Meeresschatten - Leonie Jockusch - E-Book

Meeresschatten E-Book

Leonie Jockusch

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Beschreibung

Es beginnt mit einem Umzug und endet in einem neuen Leben: Als ihre Familie beschließt, nach England auszuwandern, ist Jo glücklich. Denn in dem Küstenstädtchen Silver Glen hat sie nicht nur einen Großteil ihrer Kindheit verbracht, hier ist sie dem Meer, das sie so sehr liebt, auch deutlich näher als in ihrer alten Heimat Hamburg. Eines Abends entdeckt die 17-Jährige einen Jungen, der in schwindelerregender Höhe auf den Felsen am Strand herumklettert. Sie nennt ihn bald 'das Phantom', taucht er fortan doch immer wieder in ihrer Nähe auf. Als der Fremde ihr schließlich auflauert und sie eindringlich davor warnt, den Klippen nahe zu kommen, ist Jo verwirrt. Was will der Junge mit den eisblauen Augen nur von ihr? Hat er etwas mit den Einbrüchen in ihr Zimmer zu tun? Sind es womöglich seine Schritte, die sie im Dunkeln hinter sich hört? Erst als Jo im Meer zu ertrinken droht und er ihr das Leben rettet, kennt sie die Antworten. Und ihr wird klar: Stille Wasser sind tief - die vor Silver Glen ganz besonders.

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Leonie Jockusch

MEERESSCHATTEN

Roman

Für meine Kinder

Prolog

Finsternis. Plötzlich stand ich im Dunkeln. Die Tür hinter mir hatte sich lautlos geschlossen.

Ich schmiss mich dagegen. Mit dem bisschen Kraft, das ich noch besaß. Doch obwohl ich es so sehr wollte, war es mir nicht möglich, die Tür wieder zu öffnen. Ich war eingesperrt.

Die Luft um mich herum war dünn und modrig. Wie lange würde sie wohl reichen? Wann würde ich hier drinnen ersticken? Warum hatte ich bloß niemandem gesagt, wohin ich ging?

Ich schrie und schrie lauter, aber niemand hörte mich. Die Tatsache, dass ich jetzt gar nichts mehr sah, machte mich panisch. Ich wollte raus, raus, raus!

Angestrengt lauschte ich. Aber die unbarmherzige Stille nahm mir jede Hoffnung. Ich war gefangen. Allein in der Dunkelheit. Tief im Inneren des Berges.

1. KAPITEL

Das Phantom

Das Wasser war so herrlich warm. Es war der erste Freitag im September. Meine Freundinnen saßen auf den Kieselsteinen am Strand. Wir kamen häufig nach der Schule hierher, um zu schwimmen. Doch heute hatten Ellen und Kate keine Lust darauf. Kate war schlichtweg zu faul, um sich umzuziehen. Und Ellen murmelte kopfschüttelnd: »Das Meer ist unberechenbar.«

Glücklicherweise hatte ich es dennoch geschafft, ein paar Minuten für mich auszuhandeln. Und während ich das leise Plätschern der Wellen um mich herum genoss, wurde hinter mir am Ufer gezetert. »Diese Touris mit ihrem Badewahn«, spottete Kate.

Sie meinte mich. Sie wusste genau, dass ich es hasste, als Touristin bezeichnet zu werden. Immerhin verbrachte ich seit meinem sechsten Lebensjahr jeden Sommer in Silver Glen. Nach Hamburg war das Küstenstädtchen meine zweite Heimat. Und jetzt, da mein Vater eine Stelle als Trompeter an einem Londoner Theater angenommen hatte, würde ich fünfzehn Monate lang hier im Südosten Englands leben.

»Also, ich war nie so verrückt nach dem Meer wie Jo«, rief Ellen über das Rauschen der Wellen hinweg.

»Was? Dich hab ich doch auch nicht mehr aus dem Wasser gekriegt, als du frisch aus den Highlands kamst«, lachte Kate laut.

»Denkst du, wir hätten in den Bergen kein Wasser gehabt?«, fragte Ellen empört.

Ich fand, es war Zeit, außer Hörweite zu gelangen.

Die beiden Mädchen waren schon befreundet gewesen, bevor ich mich zu ihnen gedrängelt hatte. Dabei hätten sie nicht verschiedener sein können. Ellen Kirby kam aus Schottland. Ihr Akzent war so süß, dass ich ihr stundenlang zuhören konnte, obwohl sie ziemlich oft Blödsinn redete. Vielleicht hörte es sich für mich aber auch nur wie Blödsinn an, weil ich maximal die Hälfte ihrer Worte verstand. Über eine Sache verfügte Ellen im Übermaß: Vernunft. Deshalb sprachen wir sie stets mit »Miss Kirby« an. Kate Moorehead dagegen war stur und risikofreudig und hatte eindeutig Führungsqualitäten. Sie war eine echte Einheimische und von unserer ersten Begegnung an meine Freundin. Ich konnte mit ihr über alles reden – wenn sie nicht gerade eines ihrer kleinen Lieder vor sich hin sang, die grundsätzlich schmerzhaft schief klangen. Für mich waren Ellen und Kate ein bisschen wie Engelchen und Teufelchen. Und ich befand mich genau zwischen ihnen. Ich war weniger ängstlich und vernünftig als die eine, weniger laut und waghalsig als die andere.

Ich machte einige letzte Schwimmzüge. Die Mädels würden bald ungeduldig werden, wenn ich noch weiter hinausschwamm. Und dafür hatte ich Verständnis, denn Geduld war auch nicht gerade eine meiner Tugenden.

Zufrieden drehte ich um und betrachtete den Ort vom Wasser aus. Silver Glen war besonders. Das hatte ich schon als Kind gespürt. Es lag zwischen zwei riesigen Sandsteinhügeln, dem Fernhill und dem Ivy Hill. Beide waren um die 100 Meter hoch und auf beiden thronte eine saftige Grasfläche. Während der Ivy Hill bebaut war, gab es auf dem Fernhill nichts. Kein Haus, keine Straße, nur Gras, so weit das Auge reichte. Im Abendlicht leuchteten beide Hügel golden. Ein paar Sonnenstrahlen fielen auf die Promenade, die nahtlos mit der Stadt verschmolz und zwei Kilometer weiter zum legendären Pier führte.

Ich winkte meinen beiden Freundinnen zu. Rechts hinter ihnen, in dem Toilettenhaus auf dem Parkplatz, ging gerade das Licht aus. Mein Blick wanderte hoch zum Gipfel des Fernhill. Das Gestein glühte. Der Hügel war so beeindruckend, dass ich den Atem anhielt.

Und dann sah ich etwas. Einen Fleck, der sich bewegte. In meinem Gehirn begann es zu rattern: Nein, Quatsch. Das kann kein Mensch sein. Dorthin kann man doch gar nicht. Dort darf man nicht klettern.

Hatte ich vielleicht nur ein Staubpartikelchen auf der Netzhaut? Ich blinzelte. Nein, ein Baum war es nicht. Auch kein Busch. Kein Schild. Es war ein Mann. Weil sich seine helle Kleidung kaum vom Gestein abhob, ließen sich seine Konturen nur schwer ausmachen. Lediglich sein pechschwarzes Haar war deutlich zu sehen, es wehte im Wind. Der Mann war dem Berg zugewandt, sodass ich ihn nur von hinten sah. Konzentriert kniff ich die Augen zusammen. Was machte er dort oben? Kletterte er am Felsen herum oder stand er auf einem schmalen Vorsprung?

»Hey!«, rief ich und senkte für eine Sekunde den Blick zu Kate und Ellen. »Seht mal, dort oben!«

Ich zeigte hoch, aber der Mann war verschwunden.

Oh nein! Er musste abgestürzt sein! Schnell paddelte ich aus dem Wasser und rannte barfuß und im Bikini über den Strand in Richtung Parkplatz.

»Jo, warte! Wo willst du denn hin?«, rief Ellen mir nach.

Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Wenn dieser Typ vom Fernhill gefallen war, dann musste ich sofort Hilfe holen.

Kate verfolgte mich mit meinem Badetuch und warf es mir über die Schultern, während ich über den Parkplatz hetzte. Ich wickelte es fest um mich, bevor ich bei der Felswand ankam.

Aber … wo war er? Hechelnd blieb ich stehen und krallte meine Finger in das Handtuch. Der Wind im Schatten des Hügels war eiskalt. Aufgebracht sah ich mich um und suchte zwischen den Sträuchern am Fuße des Berges nach dem Verletzten. Doch nichts. Kein Mensch im Ganzen, kein Mensch in Teilen. Nichts.

»Verrätst du mir, was das jetzt sollte?«, fragte Kate und ließ ihre smaragdgrünen Augen auf mir ruhen. Ihr schneeweißes Gesicht war bedeckt mit Sommersprossen, die Locken glühten feuerrot. Optisch wäre sie gut und gern als Fee durchgegangen.

Besorgt sah ich nach oben. Hing der Typ etwa noch auf der Hälfte des Berges fest? »Siehst du da irgendjemanden?«, fragte ich Kate. »Irgendetwas?«

Sie scannte summend den Hügel und sagte schließlich: »Stein.«

Endlich kam auch Ellen angerannt, unsere drei Taschen in der Hand. Ich warf einen kurzen Blick auf ihren blonden Bob, der munter auf und ab wippte. Sie war einen halben Kopf größer als Kate und ich und baute sich vor uns auf. Aus braunen Knopfaugen sah sie fragend auf uns herab. »Wird das eine Art Beach-Marathon?«

Ich nahm ihr dankbar meine Sachen ab und begann, mich an Ort und Stelle umzuziehen. »Tut mir leid«, entgegnete ich, während ich versuchte, mir mein Kleid überzustreifen. Das aber klebte an meiner nassen Haut und rollte sich immer wieder ein. »Ich dachte, ich hätte da einen Bergsteiger gesehen.«

»Ausgeschlossen«, behauptete Ellen und half mir dabei, das Kleid über den Hintern zu ziehen.

Ellen hatte ihre bisherige Zeit in Silver Glen gut genutzt und viel über die Stadt in Erfahrung gebracht. Hinter ihrer hohen Stirn lagerten jede Menge Infos über berühmte Bauten und Persönlichkeiten, Verwaltung und Fischerei. Das kam uns jetzt zugute.

»Hier darf man nicht klettern. Der Hügel besteht aus Sandstein, Jo«, erklärte sie. »Das Material ist viel zu brüchig, um daran herumzuturnen. Sieh doch!« Sie drängelte sich an den Büschen vorbei zur Felswand und rieb mit dem Zeigefinger daran. »Hier«, sagte sie melodiös wie bei einer Werbepräsentation. »Man muss nur ein bisschen kratzen und schon fällt der ganze Berg auseinander.«

Erstaunt öffnete ich den Mund. Es war zwar nicht der ganze Berg, der sich unter Ellens rosa Fingernagel auflöste, aber es rieselte tatsächlich etwas Sand auf den Boden.

»Vielleicht habe ich ein Gespenst gesehen«, flüsterte ich. »Ein Phantom.« Nachdenklich begann ich, meine nassen Haare zu kneten. »Es wirkte nur so verdammt lebendig.«

»So etwas nennt man Hunger-Halluzinationen«, schloss Kate. »Miss Kirby hat eben auch schon was von Nahrung gefaselt.«

Wortlos setzten wir drei uns in Bewegung, um etwas zu essen aufzutreiben. Nur einige Gehminuten entfernt tummelten sich bunte Kutter am Strand. Und an der Promenade dahinter reihten sich Fischrestaurants aneinander.

Nachdem wir im Gehen eine Portion Fish and Chips verdrückt hatten – englisches Essen war nun wahrlich kein Grund für eine Einbürgerung –, verabschiedeten wir uns herzlich voneinander. Ellen lief die Küstenstraße entlang, die an dem prachtvollen Pier vorbei und weiter in den nächsten Badeort führte. Kate stieg in den Bus und ich bog ab in die Silver Glen Road, die breite Hauptstraße, die sich zwischen der Stadt und dem Fernhill entlangschlängelte und schließlich ins Hinterland führte. Auch hier, in der vergleichsweise engen Wohnsiedlung, wurde man ständig daran erinnert, dass man sich an der Küste befand. Denn die Luft roch salzig und die Möwen kreischten laut.

»Ihr wisst, dass ich London mag«, hatte ich meinen Eltern erklärt, als sie mir im Frühling von unserem Wegzug aus Hamburg erzählt hatten. »Für ein Wochenende ist es die aufregendste Stadt der Welt. Aber wenn ich dort so richtig leben müsste, würde ich die Krise kriegen.« Ich wollte keinesfalls in der Metropole wohnen. Lärm, Hektik und Gestank entsprachen nicht meiner Vorstellung von einem perfekten Zuhause. »Ich kann doch zu den Talbots ziehen. Nach Silver Glen«, hatte ich vorgeschlagen.

Dad war entsetzt gewesen. »Unser kleines Mädchen«, hatte er gesagt und fassungslos meine Mutter angeschaut.

»Sie ist schon siebzehn«, hatte die nur gegähnt.

»So weit weg«, war es keuchend aus seinem Mund gekommen.

»Es sind doch kaum 100 Kilometer.«

»In einer fremden Stadt am Meer!«

»Wir haben unsere letzten zehn Sommer dort verbracht, Schatz.«

Mum – es war nur konsequent, sie so zu nennen, da ich meinen Vater jetzt mit »Dad« ansprach – hatte meine Idee fabelhaft gefunden. Sie war einfach nicht der Gluckentyp. Zudem war die Londoner Wohnung, die das Theater für uns organisiert hatte, nicht nur irrsinnig teuer, sondern auch kriminell klein. Deshalb hatte sie nichts dagegen, mich als Mitbewohnerin loszuwerden. Sie hatte zwar beteuert, dass sie mich fürchterlich vermissen würde, war aber gleichzeitig so überzeugend in ihrer Argumentation gewesen, dass auch mein Dad irgendwann begonnen hatte zu glauben, sein kleines Mädchen sei in einer ruhigen Kleinstadt besser aufgehoben als im bösen gefährlichen London.

Mit meinem Zwillingsbruder Tom hatten es meine Eltern auch nicht leichter gehabt. Er hatte sich eine ganze Weile gesträubt, Hamburg zu verlassen, obwohl das Auslandsjahr eigentlich ganz gut in sein Leben passte. Er war Single – so wie ich – und sein bester Freund war gerade für ein Jahr nach Amerika gegangen. Trotzdem war es Tom schwergefallen, sich von unserer Heimatstadt zu trennen. Es hatte eine Weile gedauert, ehe er nachgegeben hatte – London war laut und bunt und Tom eben ein Großstadt-Fan. Tja, wir waren uns nicht besonders ähnlich!

Als ich den Windmill Way hinauflief, erblickte ich von Weitem das kleine Reihenhaus, in dem ich wohnte. Es gehörte John und Paula Talbot. Sie waren Anfang vierzig, lustig, herzlich und extrem entspannt. Meine Eltern hatten sie bei einem unserer ersten Urlaube kennengelernt. Zur Zeit durfte ich ihr geliebtes Dachzimmer bewohnen, von dem aus man Paulas duftenden Garten und einen Zipfel des Ivy Hills sehen konnte. Die Talbots hatten mich aufgenommen wie ein echtes Familienmitglied. Und sie waren es auch gewesen, die mich von Johanna in Jo umgetauft hatten. Zuerst war ich damit überfordert gewesen. Ich hatte gefunden, dass Jo nach einem dreckigen Cowboy aus einem schlechten Western klang. Erstaunlicherweise hatte ich mich dennoch schnell an meinen neuen Namen gewöhnt.

Paula und John saßen mit ihren Kindern Mona und Jamie vor dem Fernseher, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann verschwand ich zwei Stockwerke weiter oben in meinem kuscheligen Zimmer.

Im Bett grübelte ich erneut darüber nach, was ich am frühen Abend gesehen hatte. Ich konnte den Gedanken an diesen Menschen am Fernhill nicht abschütteln.

Der Einzige, der mir helfen konnte, war mein Bruder. Das sagenumwobene magische Band zwischen Zwillingen besaßen auch wir – nur zeigte es sich bei uns anders als gewöhnlich. Manche Zwillinge können sich stumm verständigen, andere werden gemeinsam krank oder wachen stets zur selben Zeit auf. Mein Bruder und ich verband etwas viel Ungewöhnlicheres. Tom war ein unglaublich talentierter Zeichner. Er zeichnete fast nie, was er gesehen hatte, sondern immer nur das, was er sich vorstellte – oder genauer: das, was ich mir vorstellte. Wovon ich ihm auch erzählte, er brachte es exakt so aufs Papier, wie ich es im Kopf hatte. Weil das total abgefahren war, hatten wir uns schon früh darauf geeinigt, diese Sache für uns zu behalten. Wir nahmen an, dass uns niemand glauben würde. Nicht einmal unsere Eltern.

Ich wählte Toms Nummer und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Genau beschrieb ich die Situation, die in meinem Kopf umhergeisterte. Danach schlief ich ein.

Am nächsten Morgen ging ich hinüber in das Nachbarhaus. Es gehörte Paulas Bruder Greg. Er arbeitete vorwiegend in Frankreich und kam nur noch selten nach Silver Glen. Wir kannten uns schon mein halbes Leben, deshalb hatte er mich gebeten, nach seiner Post zu sehen, und mir seinen Schlüssel anvertraut. Im Gegenzug durfte ich seinen Rechner benutzen und gelegentlich Filmabende in seinem Haus veranstalten. Meine Freundinnen liebten das Wohnzimmer und den monströsen Fernseher. Und auch ich fühlte mich pudelwohl in den Räumen mit der schlichten Einrichtung in warmen Erdtönen.

Ich checkte meine E-Mails. Als ich die Nachricht von Tom öffnete, erschien auf dem Bildschirm der gezeichnete Fernhill. Daran klebte mein Phantom. Es hatte die richtige Statur. Sogar die Haare waren perfekt getroffen. Halblang und wuschelig. Tom war genial.

Ich bekam eine Gänsehaut.

*

»Komm schon, Jo«, sang Kate ungeduldig, als ich sie am Nachmittag am Strand traf. »Selbst wenn da jemand war, es kann ihm nichts Schlimmes passiert sein.«

Fragend betrachtete ich den Fernhill. Ich war immer wieder von ihm fasziniert und davon, wie er dem wilden Meer trotzte. Wann immer ich an ihm hochsah, entdeckte ich mir unbekannte Linien an seinen Wänden. Mal Kreise, mal Streifen. Heute ließ das Sonnenlicht das Gestein glitzern.

»Wir hätten ihn doch sonst vom Boden aufgekratzt«, fuhr Kate fort.

Ein Seufzer entwich mir. Kate drehte mich an der Schulter zu sich herum, ihre grünen Augen waren wunderschön. Vielleicht sollte ich mich mal nach Kontaktlinsen umsehen. Ich brauchte dringend eine neue Augenfarbe.

»Vergiss es einfach, Jo. Wir haben Wichtigeres, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssen.«

Ich zog meine rechte Augenbraue hoch.

Kate lachte kurz, dann sah sie mich auf einmal schmerzverzerrt an. »Wie um Himmels willen«, klagte sie, »sollen wir dich mit Colin verkuppeln?«

Laut stöhnte ich auf. »Oh, bitte! Hör endlich auf damit!«, bat ich sie.

»Jo«, brummte sie tief und kniff ihre Augen zusammen, »du willst ihn doch!«

Flehen hin oder her: Kate war Kate und kannte kein Erbarmen. Ich ließ mich auf mein Handtuch fallen, was ziemlich schmerzvoll war, da sich darunter ausschließlich Steine befanden. »Er ist süß!«, gab ich zu.

Unser Mitschüler Colin Wood war ein Gentleman. Er hielt uns die Türen auf, brachte uns Aufgabenzettel vom Lehrerpult mit und war nicht gerade sparsam mit seinem Grübchen-Lächeln.

Kate setzte sich zu mir und grinste vielsagend. »Du stehst doch auf Typen mit Silberblick. Obwohl … Colin schielt ja fast.«

Ich schaute sie vorwurfsvoll an. »So ein Quatsch. Das ist genau die richtige Dosis!« Ups, jetzt hatte ich ihn auch noch verteidigt.

»Und er ist Musiker«, säuselte Kate.

Ich seufzte – vielleicht ein kleines bisschen zu schwärmerisch.

»Übrigens habe ich gestern erfahren, dass er nicht nur Gitarre spielt, sondern auch Klavier. Wie du. Wenn das kein Zufall ist!«, setzte meine Freundin hinzu.

»Oh!«

»Also, wozu hast du dein E-Piano aus Deutschland mitgebracht, wenn nicht um mit Schielauge darauf zu spielen?«

»Ein Klavierstück?«, überlegte ich laut. »Vierhändig?«

Kates Grinsen wurde unerträglich. »Mit vier Händen kann man doch mehr anfangen, als nur Mozart zu klimpern!«, wisperte sie mir ins Ohr.

»Lass mich endlich in Ruhe, du böses Mädchen!«, rief ich gespielt entrüstet.

Plötzlich ertönte die Marseillaise. Hektisch wühlte ich in meiner viel zu großen Tasche und zog das viel zu kleine Handy hervor.

»Die französische Nationalhymne?«, rief Kate entsetzt.

»Ich … ähm«, stotterte ich. »Die britische war mir als Download zu teuer.«

Kate schüttelte sich angewidert.

»Beruhig dich und guck dir das Meer an«, kicherte ich und zeigte aufs Wasser.

Kate beendete ihr Schnauben, indem sie die Lippen aufeinanderpresste. Sie sah so albern aus. Mittlerweile konnte ich vor Lachen kaum noch sprechen.

»Frankreich ist da drüben, schau!« Ich hielt mir das Handy ans Ohr und nahm den Anruf entgegen. »Hey, Miss Kirby. Was gibt’s?«

Ellen redete so schnell, dass ich kein einziges Wort verstehen konnte.

Kate nickte in Richtung Telefon. »Frag sie wegen heute Abend, Jo.«

»Ellen, wir leihen uns einen Film aus und sehen ihn uns bei Greg an. Bist du dabei?«, wollte ich wissen.

»Ja«, gab sie ungewohnt kurz zurück.

Na also, es ging doch!

Wir verabredeten uns für sieben Uhr. Das Handy verschwand wieder in meiner Großraumtasche und Kate und ich erhoben uns.

»Ich kaufe uns was zu knabbern und du besorgst den Film«, bestimmte Kate.

»Dafür, dass du aussiehst wie eine Elfe, bist du ziemlich dominant«, stellte ich fest.

Während Kate ein paar Schritte ging, blieb ich stehen. »Kommst du nicht?«, fragte sie mich, als sie bemerkte, dass ich mich nicht bewegte.

Ich war hin und her gerissen. Natürlich wollte ich einen Film aussuchen – Kate hatte einen miserablen Geschmack, was das betraf –, aber ich musste unbedingt noch einmal den Fernhill unter die Lupe nehmen. Am liebsten allein und ungestört, ohne schlaue Kommentare.

»Ich komme nach. Wir treffen uns in einer halben Stunde an der Videothek«, antwortete ich und drückte Kate fest.

Sie verzog den Mund. »Okay. Dann pass aber auf, dass du hier nicht festwächst. Bis später!« Schmunzelnd und mit erhobenem Zeigefinger rauschte sie davon.

Einen Moment lang beobachtete ich die Wellen, die mir heute besonders hoch vorkamen. Dann wandte ich mich meinem Lieblingsberg zu und suchte erneut nach meinem Handy. Als ich es gefunden hatte, wählte ich die Kamerafunktion. Ellen hatte mich mal wegen des x-fachen Zooms beneidet, von dem ich noch nie Gebrauch gemacht hatte.

Aufmerksam betrachtete ich das Display und tippte so lange auf »Vergrößern«, bis sich das Bild nicht mehr änderte. Zentimeterweise bewegte ich das Telefon nach rechts, nach unten, nach links und wieder nach oben. Meine Augen wurden ganz trocken, weil ich dabei kaum blinzelte.

Dann sah ich etwas. Endlich! Mein Körper wurde steif vor Spannung. Es war beige wie der Berg, aber seine Struktur war anders. Ich entdeckte lange geschwungene Streifen. »Eine Holzmaserung«, hörte ich mich selbst flüstern. Und auf einmal begriff ich: Da war eine Tür, mitten in der Felswand. Es war also keine Einbildung gewesen, ich hatte wirklich jemanden gesehen und er war durch diese Tür verschwunden. Aber wohin? Diese Tür konnte einen nirgendwohin bringen! Es sei denn … sie führte in das Innere des Fernhills.

Ich fotografierte meine Entdeckung ein paarmal und sah mir die Bilder an. Doch die Qualität war so schlecht, dass sich nichts erkennen ließ. Verärgert schritt ich über den Parkplatz und näherte mich dem Hügel. Dabei blickte ich mich immer wieder um. Es musste ja nicht jeder sehen, dass ich wie eine Urlauberin herumknipste.

Leider konnte ich von der geheimnisvollen Tür immer weniger sehen, je näher ich dem Fernhill kam. Sie lag einfach zu hoch oben.

»Allons enfants de la patrie«, schallte es plötzlich aus meinem Handy. Vor Schreck stolperte ich fast. Vielleicht war es wirklich Zeit für einen neuen Klingelton.

»Jo, wo bist du denn?«, fragte Kate. »Ich stehe hier vor der Videothek. Komm endlich her! Sonst suche ich den Film allein aus.«

Das war eine Drohung, die wirkte. So schnell, wie es nur ging, lief ich in Richtung Altstadt. Sonst schlenderte ich gemächlich durch die kleinen Gassen, in denen es nach Fisch roch und die von urigen Straßenlaternen, verwinkelten Häusern und düsteren Pubs gesäumt waren, aber jetzt hatte ich es eilig. Die meisten Geschäfte waren bereits geschlossen. Als ich bei der Videothek ankam, verriegelte der Betreiber gerade die Eingangstür.

»Pech gehabt!«, hänselte mich Kate.

Ich hatte tatsächlich Pech. Denn Kate hatte die drei Sissi-Filme mit englischer Synchronisation ausgeliehen. »You are the Empress of Austria, Sissi. Please not forget that!« Zumindest war Ellen damit glücklich. Und ich schlief zum Glück noch vor der pompösen Hochzeit ein.

2. KAPITEL

Nächtliche Geräusche

Nach einer Nacht auf Gregs Couch schlurfte ich am Sonntagmorgen völlig zerknautscht in meinen deutschen Qualitäts-Hausschuhen zu Gregs Tür hinaus und durch die der Talbots hinein.

Die Talbots schlossen ihre Haustür nie ab, was mich schon bei meinem Einzug beschäftigt hatte. Auf meine Frage, ob man sie nicht zumindest nachts verschließen sollte, hatte John mit den Worten »Hier passiert nichts!« reagiert. Zum Glück befand sich mein Zimmer im Dachgeschoss und so klammerte ich mich an den Gedanken, dass ich die Letzte sein würde, die bei einem Überfall dran glauben müsste. Zudem tröstete es mich, dass sich direkt unter meinem Fenster eine eiserne Feuerleiter befand, über die ich im Notfall flüchten konnte. Dass man an ihr nicht nur abwärts-, sondern auch hinaufklettern konnte, verdrängte ich gern.

Die Talbots schienen noch zu schlafen. Zielstrebig steuerte ich auf das Badezimmer zu, während ich versuchte, meine rettungslos verknoteten Haare auseinanderzuzupfen. Dabei griff ich wiederholt in scharfkantige Chipskrümel. In Vorfreude auf eine lange heiße Dusche öffnete ich die Tür – und machte einen Satz nach hinten. Die kleine Mona lächelte mich ertappt an. Zu ihren Füßen lag ein Teppich aus goldenen Haarsträhnen. Die, die noch an ihrem Kopf hingen, waren unterschiedlich lang und zeigten in alle Himmelsrichtungen.

»Süße, was hast du getan?«, fragte ich erschüttert. Schnell bemühte ich mich, die Haarreste einzusammeln. Irgendetwas Braunes klebte daran. »Ist das Schokolade?«, rief ich bestürzt, aber da roch ich es bereits. »Nagellack?«, fragte ich verständnislos.

»Ich wollte auch so schokobraunes Haar haben wie du, Jo. Aber es sah nicht so gut aus, deshalb hab ich es abgeschnitten.«

*

»Hast du heute schon Pläne?«, fragte John mich später beim Frühstück. Er saß mir gegenüber.

Natürlich hatte Kate mich schon zu einer verabredeten Zeit an einen verabredeten Ort bestellt. »Am Nachmittag treffe ich die Mädchen im Park.«

»Nanu«, staunte Paula. »Nicht am Strand?« Sie sah mich verdutzt an. Ihre braunen Locken verdeckten die grauen Augen fast vollständig.

Ich wunderte mich auch über Kates Idee, im Parksee zu baden. Sie hasste Seen. Schleimige Dreckslöcher, nannte sie diese Art von Gewässer üblicherweise.

John legte sein Brot ab und fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Dann könnten wir doch an einem anderen Wochenende mal was zusammen unternehmen«, schlug er vor und richtete seine Augen erwartungsvoll auf mich. Es war das erste Mal, dass er vorsichtig eine »Familienaktion« einforderte.

Ich war gerührt, deshalb nickte ich lächelnd. »Sehr gern.«

»Und Jo darf entscheiden, wohin es geht!«, rief der kleine rotblonde Jamie begeistert.

»Ich möchte gern auf den Fernhill«, verkündete ich.

Mona tippte mich von der Seite an. »Gehst du heute mit mir zum Friseur?«, fragte sie mit einem Oscar-reifen Augenaufschlag. »Ich möchte wieder hübsche Haare haben.«

Was für ein Glück, dass in Silver Glen sonntags alle Läden geöffnet hatten.

Eine Stunde später saß ich an einem Bistrotisch im Schaufenster des Friseursalons von Paulas Freundin Sally. Mona wurde gerade mit Erdbeershampoo bearbeitet, was mir die Gelegenheit gab, Tee schlürfend in britischen Magazinen herumzublättern.

Als ich einen kurzen Blick nach draußen warf, erspähte ich schräg gegenüber in der Fußgängerzone einen Mann in beigefarbener Kleidung und mit schwarzem Hut.

Ich erstarrte. Das war doch mehr als unwahrscheinlich, oder? Ich lehnte mich vor und sah genauer hin, er ging zügig. Seine Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig zugleich. Kurz bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand, nahm er seinen Hut ab und fuhr sich durch die … pechschwarzen, halblangen Wuschelhaare!

Ich warf die Zeitschrift auf den Tisch und rief: »Mona, ich bin gleich zurück. Ich muss zur Post!«

Sie nickte desinteressiert. Bei Sally war sie in guten Händen.

Ich stürmte aus dem Salon und rannte in die Richtung, in die der Typ gegangen war. Selbstverständlich gab es haufenweise Männer mit schwarzen Haaren, aber ich glaubte ganz sicher, dass dies hier derjenige war, den ich am Fernhill gesehen hatte. Der, der sich einfach in Luft aufgelöst hatte. So wie auch jetzt.

Ich stand inmitten von Shopping-Wütigen und hielt Ausschau nach ihm. Wo war er bloß? Verärgert stampfte ich mit dem Fuß auf. Wenn ich ihn verloren hatte, konnte ich auch gleich in den Salon zurückkehren.

Ich lief ein paar Meter, dann passierte etwas in mir. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich. Das Gefühl, dass er sich ganz in meiner Nähe befand. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Tatsache, da war er. Schnell riss ich den Kopf wieder herum. Was sollte ich tun? Ich ordnete meine Haare, dann drehte ich mich erneut um. Der Fremde war bereits weitergegangen, seinen Hut hatte er wieder aufgesetzt. Jetzt musste ich mich beeilen. Als ich zu ihm aufgeschlossen hatte, verlangsamte ich mein Tempo.

Sollte ich ihn jetzt ansprechen? Sollte ich ihn fragen, ob er vor zwei Tagen am Berg gehangen hatte? Wie dämlich war das, bitte? Und selbst wenn er dort gewesen war, was ging mich das eigentlich an? Auf einmal wusste ich nicht mehr, was das Ziel dieser Verfolgungsjagd sein sollte. Natürlich würde ich ihn nicht ansprechen.

Unentschlossen blieb ich stehen. In diesem Moment hielt auch er an. Hatte er mich hinter sich gespürt? Der Gedanke daran war beklemmend. Es fühlte sich an, als würde jemand auf meinen Brustkorb drücken. Was, wenn er mich entdeckte? Wenn er mich ansah? Mein Herz trommelte. Ich bekam einen Schweißausbruch. Er war kaum zwei Meter von mir entfernt und präsentierte mir seinen breiten Rücken.

Geh doch weiter!, dachte ich, doch er rührte sich nicht. Sein Innehalten machte mich noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Ich erstarrte zu Eis und mein Kopf begann zu kribbeln, weil ich nicht ausatmen konnte. Mein Atmen war zu laut – und er durfte mich nicht hören. Ich wollte so schnell wie möglich zum Salon zurücklaufen, aber es ging nicht, meine Muskeln waren taub. Unerträgliche Sekunden vergingen, bis das Phantom endlich weiterlief.

Erst als circa fünf Meter zwischen uns lagen, atmete ich geräuschvoll aus und huschte in einen Hauseingang. Mit dem Rücken drückte ich mich an eine rot gestrichene Tür. Der Fremde bog um die nächste Ecke.

*

Von allen Parks in Silver Glen war der Montgomery Park der wichtigste, weil er so zentral lag. Wenn man von einem Ende der Stadt zum anderen gelangen wollte, konnte man durch die große verwinkelte Grünanlage laufen.

Obwohl es noch sommerlich warm war, kündigte sich in den Baumkronen schon der Herbst an. Viele Blätter hatten sich bereits gefärbt und leuchteten bunt im Sonnenlicht. Ich lief den Weg zum Seeufer entlang und musste die ganze Zeit an den mysteriösen Mann denken.

Er war mir unheimlich, aber dennoch hatte ich das Bedürfnis, sein Gesicht zu sehen. Ich würde Kate von ihm erzählen, aber erst, wenn ich mit ihr allein war. Meine anderen Mitschülerinnen brauchten nicht zu wissen, dass ich einem Gespenst hinterherjagte.

Endlich vernahm ich drei vertraute Stimmen. Sie gehörten unserer Streitschlichterin Anne Fuller, der zurückhaltenden Leela Charya und Maggie Harewood, dem freundlichen Klassenbiest von nebenan.

»Gib mir das Buch zurück!«, kreischte die sonst eher wortkarge Leela.

Ich wusste sofort, worum es ging. Wenngleich meine Sicht von Büschen versperrt wurde, so konnte ich vor meinem inneren Auge doch sehen, wie jemand mit Leelas Tagebuch hin und her rannte. Sie hatte es immer bei sich und schrieb in den Unterrichtspausen hinein. Es war ihr Heiligtum.

»Komm schon, Maggie!«, versuchte Anne zu vermitteln.

Anne war von Natur aus blass, kräftig und athletisch. Sie war die Einzige, auf die Maggie hörte. Ich stellte mir vor, wie sie sich vor Maggie aufbaute.

»Gib es ihr wieder. Du würdest auch nicht wollen, dass wir in deinem Gefühlsleben herumschnüffeln«, sagte Anne mit fester Stimme.

Sowie die drei mich kommen sahen, warf Maggie das Tagebuch auf Leelas Handtuch und rieb sich demonstrativ die Hände an ihrer Caprijeans ab.

»Ich habe gar kein bescheuertes Tagebuch!«, fauchte sie, ihre hellbraunen Haare zurückwerfend. Sie war groß und dürr und ein echtes Temperamentsbündel. »So etwas brauche ich nicht!«

Ich musste grinsen. »Dafür machst du von allem und jedem zigtausend Fotos. Ist das nicht irgendwie das Gleiche?«, fragte ich Maggie, die nirgends ohne ihre sündhaft teure Kamera auftauchte, für die sie zwei Jahre lang gespart hatte.

Sie kniff den Mund zusammen und setzte sich wortlos.

Leela hatte sich sofort auf ihren Schatz gestürzt und ihn an sich gedrückt. Immer, wenn ich sie ansah, musste ich an ein scheues Reh denken. Das mochte daran liegen, dass sie für ihre sechzehn Jahre sehr klein und zierlich war. Ihr langes Haar war kohlrabenschwarz und ihr indischer Dad hatte ihr ein paar umwerfende dunkle Augen vererbt. Es war schwer zu erraten, was dahinter vor sich ging.

»Hey«, versuchte Anne erneut, Frieden zu stiften. »Nur weil ihr beide alles für uns festhaltet, brauchen wir anderen bald kein Gedächtnis mehr. Das ist fabelhaft! Danke!« Kunstvoll faltete sie ihre Beine zum Schneidersitz.

Maggie und Leela rangen sich ein müdes Lächeln ab. Keine gab ein Wort von sich.

Das war meine Chance. Ich breitete mein Handtuch aus und ließ mich darauf fallen. »Wo sind Ellen und Kate?«, fragte ich in die Stille, die nur von Vogelgezwitscher durchbrochen wurde.

»Ellen ist heute mit ihren Eltern unterwegs und Kate ist zu der Imbissbude gerannt«, antwortete Anne und deutete hinüber zum anderen Ende des Seeufers.

Ich nickte und schrieb eine SMS an Tom: »Phantom verfolgt. So groß wie du. Etwas breiter. Kräftiger Rücken. Kubanischer Sonnenhut.«

Ich drückte auf »Senden«, da kam Kate angeschlendert.

»Hey, Jo. Da bist du ja.«

»Ja, aber wo warst du?«, lachte ich.

»Äh, ich hatte Hunger«, erwiderte sie.

Ich betrachtete ihre leeren Hände. »Wo ist das Essen?«, fragte ich verwundert.

»Die … hatten heute nichts beim Imbiss«, stammelte Kate und setzte sich auf einen Baumstumpf.

Nichts zu essen beim Imbiss?

»Aha«, entwich es mir. Kate kam mir etwas merkwürdig vor. Grübelnd zog ich mein Kleid aus und stellte mich im Bikini vor die anderen. »Also, wer kommt mit ins Wasser?«, fragte ich herausfordernd.

Keiner antwortete. Stattdessen sah ich, wie sich vier Augenpaare an mir vorbei, auf etwas am anderen Ende des Ufers richteten. Im selben Moment erschallten die Rufe und das Getrampel von mehreren Jungen, die sich ein Wettrennen lieferten. Ich spähte nach meinem Kleid, aber es war zu spät. Zwar war ich nicht verklemmt, aber dennoch war es mir ausgesprochen unangenehm, dass die anderen vier Mädchen vollständig bekleidet am Boden saßen, während ich halb nackt vor ihnen stand.

»Hallo, Jo!«, hörte ich Colin rufen.

Großartig! Auf einmal wusste ich, warum Kate unbedingt hatte herkommen wollen und warum sie jetzt so wahnsinnig dämlich grinste.

»Vielen Dank auch, du Hexe!«, zischelte ich ihr zu.

Danach drehte ich mich so gelassen wie möglich um und sah in die amüsierten Gesichter von sechs gut aussehenden Jungen. Der mit den hellbraunen Nougataugen und den Grübchen hätte eine Umarmung verdient gehabt, so hübsch war er. Es war Colin, der Colin, eins achtzig groß und sportlich. Sein Haar schimmerte herrlich golden in der Sonne. Es war ein bisschen länger als bei den anderen Jungen und unter Garantie wuschelte er jeden Morgen mit Gel darin herum – was sich lohnte, wie ich fand. Er trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift »Quench the Fire« und sah einfach traumhaft aus, auch wenn Kate hinter mir leise »Tatütata« sang.

Die Horde zog sich wie auf Knopfdruck aus und sprang ins Wasser.

»Noch mehr Wettkämpfe?«, stöhnte Maggie, als die Jungen mit Spielchen wie »Wer kann am längsten tauchen?« anfingen.

Die Köpfe der Jungen verschwanden gleichzeitig unter der Wasseroberfläche und Kate ächzte genervt: »Wann begreifen die endlich, dass sie uns mit so etwas nicht imponieren können?«

»Jungs sind so blöd!«, jammerte Maggie gedehnt.

»Aber süß!«, seufzte Anne, als die sechs mit nassen Haaren und Wimpern wieder auftauchten.

Ich setzte mich hin und griff nach meinem Kleid.

Colin kam als Erster wieder aus dem See, er schüttelte sich trocken und baute sich vor mir auf. »Darf ich?«, fragte er höflich, dabei zeigte er auf den Platz neben mir.

Ich stutzte. Mein Handtuch war nämlich alles andere als groß. Anstatt zu antworten, tat ich, was ich so oft tat: Ich spielte mit meinen Haaren. Ich liebte meine Haare, weil sie immer für mich da waren. Meist trug ich sie offen. Wenn ich nachdachte, rupfte ich an ihnen. War ich verlegen, wickelte ich sie um meine Finger. War ich erschüttert, konnte ich mich daran festhalten. Wollte ich Zeit gewinnen – so wie jetzt –, dann betrachtete ich prüfend die Spitzen. Schließlich nickte ich mit einem unverbindlichen »Hm, hm«.

Colin setzte sich elegant.

Fragend schaute ich zu Kate hinüber, deren Blick von mir über den See und anschließend hinab auf ihr Buch wanderte. Der Roman schien ungeheuer spannend zu sein.

»Ich wusste gar nicht, dass du Klavier spielst«, sagte Colin interessiert. Er hatte mir das Gesicht zugewandt.

»Ich spiele nur ein bisschen«, erwiderte ich knapp. Normalerweise bereitete ich mich auf Dates vor. Ich war nicht sonderlich spontan. Ich hoffte, die kurze Info würde Colin reichen.

Sie tat es nicht. »Und was spielst du so?«, fragte er.

Gut. Dann improvisieren.

»Ein paar Etüden und so. Die Impressionisten.«

Colin lächelte, ich sah nur noch Grübchen. Wie waren die dahin gekommen? »Schreibst du auch selbst Lieder?«, wollte er wissen und irgendwie kam sein Knie dabei meinem näher.

Ich starrte auf die schmale Lücke zwischen uns. »Das hat mich noch nie jemand gefragt. Aber, ähm … ja, manchmal. Ich glaube allerdings, das ist dann bloß ein Mischmasch aus dem, was ich sonst so spiele.« Verlegen lächelte ich.

Unsere Knie berührten sich nun. Wie war das noch? Kam nach einer solchen Berührung nicht gleich der erste Kuss?

Colins Gesicht näherte sich meinem, er hauchte: »Spielst du mir mal etwas von dir vor?«

Hitzewallung.

»Ich weiß nicht«, presste ich mühevoll heraus.

Colin war in allem der Beste. Vor allem im Sport. Er lief am schnellsten und sprang am höchsten und am weitesten. Und als wäre das nicht genug, schwamm er auch noch wie ein Fisch. Leider konnte er nie an den großen Schwimmwettkämpfen teilnehmen, die regelmäßig vor der Küste stattfanden, weil er unter einer seltenen Hautkrankheit litt.

Er durfte sich immer nur ein paar Minuten am Stück im Salzwasser aufhalten, damit er keine Allergieschübe bekam. Das hatte Kate mir mal erzählt. Trotzdem, er war einfach der geborene Superlativ und ich fürchtete, dass er auch im Klavierspielen ein Genie sein würde.

Ich sah besorgt zu dem Mädchen hinüber, das sich meine Freundin nannte. Kate sollte mir jetzt, verdammt noch mal, aus der Patsche helfen. Aber sie hatte nur Augen für die vielen blöden Buchstaben in ihrem Buch.

Mittlerweile hatte das grüne Kleid in meinen Händen, das ich mir noch immer nicht übergeworfen hatte, die Form eines kompakten Knäuels angenommen.

»Komm schon«, flüsterte Colin.

Ich sah ihn wieder an. Er hatte sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von mir weggedreht, die Augen noch auf mich geheftet. Da war er wieder, dieser gnadenlos entwaffnende Silberblick. Ich war machtlos.

»Okay«, antwortete ich.

Er grinste mich dankbar an und stand auf, um sich anzuziehen. Seine Hightech-Badehose war anscheinend schon getrocknet. Denn einer seiner Freunde hatte ihm seine Jeans zugeworfen und er zog sie einfach darüber. Ich wollte nicht so genau hinschauen. Ich streifte mir schnell mein zerknittertes Kleid über und erhob mich ebenfalls. Mein Blick ruhte auf seinem Rücken, der breit und v-förmig war. Colins gesamter Körper bestand aus Muskelpaketen. Die hatte er sicher vom vielen Schwimmen bekommen.

Ich sog die Luft hörbar durch die Nase ein. Und auf einmal wurde mir klar, dass ich solch ein Kreuz schon heute Vormittag gesehen hatte – wenn auch bekleidet. War mein Phantom vielleicht auch ein Schwimmer?

»Ich hole nachher die DVD von dir ab, die muss heute unbedingt zurückgegeben werden«, plapperte Kate, als wir wenige Minuten später vom See aufbrachen.

Ich sah sie perplex an. »Aber den Film habe ich doch schon längst …«

Kate rammte mir ihren spitzen Ellenbogen in die Seite.

»Autsch! … fertig geguckt«, sagte ich schnell.

»Ja, genau. Und nun gebe ich ihn ab!«

»Oh ja … gut«, stotterte ich.

Colin grinste wissend. Fantastisch, peinlicher konnte es nicht mehr werden!

Zu dritt machten wir uns auf den Weg zu mir nach Hause.

»Ich hab es mir anders überlegt. Ich hole die DVD doch erst morgen ab«, verabschiedete sich Kate, als wir Gregs Haus erreicht hatten. »Viel Spaß noch, ihr zwei!« Sie grinste frech und verschwand.

Fassungslos schaute ich ihr nach. Erst hatte sie dafür gesorgt, dass Colin und ich uns am See getroffen hatten, und nun hatte sie sichergestellt, dass er auch wirklich mit zu mir kam.

»Biest!«, flüsterte ich und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel.

»Da wohnst du?«, fragte Colin. Er zeigte auf die verschlossene Tür.

»Da wohnt mein … englischer Onkel, wenn du so willst«, erwiderte ich, während ich aufschloss. Es fühlte sich immer gut an, wenn ich das tat. Fast so, als hätte ich eine eigene Wohnung. Ich war froh, dass ich Colin damit beeindrucken konnte.

Neuerdings stand mein E-Piano in Gregs Wohnzimmer. Paula hatte vorgeschlagen, es hierher zu bringen, nachdem Mona und Jamie einige private Rockkonzerte gegeben hatten. Sie meinte, wenn es bei Greg stünde – wo die Kinder sich nur selten aufhielten – würde es länger heil bleiben.

Bevor ich die Gelegenheit dazu fand, setzte sich Colin daran und begann, virtuos irgendwelche Sonaten mit unaussprechlichen Namen zu spielen. Ein Albtraum! Genau wie ich es vorausgeahnt hatte.

»Angeber!«, zischelte ich halb lächelnd, nachdem er den letzten Ton gespielt hatte. Er musste doch wissen, dass ich jetzt keine Taste mehr anrühren würde.

Ich zierte mich, sodass er – sicher ganz bewusst – nochmals den Grübchentrick anwendete. Daraufhin spielte ich zwei Lieder, aber sie gefielen ihm nicht.

»Das ist alles wertlos«, murmelte er beim Aufstehen.

»Wie bitte?«, fragte ich verletzt.

»Ähm, die kenne ich nicht«, versuchte er, die Situation zu retten.

»Natürlich nicht, die sind doch von mir«, grummelte ich, die Brauen zusammengezogen.

Bevor er antworten konnte, kam Mona hereingestürmt. »Deine Mutter ist am Telefon, Jo!«, rief sie, ohne meinen Gast eines Blickes zu würdigen. Sie sprang an mir hoch wie ein Hundebaby, reichte mir das schnurlose Telefon und rannte wieder hinaus.

Ich bat Colin zu warten. Doch er wollte nicht. »Wir sehen uns ja morgen in der Schule«, wimmelte er mich ab.

Verstört blickte ich hinter ihm her. Mums Timing war echt voll daneben.

»Hi, Mum! Was gibt es?«, fragte ich ungeduldig.

»Nichts, Hanna. Ich wollte nur mal hören, wie es meiner Tochter geht«, entgegnete sie so unerwartet zärtlich, dass mich das Heimweh traf wie ein Blitz.

Obwohl es sich gut anfühlte, dass ich mein eigenes Leben führen konnte und ich regelmäßig nach London fuhr, vermisste ich meine Familie. Sogar das tägliche Gerangel um das Badezimmer und das Gezeter vorm Fernseher fehlten mir.

Doch meine Mutter war nicht gerade ein Mensch, mit dem ich gern über Gefühle sprach. Natürlich wusste ich, dass sie mich liebte, aber sie hatte ihre ganz eigene Art, das zu zeigen.

»Alles gut«, sagte ich knapp. »Und bei euch?«

»Es läuft toll hier. Papa ist richtig happy mit seinem Job. Tom fühlt sich pudelwohl in seiner riesigen Schule und ich gebe jetzt ein paar Yogakurse.«

»Klingt gut, Mum.«

»Ja, das ist es auch. Aber nun zu dir.« Die Neugier in ihrer Stimme kannte ich gar nicht. »Wie ist die Schule? Sind die Lehrer nett zu dir?«

Ich nickte, obwohl sie mich nicht sehen konnte. »Der Stoff ist heftig. Ich hatte gehofft, dass es hier leichter sein würde als zu Hause. Aber ich muss enorm aufpassen. Ich habe den lokalen Akzent ein bisschen angenommen.«

»Ja ja.« Sie räusperte sich. Das klang schon eher nach meiner Mutter. Sie hatte bereits genug gehört.

Aber ich ließ mich nicht so einfach abschütteln. Es gab ein Thema, das sie garantiert interessierte. »Es gibt übrigens ein paar nette Typen in meiner Klasse«, lockte ich sie. »Und Colin Wood, der Hübscheste von allen, saß gerade an meinem Piano!« Ich wartete auf eine Reaktion.

»Und?«, fragte sie gespannt. »Was habt ihr jetzt vor?«

»Tja. Nichts mehr. Du hast ihn mit deinem Anruf in die Flucht geschlagen.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, konnte ich nicht aufhören, über Colins Worte nachzugrübeln. Was sollte ich nur davon halten? Hatte er mich absichtlich beleidigt? War er wirklich derart überheblich? Colin kam mir zwar sonst nicht eingebildet vor, aber er war durchaus eitel und sich seiner Wirkung sehr bewusst. Außerdem war er einer der beliebtesten Jungen der Schule – und anscheinend interessiert an mir. Obwohl ich über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügte, war ich darüber erstaunt. Und auch leicht überfordert damit.

*

Überrascht bemerkte ich, dass ich über meinen Gedanken eingenickt war. Von meinem Wecker erhielt ich die Information, dass ich zwei Stunden geschlafen hatte. Es war vier Minuten nach Mitternacht und ich war von einer Melodie aufgewacht.

Ich setzte mich auf und horchte in die Stille. Doch da war nichts. Ich hörte nur meine eigenen Atemgeräusche.

Sobald ich nicht mehr ganz so schlaftrunken war, wurde mir bewusst, dass ich die Melodie in meinem Kopf gehabt hatte. Leider konnte ich mich schon nicht mehr an sie erinnern. Dabei hatte das Lied schön geklungen. Ich hoffte, es würde mir am Morgen wieder einfallen, damit ich es am Klavier spielen konnte. Müde glitt ich zurück in den Schlaf.

*

Es rumpelte irgendwo. War das Eisen? Wo gab es hier Eisen? Ich öffnete die Augen und sah erschrocken zum Fenster hinüber. Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir, mich aufzusetzen.

Es klackerte. Schritte auf der Feuerleiter.

»Diese Feuerleiter kann man nur abwärts klettern!«, flüsterte ich verzweifelt.

Stufe für Stufe kam das Geräusch näher. Ich hielt die Luft an. Oh, nein! Was war das? Ein Einbrecher? Raus hier!

Ich wollte aus meinem Zimmer rennen, aber meine Glieder fühlten sich an wie betäubt. Immer wieder machte ich den Versuch, mich vom Bett zu erheben, aber es war, als klebte ich daran fest.

Mein angestrengtes Ächzen erfüllte den Raum. Mit Entsetzen bemerkte ich, dass mein Fenster von außen hochgeschoben wurde. Ich wollte schreien, doch ich war zu fasziniert von dem einzigartigen Anblick, der sich mir bot: Der Fremde mit den schwarzen Haaren stieg in mein Zimmer – rückwärts!

Als ich erwachte, atmete ich scharf ein. »So ein miserabler Traum!«, fluchte ich laut.

Anstatt mir den Schweiß abzuwischen, in dem ich förmlich schwamm, und erleichtert zu sein, ärgerte ich mich darüber, dass das Phantom nicht einmal in meinem Traum den Mumm besaß, mir sein Gesicht zu zeigen. Dabei wollte ich es unbedingt sehen. Ich wollte seine Stimme hören. Ich wollte alles über es erfahren. Wie alt der Typ wohl war? Bei seiner Größe und Statur musste er mindestens sechzehn sein. Mum hatte in einem ihrer Yogakurse einmal einen Achtzigjährigen gehabt, der ähnlich kräftig gebaut gewesen war. Sechzehn oder achtzig – ich musste ihn wiedersehen.

3. KAPITEL

Der dunkle Gang

Wie gut, dass man bei meinem Wecker immer wieder auf die Schlummertaste drücken konnte, so hatte ich eine Stunde mehr Schlaf. Und welch ein Mist, dass man bei meinem Wecker immer wieder auf die Schlummertaste drücken konnte, so stand ich eine Stunde zu spät auf.

Nachdem ich mich im Turbogang geduscht und ein niedliches weiß-graues Schulensemble gewählt hatte, stürzte ich aus dem Haus. Ich musste dringend zur Schule.

Seit Beginn des Schuljahres war ich auf der Elisabeth Willard Highschool. Gott sei Dank war kürzlich die Schulkleidung modernisiert worden. So blieb mir die Uniform mit Hemd und Krawatte erspart, dafür verfügte ich über eine farbenfrohe Garderobe aus weißen Polohemden und mausgrauen Anzughosen. Außerdem stand mir ein äußerst raffinierter mausgrauer Faltenrock zur Verfügung, den ich nur in Ausnahmefällen trug. Er war für meinen Geschmack definitiv zu altmodisch.

Gewöhnlich lief ich zu Fuß, das dauerte höchstens zehn Minuten. Doch heute war ich spät dran und der Bus schaffte den Weg in der Hälfte der Zeit. Also entschied ich mich einzusteigen, obwohl er unerträglich voll war. Ich quetschte mich durch die Menschenmassen und wurde zum Fenster gedrückt. Ich sah hinaus und entdeckte meine abgehetzten Mitschülerinnen Maggie und Anne sowie zahlreiche Kinder, die ich dank ihrer unterschiedlichen Uniformen ihren Schulen zuordnen konnte. Außerdem waren wie an jedem Morgen zahlreiche Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig unterwegs. Und zu allem Überfluss auch noch Jogger, die im Slalom um die Passanten liefen. Ich joggte zwar auch für mein Leben gern, aber dafür suchte ich mir lieber ruhigere und breitere Wege aus, wie die Promenade oder den Sandstreifen direkt am Meer.

Durch das Fenster sah ich, dass einer der Laufenden einen großen Bogen um einen Fußgänger machte. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Mann. Halt! Moment mal! Der sah doch aus wie … War das nicht?

Mein Phantom! Der Fremde! Der, an den ich ständig denken musste. Ich betete, dass der Bus langsam an ihm vorbeifahren würde, damit ich endlich sein Gesicht sehen würde.

Der Bus schloss auf und ich war ganz nah dran. Nur das Fenster trennte uns. Mein Herz pochte wie wild. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ja, zeig mir deine Augen!

Am liebsten hätte ich ganz laut »Anhalten!« geschrien, als der Bus, kurz bevor ich das Profil des Fremden erkennen konnte, nach rechts abbog. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Ich hatte ihn wiedergesehen. Aber wieder nur von hinten.

An der nächsten Haltestelle stieg ich aus – mit etwa zwanzig anderen Jugendlichen. Während sie eilig in die Schule rannten, blieb ich stumm davor stehen und musterte den Gebäudekomplex. Die Elisabeth Willard Highschool bestand aus mehreren altehrwürdigen Bauten mit aufwendigen Schnörkeln an jeder Wand und noch mehr Schornsteinen auf jedem Dach. Sehr englisch.

Ich sah nach oben zu der Uhr im Giebel und rupfte grübelnd an meinen Haarsträhnen. Was war es nur, das mich so unruhig machte? Es ergab doch gar keinen Sinn, dass ich mich so sehr für jemanden interessierte, den ich gar nicht kannte. Dessen Alter ich nicht einmal schätzen konnte.

*

In den ersten zwei Schulstunden konnte ich mich vor Frust kaum konzentrieren. Wieso war es mir bloß nicht vergönnt, einen Blick auf seine … vermutlich total bescheuerte Fratze zu werfen? Warum musste er in die falsche Richtung laufen? Und weshalb war ich so stinkwütend darüber?

»Was willst du?«, keifte ich Kate an, als sie mich in der Pause begrüßte.

Sie hatte vor, sich für die Sache mit Colin zu entschuldigen.

Ich wurde sofort umgänglicher. »Das hatte ich schon wieder verdrängt, du Verkupplungsexpertin«, beruhigte ich sie.

Doch meine Milde war nach wenigen Sekunden schon wieder verflogen. Als Anne an mir vorbeilief, hielt ich sie am Arm fest. »Habt ihr ihn gesehen?«

»Colin?«, fragte sie irritiert und zeigte auf den Schulhof.

»Nein, den Mann.«

Anne sah mich an. In jedem Auge ein Fragezeichen.

Obwohl ich sie eigentlich nicht hatte einweihen wollen, erzählte ich ihr nun von der Figur, die ich Tage zuvor an der Felswand gesehen hatte. Ich erklärte ihr, dass ich den Mann wiedererkannt hatte und dass sie und Maggie direkt hinter ihm den Weg entlanggelaufen waren.

Anne zog den Kopf zurück. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie mir kein Wort glaubte. Sie war lediglich zu höflich, um es mir zu sagen.

»Ich kapier nicht, was du meinst«, entgegnete sie und ging weiter.

Kurz darauf kam sie mit Maggie zurück. »Zeig ihr das Bild«, drängte sie die.

Natürlich, Maggie hatte wieder fotografiert! Perfekt, wenn er kein Vampir war, hatte sie jetzt ein aufschlussreiches Bild von ihm auf ihrer Kamera.

Maggie zog ihren Wunderapparat aus der Tasche und begann, daran herumzudrücken.

Ich hielt die Spannung kaum aus. »Gib her!«, explodierte ich.

»Moment, ich suche es dir raus!«, antwortete Maggie.

»Nun mach schon!«, drängelte ich weiter.

Meine Freundinnen starrten mir ungläubig ins Gesicht. Mein barscher Tonfall war ihnen neu. Ich konnte mich selbst nicht leiden, wenn ich in dieser Stimmung war. Aber musste ich zu lange auf etwas warten, dann bekam ich schlechte Laune. So einfach war das. Daran konnte ich nicht viel ändern. Ich war praktisch machtlos dagegen und jeder, der sich in meiner Nähe aufhielt, hatte in solch einem Moment Pech.

»Menstruation«, tippte Kate und warf einen Blick in die Runde. »Erdbeerwoche. So etwas haben Deutsche auch.«

Ich konnte jetzt nicht mit ihr diskutieren, wie unangebracht ein solcher Satz war. Ich musste das Foto, musste sein Gesicht sehen.

»Also?«, brummte ich Maggie an, die sich üblicherweise so benahm, wie ich es gerade tat.

»Da!«, rief sie wie ein Kleinkind, das noch nicht sprechen kann und zu allem, was es sieht, »Da!« sagt.

Ich riss ihr die Kamera aus der Hand und hielt sie mir vor die Augen. Aber alles, was ich erblicken konnte, war ein … Fahrrad!

Ich fragte Maggie, was sie mit einem solchen Bild wollte, und fand dabei heraus, dass sie hoffte, ein solches Rad von ihren Eltern zu Weihnachten zu bekommen.

Nachdem ich ein genervtes Stöhnen von mir gegeben hatte, blätterte ich vor und zurück und vor und zurück – und endlich sah ich ihn! Ganz deutlich. Große, kräftige Statur, breiter Rücken, dunkle Kleidung, schwarze Haare. Im Klartext: mein Phantom. Von hinten.

»Wo willst du hin?«, fragte Ellen, die mir entgegenkam, als ich über den Flur hetzte.

»Meinen Tampon wechseln!«, brüllte ich.

Eine Minute später wäre ich gern im Erdboden versunken.

*

Nach der letzten Stunde erzählte ich Kate und Ellen, dass ich dringend nach Hause müsste. Ich wollte allein sein und sie beide waren ohnehin nicht scharf darauf, mich noch länger ertragen zu müssen.

Doch statt in den Windmill Way hastete ich in voller Schulmontur zu »meinem« Strand. Er war menschenleer. Ich setzte mich auf die flache Mauer, die den Steinstrand vom Parkplatz trennte, und atmete tief durch. Die salzige Seeluft tat gut und das Gekreische der Möwen verband sich mit dem Rauschen des Meeres zu einer gewaltigen Sinfonie. Ich starrte auf das tosende Wasser, beobachtete, wie die Gischt in die Höhe jagte. Ich liebte diese Wildheit.

Irgendwann drehte ich mich um und stellte die Beine auf die andere Seite der Mauer, um den Fernhill betrachten zu können. Erneut stellte ich an meinem Telefon den Kamerazoom ein. Diesmal würde ich mir ausreichend Zeit lassen, um die gesamte Bergwand abzusuchen. Niemand drängelte mich, keiner erwartete mich.

Schneller als ich gedacht hatte, entdeckte ich die Holztür. Sicherlich befand sich dahinter eine Höhle, die als Versteck für Diebesgut oder Schmugglerware diente. Und ich sollte von alldem lieber nichts wissen, geschweige denn weiterforschen. Aber die Tür hatte mit dem schwarzhaarigen Mann zu tun, deswegen musste ich mehr erfahren. Auch wenn er möglicherweise ein Krimineller war.

Mein Blick war immer noch auf denselben Punkt geheftet, als ich auf den Steinen hinter mir plötzlich Schritte vernahm. Merkwürdig. Eben noch war weit und breit kein Spaziergänger zu sehen gewesen.

In Sekundenschnelle senkte ich mein Handy und wechselte von der Kamerafunktion zum Telefonbuch. Ich suchte Paulas Nummer und hielt den Daumen wenige Millimeter über die Wahltaste. Dann drehte ich mich möglichst selbstbewusst um.

Und traute meinen Augen nicht: Direkt vor mir stand ein gut aussehender Mann in Badehose. Sein durchtrainierter Körper sowie seine blonden schulterlangen Haare waren triefnass. Mit seinen hellbraunen Augen musterte er mich. Er war das Abbild von Colin, nur locker zwanzig Jahre älter.

»Guten Tag!«, brummte er. »So allein?« Er lächelte über meine Sprachlosigkeit, dabei zeigten sich zwei mir nur allzu vertraute Grübchen auf seinen Wangen.

»Colin Wood?«, fragte ich perplex.

Die Grübchen vertieften sich. Er trat von einem Bein aufs andere, schien zugleich stolz und verlegen zu sein. »Die Ähnlichkeit lässt sich wohl kaum leugnen, oder?«

Er setzte sich zu mir auf die Mauer, was mich alarmierte, denn die Situation war mehr als eigenartig.

Als er meine Unsicherheit bemerkte, rutschte er sofort ein Stück ab. »Ich bin sein Vater«, sprach er leise und sah mich vertrauensvoll an. Puh! Sicherlich würde ich nicht in Gefahr sein, wenn ich mit dem Dad meines Mitschülers am Strand saß. Auch wenn er fast nackt war.

Ein hysterisches Auflachen kam aus meinem Mund. »Ich bin Johanna Winter«, klärte ich ihn auf. »Aus Colins Klasse. Alle nennen mich Jo.«

Seine Augen wurden größer und begannen, merkwürdig zu leuchten. »Ah! Du bist Jo«, staunte er.

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Hatte Colin mich etwa erwähnt? Schnell griff ich nach einer meiner Haarsträhnen und fing an, sie mir um den Zeigefinger zu wickeln.

Sein Vater beäugte mich einen Moment lang. »Aber was machst du denn hier so ganz allein, Jo?«, fragte er interessiert.

Ich holte tief Luft und dachte an den Grund für mein Kommen. »Ich brauchte mal ein bisschen Ruhe«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Und dann war ich nicht mehr zu halten. »Die Schule endet erst um 16 Uhr. Danach bin ich immer richtig ausgelaugt, aber meine Freundinnen reden und reden und heute wollte ich nicht so viel reden. Oder zuhören, denn bei manchen Mädels kommt man echt nie zu Wort. Dabei ist es so entspannend, einfach mal nicht sprechen und nicht zuhören zu müssen. Ich bin gern hier am Strand und genieße die Stille. Na ja, richtige Stille hat man hier ja auch nicht, denn diese Möwen kreischen ja in einem fort. Aber das macht mir nichts. Das gehört dazu. Das ist auch eine Art Ruhe, weil …«

Als mir klar wurde, dass ich unaufhörlich plapperte, beendete ich den Redeschwall abrupt und lachte los. Colins Vater stimmte ein.

Ich stellte fest, dass ich ihn mochte. Er war genauso charmant wie sein Sohn. Und obwohl ich ihn gar nicht kannte, hatte seine Anwesenheit etwas Beruhigendes. Ich war auf einmal nicht mehr so aufgewühlt. Das Thema »Mann am Berg« trat in den Hintergrund. Es gab etwas anderes, das meine Neugier geweckt hatte.

»Was machen Sie denn hier?«, wollte ich wissen.

Er senkte den Kopf und blickte auf seine Hände, dann sah er mich an. In seinen Augen blitzte etwas auf, das ich nicht deuten konnte. Es verwirrte mich.

»Ich war schwimmen«, behauptete er.

Wie seltsam. Ich hatte ihn, bevor er sich mir genähert hatte, gar nicht gesehen. Weder am Strand noch im Meer. Aber er war pitschnass, also sagte er wohl die Wahrheit.

»Sie müssen ein unglaublich schneller Schwimmer sein«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Ich habe Sie gar nicht kommen sehen.«

Er öffnete kurz den Mund und schloss ihn sogleich wieder. Rasch erhob er sich und zwinkerte mir zu. »Ich bin getaucht!« Er ignorierte meinen erstaunten Gesichtsausdruck und reichte mir seine Hand. »War nett, dich kennenzulernen, Jo Winter«, verabschiedete er sich und setzte nach: »Du solltest lieber nicht allein herkommen. Manchmal hängen hier ziemlich merkwürdige Typen rum.« Er grinste über meine Wortlosigkeit. »So wie ich zum Beispiel«, fügte er noch hinzu, dann joggte er davon.

Ich beobachtete, wie er zurück ins Meer lief und schwamm, bis er hinter dem Fernhill verschwunden war. Daran hatte ich noch nie gedacht. Anscheinend gab es einen weiteren Strand auf der anderen Seite des Berges. Eine Bucht, die man von hieraus nicht einsehen konnte. Von dort musste Colins Dad gekommen sein. Aber getaucht? Bei solch einer Brandung? Das würde ich mich nie trauen. Dabei hatte ich wenig Angst vorm Ertrinken. Wahrscheinlich war man um einiges entspannter, wenn man hier aufgewachsen war.

Ich beschloss, die Bucht von oben zu suchen. Alles, was ich dafür tun musste, war die Treppe zu finden, die zum Gipfel des Fernhills führte. Normalerweise konnte man die breiten Stufen von der Silver Glen Road aus erreichen, seit zwei Wochen war dieser Weg jedoch gesperrt.

Mit meiner Tasche über der Schulter überquerte ich den Parkplatz und ging auf den Fernhill zu. Das letzte Haus am Fuße des Berges, das man vom Meer aus sehen konnte, war ein winziges Fischereimuseum, das nur an zwei Vormittagen in der Woche öffnete. Dazu gehörte ein dauerhaft geschlossener Souvenirshop. Zwischen diesen beiden trostlosen Gebäuden befand sich der Eingang zu einem öffentlichen Fußgängertunnel. Da er sehr einsam und wenig einladend wirkte, hatte ich bisher noch nie einen Fuß hineingesetzt.

Ich schaute nach rechts und links. Es war weit und breit kein Mensch in der Nähe. Vor mir lag der düstere Gang. Von Ellen wusste ich, dass er am Anfang zwischen den Häusern hindurchführte und später direkt durch den schroffen Berg. Sollte ich wirklich hineingehen? Ganz durch bis zum Ende?

Leider war es die einzige Alternative zu dem gesperrten Weg. Nur so konnte ich zu der gewundenen Steintreppe gelangen, die mich hoch zur Fernhill-Wiese brachte.