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Zwanzig Jahre lang hatte er um Cathie getrauert. Erst dann musste der Werbefachmann Paul Sevrance erkennen, dass seine Frau vor ihrem Selbstmord einem anderen Mann gehört hatte.
Aber hatte ihr Freitod dann noch irgendeinen Sinn? Lag es nicht sehr viel näher zu vermuten, dass Cathie ermordet wurde?
Ein wiedergefundener Brief gibt Paul Sevrance schließlich letzte Gewissheit...
Der Thriller Zwanzig Jahre nach dem Mord von Richard Neely – erstmals im Jahr 1969 veröffentlicht – ist ein klassischer, düsterer Rätsel-Krimi, spannend von der ersten bis zur letzten Seite.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
RICHARD NEELY
Zwanzig Jahre
nach dem Mord
Apex Crime, Band 17
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ZWANZIG JAHRE NACH DEM MORD
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zwanzig Jahre lang hatte er um Cathie getrauert. Erst dann musste der Werbefachmann Paul Sevrance erkennen, dass seine Frau vor ihrem Selbstmord einem anderen Mann gehört hatte.
Aber hatte ihr Freitod dann noch irgendeinen Sinn? Lag es nicht sehr viel näher zu vermuten, dass Cathie ermordet wurde?
Ein wiedergefundener Brief gibt Paul Sevrance schließlich letzte Gewissheit...
Der Thriller Zwanzig Jahre nach dem Mord von Richard Neely – erstmals im Jahr 1969 veröffentlicht – ist ein klassischer, düsterer Rätsel-Krimi, spannend von der ersten bis zur letzten Seite.
Dieses große schwarze Ungetüm von einem Reisekoffer - als wir noch unsere Sommerferien an der Küste von New Jersey verbrachten, hatte ihn meine Mutter jedes Mal per Schiff vorausgeschickt. Er war verkratzt und mit einer Staubschicht bedeckt, das runde Schloss hing offen (der Schlüssel dazu war schon seit langem verschwunden), und die Beschläge waren voller Rostflecken. Als ich in die Rumpelkammer ging, stieß ich mir die Hüfte an einer der messingbeschlagenen Ecken an. Fluchend rieb ich mir die schmerzende Stelle, holte vom Kleiderständer einen dunkelgrauen Mantel, warf ihn über den Arm und knipste das Licht aus. Die Hand noch am Schalter, machte ich es nochmals an und starrte lange auf den Koffer. Ich fühlte einen Schmerz, aber diesmal innerlich.
Entschlossen löschte ich das Licht erneut, stieß die Tür mit dem Fuß zu und ging am Schlafzimmer vorbei den kurzen Flur entlang ins Wohnzimmer. Ich sah mit einem Blick, dass der Mantel, bevor er im letzten Frühjahr weggehängt wurde, noch gereinigt worden war. Ich hängte ihn in den Kleiderschrank neben der Tür und ging nach links auf die Bar zu.
Dieser verdammte Koffer. Die ganzen fünf Jahre über, solange ich in diesem Appartement wohnte, hatte ich nicht an ihn gedacht. Jedenfalls nicht bewusst an ihn gedacht. Seit dem Tage, als ich in Jackson Heights in dem kleinen Appartement im Erdgeschoss mein Leben mit Cathie darin eingeschlossen hatte, war er aus meinem Bewusstsein verbannt. Im Oktober 1946: zur gleichen Jahreszeit - nahezu zum gleichen Tag. Vor einundzwanzig Jahren.
Ach, zum Teufel damit, dachte ich, warf Eis in das große Martiniglas und stocherte darin herum. Der Koffer ging mir noch immer nicht aus dem Sinn, und ich versuchte sein Bild mit Hilfe anderer Bilder zu verdrängen: Adlai Marston, Präsident der Cowan and Marston Werbeagentur, der mit seiner schwarzgeränderten Brille leicht gegen die Handfläche klopfte, während er sich über den Marktanteil verschiedener Produkte von General Packing informierte, einem Kunden, für den ich verantwortlich war. Kirby Welles, einer meiner besten Freunde, künstlerischer Leiter der Agentur, der lachend davon erzählte, wie seine Vorstellungen von einer Werbekampagne in den Zeitschriften heute Morgen in Augenschein genommen worden waren; von einem Hotelbett aus, in dem auch noch ein Callgirl lag, hatte der Kunde gähnend die Layouts bewundert. Barbara Wynn, die schnell noch vor Mittag in mein Büro kam, mir einen Kuss auf die Wange hauchte und leichthin sagte: »Solltest du heute Abend um weibliche Gesellschaft verlegen sein, Paul, ich denke, bei mir ließe sich das heute einrichten.«
Barbara Wynn. Wie lange ging das nun schon? Acht Monate? Zehn? Vielleicht schon zu lange, da ich doch an keinerlei feste Bindung dachte, wenn auch Barbara selbst eine Abneigung gegen die Ehe hatte. Aber nach Cathie hatte es noch eine Mrs. Paul Sevrance gegeben. Linda... Das Ganze hatte jedoch wie in einem Irrenhaus geendet, und ich hatte mir geschworen: nie wieder. Ich wollte an etwas Erfreulicheres denken! Mittagessen mit Wes Bronson im 21. Besser noch: allein dorthin gehen in der warmen Luft des Indian Summer, vorbei an den hübschen Mädchen, die noch ihre leichten Kleider trugen. Aber als ich um 5 Uhr 30 das Bürogebäude verließ, hatte das Wetter umgeschlagen, und ein beißend kalter Nordwind fegte durch die Madison Avenue.
Darum hatte ich mir auch den Mantel holen wollen. Und damit war ich wieder bei meinem Koffer.
Ich nippte an einem kleinen Martini und fühlte mich unbehaglich. Es war 6 Uhr 30. Barbara Wynn sollte schon längst hier sein...
Das Telefon auf der Bar schrillte, und ich nahm den Hörer ab. Es war Barbara. Sie war immer noch in der Agentur. Wes Bronson, Werbeleiter von General Packing, und sein Assistent Brad Follensbee waren ebenfalls dort. Sie hatten sich eben den Fernsehfilm angesehen, der nächste Woche über den Bildschirm gehen sollte. Es klang, als müsste Barbara ein Lachen unterdrücken: »Stell dir vor, Paul. Der Held liegt verblutend auf der Highway - die ganze Straße voller Blut. Ausblendung, es wird dunkel. Und dann beginnt unser Werbespot - mit einer Großaufnahme von dem Ketchup unseres lieben Kunden - ein rotes, blutrotes Ketchup, das über ein Stück Fleisch fließt. Bronson gab eine Reihe merkwürdiger Geräusche von sich. Es hörte sich an wie Brechreiz. Sein Getreuer Follensbee wurde ganz grün im Gesicht. Aber das kriegen wir schon hin, Paul. Wir bringen einfach den zweiten Spot zuerst.« Pause. »Fühlst du dich einsam? Ich hoffe es.«
»Ja«, sagte ich und stellte überrascht fest, wie einsam ich mich fühlte.
»Bleib so, Darling, bis in einer halben Stunde könnte ich es schaffen.«
Ich legte auf, goss zur Stärkung noch etwas mehr Martini in mein Glas und spielte über Wandstereo Mantovanis The Nearness Of You. Ich setzte mich für einen Augenblick auf das Sofa. Noch eine halbe Stunde Zeit war totzuschlagen. Nicht genügend Zeit, um etwas Vernünftiges damit anzufangen, und zu viel Zeit für einen Mann, der mit einem Riesenglas voll Martini alleingelassen wurde. Ich musste wieder an den Koffer denken. Indirekt hatte der Temperatursturz meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, und während ich nun auf Barbara wartete, drängte er mir seine Gesellschaft auf. Warum konnte man sich das verdammte Ding nicht einfach wegdenken? Was enthielt es denn schon Wichtiges? Verblichene Fotografien, alte Souvenirs, eine Anzahl altmodischer Kleider - eigentlich nichts sonderlich Bedrohliches. Wirklich nicht? Warum stellte ich mir dann den Inhalt als etwas Unbestimmtes vor und dachte nicht an die einzelnen Gegenstände? Wollte ich einer unangenehmen Wirklichkeit ausweichen?
Verdammt, das war’s doch, was der Psychiater mit mir gemacht hatte. Sondieren, herausfinden, was es ist, um ihm dann zu begegnen. Warum nicht einfach den Deckel des Ungeheuers aufklappen und die Dämonen loslassen?
Ich kam mir lächerlich vor, als ich zurück zur Rumpelkammer ging. Das schwarze Ding stand im Schein der nackten Glühbirne, und ich stand wie ein Frevler da, der eine Gruft beraubt. Ich stöhnte angewidert, während ich versuchte, die verrosteten Schlösser aufzubrechen, die schließlich mit einem knirschenden Geräusch aufsprangen. Zunächst wollte der Deckel nicht hochgehen, doch dann öffnete er sich knarrend, Staub und Modergeruch stiegen auf. Im obersten Fach lagen, genau wie ich es in Erinnerung hatte, ein Haufen loser Fotografien, Familienalben, billiger Schmuck, der meiner Mutter gehört hatte. Ich griff nach einer Porträtaufnahme meines Vaters: ein kantiges Kinn, die Backenknochen hoch angesetzt, die Lider halb über den Augen, blickte er streng durch seine randlose Brille.
Ich ließ das Bild fallen und nahm eine Aufnahme von meiner Mutter, auf der auch mein Bruder und ich zu sehen waren. Sie saß auf einem Diwan und lächelte ihr warmes, liebevolles Lächeln. Neben ihr saß mein eigenes Abbild, neun Jahre alt. Es war unübersehbar, dass das Kind der Sohn des Mannes war: das gleiche dichte schwarze Haar, die gleiche kleine Nase, tiefliegende Augen, die bereits ein erstes Anzeichen von dem späteren hageren Aussehen waren. Ich betrachtete meinen Bruder Rick, der zwei Jahre jünger war als ich, jedoch älter aussah. Wie er dastand, irgendwie unverschämt, ohne zu lächeln, Ungehorsam im Blick - die ganze Haltung war in dem Zweiundvierzigjährigen, der jetzt Direktor der Continental Broadcasting Company war, immer noch latent vorhanden.
Ich warf die Fotografie wieder zu den anderen und stand dann da, voller Widerwillen, weiterzumachen. Aber ich musste, das war mir jetzt klar. Zögernd hob ich das Fach hoch und stellte es auf den Boden. Darunter waren, wie ich sofort erkennen musste, jene Gegenstände, die zu sehen ich mich fürchtete; das waren nicht so sehr die Uniform, das verrostete Samurai-Schwert, die japanische Flagge und auch nicht die Bündel von Briefen - sie riefen nur ein Gefühl von Wehmut hervor.
Was augenblicklich die Wunde wieder aufriss, waren Cathies Hochzeitskleid, die rote Seidenhandtasche, die ich ihr aus Japan geschickt hatte, und die Zuchtperlenkette, die ich auf dem Weg nach Hause auf dem Schiff bei mir hatte, aber ihr nie mehr geben sollte. Ich bemerkte kaum, wie ich mich langsam nach vorne neigte, den kühlen, scharfen Rand des Koffers umklammerte und den schwachen Duff einatmete, der noch nach einundzwanzig Jahren von ihrem Kleid ausging. Ich schüttelte heftig den Kopf, rieb mir das Gesicht, wobei ich deutlich meine hohlen Wangen fühlen konnte. Indem ich es bewusst vermied, das Kleid zu berühren, griff ich nach der Perlenkette. Eine Perle war so schön wie die andere. Und wie damals dachte ich: »Wie hätte Cathie sie geliebt.« Ich ließ die Kette auf das Kleid fallen, wo sie zusammengerollt liegenblieb, und nahm die Handtasche. Der Goldverschluss öffnete sich leicht. Meine Fingerspitzen berührten einen kalten Gegenstand. Es war eine kleine Münze, ein japanisches Silber-Yen-Stück. Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte, bevor ich die Tasche an Cathie abschickte, die Münze hineingesteckt - als Glücksbringer, wie ich ihr schrieb. Offensichtlich hatte sie sich in einer Ecke der Tasche versteckt, als ich sie damals 1946 leerte.
Sollte ich noch etwas übersehen haben?
Ich öffnete die Tasche weit und suchte. Nichts. Nur, dass mir eine Seite etwas steifer schien. Ich drückte leicht dagegen, und es knisterte. Ich fand eine kaum sichtbare kleine Seitentasche, griff hinein und zog einen Brief hervor. Er war adressiert an:
T/4 Paul Sevrance – 39443718
AFIS I & E Det. GHQ AFP A
APO 500, c/o Postmeister
San Francisco, Calif.
Einen Augenblick lang war ich verwirrt, dann sah ich, dass die Luftpostmarke nicht abgestempelt war; der Brief war nie abgeschickt worden. Langsam ging ich in das Wohnzimmer, zurück an die Bar. Ich füllte mein Glas mit einem wässrigen Martini, nahm das Glas mit zum Sofa und stellte es auf dem schweren, schwarzen Kaffeetisch ab. Ich setzte mich und öffnete den Umschlag. Meine Hand zitterte leicht, als ich das zusammengefaltete Blatt Papier herausnahm.
4. Oktober 1946 18 Uhr
Mein liebster Paul!
Ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich noch, bevor Du auf dem Schiff bist.
Liebster, Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass Du endlich wieder heimkommst. Ich war einfach schrecklich unglücklich ohne Dich! (Ich habe mir das die ganze Zeit über nicht anmerken lassen, denn ich wollte Dir eine gute Frau sein und Dir keinen Kummer bereiten. Aber jetzt darf ich es Dir ja sagen!)
Wie Du siehst, bin ich umgezogen. Das war vor drei Tagen, und heute wurde mir Dein Brief nach ge schickt, in dem Du schreibst, dass Du auf dem Weg zum Einschiffungshafen Yama bist.
Ich glaube, Du wirst die Wohnung in Jackson Heights mögen. Nichts Überwältigendes, aber sie ist im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes mit nur sechs Familien. Wir haben auch einen kleinen Hof hinter dem Haus, wo man sich sonnen kann, und vor dem Haus stehen wirklich ein paar Bäume!
Wenn ich mir vorstelle, dass es nun schon über zwei Jahre sind - mir kommt es vor, als hätte es über hundert Jahre gedauert! Ich weiß, dass es anfangs nicht einfach sein wird. Wir haben ja inzwischen zwei ganz verschiedene Leben geführt - und ich muss auf Dich gewirkt haben wie eine Unbekannte bei all dem dummen Zeug, von dem meine Briefe voll waren und das nicht das Geringste mit Dir zu tun hatte. Aber wir werden alles nachholen, Paul, Liebling! Komm schnell, schnell! Wenn Du nur in einem Flugzeug sitzen würdest und nicht auf einem Schiff! Wenn Du nur fliegen könntest!
Ich höre hier auf, weil ich den Brief noch heute Nacht aufgeben will. Ich stecke ihn in die wunderbare Seidentasche, die Du mir geschenkt hast, und gehe damit zum Briefkasten.
Ich liebe Dich!
Deine Cathie
Ich hielt den Brief krampfhaft fest und begann zu zittern. Cathie! Ja, das war Cathie - die voller Enthusiasmus hingeworfenen Sätze, ihre optimistische Gewissheit, dass alles wieder so werden würde wie früher. Wenn sie diesen Brief nur abgeschickt hätte, um wieviel weniger elend hätte ich mich auf dem Schiff gefühlt...
Aber, mein Gott, was hätte es schon geändert!?
Warum nur hatte Cathie diesen Brief nicht aufgegeben?
Die Antwort traf mich wie ein Fausthieb:
4. Oktober 1946
Der Brief wurde nicht aufgegeben, weil Cathie noch an diesem Abend den Verstand verloren und beschlossen hatte, auf niemanden mehr zu warten...
Mantovanis Musik erfüllte den Raum. Ich las den Brief ein zweites Mal. Die Wärme, die von ihm ausging, umfing mich und ließ mich den Tag vergessen, an dem er geschrieben wurde. Ich lehnte mich zurück und dachte an Cathie.
Februar 1943. Es schneite an dem Tag, an dem ich Tom Landons neue Sekretärin vor dessen Büro traf: Catherine Hunter, gerade neunzehn Jahre alt und von einem Bürokurs direkt zu uns gekommen. Sie war ein nicht sehr großes, fast zerbrechlich wirkendes Mädchen. Ein sensibler Mund, der sich schnell zu einem Lächeln verzog, große ovale Augen in einem feingeschnittenen Gesicht, die hohe, geschwungene Stirn, die unter dem wundervollen schwarzen gewellten Haar verschwand. Der Blick und das Lächeln waren einladend. Und ich war doch nur ein angehender Texter und wurde außerdem bald eingezogen. Ich hatte das Gefühl, als würde etwas ganz Besonderes auf mich zukommen.
Und es kam. Bei unserer dritten Verabredung. Es war an einem Samstag, und wir blieben die Nacht über in der Wohnung eines Ehepaares, das ich kannte. Cathie schlief auf dem Sofa und ich hatte mir aus Stuhlkissen auf dem Boden ein Bett gemacht. Am nächsten Morgen lagen wir beide auf dem Sofa, und Cathies Unterrock war total zerknüllt über ihre Brüste hochgeschoben. Der Ausbruch einer großen Leidenschaft, die schon vom ersten Tag an geschwelt hatte.
Zwei Wochen später dann die Hochzeit - sie fand während unserer Mittagspause statt. Die Trauzeugin (eine Diane soundso, die mit Cathie im Barbizon gewohnt hatte) kicherte und heulte wechselweise in einem fort. Den Trauzeugen spielte Cathies Boss, Tom Landon.
Und dann kamen Cathies Sachen in mein kleines Appartement in der West 90th. Street. Ich fing an, sie kennen und verstehen zu lernen.
Cathies Lachen. Es verging so schnell wie es kam, und ebenso schnell wurde ein Weinen daraus. Ihr ständiges Gefühl von Unsicherheit. Ihre Obernervosität, die sie mit Phenobarbiton zu beruhigen versuchte. Keiner von uns nahm das besonders ernst, wo uns doch so viel Erfreulicheres beschäftigte.
Und dann als Hochzeitsgruß vom Präsidenten der Vereinigten Staaten und von ihm persönlich unterschrieben: der Einzugsbefehl. Zur Luftwaffe. Cathie gab ihren Job auf, um mir nach Sheppard Field bei Wichita Falls, Texas, zu folgen.
Neun Wochen Grundausbildung unter der heißen Sonne der beiden Monate Juli und August. Aber ich brachte sie spielerisch hinter mich, weil es Cathie gab, die daheim auf mich wartete. Daheim: Das war ein möbliertes Zimmer mit Küchenbenutzung, irgendwo am Stadtrand. Und dann ging alles überstürzt: ein Monat San Antonio und Cathie, die in der Nähe wohnte. Vier Tage Truppentransport in einem langsam dahinkriechenden Zug nach Camp Stoneman, nördlich von San Francisco. Keinen Ausgang. Aber ich schlüpfte nachts durch den Stacheldrahtzaun, um mich mit Cathie in einem erbärmlichen, gemieteten Zimmer zu treffen. Zehn Tage später fuhr ich mit einem Fährboot zum Einschiffungshafen in San Francisco. Und schließlich war ich unterwegs zu den Kämpfen, die im Süd-Pazifik tobten - auf der Präsident Weigal, zusammengepfercht mit weiteren siebentausend Mann, dampfte ich unter der Golden Gate Bridge hindurch.
Aber ich sollte keine Schlacht zu sehen bekommen. Ich hörte nur davon - als Schreiber auf der Schreibstube, mit einem Streifen am Ärmel.
Dann wurde ich dem wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin MAPTALK zugeteilt, das von der Abteilung Information und Bildung herausgegeben wurde. Nach dem Abwurf der Atombombe und der Kapitulation siedelten wir von Manila nach Tokio über. Ich wurde zum Stabssergeanten und leitenden Redakteur von MAPTALK befördert, hatte eine behagliche Unterkunft im Mitsubishi-Gebäude im Herzen Tokios, einen eigenen Jeep, haufenweise Schnaps, und die Mädchen waren äußerst entgegenkommend.
Aber die ganze Zeit über war da eine Einsamkeit, die sich bis zur Panik steigerte. Cathie schrieb zwar oft, aber anders als früher. Waren ihre Briefe anfangs voller Liebe und Sehnsucht, so schrieb sie mir jetzt fast nur noch belanglose Einzelheiten über ihren Tagesablauf und das Büro. Sie war wieder als Tom Landons Sekretärin in der Agentur und hatte zusammen mit Diane, der Trauzeugin, ein Appartement in der East 19th Street genommen. Angestrengt, als würde ich nach Gold schürfen, versuchte ich in ihren Briefen Worte liebender Zuneigung zu entdecken.
Gott sei Dank war da Kirby Welles. Er schrieb für MAP- TALK, und er musste mich buchstäblich mitschleppen, um mir etwas Lokalkolorit zu zeigen: Bierkneipen, Tanzbars, das für Militär verbotene Yoshiwara. Kirby wusste überall Bescheid. Kaum hatten die japanischen Mädchen sein blondes Haar, die rosigen Wangen und sein breites Grinsen erspäht, als sie auch schon entzückt zu kichern begannen. Ende Mai war Kirby auf einmal verschwunden. Seine Zeit war um, und er hatte alle die zu seiner Entlassung notwendigen Bedingungen erfüllt. Irgendwie hatte er es geschafft, eine Passage für eine Truppentransportmaschine zu kriegen. Beruflich hatte er keine bestimmten Pläne, nur wollte er irgendwo mit Schreiben zu tun haben. Ich hatte ihm einen Lobgesang von Empfehlungsbrief an den Cheftexter der Phillip Cowan Agentur mitgegeben. Wie er mir zwei Wochen später schrieb, wurde er noch am gleichen Tag, an dem er sich beworben hatte, eingestellt. Außerdem hatte er Cathie getroffen und meinte, ich hätte in meinen Schilderungen bestimmt nicht übertrieben.
Meine Entlassung erfolgte erst Ende September. Elf Tage lang war ich auf der überfüllten Marine Serpent eingepfercht. Ich sehnte mich nach Cathie und versuchte meine Gedanken auf unser gemeinsames Leben von damals zu konzentrieren, von dem ich nur noch ein verschwommenes Bild hatte. Schließlich kam Seattle in Sicht - riesige Fahnen mit der Aufschrift Gut gemacht, auf den Decks von weißen Schleppern tanzten langbeinige Mädchen, Musikkapellen spielten und ein Leuchtwunder von Myriaden von Lichtern erstrahlte.
Wir gingen das Fallreep hinunter, wurden wie eine Schafherde in Lastwagen verladen, die mit uns nach Fort Lewis rasten. Ich schwitzte voller Ungeduld, als der Sergeant plötzlich brüllte: »T/4 Sevrance zum diensthabenden Offizier!« Als ich im Zimmer des Captains allein war, griff ich nervös zum Hörer und wählte die Nummer einer New Yorker Vermittlung. Wer außer Cathie sollte mich hier anrufen? Das Herz klopfte mir bis zum Halse...
Aber es war nicht Cathie. Es war mein Bruder Rick, der schon seit vier Monaten entlassen war. Seine Stimme klang rau vor unterdrückter Bewegung. Er wusste, wann ich ankommen würde, denn er hatte über das Rote Kreuz nach Yokohama telegrafiert.
Schließlich musste er es sagen: »Gott, Paul, es bleibt mir nichts anderes übrig... Cathie, Paul... sie...«
»Cathie! Was ist mit Cathie?«
Es war vor acht Tagen geschehen, drei Tage nachdem ich an Bord gegangen war; er hatte durch Beziehungen erreicht, dass die Behörden mich nicht gleich benachrichtigten - nicht ehe ich wieder in den Staaten war und er mir die Nachricht selber überbringen konnte.
»Rick, Rick, wovon zum Teufel sprichst du denn überhaupt?«
Und dann erfuhr ich es: In der Nacht des 4. Oktober hatte Cathie sich in die Küche ihrer Wohnung in Jackson Heights eingeschlossen, die Fenster verriegelt, nasses Zeitungspapier unter die Tür geklemmt und den Gashahn geöffnet. Ungefähr um zwanzig Uhr dreißig hatte eine Mrs. Kantakulos, die über ihr wohnte, Gas gerochen, war hinuntergeeilt und hatte Cathie ausgestreckt auf dem Boden liegend vorgefunden. Sie war tot. Ihre Leiche lag jetzt in der Leichenhalle von Jackson Heights. Adlai Marston, damals stellvertretender Geschäftsführer, hatte darauf bestanden, dass die Agentur für die Kosten des Begräbnisses aufkommen sollte. (Später habe ich erfahren, dass er mit eigenem Scheck bezahlt hatte.)
Eine Stunde später war ich schon im Flugzeug - für Rick und mich war am Ende der Reise ein im Regen aufgeweichter Friedhof.
Wie betäubt griff ich nach meinem Martini und leerte das Glas mit einem Zug. Ich dachte an meinen rasenden Schmerz, der nicht weichen wollte, den weder Zeit noch Frauen mildern konnten. Auch Trinken half nicht. Drei schreckliche Jahre gab es kein Entrinnen. Ich tat meine Arbeit so nachlässig, dass meine Freunde mich schließlich nicht mehr decken konnten. Da schaltete sich Adlai Marston ein. Er war inzwischen Präsident und leitender Geschäftsführer der Firma (Phillip Cowan war zurückgetreten), die jetzt Cowan und Marston hieß. Dankbar erinnerte ich mich jetzt an Adlais Toleranz und Mitgefühl. Obwohl er starke Anteilnahme für meinen großen Verlust bewies, machte er mir klar, dass es an der Zeit wäre, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Von der Firma könnte ich jede Hilfe erwarten. Adlai schlug eine psychotherapeutische Behandlung vor, für deren Kosten die Firma aufkommen würde. Elend und voller Selbsthass, lehnte ich ab. Ich würde damit schon allein fertigwerden, versprach ich ihm.
Aber es war mir nicht gelungen. Einen Monat später heiratete ich im Rausch das Mädchen, mit dem ich gerade befreundet war. Schon nach ein paar Monaten hatte Linda herausgefunden, dass das wilde Allesauskostenwollen, das sie an mir so faszinierend fand, nicht für die Ehe taugte. Nach nicht ganz einem Jahr floh sie nach Florida und reichte die Scheidung ein, und mit der Zeit erinnerte ich mich an sie nur mehr wie an jemanden, den ich einmal kurz auf einer Party getroffen hatte.
Als mich Adlai erneut drängte, mich doch behandeln zu lassen, gab ich nach. Vier Jahre lang, viermal die Woche, lag ich flach ausgestreckt auf einer schwarzen Ledercouch und redete. Was zum Schluss dabei herauskam, war ein Mann, der wieder seine Identität gefunden hatte. Aber gleichzeitig - und das bedauerte ich manchmal - war er gegen eine Inbesitznahme durch einen anderen immun geworden. Leider wurde auch Barbara Wynn betroffen.
Ich starrte auf den Brief. Bruchstückhaft kamen mir einige Sätze wieder in Erinnerung: »Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass Du endlich wieder heimkommst... ich glaube, Du wirst die Wohnung in Jackson Heights mögen...wir werden alles nachholen... ich liebe Dich...«
Jetzt erst drängte sich mir eine Frage auf: Warum hatte die Schreiberin eines so zärtlichen, hoffnungsvollen Briefes keine zwei Stunden später daran gedacht, Selbstmord zu begehen?
Aber da war ja noch ein anderer Brief - ein paar Zeilen nur -, der zweifellos bewies, dass Cathie sich das Leben genommen hatte. Cathies Schrift, und auch das blaue Briefpapier war das gleiche.
Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich einen Zwang verspürte, jene Zeilen nochmals zu lesen. Aber wo konnte der Brief sein? Die Polizei hatte ihn mir Wochen nach der Tragödie zurückgegeben. Er musste in dem Koffer sein.
Er war zwischen die anderen Briefe gerutscht, die sie mir geschickt hatte. Als ich ihn jetzt wieder las, sah ich eindeutig: Es war Cathies Handschrift.