem-Universum. In den USA haben sich seine Bücher mehr als 400.000 Mal verkauft und sind Fantasy-Bestseller.

Von Daniel Arenson bereits erschienenDer Atem des FeuersBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Daniel Arenson

Die Klauendes Feuers

Drachenlied 2

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Jörg Pinnow

Die Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »A Day of Dragon Blood«.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten.Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss.Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2012 by Daniel ArensonCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Friedel WahrenUmschlaggestaltung und -illustration:© Melanie Miklitza, InkcraftJvN · Herstellung: kwSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-17240-4V001www.blanvalet.de

Silas

Wohin sie auch sahen, überall erblickten die drei Drachen in dieser Nacht Dämonen.

Die Sümpfe unter ihnen verloren sich in der Dunkelheit. Geisterhaft wallte Nebel aus den Mangroven auf, der sich nur durch das Schlagen ihrer ledernen Flügel auflösen ließ. Der feuchtkalte Dunst nach Moor, Schlamm und Blättern stieg den Drachen in die Nasen und vermischte sich dort mit dem Geruch des Feuers, das in ihren Mäulern züngelte. Kein Stern war über ihnen zu erkennen; dies war eine Nacht der Wolken, der Furcht, der Stille vor dem Sturm.

»Wo seid ihr?«, flüsterte Silas und blickte sich forschend um. Seine Schuppen klirrten, seine Narben schmerzten noch immer. Ein Jahr war seit dem Krieg vergangen, ein Jahr, seit die Tiraner durch diese Sümpfe geflohen waren, nachdem sie seinen König getötet und seine Heimat verwüstet hatten. Silas’ Körper war damals nichts weiter als eine Masse verbrannten Fleisches und tiefer Wunden gewesen.

»Mylord!«, sprach ihn Tanin an, der neben ihm flog. Der junge Drache war noch fast ein Kind, gerade sechzehn Jahre alt und hinter den Ohren grün wie seine Schuppen. »Mylord, könnt Ihr etwas erkennen?«

Silas brummte. »Sprich mich nicht mit Mylord an! Und dämpfe deine Stimme! Bei diesem Wind kann man dich in großer Entfernung hören.«

Bauernjungen, dachte er verächtlich. Sie haben mir Bauernjungen für diesen Erkundungsflug mitgegeben. Vor einem Jahr hatte Silas zu jenen tausend tapferen Kriegern gehört, zu den gestählten Drachen, die für Requiems Ehre gekämpft hatten. Fast alle waren in diesem Krieg gefallen, waren durch das Feuer der Phönixe über ihrer Hauptstadt Nova Vita verbrannt, oder der Stahl der Angreifer hatte sie in den Tunneln aufgeschlitzt.

Aber wie schleppe ich mich dahin! Tausende Krieger um mich herum sind gestorben, ehrenvoll und kämpfend, doch ich bin noch hier … ein verängstigter alter Mann, der zusammen mit den Kindern von Bauern und Bäckern seinen Dienst versieht. Er war kaum dreißig, doch zwischen diesen Jungen kam er sich alt vor – seine Seele, alt wie Leder, war unzählige Male verletzt worden, seine Knochen erschienen ihm spröde wie eine verrostete Klinge.

Flügel durchwühlten den Nebel, und Yara tauchte mit funkelnden Augen neben ihm auf. Der schlanke silberne Drache, die Tochter eines Bäckers, entblößte seine spitzen Zähne.

»Silas«, rief sie keuchend, »ich habe etwas gesehen! Einen Schatten in der Dunkelheit.« Sie wies mit ihren Krallen Richtung Süden.

Eiskalte Finger schienen Silas an der Kehle zu packen. Er sah in die angegebene Richtung, konnte aber nur unendliche Schatten, wirbelnde Wolken und Mangroven erkennen, die zwischen Schlamm und Wasser wogten.

Mit angstvoll klappernden Schuppen stieß Tanin einen Feuerstoß aus. »Wo, Yara? Wo?«

Silas riss den Kopf herum und zischte. »Sei still, Kleiner! Halte deine Zunge und dein Feuer in Zaum!«

Er wandte sich wieder in Richtung Süden. Auch mit zusammengekniffenen Augen und angehaltenem Atem konnte er nichts bemerken. Leise glitt er mit dem Wind dahin und sog witternd die Luft ein.

Nichts, dachte er. Nichts als unendliche Sümpfe. Kein Feind. Kein …

Die beiden jungen Drachen neben ihm rangen nach Luft. Silas fluchte und füllte sein Maul mit lodernden Flammen.

Verdammt.

Ein Dutzend dunkler Gestalten brach aus den Wolken hervor, keine hundert Meter von ihnen entfernt. Rote Augen leuchteten auf, Greifzähne schimmerten; Silas konnte kaum mehr als die Schatten der Wesen ausmachen. Er knurrte, fluchte und spie Feuer.

Die Flammen wirbelten brüllend herum, und für einen Augenblick konnte Silas die Bestien erkennen. Das Blut gefror ihm in den Adern. Sie waren so groß wie Drachen, ihre Schuppen waren wie Metall, ihre Flügel riesig, die Zähne lang und scharf wie Schwerter. Menschliche Reiter, mit schartigen Helmen unkenntlich gemacht, saßen auf ihren Rücken. Dann krachte das Feuer in die Bestien, und ihr Gekreisch erfüllte die Nacht. Sie schrien wie zerspringendes Glas, wie zerbrechende Knochen, wie Gewitter. Ihre Flügel wirbelten herum, dann hatten sie ihn erreicht.

Klauen rissen an Silas’ Schuppen. Fangzähne bohrten sich in sein Fleisch. Silas knurrte und hieb auf sie ein, seine Krallen kratzten über Schuppen, die hart wie Stahl waren. Funken stoben. Neben ihm kämpften Yara und Tanin, Blut spritzte durch den Nebel.

»Yara, lass dich fallen!«, brüllte Silas. »Gib das Signal!«

Eines der Biester stürzte erneut mit klirrenden Schuppen und peitschenden Krallen auf ihn herab. Silas fuhr herum, holte mit dem Schwanz aus und hieb auf den mit Schuppen und Stacheln bewehrten Kopf ein. Rechts von ihm tauchte eine weitere Kreatur auf, kaum mehr als ein Schatten in der Nacht, und bohrte die Zähne in Silas’ Schulter. Schmerz durchzuckte ihn, und blitzartig war Silas in Gedanken zurück in den Tunneln, zurück in der Finsternis unter Nova Vita, wo er in jenem Krieg gekämpft hatte, der so viele seiner Brüder das Leben gekostet und von ihm nur die ausgebrannte Hülle eines alten Mannes zurückgelassen hatte. Noch einmal überrollte ihn das Feuer, während seine Stadt in sich zusammenfiel und alle, die er einmal gekannt hatte, ihr Leben aushauchten.

Er spie noch mehr Feuer. Es traf die Kreaturen und hüllte sie in Flammen ein. Damit war Silas zurück über den Sümpfen, ein Jahr später, wo er alles tun wollte, um ein Wiederaufflammen dieses Krieges wieder zu verhindern. Im Licht des Feuers sah er, wie Yara sich zurückzog. Der silberne junge Drache wölbte die Brust, warf den Kopf zurück und machte sich bereit, das Hilfesignal zu senden – drei nach oben gerichtete Feuerstöße.

Bevor sie ihre Flammen in die Nacht schicken konnte, waren die schattenhaften Wesen über ihr, öffneten ihre Mäuler und übergossen sie mit Strahlen einer hellen Flüssigkeit.

Hitze loderte auf, Gestank breitete sich aus. Silas jaulte. Die gelblichen Strahlen trafen Yara, und sie schrie auf – ein Schrei, der von solchen Schmerzen zeugte, dass Silas in dem Moment wusste, er würde ihn nie wieder vergessen. Die Flüssigkeit lief zischend über den silbernen Drachen und fraß sich durch die Schuppen, zerschmolz sein Gesicht und grub sich tief in sein Fleisch. Die Magie wich von Yara, die alte Magie Requiems, die Magie, die ihr Volk als Drachen fliegen ließ. Yara stürzte als Mensch vom Himmel, als junge Frau, die bis auf die Knochen verbrannt war. Sie verschwand im Dunkel.

»Oh, ihr Sterne, ihr Sterne!«, rief Tanin. Der grüne Drache wandte sich ab, um zu fliehen. Er kam kaum dreißig Meter weit, da hatten ihn die brüllenden metallenen Kreaturen erreicht und mit ihrer Säure bespien. Die zischenden Strahlen krachten in den flüchtenden Drachen, und Tanin jammerte und heulte auf.

»Bitte!«, rief er, und seine Stimme klang so jung wie die Stimme eines Knaben. »Ich möchte nach Hause, bitte, ich bin kein Krieger, bitte …«

Er wandte sich um, sein Blick traf Silas. Einen Augenblick lang – einen kalten, furchtbaren Augenblick lang, der Ewigkeiten zu dauern schien – sah Silas in die Augen eines jungen, zu Tode geängstigten Kindes, das ihm vertraut hatte … und das er in den Tod geführt hatte. Dann lief die Säure auch in diese verängstigten Augen und ließ sie schmelzen, wie Flammen eine Kerze zum Schmelzen bringen. Auch Tanin wurde wieder ein Mensch und stürzte hinab. Als rotes, über und über mit Blasen bedecktes Stück Fleisch verschwand er in den Schatten.

Keuchend schlug Silas mit den Flügeln und drehte sich in Richtung der Angreifer. Im Dunkeln konnte er sie kaum sehen – nur die Form ihrer Flügel, das Schimmern ihrer Zähne und das Rot ihrer Augen waren zu erkennen. Zehn oder noch mehr von ihnen hatten ihn umringt. Die Reiter auf den Rücken wirkten wie bloße Schatten. Silas’ Herz pochte heftig. Er wusste, er musste das Signal geben, er musste die Feuerstöße absetzen – dreimal nach oben in die Luft, um nach Hilfe zu rufen –, und doch, wenn er sich bewegte, würden sie ihn töten. Er hatte schon genug Männer sterben sehen, um zu wissen, wann sein eigener Tod sich näherte.

Er warf den Kopf zurück und spie sein Feuer.

Die Kreaturen umschwärmten ihn.

Ein Säurestrahl schoss heran. Silas flog auf und wich aus. Der Strahl traf seinen Flügel, Silas schrie. Hitze loderte auf und schloss ihn ein. In seinen Flügel wurden Löcher gerissen; er hörte, wie der Wind durch sie hindurchpfiff. Mit aller Kraft schlug er mit dem Flügel, um die Säure abzuschütteln, doch sie klebte an ihm, fraß und grub sich in ihn hinein, riss seinen Flügel in Stücke, bis er sich anfühlte, als bestünde er aus brennenden Papierfetzen.

Mit nur einem Flügel schlagend, fiel er vom Himmel.

Die Sümpfe rasten auf ihn zu. Von oben stürzten die Biester wieder auf ihn herab.

»Lasst ihn am Leben!«, brüllte einer der Reiter. »Ich will ihn lebendig!«

Die Winde heulten. Silas verrenkte sich im Fallen den Hals und spie ein weiteres Mal Feuer aufwärts. Die Flammensäule traf eines der näher kommenden Biester. Es heulte auf und zog sich zurück. Dafür tauchte ein Dutzend andere zu ihm herab, große, auf ihn niederprasselnde schwarze Brocken. Klauen streckten sich nach ihm aus und bohrten sich durch die Schuppen tief in sein Fleisch. Durch Mangroven hindurch in Schlamm und Moos. Die Kreaturen stürzten sich auf ihn. Zähne wurden in ihn hineingetrieben, eine Kette wurde geschwungen und um ihn geworfen. Er erhaschte einen Blick auf die Reiter, die von ihren Tieren abstiegen. Auf ihren Brustpanzern leuchtete eine goldene Sonne. Da traf ihn ein Eisenstab am Kopf.

Licht loderte auf, dann umhüllte ihn Dunkelheit wie ein Mantel.

Regen prasselte.

Wind heulte.

Sterne wirbelten umher, als Silas durch endlose Tunnel streifte, um seine toten Brüder zu suchen und einen Ausgang zu finden.

Lyana

Lyana stand auf dem Dach des Weinhauses und sah hinunter zu den Tausenden auf dem Platz, die alle gierig nach dem tödlichen Spektakel lechzten.

Es schien, als sei jedermann in Irys, dieser üppigen Oasenstadt, aus dem Haus getreten, um der Hinrichtung beizuwohnen. Männer, Frauen und Kinder bevölkerten auch die Dächer der Lehmhäuser und blickten von den mit Kräutern, Obst und Gemüse bewachsenen Dachgärten hinab. Mit milchigen Brustpanzern bekleidete und mit Speeren bewaffnete Soldaten standen längs der Kopfsteinstraßen, die sich durch Palmenhaine schlängelten und an Silos, Weinbergen und Werkstätten vorbeiführten. Sogar auf dem Fluss Pallan, der zwischen den säulenbestandenen Tempeln und Villen der Stadt hindurchfloss, herrschte drangvolle Enge. Von den einfachen Booten der Fischer bis hin zu den großen Segelschiffen der Kaufleute, deren Frachträume von Gewürzen, Seide und Juwelen aus fernen Ländern schier überquollen, war alles zu sehen.

Tiranor. Lyana fuhr der sandige Wind durchs Haar. Die Geißel Requiems, hier in all seiner Pracht und Größe versammelt, könnte sich nicht deutlicher von meiner Heimat unterscheiden als Sonnenlicht vom Schein der Sterne. Ich befinde mich mitten in der Löwengrube.

Es war die Feier zur Sonnenehre, jener Moment im Kreislauf des Mondes, in dem dieser in der Nacht völlig schwarz am Himmel stehen würde. Und am nächsten Tag würde die Sonne siegreich aufgehen. Die Menschen trugen weiße und goldene Kleider, um ihren feurigen Gott zu ehren. Der Duft von Myrrhe zog durch die Stadt und stieg schwer und dick auch in Lyanas Nase. Sie hatte den Geruch immer geliebt, doch heute roch er auch nach Verwesung. Dieser Tag war den großen Dingen in Tiranor gewidmet, diesem Land aus Sand und Stein, Dingen wie dem Krieg, der Anbetung … und dem Tod.

Die Rufe der Menge wurden lauter, als fünf Wyvern aus dem Sonnentempel heraustraten, einem Sandsteingebäude, dessen Säulen und platingekrönte Türme die Stadt überragten. Die geschuppten Biester befreiten sich von den Näpfen des Tempels und erschienen auf den heißen, sonnenbeschienenen Straßen. Sogar unter dem grellen Licht von Tiranors Sonne waren ihre Schuppen schwarz wie die Nacht und ihre Augen wie rot glühende unterirdische Feueröfen. Reiter saßen auf ihnen, deren Helme wie Kranichschnäbel aussahen und deren Peitschen golden beringt waren.

Lyana verzog das Gesicht und ballte die Fäuste. Als sie die Wyvern zum ersten Mal gesehen hatte, waren sie ihr wie seltsame Drachen aus dem Süden vorgekommen. Sie waren groß und mit Schuppen bedeckt und hatten Flügel wie die Drachen des Nordens. Doch im Gegensatz zu diesen hatten die Wyvern nur zwei Beine – muskulös, so dick wie ihr Schwanz und mit Krallen in der Größe eines Schwertes, also gut zweimal die Größe einer Drachenkralle. Die spitzen Zähne standen wie Klingen aus den Mäulern hervor. Doch ihre grausamste Waffe war die Substanz, die sie aus diesem Maul herausspritzen konnten. Lyana hatte bislang nur einmal gesehen, wie sich die Säure ihren Weg durch ein Lebewesen fraß, als ein verurteilter Dieb bis auf die Knochen aufgelöst wurde. Aber dieser Anblick erschien ihr noch immer in ihren Albträumen.

Hinter den Wyvern klirrten Ketten. Als sie weiter aus dem Tempel herausgetreten waren, zogen sie mit diesen Fesseln ihren Gefangenen auf die Straße: einen blutverschmierten, zerfleischten Drachen.

»Silas«, flüsterte Lyana. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Die Wyvern grunzten, trotteten die Straße entlang und zerrten den gefangenen Drachen hinter sich her. Silas atmete unregelmäßig. Einer seiner Flügel war verschwunden, bis zu einem verkohlten Knochen heruntergebrannt. Seine Schuppen waren verbeult, seine Hörner abgesägt. Während die Wyvern ihn über die Straßen schleiften, hinterließ er eine Blutspur. Ringsum grölte die Masse, stampfte mit den Füßen und ließ Müll und Steine auf ihn niederregnen.

Schwäche übermannte Lyana, sie rang nach Luft, in ihrem Kopf drehte es sich.

»O Silas«, flüsterte sie.

Sie hatte an seiner Seite in Nova Vita gekämpft, hatte sich mit ihm den Phönixen über der Stadt der Drachen entgegengestellt. Er hatte ihrem Vater gedient, Lord Deramon. Als sie ein junges Mädchen gewesen war, hatte Silas oft des Nachts ihre Kammer bewacht, um sie dann am Tag den Umgang mit dem Schwert zu lehren. Sie musste ihn retten. Sie musste ihre Tarnung aufgeben, sich in einen Drachen verwandeln, zu ihm hinunterfliegen, ihn packen und sich mit ihm in Sicherheit flüchten. Sie musste …

Du musst deinem Königreich dienen, flüsterte ihr eine innere Stimme zu. Du musst auf deinem Posten bleiben. Du bist eine Tochter Requiems, du dienst deinem ganzen Volk … auch wenn du einen Vir Requis sterben lassen musst.

Diese Stimme gehörte ihrem Vater, gehörte ihrem König und allen ihren Vorfahren. Es war die Stimme ihrer Ehre und ihrer Erinnerung. Es war eine Stimme, die sie in diesen Tagen zu hassen gelernt hatte.

Sie zog sich das Seidentuch über die Augen. Die Weber von Confutatis, dieser alten Stadt im Ostteil des Reiches, hatten dieses Tuch für sie gewebt und all ihr Können und ihre Magie hineingewirkt. Von der einen Seite war der Stoff durchscheinend wie ein Sommernebel, von der anderen dick und fest wie Wolle. Sah Lyana durch das Tuch, erkannte sie die Welt in völliger Klarheit, für jeden anderen Betrachter verdeckte es Lyanas grüne Augen, die im Norden so verbreitet waren. In dieser Stadt war sie Tiana, die blinde Tänzerin aus dem Weinhaus zum Duftenden Fluss. Ihre einst so üppigen, lodernd roten Locken hingen nun geglättet und platinblond gefärbt an ihr herab – es war jetzt das Haar einer Tiranerin. Ihre Haut, früher bleich und mit Sommersprossen bedeckt wie der Sternenhimmel, leuchtete nun golden, denn sie war mit Salben überzogen, die sie mondelang färben würden. Hatte sie einstmals die Rüstung eines Bellators getragen, eines Ritters aus Requiem, so hatte sie nun nichts weiter am Körper als ein wenig weiße Seide, die mehr von ihrem Fleisch zur Schau stellte, als dass sie verbarg.

Ich war Lady Lyana, eine Verteidigerin Requiems, eine Kriegerin, die sich in einen Drachen verwandeln und zum Kampf aufsteigen konnte, die Silas zu retten und meine Feinde zu verbrennen vermochte. Mit klopfendem Herzen biss sie die Zähne zusammen. Jetzt durfte sie nur Tiana sein, eine blinde Tänzerin, die mit ihrem Tuch über den Augen aus den südlichen Dünen hierhergekommen war, ein Mädchen, das nicht einmal den blutigen Tanz vor sich sehen konnte. Ich wünschte wirklich, ich wäre heute wahrhaftig blind.

Die fünf Wyvern trotteten die Königspalisade entlang, eine gepflasterte breite Straße, gesäumt von Palmen und Obelisken, die mit platinfarbenen Sonnenbannern geschmückt waren. Hinter dem gefesselten Silas zog sich eine rote Spur über die Straße, und die Menge brüllte. Kraniche und Ibisse flogen über ihren Köpfen, berittene Soldaten folgten dem Drachen und hielten Phoebus’ Banner in die Höhe, eine flammende Sonne über einem weißen Feld. Die Prozession setzte ihren Weg die Palisade entlang fort und durchquerte den Torbogen der Königin, in dessen Steine Sonnenbanner eingraviert waren. Auf dem Platz der Sonne angekommen, jubelten Tausende Zuschauer und erhoben die Hände zum Himmel. Die echte Sonne brannte über ihnen, der Gott des Lichtes, der Hitze und der Strafe überflutete die Stadt.

Am anderen Ende des Platzes lag Phoebus’ Palast, ein riesiges Gebäude, das selbst den Palast von Requiem überragte, in dem Lyana ihrem König gedient hatte. Seine Säulen stiegen hundert Meter in den Himmel auf. Steinerne Wächter, die wie gesichtslose Krieger aussahen, flankierten die großen Tore; jede Statue war größer als drei Drachen. In diesem Moment stiegen die Wyvern die Stufen zum Eingang des Palastes hinauf. Silas wurde nach oben geschleift; der Drache schlug stöhnend gegen jede Stufe, und Rauchwölkchen stiegen aus seiner Nase auf.

Spei dein Feuer, Silas! Spuck deine Flammen aus und töte so viele Untiere, wie du nur kannst!

Doch er war zu schwach, das sah auch Lyana. Er war ja kaum in der Lage, seine Drachengestalt nicht zu verlieren. Peitschenspuren zeichneten seinen Körper. Sie hatten ihn gefoltert, hatten ihn gezwungen, ein Drache zu bleiben, was sicher den letzten Tropfen seiner Willenskraft erfordert hatte.

Lyana ballte die Fäuste. Königin Solina wünscht, dass der Mob ihn als gebrochenes, blutendes Tier sieht, nicht als Menschen.

Die aus Gold und Elfenbein geschnitzten Tore des Palastes schwangen auf. Als hätte sie Lyanas Gedanken erraten, trat Königin Solina aus dem Schatten heraus, stellte sich an die Stufen und hob die Arme.

Die Stadt verneigte sich vor ihr, eine Welle aus unzählbaren Untertanen. Mit so fest zusammengekniffenem Kiefer, dass ihre Zähne schmerzten, zwang sich auch Lyana zu einer Verbeugung.

»Gelobt sei der Sonnengott!«, rief Solina laut. Der Stahl, den sie auf ihrem Körper trug, war so hell, dass er fast weiß wirkte. Auf ihrem Brustpanzer leuchtete eine goldene Sonne, zwei Zwillingssäbel hingen an ihrem Gürtel. Ihr platinblondes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr in der Luft, und die Krone aus zackigen goldenen Spitzen thronte wie ein Krallengebilde auf ihrem Kopf.

Zorn raste wie ein Sandsturm durch Lyana. Du hast meinenKönig ermordet. Du hast meinen Verlobten ermordet. Eines Tages werde ich dich töten, Solina.

»Erhebt euch, Kinder der Sonne!«, befahl Solina mit ausgestreckten Armen. In der Oase von Irys stand das Volk auf und rief ihren Namen. Solina wies auf den gefesselten Silas. »Eine Bestie, gefangen beim Erkunden unserer Grenzen. Ein Dämon aus Schuppen und Klauen.«

Auf den Dächern und Straßen tobte die Menge. Durch ihren Seidenschleier betrachtete Lyana die Menschen. Noch nie hatte sie solche Wut, solch reinen, ungebändigten Hass gesehen.

Er überwältigte die Gesichter von Männern und Frauen in Tiranor und verzerrte sie zu grausamen Masken. Er ergoss sich aus ihren Kehlen in rauem Geheul.

Wir sind in ihren Augen nur Dämonen, dachte Lyana. Wir, die Kinder Requiems, sind ein nobles und altes Volk, eine Nation, die für Musik, Meditation und Frieden lebt. Und hier sind wir nichts anderes als Monster.

»Die Drachen haben eure Väter und Mütter verbrannt!«, rief Solina. »Vor dreißig Jahren haben sie unser glorreiches Land des Sonnenlichtes angegriffen, unsere Häuser verwüstet und das Blut unserer Kinder getrunken.« In der brüllenden Menge war ihre Stimme kaum noch zu hören. »Aber wir sind auferstanden! Unsere Paläste stehen wieder, und unser Volk ist stark!« Sie warf den Kopf in den Nacken und schleuderte ihre Worte der Sonne entgegen. »Wir werden niemals untergehen!«

Das Gebrüll wurde so laut, dass Lyana den Druck in den Ohren spürte, es schnürte ihr die Brust ein, und das Weinhaus zum Duftenden Fluss unter ihren Füßen erbebte.

»Wir werden niemals untergehen!«, wiederholte das Volk. »Wir werden niemals untergehen! Ehre dem Sonnengott!«

Lyana senkte die Blicke. Der erste Krieg mit Tiranor hatte vor ihrer Geburt getobt. Solina war damals erst ein Säugling gewesen. Die Wunden des Krieges waren in dieser Stadt längst verheilt; die zerstörten Gebäude waren wieder aufgebaut worden, und noch mehr Bäume als einst erfüllten diese Oase mit Leben.

»Und doch blüht der Hass noch, den wir gesät haben«, flüsterte Lyana. »Und noch immer verdirbt er unsere Söhne und Töchter.«

Die Wyvern schlugen mit den Flügeln und zogen den Drachen an den Ketten auf die Füße. Soldaten kletterten die riesigen Statuen neben den Eingangstoren des Palastes hinauf und befestigten die Ketten an Haken. Schon bald hing Silas gefesselt zwischen den steinernen Wächtern, ein blutender Drache mit nur einem Flügel, seine ganze Erbärmlichkeit wurde vor der ganzen Stadt zur Schau gestellt. Solina stand vor ihm, ihre Stiefel waren rot von seinem Blut.

»Die Drachen bringen die Dürre in unser Land«, fuhr die Königin mit erhobener Stimme fort. »Sie trinken das Wasser, das die Fluten des Pallan füllen sollte. Die Drachen fressen unser Korn und verdammen unsere Armen zum Hungertod. Die Drachen lästern unseren Herrn, den Sonnengott, der uns das Leben schenkt, und beten dafür die Nacht an.« Bei jedem ihrer Worte brüllte die Menge auf. Solina wandte sich an den gefesselten Silas. »Nun wird Requiem erfahren, welchen Preis es für seine Schandtaten bezahlen muss. Gelobt sei der Sonnengott! Sein Feuer wird alle Dunkelheit auslöschen. Schon bald werden wir alle Drachen verbrennen und ihre Boshaftigkeit mit Licht vernichten. Wir werden niemals untergehen!«

Flieg auf!, rief eine Stimme in Lyanas Kopf. Reiß dir den Seidenschleier herunter, gib deine Tarnung auf und steig als Drache in die Luft, um ihn zu retten! Du bist ein Ritter Requiems, keine blinde tiranische Tänzerin.

Jeder einzelne Atemzug wurde ihr zum Kampf. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handfläche. Oh, ihr Sterne! Ihr König hatte sie als Spionin hierhergesandt, um zu tanzen, zu lauschen, zu lernen. Ihr Sterne, aber nicht, um zuzusehen, wie ein Freund vor meinen Augen hingerichtet wird.

Und doch stand sie zitternd auf einem Dach und sah zu.

Solina bestieg einen Wyvern, den größten von ihnen, einen Koloss mit eisernen Schuppen namens Baal. Die Königin schlug mit ihrer Peitsche, und ihr Reittier bäumte sich auf. Das Biest brüllte und spie einen Strahl qualmender gelblicher Säure auf den gefesselten Drachen.

Silas schrie auf.

Lyana weinte.

Es tut mir leid, Silas. Es tut mir leid. Etwas anderes konnte sie nicht tun, das war ihr klar. Flöge sie los, würde auch sie sterben. Flöge sie los, würde ihre ganze bisherige Arbeit zusammen mit ihren Knochen verbrennen. Dennoch kreisten Schmerz und Scham unaufhörlich in ihrem Innersten.

Die Säure fraß sich durch die Schuppen des Drachen, Blut verdampfte, und Silas wurde wieder ein Mensch. Für einen Moment hing der Körper an den Ketten, dann fiel er in sich zusammen und zerbrach. Lyana wandte sich ab und schloss die Augen, doch die Schreie hörte sie noch.

Das Gebrüll der Masse umwirbelte sie. Nur gedämpft vernahm sie Solinas Ruf nach Ehre, vernahm sie den Ruf, mit dem Solina dem Mob einen verbrannten Kopf anbot. Alle Geräusche kamen nur noch undeutlich bei ihr an. Um Atem ringend, schwankte Lyana über das Dach des Weinhauses, hantierte mühevoll mit der Klapptür und stolperte in die Dachstube. Dort angelangt, taumelte sie nur noch gegen die Wand, griff sich an die Brust und rang nach Luft.

Ihr Sterne, oh, ihr Sterne.

Sie zwang sich zu tiefen, langsamen Atemzügen, zählte bis zehn und bezwang mühsam das Zittern ihrer Beine.

»Du wirst nicht umsonst gestorben sein, Silas«, flüsterte sie. »Das schwöre ich. Ich werde dich rächen.«

Ich bringe noch mehr über die Invasion Requiems in Erfahrung. Davon werde ich meinem König berichten. Und ich werde Requiem vor dem Zorn dieser wahnsinnigen, blutdürstigen Königin bewahren.

Sie blieb angelehnt stehen, bis sich ihr Herzschlag ein wenig verlangsamt hatte. Bald schon nahmen ihre Augen die Umgebung wieder genau wahr, und sie erkannte Säcke voll Korn, Schläuche mit Bier, aufgehängten getrockneten Fisch und Gläser mit eingelegten Feigen. In einer Ecke befand sich ihr Bett, das lediglich aus einem Strohhaufen bestand, über den ein Betttuch gelegt worden war. Früher hatte Lyana in Palästen residiert, als großer Ritter am Hofe Requiems. Doch diese Tage waren längst vergangen; seit einem Jahr schon lebte sie als Tänzerin Tiana in Tiranor. An diesem Tag vermisste sie noch stärker als sonst ihr Zuhause und erkannte die Bedeutung ihres Opfers.

Unten, in der Schankstube, hörte sie die Türen schlagen, hörte, wie Stiefel hereinstürmten und raue Stimmen nach Bier und Wein verlangten. Es waren die Stimmen von Soldaten. Sie würde diese ruppigen Rufe jederzeit und überall erkennen. Sie hatte solche Stimmen auch schon vor einem Jahr gehört, als Tiraner ihre Heimat überfallen, ihre Stadt verbrannt und Tausende ringsum getötet hatten.

»Kommt, kommt herein, setzt euch und trinkt!«, erklang nun die Stimme von Peras, dem freundlichen alten Besitzer der Weinstube. »Setzt euch hin, ich …«

Die Soldaten übertönten ihn. »Die Tänzerin! Bring uns die Tänzerin! Bring uns Wein, alter Mann, und bring uns das Mädchen!«

Lyana fletschte die Zähne. Der Tod ließ solche Männer nach Wein dürsten und nach ihrer Haut hungern. Sie würde ihnen Wein bringen. Und sie würde für sie tanzen. Und eines Tages, das schwor sie sich, würde sie alle verbrennen.

Für dich, Orin, mein gefallener Prinz. Für dich, Silas, den ich nicht retten konnte. Für die Tausenden von Vir Requis, die diese Soldaten getötet haben. Ich werde Rache für dich nehmen, Requiem.

Sie ergriff ihren Blindenstock. Auf dem Weg nach unten umflatterte die Seide ihren Körper, von dem nur die intimsten Stellen nicht zu sehen waren. Mit dem Stab tastend, betrat sie den Schankraum. In Stahl und Leder gekleidete Soldaten hatten ihn inzwischen gefüllt. Bei ihrem Anblick brüllten sie auf und hämmerten mit den Fäusten auf die Tische. Wie viele von diesen Männern hatten Frauen und Kinder in Requiem abgeschlachtet? Wie viele von ihnen würden noch weitere abschlachten, sobald die zweite Invasion begonnen hatte?

Der höfliche Peras eilte zwischen den Männern umher, bediente sie mit Wein, Tellern voll Datteln und dampfenden Brotlaiben. Ein Soldat schob den älteren Mann beiseite.

»Tanz!«, rief er Lyana zu. »Tanz für uns, Blinde Schönheit! Wir haben Tod und Blut gesehen, jetzt wollen wir Anmut sehen.«

Sie bot ihnen den Anblick eines blinden Mädchens, dessen grüne Augen aus dem Norden in diesem Land der blauäugigen Wüstenkrieger durch einen Schleier verborgen waren. Tianas Haar war glatt und glänzend wie geschmiedetes Platin, ihre Haut golden wie die Dünen – eine Tochter der Wüste, gekleidet in Seide, einen Blindenstab in der Hand. So unterschieden von Lady Lyana wie Sand von Schnee. Als sie durch ihren Schleier hindurch die Soldaten beobachtete, erblickte sie Stahl und Blutdurst, den Tod für ihr Volk.

»Tanz, während wir trinken!«, forderte ein Soldat sie auf. »Die Sonnenwende rückt näher, der Tag des Drachenblutes, der Tag, an dem wir töten und sterben. Lasst uns heute auf das Leben trinken!«

Ihr Herz pochte. Es war Neumond, der Tag des Sonnenfeuers und des Weines. Die Sonnenwende war der heiligste Tag im Jahr Tiranors, vergleichbar mit der Nacht der Sieben für die Kinder Requiems. Was wollte der Soldat damit sagen? Würde die zweite Invasion Requiems an dem heiligsten aller Tage beginnen, bis zu dem es gerade noch achtzehn Tage dauerte?

»Tanz!«, riefen sie.

Mit dem Stab um sich tastend, ging Lyana vorwärts, um ihre Blindheit und Unterwürfigkeit vorzutäuschen, und die Männer grölten. Peras begann mit seinem Lautenspiel, und die Soldaten stimmten mit ein, sangen und trommelten auf die Tische. Als sie die Mitte der Schankstube erreicht hatte und von Tischen mit zechenden Männern umgeben war, legte Lyana ihren Stock zur Seite. Und sie tanzte.

Vor gut einem Jahr, sie war damals noch ein Ritter Requiems gewesen, hatte Lyana mit ihrem Verlobten Orin das Tanzen gelernt. Zwischen den Lords und Ladys am Hofe hatten sich die beiden zur Musik gedreht, zwei Liebende, im Klang von Harfe und Flöte vereint. Hier, in diesem südlichen Land des Sonnenlichtes, des Sandes und Stahles, bewegte sie sich nicht wie eine Edelfrau, vielmehr wie der Docht einer Kerze, wie der Wüstenwind, wie ein vielfarbener Vogel, der zwischen Palmen auffliegt. Sie schloss die Augen, bis sie wirklich zur blinden Tiana wurde, und gab sich völlig dem Tanz hin. Die Männer ringsum tobten wie ein Sturm in der Wüste.

Während des Tanzes war sie Tiana; sie vergaß ihren wahren Namen, ihre wahre Herkunft, ihre wahre Seele. Sie wurde zur Blinden Schönheit, zur Wüstenrose, zum Wunder von Irys. Ihr Körper wiegte sich, die Seide umwallte sie. Sie drehte sich mit erhobenen Armen.

Ich bin eine Tochter der Dünen, flüsterte ihre Seele. Ich habe mich aus der Wüste erhoben wie eine Säule aus Feuer. Ich bin vom Sonnenlicht geküsst, von Myrrhe und von Granatapfelwein. Ich bin ein Vogel der Wüste, der fliegend nach dem Himmel strebt.

In diesen Momenten, wenn sie tanzte, konnte sie ihre Feinde beinahe lieben, Tiranor beinahe für die Schönheit seiner Lieder, für die Süße seiner Früchte und Weine und die Pracht seiner alten Türme und des Goldes lieben. Sie war eine Tiranerin. Sie war Tiana. Sie war blind und ein Wesen in Wind und Tönen. Wenn Lady Lyana, ein Ritter Requiems, noch immer in ihr lebte, dann war sie in diesem Augenblick nur die quälende Erinnerung an den grausamen Schnee im Norden.

Die Musik erstarb.

Lyana keuchte und öffnete hinter ihrem Schleier die Augen.

Durch die Seide sah sie, wie sich die Türen des Weinhauses zum Duftenden Fluss geöffnet hatten und ein Schatten den Schankraum und ihr Leben betrat.

Zunächst erschienen zwei bewaffnete Männer im Raum, sie hielten Schilde und Speere in den Händen. Vergoldete Masken in Form von Kranichköpfen und mit langen, gebogenen Schnäbeln verbargen ihre Gesichter. Sie traten zur Seite und flankierten wie metallene Wachposten den Türrahmen, bevor sie mit ihren Speeren auf den Boden hämmerten. Lyana wusste, dass sie zur Goldenen Garde gehörten, Priesterkrieger, dazu auserkoren, die Adligen Tiranors zu beschützen. Ein dritter Mann trat ein, und in der halbdunklen Stube umgab ihn ein nach Sand riechender Wind.

Er war groß, mit Abstand der größte Mann im Raum. Sein kahl geschorener Kopf mit dem faltigen, harten Gesicht wirkte anziehend. Seine Rüstung aus hellem Stahl war bis auf die goldene Sonne auf dem Brustpanzer gänzlich ohne weitere Zier. Ein Säbel und ein Dolch hingen an seinem Gürtel, die Scheiden aus einfachem Leder, die Knäufe hatten die Form von Sonnenbannern. Hätten ihn seine Schulterpanzer nicht als einen General von Tiranors Heer zu erkennen gegeben, Lyana hätte ihn für einen einfachen Soldaten gehalten.

Doch das ist er sicher nicht, dachte sie. Hinter ihm steckte mehr als nur das Rangabzeichen auf seiner Rüstung oder die Wache, die ihn begleitete. Dieser Mann hatte nicht die Augen eines gewöhnlichen Soldaten. Als er quer durch den Raum zu ihr herübersah, vermochte sie in seinem Blick weder Blutdurst noch Verlangen nach ihrem Fleisch oder nach Wein zu erkennen. Sie konnte kaum etwas erkennen – nur eiskaltes Blau, Berechnung und Herzlosigkeit.

»General Mahrdor«, flüsterte einer der Soldaten und erhob sich. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe, und er hieb die Faust gegen den Brustpanzer. »Mylord!«

Die anderen Soldaten in der Schankstube, es waren sicherlich mehr als hundert, nahmen ebenfalls Haltung an. Auch ihre Fäuste knallten gegen die Rüstung. Dann erstarb jegliches Geräusch: die Musik, die heiseren Rufe, sogar die Atemgeräusche der Männer. Lyana starrte den General an, ihr Herz raste. Unverwandt blickte er sie an. Nicht ihren Körper, auf den die anderen Soldaten stets ihre Blicke gerichtet hatten, sondern durch das Tuch hindurch in ihre Augen.

Er weiß es! Er weiß, dass ich nicht blind bin. Er schaut durch das Tuch hindurch – in meine Augen, in meine Seele.

Sie wagte sich nicht zu bewegen, nicht einmal zu zittern. Sie zwang ihr rasendes Herz zur Ruhe, spürte, dass General Mahrdor es sonst quer durch den Raum hören könnte.

Nein, er kann es nicht wissen, beruhigte sie sich. Der Schleier ist für alle, die mich ansehen, aus blickdichter weißer Seide, und er verdeckt meine grünen Augen des Nordens. Er sieht nur Tiana vor sich. Nur eine blinde Tänzerin.

Schließlich wandte er die Augen von ihr ab; es fühlte sich an, als würde er einen Dolch aus ihrer Kehle herausziehen. Dann ging er durch das schweigende Weinhaus, umgeben von den erstarrten Soldaten. Er trat an einen Tisch unmittelbar vor Lyana. Als er die Männer anblickte, die dort gesessen hatten, verneigten sich diese und zogen sich nach hinten ins Dunkle zurück.

General Mahrdor nahm Platz, goss sich einen Becher Wein ein und betrachtete Lyana. Auf seiner Rüstung tanzte das Kerzenlicht. Während er sprach, wurde es im Schankraum ganz still. Seine Stimme war sanft wie der Wein, sein gut artikulierter Akzent zeugte von edler Herkunft. Viel zu laut schwappten seine Worte durch den schweigenden Raum.

»Du musst diese … Blinde Schönheit sein, von der man mir berichtet hat.« Er nahm einen Schluck Wein, schlürfte ihn im Mund, um den Geschmack zu beurteilen, und schluckte ihn hinunter. »Man nennt dich die Wüstenrose und sagt, dein Tanz sei voller Anmut und Schönheit. Ich bin von jeher ein großer Verehrer von Anmut und Schönheit und suche sie, wo immer ich kann. Angefangen bei gutem Wein über die schönen Künste bis hin zu, ja … auch wenn meine Soldaten bei diesem Gedanken lächeln mögen, beim Tanz.«

Obwohl ein Anflug von Belustigung auf seinen Lippen spielte, verharrten seine Augen regungslos. Lyana wagte kaum zu atmen. Ein Kloß saß ihr im Hals, doch sie traute sich nicht zu schlucken. Sie hatte bereits von General Mahrdor und seiner Liebe für das Schöne gehört. Man flüsterte, dass er in seiner Villa oberhalb des Pallan alle jene Dinge sammele, die er für schön befand: juwelenbesetzte Schädel von Männern, die er niedergemetzelt hatte, Schriftrollen aus menschlicher Haut und tot geborene Säuglinge, die in flüssige Bronze getaucht worden waren. Lyana hatte diese Geschichten für Märchen gehalten, für Gerüchte, die man streute, um die Angst vor dem General hochzuhalten. Jetzt, da sie in diese kalten blauen Augen sah, hielt sie solche Erzählungen für wahr.

»Nun?«, fragte Mahrdor, der sie noch immer musterte. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Zeig uns die Blinde Schönheit! Tanz für uns, mein Kind!«

Sie schloss die Augen, und sie tanzte.

Der alte Peras spielte auf der Laute, doch die Soldaten, die eben noch geklatscht und auf die Tische getrommelt hatten, verharrten still. Sie hörten das Klopfen ihrer nackten Füße und das Knistern der Seide. Ihr Körper wiegte sich hin und her. Sie spürte seine Blicke auf ihrer Haut, auf der mit Gold getönten Haut, das ihre nördliche Blässe verdeckte. Sie war wie eine Binse im Wind, wie Rauch, der aus der Wüste aufsteigt.

Als ihr Tanz beendet und die Musik verklungen war, verbeugte sie sich. Tödliche Stille erfüllte das Weinhaus. General Mahrdor durchbohrte sie mit seinem Blick – durch den Schleier hindurch in ihre Haut, in ihre tiefsten Träume und Ängste. Seine Augen waren grenzenlos und boten keinen Halt.

Ohne ein Wort zu sagen, erhob er sich und verließ das Weinhaus.

Lyana kam sich vor wie ein leerer Blasebalg. Ihre Gliedmaßen schlotterten. Ringsum atmeten die Soldaten zittrig ein und aus. Sie leerten ihre Becher und verlangten noch mehr Wein. Schon bald erfüllten Rufe und Gesang das Gasthaus aufs Neue, doch in Lyana blieb Eiseskälte zurück.

Dafür habe ich nun seit einem Jahr getanzt. Ihr Sterne, helft ihm, sich an meinen Tanz zu erinnern! Lasst meinen tanzenden Körper in seinen Gedanken verweilen! Lasst ihn zurückkehren! Helft mir zu erfahren, was ich kann … falls ich überhaupt etwas aus diesen kalten, bodenlosen Augen erfahren kann.

Die Nacht brach an, Wein floss in Strömen, und Musik erfüllte die Luft. Platten mit gebratenem Geflügel, serviert mit Lauch und Pilzen, verströmten ihren Duft im Wirtshaus. Männer brachen Granatäpfel auf und löffelten gierig die kostbaren Samen. Einige Soldaten spielten Mancala, jenes Spiel der Wüste, bei dem man Muscheln in Vertiefungen eines Brettes wirft, und johlten nach jeder Runde. Lyana stand in der Ecke und trug einem einbeinigen alten Soldaten traditionelle Wüstenlieder vor, als ein Soldat der Goldenen Garde das Weinhaus betrat und sich ihr näherte.

»Tänzerin«, sprach er sie an, und seine Stimme hallte in seinem Ibishelm wider. Der lange und messerscharfe Schnabel zuckte. »General Mahrdor, der Sonnengott sei ihm gnädig, lädt dich heute Abend in seine Villa ein. Er wünscht einen Tanz zu sehen, den du nur für ihn tanzt. Im Gegenzug sollst du eine angemessene Bezahlung erhalten. Wirst du mich durch die dunklen Straßen in sein strahlendes Haus begleiten?«

Ringsum feixten und johlten die Soldaten.

»Ein Tanz, ganz allein für den General!«, rief einer, der in Mahrdors Gegenwart wohl kaum zu atmen gewagt hatte. »Ich würde sagen, du hast den alten Mann verzaubert, Mädchen.«

Ein anderer lachte gellend. »Er wünscht einen Tanz in seinem Bett, denke ich mir.«

Lyana nahm das Gelächter kaum wahr. Ihr Innerstes zog sich zusammen, und ihr stockte der Atem. Sie würde die Gemächer General Mahrdors höchstpersönlich betreten, des obersten Heerführers von Tiranors Heer! In ihrem Kopf drehte sich alles. In dem einen Jahr hatte sie sich bemüht, betrunkene Soldaten zu belauschen, doch nur wenig erreicht. Ihre Finger zitterten. Welchen dunklen Geheimnissen würde sie in Mahrdors Villa auf die Spur kommen? Gedankenfetzen durchzuckten sie: Gerüchte von Föten aus Bronze, abgetrennten Köpfen und Pergamenten aus menschlicher Haut. Doch sie träumte von anderen Schätzen: von Karten, Schlachtplänen und im Finstern geflüsterten Geheimnissen, wenn ihr Körper ihn verwirrt und seine Zunge gelockert hätte.

Tiranor plante einen zweiten Angriff auf ihre Heimat; daran zweifelte Lyana nicht im Geringsten. Wenn irgendjemand ihr Zeitpunkt und Ort dafür verraten konnte, dann General Mahrdor.

»Ich werde Euch begleiten«, erwiderte sie dem Soldaten der Goldenen Garde leise.

Sie verließen das Weinhaus und eilten durch die Nacht. In den Neumondnächten, wenn der Himmel am dunkelsten war, zündeten die Tiraner überall in der Stadt Feuer an und lobten den Sonnengott, den Zerstörer der Dunkelheit. In großen Kohlenbecken prasselte es vor dem Palast des Phoebus, der sich links vor ihr am anderen Ende des Platzes erhob. An den Säulen des Sonnentempels, im Osten auf einem Hügel erbaut, brannten Fackeln. In den Straßen drängten sich Menschen, die Kerzen in den Händen hielten und Gebete sangen, um die Nacht zu verbannen. Rauch stieg auf, Funken stoben wie Glühwürmchen und erhellten das Dunkel. Licht und Feuer herrschten; die Schatten zogen sich zurück.

Wir sind wie Schatten für sie, dachte Lyana. Wir, die Kinder Requiems, die die Sterne anbeten und als Drachen fliegen können. Wir sind für sie Kreaturen der Dunkelheit, die man verbrennen muss.

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Diese Menschen, die mit Kerzen in den Händen vor ihnen auf der Straße liefen, dürsteten nicht nach Blut oder Tod; sie sehnten sich nach Licht. Sie waren nie einem Vir Requis begegnet, wie Lyana wusste. Sie kannten nur die Geschichten, mit denen Königin Solina sie fütterte: Geschichten über üble Biester, die man Werdrachen nannte, dämonische Gestaltwandler des Nordens, denen Schuppen und Flügel wachsen konnten und die vor dreißig Jahren ihre Tempel zerstört hatten.

In ihren Augen sind wir nur Tiere, gewissenlose Mörder, Monster aus der Finsternis. Sie werden uns alle verbrennen, falls ich sie nicht aufhalte.

Lyana konnte Solina nicht daran hindern, Lügen zu verbreiten. Aber sie konnte ihre Pläne aufdecken. Sie konnte ihre Heimat warnen. Sie konnte ihr Volk vor dem endlosen Feuer von Solinas Zorn retten.

Schweigend lief der Soldat der Goldenen Garde neben ihr, sein Blick war durch die Löcher in seinem Helm nach vorn gerichtet; er erschien Lyana wie ein metallener Automat. Er führte sie zu einem Dock am Fluss Pallan, an dessen Ufer sich das Schilf wiegte, dessen Wasser über moosbedeckte Steine schwappte und in dessen Fluten sich das Licht der Laternen wie abertausend Juwelen spiegelte. Frösche quakten, und Kinder knieten am Wasser, um kleine hölzerne Boote mit Kerzen schwimmen zu lassen. Diese Opfer sollten die Dunkelheit der Wasser aus dem Norden vertreiben. Auch ein großes, etwa drei Meter langes und in Form eines Ibisses gestaltetes Boot schaukelte dort im Pallan. Der Soldat der Goldenen Garde stieg hinein, streckte eine Hand aus und half Lyana hinüber. Seine Hand, in einen ledernen Handschuh gehüllt, fühlte sich sogar in dieser warmen Sommernacht eisig an.

Er ruderte. Sie fuhren flussabwärts und kamen bald darauf am Sonnentempel vorbei, dessen Priester zwischen den Säulen einherschritten und in Schafsbockhörner bliesen. Der Geruch nach Weihrauch, Palmöl und Kohlenfeuer lag in der Luft. Hinter dem Tempel verlief der Fluss zwischen den engen Backsteinhäusern der Handwerker: der Schreiber, Maurer, Schmiede und Heiler. Nach einer Biegung durchquerte der Pallan einen Palmenhain, dann die wohlhabenderen Quartiere der Kaufleute und Adligen. Villen erhoben sich am Ufer, deren Gärten üppig und deren Eingangstore von Statuen flankiert waren. Dann fuhren sie auf den größten dieser Paläste zu, auf eine Villa, die sich in einem grünen Paradies aus Palmen, Feigenbäumen und Blumenterrassen erhob. Eine Reihe von Säulen führte zum Eingang, jede Säule trug an ihrer Spitze das steinerne Abbild eines Wüstentieres. Lyana erkannte Falken, Füchse, Schlangen und Gazellen.

ENDE DER LESEPROBE