Der Atem des Sturms - Leonie Jockusch - E-Book

Der Atem des Sturms E-Book

Leonie Jockusch

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Beschreibung

Die 17-jährige Feli ist es nicht gewohnt, auf Menschen zu treffen, die noch seltsamer sind als sie selbst. Sie lebt in dem kleinen Dorf Pellhausenkoog an der Nordseeküste und ist mit einem besonderen Talent ausgestattet: Sie kann die Bedürfnisse der Natur und auch bevorstehende Unwetter spüren. Als ihre Mutter den 19-jährigen Sohn einer alten Schulfreundin vorübergehend in den ausgebauten Schuppen am Ende ihres Gartens ziehen lässt, wird Feli in ihrem friedlichen Alltag gestört. Sie fühlt sich von ihrer 'Insel' - wie sie den Schuppen nennt - vertrieben. Deshalb und aufgrund seiner 'Großstädter-Arroganz' kann sie Kian zunächst nicht leiden. Der indianisch aussehende Berliner macht ein Praktikum im nahe gelegenen Husum, benimmt sich durchweg merkwürdig und scheint in der Nacht auf geheimnisvolle Art aus dem Schuppen zu verschwinden. Kian ist Feli ein Rätsel und doch fühlt sie sich irgendwie zu ihm hingezogen. Kompliziert und gefährlich wird ihr Leben, als sie ihn eines Nachts zur Rede stellen will und er sich unter ihrem Griff unvermittelt in Luft auflöst. Wer ist Kian? Oder sollte sie fragen, was er ist? Könnte er sogar mit den für die Gegend ungewöhnlichen Wirbelstürmen zu tun haben, die ihre Heimat heimsuchen? Doch auch Feli ist kein gewöhnlicher Mensch. Kian ist fasziniert von dem schönen Mädchen, das mit der Natur zu kommunizieren scheint, und verunsichert von ihrem Blick, mit dem sie in ihm zu lesen droht. Er fürchtet um sein dunkles Geheimnis, möchte aber zugleich ihres ergründen. So beginnt ein interessantes, bissiges, manchmal auch lustiges Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die beiden sich ineinander verlieben. DER ATEM DES STURMS ist ein fesselnder, aus zwei Perspektiven erzählter Fantasy-Roman über die Kraft der Natur, über Identität, Herkunft und das Anderssein sowie über Freundschaft und die Macht der Liebe.

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Leonie Jockusch

DER ATEM DES STURMS

Fantasy-Roman

Prolog

Das Streichholz fiel. Es musste ausgehen! Sofort. Und zwar bevor es die Benzinlache erreichte!

Atemlos beobachtete ich, wie es den Boden berührte und ihn in Brand setzte. Mein Herz blieb stehen.

Der Sturm blies von draußen herein und ließ die Flammen wachsen. Sie verteilten sich über die Dielen, bis mich eine ganze Kette roter Zungen umrundet hatte.

»Hilfe!«, schrie ich und riss panisch an meinen Fesseln.

Das Feuer breitete sich immer weiter aus. Es wurde lauter, verschlang die trockenen Dachbalken über mir und nagte an der Treppe, meinem einzigen Fluchtweg.

»Nein! Nein!«, kreischte ich. Die Flammen kamen näher, die Hitze raubte mir den Atem.

»Hilfe! Bitte! Hilfe!« Der Rauch drang beißend in meinen Hals, ließ mich husten und würgen. Er füllte meine Lunge, verdrängte den Rest Luft darin. Das Knistern klang wie ein Brummen, gleichmäßig wie ein Motor. Es betäubte meine Ohren.

In Todesangst schielte ich zu Boden, wo die Flammen schon meine Füße erreicht hatten. Hungrig umtanzten sie mich und wollten mich verschlingen.

Ich konnte meine Beine nicht hochziehen, das Seil war viel zu fest geschnürt. Unnachgiebig hielt es mich am Platz.

Ich war wehrlos. Meine Sinne schwanden, als das Feuer mich angriff, als es meine Haut versengte, mein Fleisch fraß und bis in meine Knochen vordrang.

Kapitel 1

Die Besetzung der Insel

Feli

Ich erwachte mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch. Das konnte nur an diesem Eindringling liegen, von dem ich erst vor zwei Tagen erfahren hatte und der ab heute über mein wohlgeordnetes Leben hereinfallen würde. Er würde mich meines geliebten Schuppens – meiner Insel – berauben.

»Feli, es ist doch nur für drei Monate«, stöhnte meine Mutter. »Wenn er das Praktikum überhaupt durchhält. In dieser Zeitungsredaktion soll es sehr stressig zugehen.«

»Warum kann er denn nicht woanders wohnen?« Ich hockte in unserem Strandkorb und betrachtete meinen hölzernen Bau am Ende des Grundstückes.

»Der Ärmste war bereits untergebracht, aber seine Vermieterin ist abgesprungen, und nun sitzt er quasi auf der Straße.«

»Muss es denn unbedingt meine Insel sein?«, schmollte ich.

»Nenn mir eine Alternative.« Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Die Werkstatt und mein Zimmer sind tabu. Gibst du ihm etwa deins?«

Es war überflüssig, mich das zu fragen. Vor Papas Auszug hatte er noch meine Zimmerdecke mit Märchenmotiven verziert. Sie waren alles, was mir von ihm geblieben war. Ich konnte sie keinem Fremden überlassen, auch nicht für drei Monate.

»Dann schon lieber die Insel«, sagte ich.

»Oder das Wohnzimmer.«

»Auf keinen Fall.« Wenn der Typ auf unserem Sofa gegenüber der Terrassentür schlief, würde ich mir meinen nächtlichen Zugang zum Garten abschminken können.

»Ich habe keine Lust auf einen Störenfried im Stimmbruch, der die ganze Zeit Sprüche klopft.«

Meine Mutter schmunzelte.

»Den Stimmbruch hat er hinter sich gelassen, Feli. Er ist neunzehn.« Sie setzte sich zu mir in den Strandkorb und zog den Kasten unter ihrem Sitz aus, um ihre Beine darauf abzulegen.

»Kennst du ihn?«, fragte ich.

»Nein, aber da er der Sohn meiner Freundin Meike ist – adoptiert oder nicht –, kann er nur nett sein.«

»Wie heißt er eigentlich?«

»Kian.«

»Komischer Name.«

Wie jeden Sonntagmorgen spazierte ich zum Bäcker, um Brötchen für uns und Hörnchen für unseren alten Nachbarn Herrn di Nardo zu kaufen. Während ich in der Schlange anstand, wurde mir plötzlich schlecht. Ich eilte raus auf den Gehweg und atmete kräftig, doch die Übelkeit wollte nicht vergehen. Also wankte ich in Richtung Ortsausgang, quer über die Felder, an den kuscheligen Schafen vorbei und auf den Deich zu. Kaum hatte ich ihn erklommen, schlug mir der Wind ins Gesicht.

»Hallo«, begrüßte ich ihn. Die frische Salzluft beruhigte meinen Magen. Vor mir lag die einzigartige Schönheit der Weite. Sand, Dünengras und Salzwiesen. Watt und Meer. Horizont. Hier konnte man nicht anders, als mit der Natur zu verschmelzen. Nach einer Weile raffte ich mich auf, um meinen Einkauf fortzusetzen.

»Mama, übertreibst du nicht ein bisschen?«, fragte ich, nachdem ich Herrn di Nardo seine Hörnchen vorbeigebracht hatte. Meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken, auf dem mit Zuckerschrift »Willkommen« geschrieben stand.

»Deine ablehnende Haltung unserem künftigen Mitbewohner gegenüber finde ich mindestens genauso übertrieben. Komm, Feli, du bist fast achtzehn.« Sie nahm mir die Bäckertüte aus der Hand. »Benimm dich wie eine Erwachsene und sei einfach nett zu ihm.«

Ich gönnte mir ein leises Brummen und ließ mich auf unsere Holzbank fallen. Eigentlich half ich gern. Ich konnte nur nicht so gut mit Veränderungen umgehen, denn davon hatte es bereits so viele gegeben. Papas Umzug nach Spanien, Mamas Freund Jan, Mamas Freund Peter, Mamas Freund Marek. Seit einem halben Jahr war endlich alles ruhig um uns zwei.

»Und vergiss nicht: Kian hat seinen Vater verloren.«

»Wie ich«, nuschelte ich, an dem Kuchen pulend.

»Ja, aber dein Erzeuger besinnt sich vielleicht irgendwann und meldet sich wieder. Kians Vater kann das nicht mehr.«

Die Mitleidsschiene war mehr als unfair, weil sie wirkte. Ich fühlte mich schlagartig mies. Erstens, weil ich Kian gegenüber Vorurteile hegte, und zweitens, weil mein Vater nur herzlos und ignorant war und Kians Vater tot. Mit der Traurigkeit einer verlassenen Zwölfjährigen im Herzen begab ich mich in den Wald am Ende unseres Gartens.

Kian

»Zwölf Wochen, Kian. Und hinterher buche ich dir wie versprochen deinen Flug.« Meine Mutter lachte. Dabei wollte ich dieses dämliche Praktikum gar nicht machen. Es war Zeit, dass ich nach Neuseeland kam, um auf einer Plantage zu arbeiten.

»Hab ich eine Dusche?«

»Du hast ein WC.«

»Das heißt, ich darf stundenlang vor der Badezimmertür hocken, bis Barbie und ihre Mutter sich fertig geschminkt haben?« Das würde mein Leben bestimmt erleichtern.

»Nach dem, was Anna mir erzählt hat, ist ihre Tochter ganz süß. Ich weiß nicht, wie alt sie ist, aber ihr werdet bestimmt Freunde, oder du findest eine kleine Schwester in ihr.«

»Ich brauche keine Schwester«, erwiderte ich. Wenn ich daran dachte, welche Art Geschwister ich hatte und was diese Verwandtschaft für mich und mein Dasein bedeutete, überkam mich das Grauen. Doch von all dem wusste meine Mutter nicht das Geringste.

»Wie heißt sie denn?«, fragte ich.

»Fee.«

»Komischer Name.«

Gegen Mittag erreichte ich Husum. Mit dem Reiserucksack auf dem Rücken setzte ich mich auf mein Rad und fuhr in Richtung Südwesten. Noch weiter raus in die Einsamkeit, noch weiter raus ins Nichts. Was wollten die Leute in diesen kleinen Nestern, in denen man nichts anderes tun konnte, als Schafe zu zählen? Irgendwann erreichte ich das weltberühmte Dorf Pellhausenkoog, das zwischen zwei Deichen lag und aus zehn Häusern bestand. Das letzte war ein reetgedecktes Fachwerkhaus. Es passte zu meiner Vorstellung von der Goldschmiedin Anna Johannsen, die mit ihrem Kind allein hier draußen lebte. Ich fuhr die Einfahrt hinauf und stellte mein Rad neben dem Eingang ab. Eine Frau Mitte vierzig öffnete die Haustür.

»Du bist Kian Sander?«, fragte sie.

»Ja.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so groß und erwachsen bist.« Sie gluckste. »Ich bin Anna.« In ihrem Wohnzimmer stopfte sie mich erst mit Informationen über das »einzigartige Naturerlebnis Wattenmeer« voll, und anschließend übergab sie mir einen rostigen Haustürschlüssel.

»Diese Glastür ist immer offen«, sagte sie und führte mich durch sie hindurch auf die Terrasse. Von dort aus kam man in den langen, schmalen Garten hinunter. Rechts und links wurde das Grundstück von Getreidefeldern begrenzt.

»Da ist deine Unterkunft. Es sind, glaube ich, so circa einhundertfünfzig Meter bis dahin.« Der Schuppen lag am Rande eines Waldes, der einen breiten Streifen bildete und den Deich dahinter fast vollständig verbarg.

»Ich hoffe, der Wald ist dir nicht zu duster?«, fragte Anna.

»Ich mag Bäume«, entgegnete ich. Sie taten mir vor allem leid.

»Meine Kleine ist ganz verliebt in sie. Dabei nehmen sie ihr die Sonne weg. Wenn es nachts stürmt, solltest du allerdings lieber bei uns im Haus schlafen.«

»Ich fürchte den Sturm nicht.«

»Aber er kann schlimm sein, Kian. Vor allem hier bei uns am Meer.«

Mein Leben war so kaputt. So miserabel. Es gehörte mir nicht. Ich war bloß eine Figur, die zufällig im falschen Moment zur Verfügung gestanden hatte. Hier draußen in Nordfriesland würde es nicht anders sein. Ich durfte niemals so werden wie die anderen. Solange noch ein Fragment Mensch in mir existierte, musste ich mich dagegen wehren.

Gegen Mitternacht passierte es. Es überraschte mich nicht. Ich war daran gewöhnt und hatte es seit Tagen gespürt. Ich tat, was ich konnte, um den Schaden einzugrenzen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es viele Überlebende gab.

Feli

Stundenlang spazierte ich herum und tankte mich in der Natur mit Energie auf. Zwar klappte dies nicht so verlässlich wie in den Nächten, wenn der Mond mich anlächelte, aber es sorgte für ein gewisses Wohlbefinden.

Nun war es an der Zeit, sich bei unserem hochverehrten Gast blicken zu lassen. Gewiss schnüffelte er bereits in meiner Insel herum, inspizierte jeden Winkel oder fläzte sich auf meinem Bettsofa. Wahrscheinlich stöpselte er in dieser Sekunde seine Spielekonsole in den kleinen Fernseher oder müllte meinen Schreibtisch mit Pornoheften zu. Was immer er dort tat, ich hatte keinen Einfluss mehr darauf. Mit bleischweren Füßen lief ich durch meinen Wald und trat hinaus auf die Wiese neben dem Schuppen. Sollte ich an meine eigene Insel klopfen? Aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht. Also lief ich lieber direkt ins Haus.

Kian Sander schien ebenfalls keinen gesteigerten Wert darauf zu legen, mich kennenzulernen. Nachdem ich eine Stunde lang in meinem Zimmer herumgesessen hatte, beleidigte mich seine Ignoranz allmählich. Ich stieg die Treppe in den Flur hinunter und machte einen gewaltigen Fehler.

Kian

Ich erreichte den Holzbau, dessen Eingang sich an der Seite befand, und öffnete die quietschende Tür. Entgeistert starrte ich in das Innere des Schuppens. Es war weniger ein Schuppen als eine plüschige Märchenhöhle. Diese abgedrehte Tochter hatte sich hier richtig ausgetobt. Die Wände waren in Pastelltönen gestrichen, die Wellnessduftlampe stammte hundertpro aus einer Yogazeitschrift. Zumindest war der Raum groß und einigermaßen gemütlich.

Ich packte aus, brachte meine Klamotten in dem langen Wandregal unter, meinen Papierkram und das Notebook parkte ich auf dem Schreibtisch. Es war relativ hell, was daran lag, dass es eine transparente Dachluke und zwei Fenster gab. Eines zeigte nach vorn zum Haus und das andere nach hinten in den Wald. Ich hatte auch einen Fernseher, den ich gleich einschaltete, um mir die Nachrichten anzusehen. Wie gebannt starrte ich auf den Bildschirm. Das Leben war grausam.

Am frühen Abend bekam ich Hunger und das Gefühl, mich im Haus zeigen zu müssen. Immerhin stand noch eine Vorstellungsrunde mit Annas kleiner Tochter an. In der Dämmerung latschte ich mit meinem Rasierzeug den Weg entlang bis zur Terrasse und durch die gläserne Tür ins Wohnzimmer.

»Komm rein«, sagte Anna.

»Ich wollte gerade ins Bad.« Demonstrativ kratzte ich an meinen Bartstoppeln. Anna deutete auf zwei Türen, hinter denen sich Badezimmer und Toilette befanden. Als sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, schritt ich in den Flur und beging einen kolossalen Fehler.

Kapitel 2

Klein, blau, fremdartig

Feli

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so laut geschrien. »Raus!«, kreischte ich. Das konnte nicht wahr sein! Weder die Tatsache, dass ein indianisch anmutender Typ mit unlogisch hellbraunen Haaren und Augen vor mir stand. Im schwarzen Shirt mit beeindruckender Statur und Dreitagebart. Noch, dass er mich angaffte, während ich in der unvorteilhaftesten Pose der Welt auf dem Klo saß. Fluchtartig verließ er den Raum.

»Sorry!«, sagte er, dann hörte ich, wie er nebenan ins Badezimmer stürmte. Ich riss meinen Kopf nach unten, um an mir hinunterzusehen. Die Schlabberjogginghose hing auf Kniehöhe, das Höschen hatte sich zum Glück darin verkrümelt. Mein T-Shirt war so lang, dass man nichts Dramatisches erkennen konnte. Wieso war es mir nicht in den Sinn gekommen, die Klotür von innen zu verriegeln? Mein Blick wanderte nach links zur Wand, die mich vom Badezimmer trennte. Dieser Blödmann hätte ja auch mal klopfen können! Man rannte doch nicht einfach in verschlossene Räume! Jetzt mochte ich ihn erst recht nicht mehr. Nebenan ertönte das Surren eines Rasierapparats. Ich drückte mir die Hände aufs Gesicht. Warum musste dieser Kian so gut aussehen? Ich hatte einiges erwartet, aber keinen exotischen Filmstar, der seinen Kussmund vor lauter Ekel nicht mehr zubekam. Verzweifelt griff ich nach meinen geflochtenen Zöpfen. Und ich sah aus wie … Heidi! Wie sollte ich ihm jetzt nur wiederbegegnen? Am besten gar nicht. Ich würde jeglichen Kontakt mit ihm vermeiden und ihm aus dem Weg gehen, wo ich konnte.

Kian

Ich hatte ein kleines Mädchen erwartet, das sich den ganzen Tag die Nägel lackierte, um Erwachsene zu spielen. Doch an dieser Fee war nichts klein oder verspielt. Außer ihren dicken, honigblonden Zöpfen. Die dunkelgrünen Augen hatten mich entsetzt angestarrt. Ich hätte umgehend rausrennen sollen, aber da war etwas in ihrem Blick gewesen, das mich für einen Moment gefangen gehalten hatte.

Dieses Mädchen würde mich für alle Zeit hassen, daran zweifelte ich keine Sekunde. Am besten verzog ich mich in den Schuppen. Ab morgen würde ich sowieso jeden Tag in der Redaktion zubringen und über kulturelle Veranstaltungen schreiben. Mit etwas Glück würde Meike mich auch etwas früher nach Neuseeland gehen lassen. Denn egal, wie hübsch dieses Mädchen war, ich musste hier weg. Ich beendete die Grübelei und trat hinaus in den Flur. Fehler. Wieder. Schneller als ich gucken konnte, war sie da. Genau wie ich hatte sie sich heimlich wegschleichen wollen. Doch das Schicksal spann sein eigenes Netz, und nun standen wir voreinander in diesem engen Flur. Stumm wie kurz vor einem Orkan.

Fee. Der Name beschrieb ihre zarten Züge, die kleine Nase, den roten Mund. Aber aus der Tiefe ihrer Augen blitzten mir böse Blicke entgegen. Nur, weil ich sie auf dem Klo erwischt hatte? Sie war schließlich nicht nackt gewesen und ihre blassen Beine waren kaum die ersten, die mir in meinem Leben über den Weg liefen. Außerdem hätte sie die Tür selbst verriegeln müssen.

»Hey«, sagte ich auf sie herab. Ihr Haar schimmerte im Halogenlicht. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Blick. Er beunruhigte mich.

»Hey«, erwiderte sie leise, aber diese drei Buchstaben entsprachen niemals ihren Gedanken. In ihr entwickelte sich gerade ein waschechter Tornado der Abscheu gegen mich. Sie verfluchte mich, während sie in scheinbar gleichgültigem Ton meinen Gruß erwiderte. Alles Fake.

Feli

Hey? Hatte ich nichts Besseres zu sagen? Was für eine Frechheit, fremde Türen zu öffnen, ohne vorher anzuklopfen! Sein Blick war sehr direkt, dabei hätte er ruhig ein bisschen Schüchternheit zeigen können, nachdem er mich derart in Verlegenheit gebracht hatte.

»Kian«, sagte er knapp. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sein Mund sich bei diesem kurzen Wort geöffnet hatte. Nur, dass der feine Schwung seiner Lippen sich gut zeigte, nachdem rundherum die Stoppeln entfernt worden waren. Seine Nase war lang und gerade, die Augen minimal mandelförmig.

»Fee«, gab ich zurück. Ich begutachtete die karamellbraunen Augen, die sich für keine Sekunde von meinen lösten. Kian machte mich nervös. Mir wurde wieder so stark übel wie am Morgen. Kaum hatte er das Haus verlassen, rannte ich zurück ins Klo, um mich zu übergeben.

Es gab nur eines, was meinen aufgebrachten Magen wieder beruhigen konnte: Ich musste zurück in meinen Wald. Doch solange in meiner Insel noch Licht brannte, würde ich mich lieber nicht an ihr vorbeischleichen. Lange lief ich durch das Moor, bis ich mich zwischen meine Lieblingsbäume flüchtete. Sie waren nicht nur Gewächse, nicht nur Freunde, sie waren wie ein Teil von mir. Egal, was sich in meinem Leben änderte, sie blieben. Sie halfen mir, fühlten und sprachen mit mir. Die große Eiche, an der Papa vor Urzeiten eine Schaukel befestigt hatte. Meine fünf Birken, die zusammenstanden, als wären sie eine Familie. Ich saß so gern auf meiner Erle, die an meinem zehnten Geburtstag ein Blitz umgeworfen hatte. Sie war überzogen mit einem grünen Flaum, der sie verwunschen aussehen ließ. Außerdem gab es drei riesige Kiefern, an deren Stämmen entlang man nach oben in den Himmel schauen konnte. Die Bäume bildeten eine Art Ring, in dessen Mitte sich eine weiche Mulde befand. Dahinein setze ich mich und schloss die Augen, und schon nach wenigen Minuten vergaß ich die Welt um mich herum.

Kian

Irgendetwas bahnte sich an. Ich wachte davon auf. Hoffentlich würde es hier draußen nicht so oft passieren. Die warnenden Worte von Ri hallten durch meinen Kopf, wie ein Echo aus der Vergangenheit: »Du kannst es gerne abschwächen, aber dadurch wird es nicht weniger. Es verteilt sich nur anders und geschieht am Ende häufiger.«

Die Nachtluft war kühl und klar. Die lächerliche Brise, die hier alle als Sturm bezeichneten, wehte durch die Dachluke herein. Ich lag in diesem süßlich duftenden Bett, in dieser süßlich duftenden Märchenhöhle von dieser Fee Johannsen, die mir den Krieg erklärt hatte, wenn auch nonverbal. Doch wie sehr ich auch versuchte abzuschalten, ich fand keine Ruhe. Die Natur hörte nicht auf mich.

Mit dem Zeigefinger schob ich die Gardine ein Stück zur Seite und schaute nach draußen. Um meine Augen tat es mir nicht leid. Sie waren das einzig Gute daran, ich zu sein. Ich sah jedes Blatt im finsteren Wald. Aber was war das? Ich blinzelte. Saß da jemand auf dem Waldboden? Tatsächlich. Es war Fee im Schneidersitz zwischen dem Unterholz. Sie trug eine Kapuze und hatte mir den Rücken zugedreht. Der Wind wehte eine ihrer hellen Strähnen nach hinten. Was machte sie nur dort? Die meisten Mädchen, die ich kannte, fürchteten sich nachts im einsamen Wald. Außer Ri natürlich, aber die zählte nicht.

Was dachte ich überhaupt darüber nach, was Fee so trieb? Ich würde sowieso in Kürze auswandern, obwohl mein wahres Problem nicht in Deutschland wohnte, sondern in mir. Und dem würde ich niemals entkommen, egal wohin ich zog.

Meine Augen blieben auf das Mädchen gerichtet, das ein Teil des Waldes zu sein schien. Als ich den Vorhang zuzog, federte er kurz zurück und gab erneut den Blick auf den Wald frei. Fee starrte in meine Richtung. Sie konnte mich nicht sehen, dafür war ich viel zu weit entfernt, aber die Bewegung der Gardine hatte sie registriert. Sie stand auf und kam auf den Schuppen zu und … oh, nein! Nicht jetzt!

Feli

War das etwa Kian, der gerade aus dem Fenster geschaut hatte? Um diese Uhrzeit? Nein, er konnte mich ja gar nicht sehen. Es sei denn, er hätte ein Fernglas benutzt. Aber seine Augen hatten doch in meine Richtung geschaut. Ich verabschiedete mich von meinen Bäumen und verließ den Wald. Auf dem Weg zum Haus entdeckte ich, dass die Luke meiner Insel geöffnet war. Dabei spürte ich, dass es bald wie aus Eimern regnen würde, und schon bei Nieselregen stand nach nur wenigen Stunden der gesamte Schuppen unter Wasser. Warum hatte ich Kian das nicht mitgeteilt? Ich kniff die Augen zusammen. Weil ich fast nichts in seiner Gegenwart gesagt hatte! Natürlich könnte ich auch bis zum Morgen warten, wenn meine Insel bereits geflutet und Kian ertrunken war. Lieber nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich bei Herrn Unverschämt persönlich vor die Tür zu stellen und um Einlass zu betteln. Ich pochte mehrmals, doch drinnen blieb es still. Dabei hatte Kian gerade noch aus dem Fenster gespäht. Ungeduldig wackelte ich mit dem Fuß und rief seinen Namen. Der Typ wollte mich ärgern, und es gelang ihm hervorragend. Ich ging hinein, aber er war nicht da. Wo mochte er sein? Ich rannte nach draußen. So schnell konnte er nirgends hingekommen sein, ich hätte ihn gesehen. Schließlich huschte ich wieder in den Schuppen und schloss die Luke. Beim Rausgehen entdeckte ich Kians Schuhe. Demnach besaß er noch ein zweites Paar, mit dem er gerade unterwegs war. Sicher hatte ich mir sein Gesicht am Fenster nur zurechtgesponnen, und in Wahrheit war es der Wind gewesen, der die Gardine bewegt hatte. Meine Nerven gingen mit mir durch. Sie warnten mich vor einer Gefahr, die ich nicht kannte. Auch die Übelkeit, die jetzt ständig in mir schwelte, während sie üblicherweise nur kurz aufflammte, musste damit zu tun haben.

Gegen fünf Uhr früh trieb meine Neugier mich durch den strömenden Regen wieder zum Schuppen hin. Sie wollte, dass ich nachsah, ob Kian inzwischen eingetroffen war. Aber die Insel war leer, und die Schuhe lagen immer noch an ihrem Platz.

»Morgen.«

Um acht Uhr erwachte ich von Kians Stimme.

»Moin, Kian. Gut geschlafen?«, fragte meine Mutter ihn fröhlich.

»Ja, danke.«

So was! Er konnte gar nicht geschlafen haben. Jedenfalls nicht viel. Es sei denn, er wäre in seiner Freizeit unsichtbar. Leise rutschte ich von der Matratze, um auf allen vieren zur Treppe zu krabbeln. Ausnahmsweise erwies es sich mal als praktisch, dass ich keine Zimmertür besaß.

»Hat ja übel geregnet heute Nacht!«, sagte Mama.

»Ja.« Seine Antwort erfolgte so zögerlich, als hätte er gar nichts von dem Regen mitbekommen. Wo war er dann gewesen? Auf keinen Fall in der Insel. Sogar nicht mal in Pellhausenkoog?

»Hast du noch ein zweites Paar Schuhe, falls diese da nass werden?« Meine Mutter tat, als wäre sie für ihn verantwortlich.

»Nein. Ich kaufe mir heute welche.«

Kian log schon wieder. Da er ja kaum barfuß durch die nasse Nacht gelaufen war (sogar ich trug Schuhe, wenn es regnete), musste er sehr wohl über Ersatzschuhe verfügen.

»Ich hoffe, es gibt einen Schuhladen in Husum?«

»Tä!«, machte ich. Diese Großstädter mit ihrer Arroganz! Was glaubte er, was wir waren! Neandertaler? Mit der Hand schlug ich mir auf den Mund. Bestimmt hatte er mich gehört. Ich schlich zum Bett zurück und verkroch mich unter meiner Decke. Sowie die Haustür zuklappte, sprang ich zu meinem Fenster, das zur Einfahrt hinauszeigte. Kian verließ mit dem Fahrrad den Hof. Und weiß Gott warum, ich fühlte mich leer. Mir wurde auf einmal bewusst, dass es mir jetzt, wo ich mit der Schule so gut wie fertig war, an Beschäftigung fehlte. Ich wusste noch gar nicht, was ich werden wollte und ob ich studieren sollte. Meine Mutter riet mir, nach dem Abi ein Jahr freizumachen, damit ich ganz in Ruhe den richtigen Berufsweg wählen konnte. In den nächsten Monaten würde ich ausreichend Gelegenheit bekommen, darüber nachzudenken, denn es standen mir sechs schulfreie Wochen bevor, in denen ich mich auf die mündlichen Abiprüfungen vorbereiten sollte. Zudem würde ich viel allein sein, weil Mama ab dem Frühling regelmäßig auf Märkte fuhr, um ihre Schmuckstücke zu verkaufen. Meinen Kumpel Oskar bekam ich kaum noch zu Gesicht, und meine beste Freundin Wiebke hatte jetzt ihren Patrick.

Obgleich die Einsamkeit manchmal an mir nagte, war es dennoch so, dass ich sie brauchte. In ihr fand ich die nötige Energie, um meine besonderen Fähigkeiten zu nähren. Und ohne die wäre einmal fast alles drunter und drüber gegangen in unserer Gegend und an dem gesamten Küstenstrich. Missmutig sah ich in den Himmel und betrachtete den stärker werdenden Nieselregen. Ich musste wohl doch eine böse Hexe sein, weil ich einen Anflug von Schadenfreude nicht unterdrücken konnte. Kian würde patschnass in der Redaktion ankommen, und das würde ihm vielleicht einen Millimeter seiner Hochnäsigkeit nehmen.

Drei Tage lang mieden Kian und ich einander erfolgreich. Irgendwann machte ich mich erneut auf den Weg zu meiner Insel. Mir war klar, dass ich damit zum wiederholten Male eine Grenze überschritt, denn der Schuppen gehörte mir augenblicklich nicht. Trotzdem musste ich herausfinden, warum ich Kian am Fenster gesehen hatte und er kurz danach wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Alles sah normal aus. Erstaunlich nüchtern. Kian hatte weder Möbel umgestellt, noch lagen Leichen herum. Achselzuckend gestand ich mir selbst ein, dass ich zu viel in mein Erlebnis hineininterpretiert hatte. Mit einem Mal wollte ich nur noch raus.

Da erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Klein, blau, fremdartig. Ich lehnte mich nach vorn und hob es auf. Es war eine Blüte, traumhaft zart und ungewöhnlich. Ich hielt sie mir vor die Nase und sog ihren süßlichen Duft ein. Meine Augen schlossen sich wie von selbst, und der Raum um mich herum löste sich auf. Überall war nur noch Duft, Duft, Duft. Dann folgte ein reißender Schmerz, als ich mich von meiner Heimat löste. Ich geriet in Panik, wollte meine Umgebung nicht verlassen. Ich gehörte nicht nach da oben, wo die Sonne so heiß brannte. Ich begann aufzusteigen und mich zu drehen. Langsam schwebte ich über tropische Wälder, über hochragende Palmen. Dann wurden die Lüfte mit einem Mal unruhig. Höher und höher, schneller und schneller wirbelte ich umher. Angsterfüllt.

Erschrocken öffnete ich die Augen. Mein Magen war mitgewirbelt, Übelkeit erfüllte ihn. Ich ließ die Blüte fallen, als hätte ich mich an ihr vergiftet, und schmiss die Schuppentür von außen zu. So zügig meine Beine es fertigbrachten, sprintete ich davon.

Kapitel 3

Houdinis Erben

Kian

Die kulturorientierte Zeitung, bei der ich mein Praktikum machte, trug den originellen Namen Husumer Wind. Die Leute waren okay, eben Menschen. Groß, klein, alt, jung, männlich, weiblich. Alle voller Ideen und Diskussionslust. Gleich am ersten Tag übergab die Chefredakteurin Sabine mir eine Liste von Terminen, die ich im Laufe der Woche wahrnehmen sollte. Ziemlich mutig von ihr, immerhin hatte ich mich schreibtechnisch noch nicht bewiesen. Woher wollte sie wissen, dass man mich im Namen der Zeitung auf die Welt loslassen konnte?

Die erste Adresse auf meiner Liste gehörte zu einem Bistro in der Nähe des Husumer Schlosses. Im Nieselregen schlenderte ich durch den angrenzenden Park und warf einen Blick auf das alte Gebäude. Was tat ich hier eigentlich? In dieser kleinen Stadt im Norden, in der Redaktion, in diesem Park? Alles schien so sinnlos zu sein. Nichts würde sich jemals ändern, nichts würde mich jemals ändern, egal wo ich mich aufhielt und welchem Beruf ich nachging.

Plötzlich spürte ich etwas. Ich trat in den Schatten der Bäume und sah mich um. Die Wege waren verlassen. Das hieß, dass mein Gespür nachließ. Eine erste Komplikation, die ich angeblich nur würde lösen können, indem ich mich wieder in mein Schicksal fügte. Aber das kam nicht infrage.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand verfolgte, ging ich zu dem Bistro, dessen Besitzerin ich ein paar Fragen stellen sollte. Als ich an die verschlossene Eingangstür klopfte, erschien das Gesicht einer Asiatin. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Sie öffnete die Tür und verzog den Mund zu einem Lächeln. Ich erklärte stotternd mein Anliegen. Sonst stotterte ich nie. Ich redete nicht viel und nicht mit jedem, allein dadurch machte ich mich in meiner Umgebung unbeliebt, aber ich hatte niemals Probleme zu sprechen, wenn ich es wollte. Meine Nervosität schwächte sich ab, als die Frau mit norddeutschem Akzent auf mich einredete.

Draußen vor der Tür zog eine bleierne Schwere mich nach vorn. Ich wankte zwischen die Bäume und sank in mich zusammen. Meine Hände schlugen gegen meine Schläfen. Es war so lange her, und nichts war von der Grausamkeit abgeblättert. Unverblasst und grell drang die Erinnerung in mich ein. Schreie, Verzweiflung, ihre angsterfüllten Augen. Meine Machtlosigkeit. Mein nutzloses Bestreben, es abzuwenden. Am Ende hatte ich sie doch getötet.

Noch bevor ich die Tür zum Schuppen öffnete, wusste ich, dass Fee drinnen gewesen war. Sie roch wie der Wald, hinzu mischte sich der Duft von Orange. Ich betrat den kleinen Bau. Sofa, Schreibtisch, Rucksack, alles lag an seinem Platz. Zumindest hatte sie es nicht gewagt, in meinen Sachen herumzuwühlen. Mein Blick fiel auf die Mariandoblüte am Boden. Ich hob sie auf und betrachtete ihre feinen Blätter, die tiefblau schimmerten. Immer diese lästigen Souvenirs! Was immer es nach sich ziehen würde, eines war klar: Fee hatte die Blüte berührt.

Feli

Seit Tagen beobachtete ich Kian. Nicht etwa, weil sein Aussehen viele Mädchen in die Ohnmacht treiben würde. Auch nicht wegen der fünf Buchstaben, die er bei unserer letzten Begegnung herausgewürgt hatte. »Hallo.« Sondern wegen der Blüte.

»Ich hab sie gegoogelt. So eine gibt es gar nicht«, sprudelte ich aufgeregt hervor. Ich war zu meiner Freundin Wiebke gefahren, um ihr von der blauen Blüte zu berichten und davon, wie ich mich bei Berührung mit ihr in sie verwandelt hatte.

»Feli, du bist ja kurz vorm Durchdrehen!« Wiebke hielt mich an, weil ich wie aufgezogen durch ihr Zimmer sauste. »Ich weiß nicht, warum du das so berauschend findest. Dann hat dieser Kian eben eine seltene Blume dabei. Na und?«

»Keine seltene Blume. Eine, die gar nicht existiert.«

»Weil sie aus Kunststoff besteht«, mutmaßte Wiebke, doch ich schüttelte den Kopf. »Dann hast du das Internet noch nicht ausgeschöpft.« Sie riss genervt die Hände hoch. »Meine Güte, was ist so wichtig an dieser beknackten Blüte!«

War das nicht offensichtlich? Ich hatte Wiebke erzählt, dass ich Kian eine schlappe Woche zuvor am Fenster meiner Insel erspäht hatte und er Sekunden später wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Sie glaubte mir nicht, und jetzt sah sie nicht ein, dass diese Blume ein weiteres Indiz war, das ihn verdächtig machte.

»Hör auf mit dem Quatsch, Feli. Es wird langsam peinlich.« Wiebkes Unverständnis traf mich wie ein Schlag auf den Schädel, rüttelte mich wach. Früher hatten wir nie Geheimnisse voreinander gehabt. Wir waren durch dick und dünn gegangen, hatten uns gegen den Rest der Welt verschworen. Und dann hatte sich alles verändert. Lange hatte ich befürchtet, nur eifersüchtig zu sein, weil Patrick ihr wichtiger geworden war als ich. Doch nun wurde es deutlich. Wir passten nicht mehr zusammen. Wiebke hatte keinen Kopf mehr für mich.

»War noch was?«, fragte sie ungeduldig und meißelte damit meine Erkenntnis in Stein. »Patrick wartet am Strand auf mich.«

Kian

»Woher kommst du eigentlich?«, fragte Sabine mich am Freitag im Büro. Ich hasste diese Frage, weil es so viele Antworten darauf gab.

»Aus Berlin.«

»Das weiß ich. Auch wenn man es dir überhaupt nicht anhört.« Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf ihren Block. »Du hast aber noch etwas anderes im Blut.« Die Vorsicht, die Leute in diese Behauptung einflochten, war unterhaltsam.

»Warum sehe ich aus wie ein Indianer? Obwohl ich farblich nicht ganz stimmig bin?«

Sabine wackelte bejahend mit dem Kopf.

»Ich bin mit fünf Jahren adoptiert worden. Keiner weiß etwas über meine Herkunft. Ich erinnere mich an nichts.« Mit dieser Standardantwort war das Thema meist erledigt, und es folgten mitleidvolle Blicke. Sabine jedoch war Journalistin.

»Mit fünf Jahren. Dann hast du natürlich deine Muttersprache gesprochen. Und hat niemand herausgefunden, welche das war? Du konntest wahrscheinlich nicht ein Wort Deutsch verstehen. Hast du denn überhaupt kein Interesse an deinen Wurzeln, Kian?« Sie klang missbilligend.

»Als man mich fand, habe ich monatelang geschwiegen.« Ich würde Sabine nicht verraten, dass die wenigen Worte, die ich damals überhaupt von mir gegeben hatte, für jeden deutlich verständlich gewesen waren. Was sie wollte, waren Gefühle. Das Porträt eines Jungen, den man verlassen hatte.

»Ich bin in Deutschland zu Hause. Es gibt keine anderen Wurzeln mehr für mich.« Mehr durfte ich nicht sagen, Sabine saß sowieso schon an der vordersten Kante ihres Drehstuhls. Ein Satz noch und sie würde hinunterfallen.

Feli

Am späten Nachmittag saß ich bei frischen fünfzehn Grad Celsius in St. Peter-Ording auf einer Bank gegenüber meiner Lieblingspizzeria. Hier traf ich meinen Kumpel Oskar, dem gegenüber ich die geheimnisvolle Blüte lieber nicht erwähnte. Es war noch nicht so lange her, dass er mich als Hexe vom Dienst bezeichnet hatte.

»Dieser Kian ist wohl ein ziemlicher Idiot, oder?«, fragte Oskar zwischen zwei Bissen von seiner duftenden Pizza. Er trug sein schwarzes Haar zum Zopf. Ein paar einzelne Strähnen wehten im Wind und hefteten sich beim Abbeißen an seine Zähne.

»Ich weiß nicht. Er ist eben zur falschen Zeit am falschen Ort. An meinem Ort. Wenn er zumindest mal was Nettes sagen würde.« Ich hatte gut reden, ich sprach ja selbst kein Wort mit ihm. Dabei hätte ich ihn gern besser kennengelernt. Ich wusste nur nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich hoffte, Oskar würde einen Tipp für mich bereithalten.

»Was würdest du machen, wenn du einem Menschen begegnen würdest, den du eigenartig findest?«, fragte ich. Oskar sah mich verwirrt an, also versuchte ich, konkreter zu werden.

»Stell dir vor, da wäre ein … Mädchen, das ganz anders ist als, wie soll ich sagen, du findest es eigenartig. Du magst das Mädchen nicht besonders, aber findest es trotzdem spannend.«

»Also, wenn ich das Mädchen spannend finde, mag ich es auch.« Oskar blinzelte. »Und dann ist es egal, ob es eigenartig ist. Unter Umständen mag ich das Mädchen gerade deshalb.«

Ich dachte an Kian. War ich interessiert an ihm, weil er mir komisch vorkam? Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, stellte Oskar mir eine Gegenfrage.

»Stell dir vor, du würdest einen … Jungen mögen. Und zwar schon sehr lange. Ihr wart immer nur gute Freunde, aber auf einmal merkst du, dass sie, ich meine, dass er mehr für dich ist als nur ein Freund. Was würdest du tun?«

Oh, mein Gott! Ich hatte es geahnt: Oskar war verliebt in Wiebke. Der Ärmste. Und sie hatte nur noch Augen, Kopf, Herz, Nerven, Arme und Beine für Patrick. Ich tätschelte ihm das Knie und sagte: »Ich fürchte, der … Junge ist bereits vergeben.«

Oskar starrte mich an. Er hatte wohl nicht mitgekriegt, dass aus Wiebkes anfänglicher Schwärmerei für Patrick etwas Ernstes geworden war. Er sprang hoch und ging zu dem nächsten Mülleimer hinüber, in den er seinen eingerollten Pappteller warf, wie einen spitzen Pfeil. Ohne auf mich zu warten, hetzte er davon.

In welch seltsame Richtung sich alles entwickelt hatte. Wir drei waren einmal unzertrennlich gewesen. Wiebke und Oskar hatten miterlebt, wie mein Vater nach Spanien abgehauen war. Sie kannten mich so gut wie niemand sonst. Und nun hatte mein Freund sich in meine Freundin verliebt, und ich saß allein am Meer. Was konnte es Komplizierteres geben als Menschen?

Es war bereits Abend, als ich barfuß durch das Watt schlenderte und die salzige Luft inhalierte. Hier und da blieb ich stehen, die Schuhe in der Hand, und beobachtete, wie meine nackten Füße sich in den Sand gruben und nach und nach darin verschwanden. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick über die unendliche Nordsee wandern.

Auf meinem Rückweg über den Deich verspürte ich ein flaues Gefühl im Magen. Es kam schleichend und verschaffte sich zügig Gehör. Es teilte mir mit, dass etwas Dunkles im Anmarsch war. Ich kannte diese Alarmsignale, die mein Körper im Laufe der letzten Jahre verfeinert hatte, aber das hier war anders. Mit wachsender Übelkeit floh ich in den Wald, schaute zuerst zurück, dann hoch in die Baumkronen. Gut, dass ich wettertechnisch so unempfindlich war. Die vielen Jahre, in denen ich mich draußen in der Nacht herumgetrieben hatte, waren die perfekte Abhärtung gewesen. Jetzt allerdings fröstelte ich doch ein wenig. Ich sah in den Himmel, um sein abendliches Blau zu untersuchen. Dabei strauchelte ich, verlor das Gleichgewicht und prallte mit voller Wucht gegen jemanden. Zu Tode erschrocken, schrie ich auf.

Wärme, Duft, Herzschlag, aber auch Ärger strömten von meinem Gegenüber in mich ein und steigerten meine Übelkeit. Ich hob den Blick und starrte direkt in Kians Augen. Finster schaute er auf mich herab, ohne den Kopf zu senken. Ein paar Silben kamen aus seinem Mund. Ein paar aus meinem. Parallel dazu konnte ich den eigentlichen, stummen Dialog, den unsere Augen und die annähernd feindseligen Schwingungen zwischen uns führten, hören.

»Fee?« Warum warst du im Schuppen?

»Hallo.« Weil es mein Schuppen ist.

»Alles klar?« Was wolltest du dort drin?

»Und bei dir?« Woher hast du diese Blume?

»Okay so weit.« Das geht dich nichts an!

»Also, dann …« Ich finde es sowieso heraus.

Zwei Gespräche, ein Ende. Ohne weitere Worte ging Kian an mir vorbei und ließ mich sprachlos stehen.

Kian

Mitten in der Nacht vernahm ich Stimmengemurmel. Als ich genauer hinhörte, erkannte ich, dass es nur eine einzige Stimme war, die mit heiserem Gesang die Umgebung erfüllte. Sie gehörte zu Fee. Ich setzte mich auf und linste aus dem Fenster. In diesem Moment verstummte das eigenartige Lied, und ich erblickte den Rücken des Mädchens, das nachts offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als die Bäume anzusingen. Fee sprang auf. Ein Rottweiler, groß wie ein Kalb, näherte sich ihr. Er fletschte die Zähne und gab ein paar hungrige Laute von sich. Als Nächstes würde er sie ganz gewiss zerfleischen. Ohne nachzudenken, raste ich aus dem Schuppen in die Mitte des Waldes und stellte mich zwischen Fee und Hund. Offenbar verdarb ich dem Biest die Lust darauf, sein Opfer zu zerreißen, jedenfalls verzog es sich. Ich drehte mich um und prallte auf Fees entsetzten Blick. Jetzt bloß keine Fragen stellen. Gähnend latschte ich an ihr vorbei in Richtung Schuppen.

»Kian!«, flüsterte sie fassungslos, oder sogar vorwurfsvoll? »Was hast du getan?«

»Keine Aufregung, bitte«, antwortete ich im Weggehen und stellte mir dieselbe Frage. Was hatte ich getan? Wieso war ich durch die Nacht geflogen wie ein Superheld und hatte riskiert, dass diese Nervensäge mir auf die Schliche kam!? Ab jetzt würde sie nicht mehr lockerlassen. Sie rannte hinter mir her. Ihre nackten Füße eilten über den Waldboden. Barfuß! Bei zehn Grad Celsius. Das passte zu ihr.

»Wie konntest du so schnell hier sein? Ich hab dich gar nicht gehört«, plapperte sie. »Ich hab dich gar nicht gesehen!«

»Geh zurück zu deinen Bäumen«, murmelte ich entnervt.

»Kian! Was war das eben?«

Verdammt, ich Idiot! Da hatte ich ja was losgetreten! Mit festem Griff packte Fee meinen Unterarm und brachte mich zum Anhalten. Ich spürte Zorn in mir aufwallen und stierte auf ihre Hand, kurz davor, sie mit Wucht von mir zu schleudern. Wahrscheinlich hätte ich ihr dabei den Arm aus der Schulter gerissen. Meine Finger zitterten. Das konnte nur eins bedeuten: Ich hatte fünf Minuten oder weniger. Nein, es ging sofort los.

Feli

»Lass. Los.« Kians Stimme klang wie das Knurren eines Wolfes. Der eisige Blick, den er auf meine Hand richtete, verriet mir, dass er keinen gesteigerten Wert darauf legte, von mir berührt zu werden. Demonstrativ entfernte ich meine Finger von seinem Ärmel und ließ sie in der Luft zappeln. Hier, siehst du? Ich fasse dich gar nicht mehr an. Kian stand immer noch genauso da, wie ich ihn angehalten hatte, halb seitlich von mir, die Muskeln gespannt, die Augen geweitet, die Pupillen groß und starr. Kian in Kampfbereitschaft. War ich krank, weil ich fand, dass er dabei gut aussah? Rasch blinzelte ich diesen irren Gedanken weg.

Wie auch immer, er konnte unmöglich erwarten, dass ich sein mysteriöses Auftauchen ignorierte. In einer Sekunde war ich weit und breit der einzige Mensch in diesem Wald gewesen, in der nächsten hatte Kian vor mir gestanden, um mich vor einer wilden Bestie (alias dem alten, gutmütigen Nachbarshund namens Krümel) zu retten. Außer einem zarten Lufthauch und dem leisesten Rauschen hatte ich nichts vernommen. Kian war aufgetaucht, ohne dass meine scharfen Augen ihn hatten kommen sehen. Deshalb musste ich die Frage stellen, die ich seit letzter Woche ausbrütete, wenn auch nur im Flüsterton:

»Wer bist du?«

Kians Blick verfinsterte sich. Er atmete tief ein und rollte die Augen. Würde er mir endlich sagen, was mit ihm los war? Voller Spannung öffnete ich den Mund und fixierte seinen mit äußerster Konzentration.

Dann … drei-zwei-eins … löste er sich in Luft auf.

Kapitel 4

Weitsicht

Kian

Kian war ausgeschaltet. Das, was ich jetzt war, besaß keinen Körper mehr und keinen Namen. Keine Stimme, kein Praktikum in Husum. Warum zur Hölle konnte ich dann trotzdem alles sehen und musste alles mitanhören? Mein Bewusstsein sollte ausgeschaltet sein. Ich wollte es nicht haben. Es war das Grauen.

Irgendwann tauchte ich dort wieder auf, wo ich gestartet war. In dem kleinen Wald von Pellhausenkoog. Wie sehr ich es hasste, mit dem ganzen Lkw voller Schuld und Entsetzen Mensch zu werden! Doch damit nicht genug. Nun durfte ich mich auch noch daran erinnern, dass dieses blonde Mädchen in seinen Schlabbershirts mein Verschwinden miterlebt hatte. Ich scannte die Umgebung nach Fee ab und hoffte inständig, dass sie selbst viel zu anormal war, um jemanden wie mich zu verraten. Sie war nirgends zu entdecken. Hatte ich wieder irgendwelche Zeugen mitgebracht? Auf dem sandigen Boden lagen nur Kiefernnadeln und Zapfen, also ging ich hinüber zur Terrasse.

Als ich das Haus betrat, ertönte Fees hechelnder Atem aus dem oberen Stockwerk. Vermutlich saß sie auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit mit ihren riesigen, grünen Augen. Dem Anschein nach hatte sie keinem erzählt, was sie gesehen hatte, sonst wäre ich von einem Haufen nordfriesischer Psychologen empfangen worden. Aber ich wollte lieber nicht darauf bauen. Es war schon einmal passiert, dass ein Mädchen mich so gesehen hatte, besser gesagt: nichts mehr von mir gesehen hatte. Damals hatte ich es gerade noch zurechtgebogen, so, dass es als Traum durchgegangen war.

Aber bei Fee lag der Fall anders. Ich hatte mich direkt unter ihrem Blick verdünnisiert, und sie war sicher nicht der Typ, der sich von meinen Ausreden einlullen ließ. Von der Treppe aus flüsterte ich ihren Namen und hörte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

»Ich muss mit dir reden.«

»Geh weg!«, krächzte sie.

»Ich werde es erklären.« Es war zwar nicht meine Absicht, ihr irgendetwas zu erklären, aber ich musste mir ein Bild von dem Schaden machen, den ich angerichtet hatte.

»Lass es lieber«, erwiderte sie mit zittriger Stimme. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Vier Stunden waren verstrichen. Zweihundertvierzig Minuten, in denen Fee sich ausgemalt hatte, welche Art Monster ich wohl sein mochte und was ich als Nächstes mit ihr anstellen würde.

»Nur ein paar Minuten.« Absurd, dass ausgerechnet ich sie um ein Gespräch bat. Es folgte eine Pause.

»Auf der Terrasse«, piepste sie schließlich.

Feli

Nach Kians Verschwinden hatte ich mich hektisch hin und her gedreht und meine leere Hand angestarrt, die gerade noch seinen Ärmel gepackt hatte. Ich war durch meine Bäume gestreift, um sie nach Kian abzusuchen.

Offenbar war ich genauso durchgeknallt, wie alle es mir immer andichteten. Oder hatte ich nur geträumt? Ich hatte mir zigmal gegen die Schläfen geklopft. Aufwachen! Reset! Reset! Dann war ich in Windeseile in mein Zimmer geflohen und hatte mich neben das Bett auf den Holzboden gekauert. Mama durfte ich nichts davon sagen, sie hasste es, wenn ich sie mit übernatürlichen Themen behelligte. Aber sollte ich wirklich ganz allein bleiben? Wer sagte mir, dass Kian nicht in aller Seelenruhe unsichtbar zu mir herüberschweben würde!

Mit jeder Viertelstunde, die verstrichen war, hatte sich die Angst vor dem, was er sein mochte, vergrößert, und nach den Stunden der Anspannung kam es mir jetzt beinahe wie eine Erlösung vor, seine Schritte im Flur zu vernehmen. Wenn er da unten stand, konnte er zumindest nicht unsichtbar neben mir sitzen und seine Hände nach meiner Gurgel ausstrecken. Die bittenden Worte, die er mir zuflüsterte, ließen meine Vorstellung von ihm als Ungeheuer in sich zusammensacken.

Fee. Keiner nannte mich so, seit ich im Kindergarten mit diesem Namen geärgert worden war. Und auch jetzt wollte ich nicht mit diesen drei Buchstaben angesprochen werden. Schon gar nicht von »The Invisible« Kian Sander. Das blaue von Feen umringte Einhorn an meiner Zimmerdecke grinste mich an. Meine bei Weitem zu lebhafte Fantasie spielte ihre Streiche mit mir.

»Geh schon!«, sagte das Einhorn. »Du willst doch mit ihm reden.«

»Er kann ja gar nicht reden«, antwortete ich laut.

»Versuch es, du willst doch bei ihm sein.«

Bebend erhob ich mich und überprüfte mein Aussehen im Spiegel. Dann schritt ich die Treppe hinab, um nach draußen zu huschen. Mama sollte schön weiterschlafen und am Morgen denken, die Welt sei in Ordnung.

Kian saß auf einem der Gartensessel, den Blick über die Felder schweifend. Ich hoffte, dass ich keinen tödlichen Fehler damit beging, mit ihm allein hier draußen zu sein. Falls er plante, mich zu frühstücken, lieferte ich mich gerade freiwillig als Mahlzeit aus. Für einen Augenblick blieb ich stehen. Jetzt hatte ich noch eine letzte Chance, um zu fliehen, meine Mutter wachzuschreien oder die Polizei zu rufen. Doch die Ruhe, mit der Kian den Sessel ausfüllte, vermittelte mir etwas derart Friedliches, dass ich mich sicher fühlte. Vorerst. Mit angewinkelten Beinen setzte ich mich quer in den Strandkorb, der an der gläsernen Wand auf der rechten Seite der Terrasse stand.

Obwohl hinter dem Haus langsam die Sonne aufging, lag der Garten noch im Dunkeln. Ich betrachtete Kians Profil, das sich vor dem düsteren Himmel abzeichnete. In Momenten wie diesen bedankte ich mich bei meiner Sehkraft. Kians Lippen waren geöffnet, die Karamellhaare durchwuschelt. Völlig unvermittelt schaute er mich an. Soweit ich es einschätzen konnte, wirkte er aufgewühlt. Was würde er sagen? Falls er überhaupt beabsichtigte zu sprechen. Falls er mir nicht doch etwas antun wollte, beispielsweise, um eine Zeugin auszuschalten. Er beäugte mich, drehte und neigte minimal seinen Kopf. Das gefiel mir nicht. Es hatte etwas Raubtierartiges an sich. Versuchte er, in meine Gedanken einzudringen? Natürlich konnte er das nicht, keiner konnte so etwas. Andererseits war auch niemand in der Lage, sich in farblosen Sauerstoff zu verwandeln. Skeptisch zog ich mein Kinn zurück und kroch weiter in den Strandkorb hinein.

»Und?«, flüsterte ich, um das Gespräch anzuleiern.

»Seit wann wohnst du hier?«, fragte Kian.

»Schon immer.«

Kian verzog anerkennend den Mund.

»Ich würde es ebenso wenig in deiner stinkigen Großstadt aushalten wie du hier bei uns«, brabbelte ich. Kian hob die Arme, um meine Worte abzuwehren.

»Ich hab nichts gesagt.«

Nach einer Pause machte er einen Laut, der klang, als wollte er ein Geständnis ablegen. Erwartungsvoll sah ich zu ihm rüber.

»Hast du Geschwister?«

»Da müsstest du meinen Vater fragen«, entgegnete ich, mich müde reckend. Ich hatte noch keine Sekunde geschlafen, und es wurde langsam hell.

»Er meldet sich nie?«

Mittlerweile hatte die Müdigkeit einen Großteil meiner Furcht verjagt.

»Nicht, seit er vor fünf Jahren ausgewandert ist.« Aber hallo! Ging es denn hier um mich? Im Gegensatz zu Kian war ich stinknormal. Ich musste den Spieß umdrehen.

»Du hast auch keinen Vater mehr«, sagte ich so taktvoll wie möglich. Er drehte sein Gesicht von mir weg. Die ersten Sonnenstrahlen tanzten in seinen Haaren und ließen sie in warmen Tönen leuchten. Rot, Blond und Braun. Fasziniert lächelnd heftete ich meinen Blick darauf. Mit einem Ruck drehte Kian seinen Kopf zu mir. Bestimmt hatte er nicht mit meinem Lächeln gerechnet, denn er sah verwundert aus. Das sorgte dafür, dass sein Ausdruck für ein paar Sekunden weich wurde. Doch schon nach kurzer Zeit veränderte er sich erneut in einen unpersönlichen.

»Nein, ich habe keinen Vater mehr.«

»Tut mir leid«, hauchte ich. Und dann hatte ich keinen Nerv mehr, um drum herumzureden. »Heute Nacht im Wald …« Es sollte ein Ergänzungsspiel werden, aber Kian stieg nicht darauf ein.

»Du bist oft nachts da drinnen«, stellte er stattdessen fest. Mit einer laschen Handbewegung zeigte er zu meinen Bäumen hinüber. Und wieder ging es um mich.

»Ja, manchmal«, sagte ich ungeduldig. »Wenn mir danach ist. Aber du, heute Nacht, da …«

»Dieser Köter …« Kian stand auf.

»Krümel.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Krümel«, wiederholte er, und ich bildete mir ein, die Andeutung eines Schmunzelns um seinen Mund herum zu erkennen.

»Du hast eine Verbindung zu diesem Haufen Bäume da hinten?«

Ab jetzt wurde es ungemütlich. Kian sprach abfällig über meinen Wald. Mit den Zähnen riss ich mir einen losen Hautfetzen von der Lippe und starrte ihn an. Der Tag war gekommen und hüllte uns beide in goldenes Licht. Überall zwitscherten Vögel.

»Ich bin mit ihnen aufgewachsen.« Ich lieferte Kian den durchdringendsten Blick, den ich draufhatte. Der hatte mir schon so manches Mal dabei geholfen, mir Auskünfte zu verschaffen. Aber hier nicht. Kian war wie eine Wand aus Stein. Keine Lücke. Offensichtlich hatte er nicht vor, mir etwas Aufschlussreiches mitzuteilen. Vielmehr wollte er herausfinden, was bei mir nicht rundlief. Aber ohne mich. Ich suchte nach einer Antwort in der Tiefe seiner Augen, und er wich wie gewohnt aus. Nur wirkte er diesmal regelrecht verschreckt.

»Ich muss schlafen.« Mit diesen Worten sauste er die Treppe zum Garten hinunter. Verdattert sprang ich auf und rannte ihm nach, doch Kian war schnell, es dauerte ein bisschen, bis ich ihn irgendwo auf halber Strecke zur Insel erreichte. Er drehte sich zu mir um. Das Morgenlicht stand ihm gut. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass er wunderbar in diesen Garten passte.

»Muss ich mich vor dir fürchten?«, wisperte ich.

»Muss ich mich vor dir fürchten?«, gab er meine Frage zurück. Und endlich betrachteten wir einander ausgiebig. Neugierig und doch unsicher. Angespannt.

»Nein«, sagte ich.

»Gut.« Kians Miene entspannte sich. »Und, nein.« Er nickte unmerklich. Ich tat es ihm nach. Und damit war unser stilles Abkommen besiegelt.

Kian

Scheiße, ich mochte sie. Und ich hatte gelogen. Selbstverständlich stellte ich eine Bedrohung für sie da, aber das würde ich ihr nicht aufs Butterbrot schmieren. Sie stand immer noch im Gras und bewegte sich keinen Millimeter, obwohl ich mich von ihr entfernte. Ihr Atem klang ruhig, dabei sollte sie gar nicht ruhig sein. Sie sollte mich weiter meiden. Unser Verhältnis durfte sich nicht ändern. Diesmal war ich noch davongekommen. Ich würde jedoch nicht Nacht für Nacht verschwinden können, während sie daneben stand und zusah. Es musste eine absolute Ausnahme bleiben.

Als ich am Schuppen angelangt war, erblickte ich sie wieder. Ihren zur Seite geneigten Kopf, das viele Haar, ihren nachdenklichen Ausdruck. Sogar die grünen Augen spiegelten sich in dem klaren Schuppenfenster, vor dem ich stehen blieb. Mit einem Ruck stellte sie ihren Kopf gerade, ihre Pupillen fixierten mich. Das war nicht möglich! Sie konnte mein Gesicht sehen! Auf diese Distanz? Erschrocken fuhr ich herum. Fee biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich soeben verraten. So wie ich mich.

Feli

Seine Augen! Bestürzt drückte ich meinen Rücken an die Wohnzimmerwand neben der Terrassentür. Ich hatte Kian nachgeschaut, seinen leichten Gang gemustert, beobachtet, wie seine Haare im Wind wehten und den Rand seines T-Shirts kitzelten. Meine Beine waren wie festgeklebt gewesen. Nie und nimmer hatte ich erwartet, dass er sich dazu herablassen würde, sich zu mir umzudrehen. An das Schuppenfenster hatte ich nicht gedacht. Noch weniger hatte ich geglaubt, dass er mich auf diese Entfernung würde sehen können. Seine Augen, sie waren wie meine!

Der Spiegel in meinem Zimmer zeigte mir eine übernächtigte und verwirrte Feli Johannsen. Niemand außer mir selbst verfügte über solche Adleraugen. Jetzt würde ich keine Minute Schlaf mehr bekommen, bis ich erfahren hatte, was mit Kian los war. Die von ihm eingeforderte Unterhaltung hatte mir null Informationen geliefert. Höchstens trug sie dazu bei, dass ich mich nicht mehr ganz so bedroht fühlte. Zwar machte mir der Gedanke an sein ominöses Verschwinden im Wald immer noch zu schaffen, aber es beruhigte mich auch ein wenig, weil es bedeutete, dass ich mich auf meinen Instinkt verlassen konnte. Und der hatte mich vom ersten Tag an vor Kian gewarnt.

Der beste Weg, um hinter sein Geheimnis zu kommen, würde ein Interview mit ihm sein; aber um ihn auszufragen, würde ich ihm im Austausch auch etwas über mich verraten müssen. Das wollte ich nicht. Oskar interessierte sich nicht für meine Fähigkeiten. Wiebke hatte mir unmissverständlich gezeigt, was sie von meiner Seltsamkeit hielt. Mama hasste mein Gerede darüber, tolerierte das Ganze nur, weil sie mich lieb hatte. Und weitere unwillige Mitwisser konnte ich nicht gebrauchen.

Kian

Am nächsten Tag hatte ich frei. Sabine wollte nur, dass ich einen Artikel über Anna schrieb.

»Ich zeige dir nachher meine Werkstatt«, bot diese an, als ich am Nachmittag ins Haus kam, um zu duschen. »Geh ruhig erst mal ins Bad.«

Die Dusche duftete nach Orange. Als ich hineinstieg, stellte ich mir vor, wie Fee unter ihren zu großen T-Shirts aussehen mochte, dann drehte ich das Wasser auf eiskalt und spülte den Gedanken weg. Sachlich bleiben. Sie war ein Risiko. Besonders, seit ich erlebt hatte, wie weit sie sehen konnte. Wer wusste schon, was sie noch alles draufhatte. Es brauchte noch ein Gespräch. Wir konnten uns unterstützen oder bekriegen. Ich musste wissen, woran ich bei ihr war.

Kaum saß ich am Tisch und aß, kam Fee die Treppe heruntergeschlurft.

»Hallo«, murmelte sie und machte sich einen Kaffee. Sie stand mit dem Rücken zu mir, die Kapuze ihres Sweatshirts war geflutet mit verkletteten Haaren. Sobald ihre Mutter den Raum verließ, sagte ich: »Hi!«

Ich räusperte mich, wollte noch mehr sagen, eine Abmachung mit ihr treffen, aber sie ignorierte mich und rief nach Anna, die unverzüglich zurückkam und neugierig hereinschielte.

»Ja?«

»Willst du mit frühstücken, Mama?«

Alles klar! Sie wollte nicht. Verärgert stand ich auf und verließ die Küche.

Später zeigte Anna mir ihre Werkstatt. Der Raum war mit Werkzeugen vollgestopft, die mich an die Instrumente von Zahnärzten oder Schustern erinnerten. Anna erklärte sie mir und zeigte mir ihre Werke.

»Ich wünschte, Feli würde auch mal etwas schmieden, aber die hat immer nur die Natur im Kopf.«

»Seit wann ist das schon so?«, fragte ich beiläufig.

»Seit jeher. Ihr Vater hat ihr ein paar Feenmärchen zu viel erzählt, als sie klein war.« Anna seufzte. »Überhaupt kommt Feli mehr nach Gero als nach mir.«

Draußen auf der Terrasse klopfte sie mir auf den Rücken. »Ach und wenn ich du wäre, würde ich lieber aufhören, sie Fee zu nennen. Das hasst sie wie die Pest.« Sie ließ mich stehen und spazierte ins Haus. In exakt diesem Moment sah ich, wie ihre Tochter im Wald verschwand.

Feli

Bestimmt hasste Kian mich jetzt. Aber ich konnte unmöglich mit ihm allein in der Küche bleiben, denn bei ihm hörte ich manchmal die Übersetzung für die schlichten Sätze, die er von sich gab, gratis dazu. Hätte er wirklich nur »hi« gesagt und auch »hi« gemeint, hätten wir möglicherweise sogar zu zweit frühstücken können, wie normale Mitbewohner, wie normale Menschen. Aber Kians »hi« war sehr leise gewesen. Um ein Vielfaches lauter hatte ich seine unausgesprochenen Worte vernommen und somit die wahre Bedeutung seines kurzen, fordernden Grußes: Wir müssen reden. Und Reden hieß nicht zwangsläufig, sein Geheimnis zu erfahren, aber eventuell meins auszuplaudern. Und überall, wo ich dies tat, eckte ich damit an, schreckte ich damit ab. Bei Kian wollte ich mich nicht noch unbeliebter machen, als ich es ohnehin schon war. Und dass ich von der gesunden Norm abwich, hatte ich dumme Nuss ihm bereits vorgeführt.

Mein Kopf tat weh. Ich brauchte mal etwas Ablenkung, eine Beschäftigung. Ich brauchte einen Job.

Kian

Samstag früh um sieben rief meine Chefin an. Sie lobte mich für den stümperhaften Artikel, den ich über Anna geschrieben hatte, um mir einen neuen Auftrag aufdrücken zu können.

»Ich weiß, es ist Wochenende, und du hast eigentlich frei, aber ein Kollege ist ausgefallen. Wenn du heute und morgen arbeitest, bekommst du dafür am Montag und Dienstag frei.«

Eine Stunde später fuhr ich mit dem Verlagswagen durch die Dörfer. Sie sahen alle gleich aus. Reetdachhäuser in großen Abständen, Kirchen, Windkraftanlagen und Schafe, überall Schafe. Nach einer langen, öden Fahrt erreichte ich Agathengrund im Süden der Halbinsel. Hier sollte ich eine Kunstfloristin interviewen, die in der Gegend eine Berühmtheit war.

Ich hielt auf ihrer Kieseinfahrt. Mein Blick wanderte zu dem Bauernhaus hinüber, dessen spitzes Reetdach um die fünfzehn Meter in den Himmel ragte. Die Tür wurde geöffnet, und eine Frau Ende zwanzig schaute mich an. Ihr braunes Haar verdeckte die Hälfte ihres Gesichts.

»Hallo!«, sang sie.

»Frau Bender-Fuhrmann?«

»Bitte nenn mich Catja!« Sie stakste auf mich zu und hielt mir die Hand hin. »Und du bist der Junge von der Zeitung?«

»Kian Sander.«

»Entzückender Name«, rief sie und musterte mich ausgiebig. »Wir machen den Artikel zusammen, richtig? Komm, ich zeige dir meine Lieblinge.« Sie lief einen Weg entlang, der um ihr Haus herum führte. »Das hier ist übrigens mein Haubarg. Plattdeutsch für Heuberg. Ganz typisch für die Halbinsel. Ich vergöttere diese Bauten, sie sind ja so geheimnisvoll.«

Hinter dem Haus erstreckte sich eine Reihe von Gewächshäusern. Die passierten wir und gelangten in den großen Garten.

»Kennst du diese Pflanzen?« Catja deutete auf ein paar Beete, in denen unwichtiges Kraut wuchs. »Das sind Besonderheiten der Region, Kian.«

»Wo sollen wir das Interview führen?«, fragte ich einfach. Sie seufzte. Ihre Gedanken waren deutlich zu lesen. Dieser Kian ist ein Pflanzenhasser, ein Kunstbanause. Sie drapierte ihre Haare wieder neu über die ohnehin verdeckte Wange.

»Sieh dir zuerst meine Lieblinge an!«

»Ziemlich viele«, entgegnete ich mit einem Blick auf die zahllosen Reihen von Pflanzen.

»Entschieden zu viele, Kian. Ich brauche dringend eine Aushilfe, aber ich finde einfach niemanden, der etwas von dieser Art Lebewesen versteht. Kennst du nicht jemanden, der so richtig naturverbunden ist? Der mit den Bäumen auf du und du steht?«

Oh ja, ich kannte jemanden. Aber aktuell sprach dieser Jemand nicht mit mir.

»Ich höre mich um«, erwiderte ich und hielt meinen Block hoch.

»Ja, ja, du willst anfangen. Also gut, gehen wir in mein Atelier.«

Ich folgte der Frau, die etwas zu gewollt ihren Hintern hin und her schwenkte, in das erste Gewächshaus. Wir durchquerten das zweite und dritte und landeten schließlich im Atelier.

»Das sind sie. Meine Werke.« Catja streckte den Arm aus.

Loszulachen war nicht drin. Es war auch nicht besonders witzig, sondern eher furchterregend. Die Skulpturen, die Catja zugegebenermaßen kunstvoll hergestellt hatte, waren von unterschiedlicher Größe. Sie alle bestanden aus struppigem Heckengewächs. Sie sahen sehr plastisch aus. Was mich innerlich lachen und gleichzeitig erschaudern ließ, war ihre Unvollständigkeit. An jeder Figur fehlte ein Körperteil. Der Fee fehlte ein Flügel, dem Faun ein Bein, und der Drache besaß zwar Zacken am Rücken, aber keinen Kopf. Es sah aus, als hätte Catja perfekte Skulpturen geschaffen und sie hinterher verstümmelt.

»Und? Magst du sie?«

Da war das Problem, das mich schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich konnte nicht nett sein, ich konnte nicht lügen.

»Sie sind gut, aber nicht ganz mein Geschmack.«

Es veränderte sich etwas in der Haltung der Floristin. Sie streckte sich und schüttelte ihre Mähne nach hinten. Dabei entblößte sie ihre verdeckte Gesichtshälfte. Die gesamte Wange vom Auge abwärts bis zum Kiefer war vernarbt, die Haut völlig zerfressen. Catjas Blick wurde hart. Mit wenigen Schritten ging sie zu ihrem Laptop und tippte etwas ein.

»Weißt du, Kian, du bist ja noch sehr unerfahren.« Sie sah kurz zu mir auf. »Praktikant, richtig?« Sie haute auf die Enter-Taste, und der Drucker begann zu arbeiten. »Natürlich hätte diese dumme Chefredakteurin von eurem dummen Schmierblatt mir auch einen Erwachsenenschicken können, der etwas von Kunst versteht. Hier!«, Catja schlug mir die ausgedruckten Zettel gegen den Bauch. »Darauf steht alles, was du wissen musst. Du findest den Weg, oder?«

Warum Worte verschwenden? Sie hatten sowieso keine Bedeutung. Nicht für mich. Ich verließ die grüne Hölle und kehrte in die Redaktion zurück.

Auf dem Heimweg grübelte ich über Fee nach. Ich würde sie mir noch mal krallen und sicherstellen, dass sie mit niemandem über mich sprach. Sobald ich das Haus betrat, vernahm ich ihren aufgeregten Atem. Ich warf einen Blick ans obere Ende der Treppe und entdeckte eine brandneue Tür.

»Toll, was?«, sagte Anna begeistert. »Ich habe erst heute früh bei meinem Freund in der Tischlerei angerufen. Der ist ruck, zuck gekommen und hat die Tür mitgebracht. Ich hätte niemals von ihm verlangt, dass er sie am Wochenende einbaut, aber er hatte nichts Besseres zu tun.«

Fee hatte erreicht, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Glaubte sie etwa, dass ich sie jetzt auch nicht mehr hören würde? Anscheinend schon, denn ihr triumphierendes Kichern auf der anderen Seite der Tür drang deutlich an mein Ohr.

Feli

Mit dem Einbau der Tür ging ein Traum für mich in Erfüllung, und ich war in Sicherheit vor neugierigen Augen und mir im Flüsterton aufgezwungenen Gesprächen von Leuten wie zum Beispiel Kian Sander.

»Oskar, ruf mich bitte zurück«, sprach ich am nächsten Morgen auf die Mailbox meines Kumpels. Seit unserem letzten Treffen hatte ich nichts mehr von ihm gehört.

»Feli, du bist nur aus Versehen ein Mensch geworden«, sagte Herr di Nardo, als ich ihm nach alter Tradition seine Hörnchen brachte. Krümel sprang freundlich bellend an mir hoch.

»Nein, heute nicht, Kleiner. Wir rennen morgen am Deich entlang.«