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V. R. Smith, millionenschwerer Besitzer von Rundfunk- und Fernsehstationen, ist einer der einflussreichsten Männer der Vereinigten Staaten - und einer der skrupellosesten. Als Boss einer rechtsradikalen Verschwörer-Clique plant er mit eiskalter Präzision das Attentat auf seinen Erzfeind, den Führer der linksradikalen Bewegung der Schwarzen Attacke...
Richard Neely war ein US-amerikanischer Autor von Kriminalromanen. Sein bekanntestes Werk ist Tod im Spiegel, verfilmt im Jahr 1991 von Wolfgang Petersen (unter dem Titel Zersplittert ebenfalls als Roman im Apex-Verlag erhältlich).
Der Roman Der Attentäter erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1977.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
RICHARD NEELY
Der Attentäter
Roman
Apex Crime, Band 284
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER ATTENTÄTER
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
V. R. Smith, millionenschwerer Besitzer von Rundfunk- und Fernsehstationen, ist einer der einflussreichsten Männer der Vereinigten Staaten - und einer der skrupellosesten. Als Boss einer rechtsradikalen Verschwörer-Clique plant er mit eiskalter Präzision das Attentat auf seinen Erzfeind, den Führer der linksradikalen Bewegung der Schwarzen Attacke...
Richard Neely war ein US-amerikanischer Autor von Kriminalromanen. Sein bekanntestes Werk ist Tod im Spiegel, verfilmt im Jahr 1991 von Wolfgang Petersen (unter dem Titel Zersplittert ebenfalls als Roman im Apex-Verlag erhältlich).
Der Roman Der Attentäter erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1977.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
An einem milden Montagnachmittag im September marschierte Lieutenant Ridge Collins vom US-Marine-Korps mit den Entlassungspapieren in der Tasche auf das Tor von Fort Lewis zu.
Draußen blieb er stehen, von Kopf bis Fuß ein Modellsoldat: groß und sehnig, die grüne Uniformjacke über muskulöse Schultern gespannt, das Gesicht knochig, männlich hart, dazu blaue Augen, einen freundlichen Mund, vorschriftsmäßig geschnittenes, dichtes, kastanienbraunes Haar unter dem schrägsitzenden Käppi.
Als er das wartende Taxi erblickte, lief er mit den geschmeidigen Bewegungen eines durchtrainierten Sportlers darauf zu. Die hintere Tür flog auf, ein Paar nylonbestrumpfte Beine erschienen. Lieutenant Collins fasste mit beiden Händen nach den Knien, die er seit seinem Urlaub auf Honolulu nicht mehr gesehen hatte, dann umarmte er die schmalen, braungebrannten Schultern. Er sah in die großen, leuchtenden Augen, strich über das schimmernd schwarze Haar.
Sechs Monate war das her.
»Nun, wie gesagt...«, murmelte er.
Ihre Augen wurden feucht. »Zuletzt hast du gesagt: Anna, ich liebe dich ganz furchtbar, vergiss das nicht, dann bist du hinausgegangen und hast mir nicht einmal einen Kuss gegeben. Seit sechs Monaten warte ich nun auf diesen Kuss - unter anderem.«
Er warf einen Blick auf den Fahrer. »Du meinst hier vor Mr. Lowell Chapiro?«
Der Mann mit dem gelben Strohhut über dem eingefallenen Gesicht drehte sich halb um und entblößte lächelnd eine Zahnlücke.
»Ich bin sicher, dass sich Mr. Chapiro einmal die Beine vertreten will«, sagte Anna.
»Aber gern«, antwortete Lowell Chapiro und kletterte aus dem Taxi.
»Frische Bettbezüge sind im Handschuhfach.« Er schlenderte davon.
Sie lagen eng umschlungen auf dem Rücksitz und versuchten die versäumten Küsse eines halben Jahres nachzuholen.
»Wir könnten es gleich hier tun«, flüsterte Anna dicht an seinen Lippen.
»Chapiro kommt gleich zurück.«
»Wir können uns beeilen.«
»Mag ich nicht.«
»Am Flughafen ist ein Motel.«
»Schon gut, dann warten wir bis zu Hause. Hallo, Mr. Chapiro!«
Sie hatten sich vor zwei Jahren in New London kennengelernt und ihrer Liebe auf den ersten Blick so sehr misstraut, dass sie mit der Hochzeit fünf volle Wochen warteten. Er war damals siebenundzwanzig und Stabsfeldwebel, sie zwei Jahre jünger und Krankenschwester im Lazarett. Fast ein Jahr lang hatten sie das gemütliche Etappenleben genossen und die Wochenenden bei ihren Eltern in Connecticut verbracht. Anna war das jüngste von sieben Kindern einer italienischen Einwandererfamilie. Ridges Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er noch zur Schule ging.
Dann musste er nach einem kurzen Zwischenaufenthalt im Sequoia-Tal, wo er aufgewachsen war, für ein Jahr nach Vietnam.
Nun kehrte er nach elf Jahren, davon vier beim Militär, ins Sequoia-Tal zurück. Es war nicht so sehr das Heimweh, das ihn lockte, sondern ein überraschendes Angebot von der Anwaltskanzlei Gardner Kingsley, eines Bekannten seines Vaters.
Ridge hatte von diesem Gardner Kingsley noch nie gehört und wollte das Angebot erst zurückweisen, aber in dem Brief, der ihm während eines blutigen Einsatzes im Dschungel überreicht wurde, standen einige Sätze, die ihn davon abhielten: Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen diese Stelle nur deshalb anbiete, weil ich Ihren Vater kannte, weil Sie aus dem Sequoia-Tal stammen und weil Sie für unsere Heimat kämpfen. Ich tue es aus Egoismus. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen und glaube, dass unsere Anwaltsfirma Sie braucht.
Also hatte Ridge an Anna geschrieben, die wieder in New London lebte, und sie hatte begeistert ihre Stellung gekündigt, um im Sequoia-Tal eine kleine Wohnung zu mieten und im Kreiskrankenhaus als Schwester zu arbeiten.
Auf der Fahrt zum Flughafen von Seattle hatte Ridge das herrliche Gefühl, zum ersten Mal die Welt wahrzunehmen. Alles kam ihm neu und wunderbar vor, und es war ein herrliches Erlebnis für ihn, beim Start der Maschine Annas Hand halten zu dürfen. Auf halbem Weg nach San Francisco schlief er lächelnd ein.
Plötzlich wachte er keuchend auf. Anna rüttelte ihn an den Schultern.
»Liebling, was ist. Du musst geträumt haben.«
Er sah nicht Annas besorgtes Gesicht vor sich, sondern eine undeutliche Montage von Schlamm und Blut und fallenden Soldaten, dazwischen grimmig und vorwurfsvoll General Gunderson. Er sah flüchtig ein weißes Lazarett-Bett, daneben den General, der mit seinem runzligen Gesicht wie ein wohlwollender Affe auf ihn herabblickte.
Ridge fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schüttelte den Kopf. Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Geht schon wieder.« Er drückte ihre Hand. »Ich habe geträumt, dass du mir mit diesem Lowell Chapiro durchbrennst.«
Sie lächelte ihn an, und alles war wieder wunderschön.
Am Parkplatz des Flughafens San Francisco führte sie ihn zu einem nagelneuen Ford. Feierlich schloss sie die Tür auf und überreichte ihm die Schlüssel.
»Hu«, machte er leise. »Davon hast du mir nichts geschrieben.« Sie ging um den Wagen herum und setzte sich neben ihn.
»Ich habe ihn erst gestern gekauft und auch die alte Kiste behalten.« Ein geheimnisvoller Seitenblick. »Ich habe noch eine Überraschung. Ist dir eigentlich klar, dass unser Konto während deiner Abwesenheit um siebentausend Dollar schwerer geworden ist? Wir sind stinkreich.«
»Noch eine Überraschung?«
Sie wehrte lachend ab. »Nein, erst zu Hause.«
Um halb sieben erreichten sie den Ort Sequoia Valley. Ridge drehte zwei Runden auf dem Marktplatz, dann fuhr er zu der neuen Wohnung.
»Halt, die andere Richtung!«, rief Anna. »Erst muss ich dir etwas zeigen.«
Sie dirigierte ihn eine steile Seitenstraße hinauf und sagte nach einer Haarnadelkurve: »Die nächste Einfahrt links. Dort halt an.«
Er parkte den Wagen vor einer geschlossenen Garage und folgte ihr einen mit Steinplatten belegten Weg hinunter zu dem eckigen, geräumigen Haus mit dem spitzgiebligen Dach. Überall lagen Tannennadeln und verstopften die Gullys. Der Balkon im Obergeschoss war viel zu klein und man sah nichts weiter als die Steinbank unterhalb der Straße.
Ridge schüttelte den Kopf. »Sieht aus wie eine Kuckucksuhr. Wer wohnt hier?«
»Wir«, antwortete Anna gelassen. »Warte nur, bis du es von innen siehst. Es ist einfach idyllisch.«
Lächelnd führte sie ihn in das große Wohnzimmer mit dem goldgelben Teppich. Auf der rechten Seite unterbrach ein gewaltiger, steinerner Kamin die vom Fußboden bis zur Decke reichenden Bücherregale. Links blickte man durch ein Panoramafenster auf eine hügelige Landschaft mit Eichen und Eukalyptusbäumen.
»Anna, du bist ein Genie. Wann hast du das gemietet?«
»Ich hab’s gekauft, Liebling, für einen Apfel und ein Ei. Dein neuer Chef hat es mir vermittelt. Sogar die Möbel gehören uns schon. Die Leute, die hier wohnten, mussten plötzlich übersiedeln. Sieh dir mal die Küche an.«
Sie war groß und modern eingerichtet. Durch ein Fenster sah man auf einen kleinen Innenhof und eine gepflegte Rasenfläche, von der Stufen nach oben führten.
»Ich komme mir vor wie Aladin mit der Wunderlampe«, sagte er staunend. »Aber jetzt möchte ich die Uniform loswerden.«
Sie mixte ihm einen Drink. Er ging die Stufen hinauf in den Erker, streckte sich auf einem der beiden Sofas aus und sah bewundernd hinaus auf die herrliche Gegend in der Abendsonne.
Sie kam mit zwei Gläsern Martini und hockte sich auf den Fußboden.
»Nur dreitausend Anzahlung«, sagte sie vorsichtig. »Zweihundertfünfundzwanzig im Monat für die Hypothek. Natürlich ist das Haus nicht ganz neu.« Sie lachte. »Als ich einzog, hat ein Nachbar hereingeschaut, der früher hier wohnte, gleich nach dem Krieg.«
»Dann kann’s doch nicht so alt sein. Fünfundzwanzig Jahre ungefähr.«
»Ich meine den ersten Weltkrieg«, antwortete sie. »Er war schon sehr alt.«
Im Obergeschoss lagen noch drei Schlafzimmer mit schrägen Decken und großen Fenstern. Das längliche Bad war neu eingerichtet und mit einer Dusche versehen. Sie zogen sich rasch aus, warfen ihre Sachen einfach auf den Fußboden und fielen sich, nackt in die Arme.
»Zum Teufel mit der Dusche«, sagte er.
»Nur nichts übereilen«, neckte sie ihn.
Sie stellten sich gemeinsam unter das dampfend heiße Wasser, seiften sich gegenseitig ab und ließen sich dann lauwarmes Wasser über die Schultern rieseln. Dann folgte ein langer, sehr feuchter Kuss, den er draußen auf der Matte des Badezimmers fortsetzte. Der Kuss genügte ihnen bald nicht mehr, die Knie wurden ihm weich, er führte sie ins Schlafzimmer.
Als sie sich auf dem Doppelbett quer über die rote Tagesdecke ausstreckten, waren sie fast schon wieder trocken und dufteten nach teurer Seife. Sie genossen miteinander die Freuden, die sie so lange Zeit vermisst hatten.
Es wurde ein gemütlicher Abend zu Hause. Eigentlich wollte er Gardner Kingsley anrufen, um sich zurückzumelden, aber Anna erklärte ihm, sie seien für den nächsten Abend bei Kingsley zum Essen eingeladen.
Nach dem Essen, in der Ecke gleich neben der Küche, sahen sie sich im Fernsehen die Zehn-Uhr-Nachrichten an, dann gingen sie um elf Uhr erschöpft zu Bett. Ridge war sofort eingeschlafen, aber sie blieb noch wach und dachte über diesen Tag nach, über ihre Zukunft. Als sie dann auch einschlafen wollte, gelang es ihr nicht. Eine halbe Stunde lang lauschte sie dem monotonen Gesang der Grillen, dann stand sie auf, um sich aus dem Bad eine leichte Schlaftablette zu holen. Sie hatte noch die Türklinke in der Hand, da hörte sie den Schrei.
Sie rannte ins Schlafzimmer zurück und schaltete das Licht an. Ridge saß kerzengerade im Bett, die Adern an seinem Hals traten hervor. Seine weit aufgerissenen Augen glänzten glasig und dunkelblau. Von seinen unbewegten Lippen kam ein durchdringender Schrei: »Nein! Nein, nein, nein!«
Es klang wie der Schrei einer armen Seele aus dem Mund eines Mediums.
Zweites Kapitel
Der einsame Mann, den Ridge Collins auf der grünen Bank hatte sitzen sehen, hob sich kaum mehr als ein Schmutzfleck von der efeuumrankten rosa Wand der Busstation von Sequoia ab. Haar, Gesicht und der graue Anzug waren von einer Farbe, und der ganze Mann sah aus wie aus einem Stück gemacht. Das einzige an ihm, was noch einigermaßen in diese vornehme Vorortgegend passte, war die teure Diplomatentasche, die er auf dem Schoß hielt; wer ihn so sah, musste ihn für einen Pendler halten, der gerade aus der Stadt angekommen war und geduldig darauf wartete, dass seine Frau ihn abholte.
Der Busbahnhof hatte ungefähr die Form eines Schuhkartons. Er schirmte den Mann gegen die untergehende Sonne ab, so dass er in einem anthrazitgrauen Rechteck von Schatten saß und den ganzen Platz überblicken konnte. Hier lag der geschäftliche ^Mittelpunkt der Stadt. An allen vier Seiten war der Platz von kleinen Läden flankiert. Eine breite Hauptstraße mit drei Fahrspuren führte nach rechts ab, die andere nach links, mehrere schmale Nebenstraßen schlängelten sich von den bewaldeten Hügeln herab, auf denen die Geldaristokratie residierte. Genau ihm gegenüber, jenseits der elliptischen, sauber von Steinen eingefassten Insel mit den korrekt geschnittenen Zypressen, lag eine Reihe zweistöckiger Gebäude, die im oberen Stockwerk Büros beherbergten und unten kleine Läden mit breiten Fensterfronten. Genau auf diese Stelle waren die Augen des Fremden gerichtet: Er blickte nicht, wie es schien, verträumt ins Leere, sondern zwischen den spitz zulaufenden Zypressen auf eine Stelle etwas links vom Mittelpunkt.
Er war kurz vor sechs angekommen, hatte seinen dunkelgrünen Mietwagen an einer Parkuhr hinter dem Busbahnhof abgestellt und dann einen Schaufensterbummel unternommen. Sein Interesse galt jedoch weniger den ausgestellten Waren als den Tafeln mit den Geschäftszeiten. Mit drei Ausnahmen schlossen alle um sechs; das Haushaltswarengeschäft hatte bis acht geöffnet, das Bekleidungshaus bis neun und der Spirituosenladen bis zehn.
Bisher ist alles im Großen und Ganzen wie immer verlaufen, dachte er. Er erinnerte sich an Stutz, den Polizeibeamten, der in Zivil geschniegelt und nach Rasierwasser duftend in einer dunklen Ecke des kleinen Restaurants in Kansas City gesessen hatte, wo der Mann auf der Bank als Kellner arbeitete. Stutz’ derbes Gesicht drückte Gleichgültigkeit aus, als er sich das übliche Pastrami-Sandwich bringen ließ und wie beiläufig diese Fahrt erwähnte. Später, bei einem Treff am dunklen See, erläuterte Stutz die Einzelheiten, brachte Landkarten mit, Personenbeschreibungen und Vorschuss. Er hatte zu allem genickt, was Stutz sagte, und ihn gehasst. Wie immer musste er auch diesmal daran denken, dass Stutz ihn Jahre zuvor mit seinem illegalen Buchmachergeschäft ausgehoben und gnadenlos so lange unter Druck gesetzt hatte, bis er bezahlte. Dann hatte Stutz ihn bei einem bewaffneten Raubüberfall erwischt und laufen lassen, aber das war der Anfang eine? langen Aderlasses. Ironischerweise verdankte er Stutz sehr viel, zum Beispiel die Tatsache, dass sein Name nie in einem Polizeibericht erschienen war, dass niemals seine Fingerabdrücke registriert wurden, und dass er trotz des fetten Anteils, den Stutz bekam, finanziell allmählich unabhängig wurde. Er wusste nichts von Stutz’ Hintermännern und konnte sich nur denken, dass es sich um eine Organisation mit breit gefächerten Interessen handelte. Stutz hatte ihm glaubhaft versichert, dass nur er, Stutz, etwas von seinen Nebengeschäften wisse. Für alle anderen Leute in Kansas City war er nichts weiter als ein kleiner Kellner. Sein anderes Ich hatte dieser Stutz geschaffen.
Vielleicht war auch Annette daran schuld, weil sie ihn verlassen hatte. Er und Stutz waren voneinander abhängig, und keiner konnte den anderen verpfeifen.
Er hatte es bald geschafft. Vielleicht ein Jahr noch oder weniger. Dann brauchte er nicht mehr Abend für Abend müde in die triste Zweieinhalb-Zimmerwohnung heimzukehren, in der er sich mit seiner treuen Hündin Abby abgekapselt hatte, seit seine Frau Annette vor sechs Jahren mit einem Barmixer durchgebrannt und ihre drei Jahre alte Tochter mitgenommen hatte. Er würde sich dann mit Abby nach Europa absetzen, das er nur einmal flüchtig kennengelernt hatte, und zwar damals bei der Eröffnung des Bankkontos in Genf. Spaniens Costa del Sol, die französische Riviera, Paris, Rom, die griechischen Inseln.
Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als er das offene Mustang-Cabrio drüben auf der anderen Seite in einen Parkplatz einrangieren sah. Ein großer, drahtiger Mann mit Halbglatze und schwarzgerahmter Brille stieg aus. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Der Mann blieb einen Augenblick vor dem Schaufenster des Schnapsladens stehen, dann trat er ein. Wenige Minuten später kam ein junger Mann, ebenfalls mit weißem Sporthemd und schwarzer Hose bekleidet, heraus, wandte sich nach rechts, überquerte den Platz und verschwand in einer Bar in der Ecke.
Der Graue auf der Bank nickte. Stimmte alles. Er holte einen Straßenplan von Sequoia aus der Innentasche, breitete ihn aus und fuhr mit dem Zeigefinger die kürzeste Verbindung zur Autostraße nach. Er steckte die Karte wieder ein, stand auf, schlenderte hinüber zum Redwood-Kino, kaufte eine Karte und ging hinein. Im matten Widerschein der Leinwand zählte er - nichts Ungewöhnliches für einen Montagabend - nur etwa eine Handvoll Besucher; trotzdem wählte er einen ungünstigen Platz weit entfernt von den anderen in der Nähe des Ausgangs. Mit beiden Händen hielt er die Diplomatenmappe auf seinem Schoß fest. Mitten im Film entrang sich seinem Magen ein verräterisches Gurgeln. Hastig holte er ein Päckchen Waffeln aus der Tasche, brach zwei Stück ab und begann sie gründlich zu kauen. Es war doch jedes Mal dasselbe.
Das Redwood zeigte, wie viele amerikanische Kinos, immer zwei Filme hintereinander. Er sah sich auch noch einen Teil des zweiten Films mit gurgelndem Magen und klopfendem Herzen an. Genau um 21.30 Uhr sprang er auf. Die tiefe animalische Angst war wie fortgeblasen. Stolz aufgerichtet verließ er das Kino.
Sein Schritt wirkte bestimmt und zielstrebig, als er die Halle durchquerte und draußen am dunklen Eintrittskartenschalter stehenblieb. Der Himmel war inzwischen dunkel, und die Straßenbeleuchtung wurde durch einen leichten Nebelschleier gedämpft, der von der Bucht heraufzog. Eine Katze schlich über die Straße und verschwand zwischen einigen Sträuchern. Sonst war nichts zu sehen, keine Spur von einem Menschen. Bis zum Ende des Films blieb ihm, so hoffte er, noch fast eine ganze Stunde ungestörter Ruhe. Gemächlich spazierte er zum Platz zurück und sah schon von weitem zwischen den im Schein ihrer Nachtbeleuchtung schlummernden anderen Geschäften die helle Beleuchtung des Spirituosengeschäfts.
Noch ein paar kühne Schritte, und er stand Sekunden später vor dem Laden. Er blieb nur so lange vor dem Schaufenster stehen, bis er sich vergewissert hatte, dass der Mann drin hinter der Theke tatsächlich derjenige war, der vorhin in dem Mustang Cabrio angekommen war. Halbglatze, gerahmt von dunklem Haar, dasselbe hohlwangige Gesicht, das er von einem Foto der Händlervereinigung her kannte, die Brille.-Er drückte leise die Klinke nieder und trat ein.
Der Mann hinter der Theke hob mit dienstbereitem Lächeln den Kopf. Aber es klang, als würde er Holz abladen, als er den Bleistift hinwarf.
»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«
Der Graue blieb vor ihm stehen. Er stellte die Diplomatentasche auf die Theke.
»Lassen Sie mal sehen.« Sein Blick glitt über die Flaschenreihen und blieb an einem Etikett in der hintersten Ecke hängen. »Wodka, glaube ich. Eine kleine Flasche.«
»Gern.« Der Ladenbesitzer wandte ihm den Rücken zu. Dann ging er die drei Schritte zur hintersten Ecke des Regals. »Eine spezielle Marke?« Er sah immer noch lächelnd über die Schulter.
Der Graue hob eine Hand. »Die dort oben.«
Seine Finger öffneten lautlos die Mappe. »Sie heißen doch George Balknight?«
Der Ladenbesitzer stand auf Zehenspitzen, die Flasche schon in der Hand. Er wollte sich gerade umdrehen. Sein Lächeln drückte jetzt Erstaunen aus. »Ja, warum?«
Da erstarrte er mitten in der Bewegung.
Er sah genau in den runden Schalldämpfer an der Mündung einer .38er Pistole.
»Leb wohl, George«, sagte der Graue leise und drückte ab.
Der Schuss klang wie ein unterdrücktes Niesen. Ein kleines, rundes Loch erschien genau über George Balknights Nasenrücken. Nach zwei oder drei Sekunden strömte Blut heraus und verschleierte die Brille. Mit einem geisterhaften Lächeln auf den Lippen fiel George Balknight auf den harten Fußboden hinter der Theke. Flaschen klirrten, Glas zerbrach. Dann folgte eine ominöse Stille.
Der Attentäter verschränkte die Arme, verbarg dabei die Pistole und warf einen Blick durchs Schaufenster hinaus. Er sah niemanden. Ganz lässig ging er zur Tür, öffnete sie und trat auf den Bürgersteig hinaus. Der Platz war genauso leer wie vorhin. Er kehrte in den Laden zurück, legte die Pistole mit dem Schalldämpfer wieder in seine Aktenmappe, hechtete über die Theke, drückte auf einen Knopf der Registrierkasse und nahm die Geldscheine heraus. Es fühlte sich nicht nach besonders viel an - etwa vierzig oder fünfzig Dollar. Eine größere Summe lag wahrscheinlich schon im Safe des Hinterzimmers. Er steckte das Geld ein und wischte mit einem Taschentuch jede Stelle ab, die er berührt hatte. Die Schublade der Kasse ließ er halboffen stehen, denn der Überfall sollte aussehen wie das Werk eines Amateurs. Erst jetzt gestattete er sich einen letzten Blick auf George Balknight.
Der Ladenbesitzer lag zusammengeklappt wie ein Taschenmesser in einer Pfütze von Wodka, rötlich gefärbt von seinem Blut, gespickt mit den Scherben der zerbrochenen Flasche. Die blutbefleckte Brille war ihm verrutscht, den Kopf hatte er seltsam zur Seite gedreht, als sei das Genick gebrochen.
Schnell trat der Attentäter zur Hinterwand und probierte an den Schaltern, bis nur noch die beiden rückwärtigen Lampen brannten und das Spirituosengeschäft genauso verschlafen dalag wie die Nachbarläden. An der Tür drehte er sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass George Balknights Leiche hinter der Theke nicht zu sehen war. Er ging hinaus und wischte die Türklinke ab. Ohne Eile überquerte er die Straße und blieb unter dem Dach der Bushaltestelle stehen. Er zog das gestohlene Geld und einen fertig adressierten Umschlag mit Briefmarke hervor, stopfte die Banknoten hinein, klebte den Umschlag zu und warf ihn in den nächsten Briefkasten. Die Adresse lautete ASPCA, Kansas City. Es war eine von vielen anonymen Zahlungen, die er für seine Vergünstigungen zu leisten hatte.
Fünf Minuten später hatte er die Stadt verlassen und fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit über das weiße Band der Schnellstraße in Richtung San Francisco. Er musste noch einiges erledigen. Das tat er drei Meilen weiter, an einer Stelle, wo die Straße bis dicht an das felsige Steilufer der Bucht heranführte. Er fuhr an den Rand, schaltete die Lichter aus, kletterte hinunter zum Strand und schleuderte die Pistole so weit wie möglich hinaus in den nassen Schlick. Dann füllte er die Diplomatenmappe mit Steinen und warf sie hinterher. Er kniete nieder, zog ein Tuch hervor, das mit einem Reinigungsmittel imprägniert war, und wusch sich gründlich die Hände. Sollte er durch einen unglücklichen Zufall gezwungen sein, sich einem Paraffintest zu unterwerfen, würde man auf diese Weise keine Spuren von Barium und Antimon an den Händen entdecken. Dann warf er den feuchten Lappen weg und kehrte zum Wagen zurück.
Es war geschafft. Er fuhr den dunkelgrünen Ford zu der Stelle hinauf, von wo es allmählich bis zu der gewaltigen Brücke bergab ging, und konzentrierte sich auf die wunderbare Aussicht, um die Reaktion zu bekämpfen, die unweigerlich kommen musste. Links vor ihm lag hinter dünnen Nebelschleiern das strahlende San Francisco auf seinen Hügeln. Sterne blitzten, silbernes Mondlicht ergoss sich über bizarre Felsen. Zufällig warf er einen Blick in den äußeren Rückspiegel und zuckte zusammen. Etwa fünfzig Meter hinter ihm rollte auf dem mittleren Fahrstreifen ein schwarz-weiß gestrichener Wagen der Verkehrspolizei heran. Er hielt die Luft an und atmete gleich erleichtert auf: Das Rotlicht blitzte nicht, es war nur eine Routinestreife. Er ging mit dem Tempo herunter, damit ihn der Polizeiwagen überholen konnte. Dabei ließ er den Rückspiegel nicht aus den Augen. Als er wieder nach vorn auf die Straße blickte, war es schon zu spät für den Hund, der ihm hechelnd ins helle Scheinwerferlicht sprang. Es war ein großer Jagdhund, goldbraun gefärbt. Für den Bruchteil einer Sekunde starrten ihn voller Entsetzen leuchtende Augen an, dann erfasste er das arme Tier mit der vollen Wucht von zwei Tonnen Stahl und Eisen. Der kräftige Tierkörper wurde durch die Luft geschleudert, beschrieb einen Bogen und schien im Zeitlupentempo mit flatternden Ohren über das Autodach wegfliegen zu wollen. Der Graue trat auf die Fußbremse und schlitterte dahin. Das Steuerrad drehte sich führungslos zwischen seinen Händen. Dann tat es einen Krach, und die Vorderräder prallten gegen die stählerne Leitschiene.
Mit einer mechanischen Bewegung stellte er die Zündung ab. Er bewegte Arme und Beine, schüttelte die Schultern und drehte den Kopf hin und her. Anscheinend war ihm nichts geschehen. Vorne war es dunkel, Wasser zischte. Also waren Scheinwerfer und Kühler zertrümmert. Er dachte flüchtig an den Hund und wusste, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Dann drückte er die Tür auf und trat schwankend auf die Straße hinaus. Benommen drehte er sich um und wäre fast in Ohnmacht gefallen.
Hinter ihm stand mit blinkendem Rotlicht der Streifenwagen. Daneben hatte sich ein Polizeibeamter aufgebaut, die Hände in die Hüfte gestützt, und musterte angeekelt den geköpften Hundekadaver, der quer über der Kühlerhaube lag. Er schüttelte mitleidig den Kopf. »So etwas darf eigentlich nicht wahr sein«, sagte er resigniert, »aber es kommt immer wieder vor.«
»Ich habe ihn gar nicht kommen sehen.«
»Ich weiß. Wir erleben das jeden Tag. Der Kopf muss über die Böschung gerollt sein. Tut mir leid, aber Sie müssen mitkommen. Für den Unfallbericht, verstehen Sie?«
Großer Gott!
Im Polizeiwagen blökte das Funkgerät. Der Beamte stieg ein, hörte zu, antwortete und kam wieder heraus.
»Gleich kommt der Abschleppdienst.« Er sah neugierig den anderen an, der schwer atmend am Kotflügel seines ramponierten Fords lehnte. »Gerade ist die Meldung durchgekommen, dass in Sequoia jemand ermordet wurde. Vor knapp einer Stunde. Ein Ladenbesitzer namens George Balknight. Ein Streifenbeamter hat durchs Fenster geschaut und gesehen, dass die Kasse offen stand. Der arme Kerl lag mit einem Loch im Kopf hinter der Theke.«
Der Beamte betrachtete ihn jetzt sehr aufmerksam und legte die Hand dabei auf die Pistolentasche. Oh, mein Gott, dachte der Graue, die falschen Kreditkarten, der falsche Name auf dem Flugticket und in der Tasche die Straßenkarte von Sequoia. Nur einer konnte ihm noch helfen: Stutz. Er musste etwas unternehmen. Stutz konnte es einfach nicht riskieren, mit hineingezogen zu werden. Sollte man ihn festhalten, musste er Stutz anrufen.
»Wahrscheinlich wieder ein paar Halbwüchsige«, sagte der Beamte. »Wir warten hier auf Verstärkung.«
Drittes Kapitel
Anna Collins wurde am Dienstagmorgen von einem hellen Sonnenstrahl geweckt. Sie hatten vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Sie betrachtete ihren Mann, der neben ihr auf dem Rücken lag. Sein braungebranntes Gesicht war im Schlaf gelöst, das leicht gewellte dunkle, haselnussbraune Haar lag so ordentlich auf dem weißen Kissen wie bei einem schlafenden Filmhelden. Kaum zu glauben, dass es derselbe Mann war, der eine Nacht zuvor in furchtbaren Krämpfen seinen Protest hinausgeschrien hatte.
Das war für sie entsetzlich gewesen, weil sie es schon zu oft erlebt hatte, dass Menschen in diesem Zustand in psychiatrische Kliniken geschafft wurden. Erst vor einer Woche hatte sie zugesehen, wie Dr. Monroe Lash, der neue Leiter der psychiatrischen Klinik im Bezirkskrankenhaus, einem Patienten eine schwere Beruhigungsspritze geben musste. Aber ihr Entsetzen war rasch den natürlichen Gefühlen der Ehefrau und Krankenschwester gewichen. Sie hatte Ridge in die Arme genommen, ihre Wange an sein verzerrtes Gesicht gelegt und leise beruhigend auf ihn eingeredet. Der Anfall war allmählich abgeebbt, sein Körper entspannte sich, er sank in die Kissen zurück und atmete wieder normal. Aufgewacht war er nicht.
Ganz verständlich, dachte sie, während sie leise aufstand und die Vorhänge zuzog. Er hatte Schreckliches durchgemacht, sechs Monate fast ununterbrochener Kämpfe. In dieser freundlichen, geruhsamen Umgebung würde er sich schon bald von den Alpträumen der Dschungelerlebnisse lösen und dann darüber sprechen können, wie man eben über einen bösen Traum spricht.
»Hallo, Squaw!«
Er lächelte und blinzelte schläfrig. Sie beschloss, sein Trauma nicht zu erwähnen.
»Hallo, Häuptling!«
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und tat resigniert. »Kaum bin ich wieder da, verlässt du mich schon.«
»Oh, nein, mein Junge.« Sie zog sich das dünne Nachthemd über den Kopf und warf es auf den Boden.
Nachdem sie wieder zu ihm unter die Decke geglitten war, hielt er sie regungslos in den Armen, wie einen kostbaren, aber sehr zerbrechlichen Gegenstand. Dann begann er mit dem Vorspiel, aber diesmal behutsam und zärtlich, beschienen vom Glanz der neuen Sonne, umweht von der kühlen Morgenluft, begleitet vom lustigen Gezwitscher der Vögel.
Sie frühstückten auf der Terrasse, saßen in ihren gelben Gartenstühlen und mussten sich zu dem niedrigen Tischchen niederbücken. Später schlenderte er, immer noch in seinem hellblauen Morgenmantel, nach vorn zur Straße und holte die Zeitung herein. Er gab Anna die Titelseite.
Anna machte es sich auf einem Liegebett bequem und fragte: »Hast du einen George Balknight gekannt?«
Er sah von seinem Blatt auf, das er gerade las.
»Balknight, nein. Müsste ich ihn kennen?«
»Kaum. Er wurde letzte Nacht hier in Sequoia ermordet. Unten am Marktplatz zwischen neun und zehn.« Sie drehte die Titelseite um und zeigte ihm die Schlagzeile:
Raubmord an Kaufmann aus Sequoia.
»Er besaß drei Spirituosengeschäfte. Nach allem, was man hört, scheint Morden zu einem Zeitvertreib geworden zu sein. Genau wie früher Fußball.«
»Hat die Polizei jemanden geschnappt?«
»Mal sehen. Ja, doch, aber sein Name wird nicht genannt. »Ein Mann in mittleren Jahren wurde in Untersuchungshaft genommen. Er stammt aus Kansas City und hat hier angeblich nach seiner durchgebrannten Ehefrau gesucht. Er wurde auf der Schnellstraße eins-null-eins gestellt, nachdem er einen Hund überfahren hatte. Die Polizei glaubt nicht an das Werk von Profis, da nur die Registrierkasse ausgeraubt wurde und die Schublade offen blieb. Im Safe befand sich ein größerer Geldbetrags
Klingt nach einer Halbstarkenbande. Seit ich nach Vietnam musste, habe ich kaum noch etwas anderes zu hören bekommen als Gewalttaten: Straßenraub, Friedensproteste, öffentliche Verbrennungen von Musterungsbescheiden, Bürgerrechtsdemonstrationen, Black Power, revoltierende Studenten, die sogenannte neue Linke, Hippies, Rauschgift und so weiter.«
Sie sah ihn von der Seite an, leicht betroffen durch den heftigen Ausbruch. Dabei hatte sie in ihren Briefen diese Themen bewusst ausgeklammert. »Mein Gott«, sagte sie, »lernt man das alles bei der Marineinfanterie?«
Er lächelte entschuldigend. »Nicht alles. Der Krieg hält uns ganz schön in Atem. Das meiste davon weiß ich von General Gunderson. Ich hab dir schon von ihm erzählt.«
»Das muss ja der liebe Gott sein.«
»In gewisser Weise schon. Jedenfalls hatte man das Gefühl, als könnte man sein Leben beruhigt in seine Hände legen.«
»War General Gunderson längere Zeit dein Vorgesetzter?«
Sie fragte zögernd, weil sie es einerseits wissen wollte, aber andererseits keine unangenehmen Erinnerungen heraufbeschwören wollte.
»Etwas über sieben Monate. Erst oben an der entmilitarisierten Zone, dann im Mekong-Delta.« Gedankenverloren fügte er hinzu: »Vor vierzehn Tagen kam er nach Saigon und besuchte mich jeden Tag. Er blieb immer über eine Stunde.«
»Dann muss er eine hohe Meinung von dir haben.«
»Das ist mein umwerfender Charme.«
Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ridge, ich wusste gar nicht, dass du die letzten vierzehn Tage in Saigon warst. Ich dachte, die Abmusterung dauert nur ein paar Tage.«
Er wich ihrem Blick aus. »Nein, es war länger. Ich wurde früher als erwartet aus dem Delta zurückgeflogen.« Er zögerte. »Der Sprit war mir ausgegangen.«
»Scheusal. In diesen zwei Wochen hast du mir keine Zeile geschrieben.«
»Ach was«, antwortete er verärgert. »Dann hab’ ich eben nicht geschrieben.« Er nahm sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Man wird da eingesperrt wie ein... ein Gattenmörder.«
»Ich verstehe«, sagte sie mit harmlosem Gesicht, aber sie wurde von einer seltsamen Unruhe befallen. Heimlichkeiten waren ihr fremd, da sie in einer großen, aufgeschlossenen Familie aufgewachsen war, wo niemand vor dem anderen ein Geheimnis hatte, und später unter Medizinern arbeitete, deren Offenheit fast schon brutal war. Aber Ridge schien ihr auszuweichen. Hysterische Nudel, ermahnte sie sich selbst, lass den lieben Kerl doch in Ruhe.
Er musste ihr Befremden gespürt haben, denn er sagte: »Anna, ich will mich nicht über das aufregen, was hier passiert, denn ich bin ja gerade erst zurückgekommen.« Er richtete sich auf und schüttelte unwillig den Kopf. »Sieh mal, Schatz, ich will zu dir ganz ehrlich sein...«
Ehrlich, dachte sie. »Aber natürlich.« Anna, nimm dich zusammen.
»Nur waren der General und ich wahrscheinlich die bestinformierten Leute in ganz Südostasien, was die Vorgänge hier anbetrifft. Ich habe Berichte in Zeitungen und Zeitschriften gelesen, die du wahrscheinlich nicht einmal dem Namen nach kennst. Ich habe Dutzende von Filmen gesehen und Tonbänder angehört, die nie im Fernsehen oder Radio veröffentlicht wurden. Das war ekelhaft. Daraus hätte jeder den Eindruck gewonnen, dass Amerika demnächst von einem Anarchisten-Haufen beherrscht werden soll.«
»War das denn eine Art Schulung?«
»Aber nein. General Gunderson hat mich nur informiert. Warum auch nicht. In seinen Augen war es doch so, dass er und seine Leute versuchten, einen schmutzigen Krieg zu gewinnen, an den er übrigens glaubte, wie andere an ihre Religion, während in der Heimat Kommunisten und Anarchisten der kämpfenden Truppe einen Dolch in den Rücken stoßen.«
Sie war verwirrt, wünschte aber, dass er weitersprach. Vermutlich brauchte er diesen Läuterungsprozess, und möglicherweise erfuhr sie doch etwas über die Hintergründe seiner erschreckenden Alpträume. »Gab es denn bei dieser Schulung keinen Widerspruch?«
Ridge verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Aber nein. Der Hörerkreis bestand ja nur aus einer Person: Lieutenant Ridge Collins. Natürlich hat er auch manchmal vor dem ganzen Regiment getönt. Aber dann hat man ihm von oben einen Schalldämpfer verpasst. Das war kurz bevor ich ihn kennenlernte.«
»Aber warum gerade du?«