Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium - Anna Cornelius - E-Book

Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium E-Book

Anna Cornelius

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Beschreibung

Wer ist der auferstandene Jesus? Und was hat er mit dem Irdischen zu tun? Diesen beiden Fragen widmet sich das Buch. Es behandelt diese Fragen aber nicht "an sich", sondern in der Auseinandersetzung mit zwei Texten, die den Irdischen und den Auferstandenen vorkommen lassen, dem Matthäus- und dem Lukasevangelium. Für die Analyse dieser Texte wird eine literaturwissenschaftliche Verfahrensweise, die Figurenanalyse, erläutert und genutzt. Zunächst wird das Bild beider Evangelien vom Auferstandenen nachgezeichnet. Im Anschluss wird in beiden Evangelien zur Darstellung des Irdischen zurückgefragt, um Kontinuitäten und Akzentverschiebungen freizulegen. Dabei zeigt sich: Jesus – der Auferstandene und der Irdische, der matthäische und der lukanische – begegnet eben nicht als ein und dieselbe Figur.

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Anna Cornelius

Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Inhalt

WidmungVorwort1 Einleitung2 Methodik2.1 Narratologie2.2 Erzählmodelle2.2.1 Überblick über verschiedene Erzählmodelle2.2.2 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell2.3 Figurenanalyse2.3.1 Vorgehensweisen der Figurenanalyse in verschiedenen Bereichen2.3.2 Zur figurenanalytischen Untersuchung in dieser Arbeit3 Figurenanalyse des Auferstandenen3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1–203.1.1 Fremdcharakterisierung des Auferstandenen3.1.2 Selbstcharakterisierung des Auferstandenen3.1.3 Figur und Figuren3.1.4 Figur und Umwelt3.1.5 Figur und Handlung3.1.6 Figur und Erzähler3.1.7 Fazit3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1–533.2.1 Fremdcharakterisierung des Auferstandenen3.2.2 Selbstcharakterisierung des Auferstandenen3.2.3 Figur und Figuren3.2.4 Figur und Umwelt3.2.5 Figur und Handlung3.2.6 Figur und Erzähler3.2.7 Fazit3.3 Vergleich beider Figurendarstellungen3.3.1 Fremdcharakterisierung des Auferstandenen3.3.2 Selbstcharakterisierung des Auferstandenen3.3.3 Figur und Figuren3.3.4 Figur und Umwelt3.3.5 Figur und Handlung3.3.6 Figur und Erzähler3.3.7 Fazit4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen4.1 Im Matthäusevangelium4.1.1 Die Exousia des Irdischen4.1.2 Die Mission des Irdischen4.1.3 Fazit4.2 Im Lukasevangelium4.2.1 Die Mahlgemeinschaft beim Irdischen4.2.2 Die Metanoia beim Irdischen4.2.3 Die Einordnung in den göttlichen Plan beim Irdischen4.2.4 Der Heilige Geist beim irdischen Jesus4.2.5 Fazit5 GesamtfazitLiteraturverzeichnis

Für Anita und Peter

in Liebe und Dankbarkeit

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015/2016 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet.

Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn, der die Entstehung dieser Arbeit angeregt hat. Während der zwei Jahre ihrer Entstehung hat er mich stets ermutigt und unterstützt, mir aber gleichzeitig auch den nötigen Freiraum gelassen. Frau Prof. Dr. Christine Gerber danke ich für ihre Unterstützung hier vor Ort in Hamburg.

Ein besonderer Dank gilt auch der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz für die Gewährung eines Promotionsstipendiums für zwei Jahre sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland für ihre finanzielle Unterstützung in der Zeit bis zum Rigorosum.

Für die Aufnahme in die Reihe NET danke ich dem Herausgeberkreis der Reihe. Dem Francke-Verlag danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung. An den Druckkosten haben sich dankenswerterweise die Georg-Strecker-Stiftung und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland beteiligt.

Ein weiterer Dank gilt dem Team der Krankenhausseelsorge des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Während meiner Promotion hier als Ehrenamtliche mitarbeiten zu dürfen, hat mir zusätzlich viele neue Einblicke und intensive Erfahrungen ermöglicht.

Ganz herzlich bedanke ich mich auch bei meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Freunden, die mir während dieser Zeit immer zur Seite standen und mich in meinem Vorhaben motiviert und bestärkt haben.

Schließlich danke ich ganz besonders meinem Mann für sein Verständnis und seinen bedingungslosen Rückhalt.

 

Hamburg, im Juni 2016Anna Cornelius

1Einleitung

„Wer ist der durch Gott von den Toten Auferweckte?“1 „Ist der auferstandene Jesus Christus, der Herr, den die neutestamentliche Verkündigung bezeugt, erkennbar derselbe wie der irdische Jesus, der Bote des Reiches Gottes, der um seiner Botschaft willen angefeindet und getötet wurde?“2 Diese zentralen Fragen nach dem Auferstandenen und seiner Relation zum Irdischen sind seit je her und auch heute noch im Bereich der Dogmatik oft gestellte und diskutierte Fragen.3 Diese Arbeit wird den Fragen nachgehen, sie dabei jedoch auf eine andere Ebene, nämlich auf die Ebene des Textes des Matthäus- und Lukasevangeliums, stellen.

Es soll im Folgenden untersucht werden, wie das Matthäus- und das Lukasevangelium jeweils die literarische Figur des Auferstandenen darstellen und welches Bild sie von ihm zeichnen. Darüber hinaus soll gefragt werden, wie sich die Darstellung des auferstandenen Jesus zur Darstellung des irdischen Jesus in den beiden Evangelien verhält, ob es sich jeweils um eine kohärente und in sich geschlossene Figurendarstellung handelt oder ob bei der Darstellung des Auferstandenen im Vergleich zur Darstellung des Irdischen ganz neue Akzente gesetzt werden.

Der Vergleich der Figurenzeichnung beider Evangelien soll dazu beitragen, das christologische Profil der beiden Evangelien, das in der Darstellung des Auferstandenen im Rückbezug auf die des Irdischen zum Ausdruck kommt, möglichst genau zu erfassen. Die Analyse der Figur des Auferstandenen in den Ostergeschichten sowie der Rückblick auf die jeweils vorangehende Darstellung des Irdischen und schließlich der Vergleich zwischen beiden Evangelien unter diesem Gesichtspunkt sollen also im Verständnis der Christologie des Matthäusevangeliums und des Lukasevangeliums weiterführen.

Um das Bild, das das Matthäus- und das Lukasevangelium vom Auferstandenen zeichnen, zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, bietet sich die aus dem Bereich der Literaturwissenschaft stammende narratologische Methodik der Figurenanalyse an. Diese kann durch gezielte Fragestellungen vielfältige Beobachtungen im Text zutage fördern, die dann im Hinblick auf die mögliche Intention des jeweiligen Evangeliums ausgewertet werden können.

Die bisherige (historisch-kritische) Forschung zur Christologie in den Evangelien ist u.a. geprägt von einer Konzentration auf die Hoheitstitel Jesu.4 Erst in der letzten Zeit wurden einige narratologische Untersuchungen zur Jesus-Figur unternommen.5

Der Vorteil einer solchen narratologischen Analyse der Jesus-Figur liegt darin, dass sie vielschichtige und differenzierte Einblicke und Erkenntnisse liefert, indem sie die Jesus-Figur in ihrer Rolle und Funktion innerhalb einer Handlung, in ihren Beziehungen zu anderen Figuren sowie zur dargestellten Umwelt und in Beziehung zum Erzähler analysiert und dadurch dem Erzählcharakter der Evangelien besonders gerecht wird. In dieser Arbeit wird somit nicht nach dem historischen Jesus gefragt6, sondern nach dem erinnerten Jesus7, wie er als erzählter Jesus im Lukas- und Matthäusevangelium dargestellt ist. Denn insgesamt gilt: „Der erinnerte Jesus ist zugleich der erzählte Jesus.“8 Die Evangelien schildern nicht den historischen Jesus, sondern sie entwerfen unterschiedliche Jesus-Bilder, bei denen je unterschiedliche Intentionen leitend sind. Erzählungen sind damit stets Konstruktionen von Wirklichkeiten. „Ein genaues Textstudium muss somit dem spezifischen Charakter des jeweiligen Texts Rechnung tragen.“9 Narrative und linguistische Methoden tragen dazu bei, die Darstellung der Jesus-Figur innerhalb der jeweiligen Erzählungen genauer zu analysieren und vielfältige Beobachtungen am Text zutage zu fördern.10 Narratologische Methoden sind also Hilfsmittel, um die komplexe literarische Gestaltung der Texte und ihrer jeweiligen Jesus-Bilder erfassen und analysieren zu können.

Im Vergleich zur redaktionsgeschichtlichen Evangelienforschung zeichnet sich der in dieser Arbeit gewählte narratologische Ansatz dadurch aus, dass er sich konsequent auf das Kommunikationsgeschehen innerhalb des Evangeliums als einer Erzählung richtet und nicht mehr das spezifische Profil des Textes durch den redaktionellen Umgang des Verfassers mit den Quellen zu bestimmen sucht. Zudem geht es im narratologischen Ansatz nicht um die Bestimmung der Autorintention, sondern der Erzählintention.11 Dennoch ist die „Grenzlinie“ zwischen redaktionsgeschichtlichen und narratologischen Herangehensweisen nicht einfach starr zu ziehen, denn auch in redaktionsgeschichtlichen Arbeiten lassen sich oftmals narrative Elemente finden.

Im Verlauf dieser Arbeit werden zunächst ein Erzählmodell, das die Basis der Figurenanalyse bildet, und ein Figurenanalysemodell – jeweils in kritischer Auseinandersetzung mit in der Forschung gängigen Modellen – entwickelt.

Anschließend wird die literarische Figur des auferstandenen Jesus in den Ostererzählungen des Matthäusevangeliums (Mt 28,1–20) und des Lukasevangeliums (Lk 24,1–53) anhand der im Vorherigen entwickelten Kategorien der Figurenanalyse untersucht. Die angestellten Beobachtungen werden sodann ausgewertet hinsichtlich der möglichen (christologischen) Intention des jeweiligen Evangeliums.

Ein abschließender Vergleich zwischen den beiden Figurendarstellungen des Auferstandenen im Matthäusevangelium und im Lukasevangelium lässt das spezifische (christologische) Profil beider Evangelien noch stärker hervortreten. Die Ergebnisse zur literarischen Figur des Auferstandenen werden anschließend in Beziehung gesetzt zur literarischen Figur des irdischen Jesus im jeweiligen Evangelium. Hierfür wird – ausgehend von den Ergebnissen der Figurenanalyse des Auferstandenen in der jeweiligen Ostererzählung – in die vorherigen Kapitel des jeweiligen Evangeliums unter dem Aspekt zurückgefragt, ob die Darstellung der Jesus-Figur kohärent ist, also ob sich Übereinstimmungen in der Figurendarstellung des Auferstandenen und des Irdischen finden lassen, oder ob möglicherweise Akzentverschiebungen und Unterschiede auszumachen sind.

Bei diesen Rückblicken kann es selbstverständlich nicht um eine detaillierte Figurenanalyse des irdischen Jesus gehen, die sich auf das gesamte Evangelium bis hin zu den Ostererzählungen bezieht. Vielmehr werden einzelne Textabschnitte unter bestimmten, zuvor ermittelten inhaltlichen Gesichtspunkten herangezogen, um die Darstellung des Irdischen innerhalb dieser Abschnitte zu untersuchen.

2Methodik

2.1Narratologie

Die Narratologie ist eine Forschungsrichtung der Literaturwissenschaften zur Theorie der Erzählung1, aus der sich konkrete Analysemethoden für Erzähltexte ergeben können. Es geht der Narratologie um die „Erforschung der Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene mit dem Ziel ihrer Beschreibung und Systematisierung.“2 Dabei kann keineswegs von der Narratologie gesprochen werden, es existieren vielmehr unterschiedliche Theorien, Ansätze und Modelle.3 Die Anfänge der Narratologie liegen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Von da an hat sie verschiedene Phasen durchlaufen.4 Die Phase, in der sich die Narratologie seit den 1990er Jahren und bis heute befindet, kann mit Finnern als postklassische Narratologie5 bezeichnet werden. Sie zeichnet sich durch eine Fülle, Vielfältigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze aus. Signifikant für diese Phase sind darüber hinaus ihre stärkere historische Orientierung6, ihre Interdisziplinarität7 und ihre Einbeziehung der Rezeptionsforschung8. Insgesamt ist die heutige Narratologie von der „kognitiven Wende“9 sowie – damit unmittelbar zusammenhängend – einer historischen und kulturellen Wende10 bestimmt.

Seit den 1970er Jahren findet die Narratologie zunächst im anglo-amerikanischen Raum, aber auch vermehrt in der deutschen Exegese Beachtung, wobei sich auch hier noch kein einheitliches Verfahren zur narrativen Analyse biblischer Erzählungen durchgesetzt hat.11

Der Anwendung narratologischer Methoden auf biblische Texte liegt die Einsicht zugrunde, dass die Bibel selbst ein „Buch voller Erzählungen“12 ist und deshalb auch – oder gerade – mit narrativen Methoden untersucht werden kann. Durch eine narratologische Analyse eines Textes können vielfältige Beobachtungen erzielt werden, die im Hinblick auf den Erzählerstandpunkt und damit letztlich im Hinblick auf die Intention und Theologie des Textes ausgewertet werden können. Im Unterschied zu der historisch-kritischen Methodik, die immer auch einen diachronen Schwerpunkt besitzt, und die v.a. nach der Entstehung eines Textes und der Autorintention fragt, geht es der Narratologie vorrangig um Fragen nach der Gestaltung und Komposition des Textes durch den Erzähler, den Figurendarstellungen sowie der Wirkung eines Textes. Der Text wird stärker auf einer synchronen Ebene untersucht. Im Hinblick auf die vier kanonischen Evangelien ist eine narratologische Untersuchung besonders reizvoll, denn „[D]ie vier kanonischen Evangelien erzählen auf jeweils eigene Weise dieselbe Geschichte. In jedem der vier Evangelien wird die Welt etwas anders dargestellt, und das zeigt, dass Erzählen auch Weltentwerfen heißt. […] In erzählte Welten einzutauchen, diese in ihren Strukturen und Funktionsweisen zu erfassen, zu beschreiben und ihre Bedeutungen zu entschlüsseln, ist das Ziel der Erzählforschung bzw. der Narratologie.“13

Die narratologische Untersuchung von Erzähltexten stellt dabei jedoch keine grundsätzliche Alternative und erst recht keinen Gegensatz zur historisch-kritischen Sichtweise dar, vielmehr kann und sollte sie als sinnvolle Ergänzung verstanden werden.14 Die narratologische Betrachtung von Erzähltexten steht daher „in ergänzender Spannung, aber nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zum diachronen Ansatz historisch-kritischer Methode“15.

2.2Erzählmodelle

In der Narratologie existieren – wie bereits erwähnt – verschiedene Ansätze und damit auch unterschiedliche Erzählmodelle.1 Ein Erzählmodell bildet die Basis und Grundlage jeder Figurenanalyse, denn Figuren sind Akteure in einer Erzählung. Je nachdem, welches Erzählmodell einer Figurenanalyse zugrunde gelegt wird, wird diese mit bestimmten Begrifflichkeiten (sozusagen den „Werkzeugen“ einer Analyse) durchgeführt. Da sich in der Sekundärliteratur die narratologischen Begrifflichkeiten wie „Autor“, „Erzähler“, „Leser“ etc. zum Teil stark voneinander unterscheiden oder unterschiedlich verwendet werden, ist es nötig, vor Beginn der Figurenanalyse genau zu definieren, welche narratologischen Begriffe in dieser Arbeit wie verwendet werden. Denn sie sind bei der anschließenden Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium die „Werkzeuge“, mit denen die Analyse durchgeführt wird. Die Entscheidung für ein bestimmtes Erzählmodell wird daher bereits an dieser Stelle der Arbeit vor den Überlegungen zur Methodik der Figurenanalyse getroffen. Im Folgenden soll zunächst ein knapper Überblick über verschiedene Erzählmodelle gegeben werden.2 Ein solcher Überblick über unterschiedliche Modelle ist notwendig, da das in dieser Arbeit zugrunde liegende Erzählmodell in vielen Punkten auf andere Modelle zurückgreift bzw. sich kritisch gegen sie abgrenzt. Im Anschluss an die Darstellung der vorgegebenen Modelle wird gezeigt, wie sich aus der kritischen Auseinandersetzung ein Modell entwickeln lässt, an dem sich die geplante Analyse dieser Arbeit orientieren kann. Abschließend werden die für dieses Modell wichtigen Begriffe geklärt.

Insgesamt wird beim folgenden Überblick der Fokus auf die Kommunikationssituation in einer Erzählung, also auf die Frage nach der Verwendung von Begrifflichkeiten wie „Autor“, „Erzähler“, „Leser“, etc. gelegt, da diese für die Figurenanalyse eine große Rolle spielt.3 Aber auch die Frage, welche Ebenen in einer Erzählung grundsätzlich unterscheidbar sind, wird dabei thematisiert. Auch diese Frage ist im Hinblick auf die Figurenanalyse relevant, da die Analyse von Figuren in der Forschung jeweils unterschiedlichen Ebenen zugeordnet wird. Zur besseren Veranschaulichung und Vergleichbarkeit untereinander werden die Erzählmodelle der unterschiedlichen Autoren sowie das dieser Arbeit zugrundeliegende Erzählmodell jeweils am Ende in Form eines Schaubildes dargestellt.

2.2.1Überblick über verschiedene Erzählmodelle

2.2.1.1Genette

Genette teilt eine Erzählung grundsätzlich in drei Ebenen, Erzählung, Geschichte und Narration, ein.1 Dabei kann der Begriff Geschichte mit der Handlung gleichgesetzt werden. Er beschreibt das, was passiert, den „narrativen Inhalt“2. Der Begriff Erzählung bezeichnet dagegen bei ihm den narrativen Text und die Aussage.3 Unter den Begriff Narration fällt bei Genette die Situation des Erzählens, der narrative Akt.4 Die Dreiteilung einer Erzählung in Geschichte, Erzählung und Narration ist in der Literatur vielfach rezipiert und weitergeführt worden.5

Auf der Ebene der Erzählsituation unterscheidet Genette zwischen Autor, Adressaten, Leser und Erzählinstanz, wobei er letztere besonders betont.6 Er geht von einem realen Autor aus, der eine Erzählinstanz bzw. einen Erzähler erschafft (wobei es auch mehrere sein können), der dann aus einer bestimmten Erzählposition heraus an einen Adressaten eine Geschichte erzählt.7 Dabei wird der Adressat wiederum unterschieden in einen intradiegetischen Adressaten, eine Figur, die explizit im Text selbst genannt wird, und in einen extradiegetischen Adressaten. Dieser extradiegetische Adressat ist dabei mit dem virtuellen Leser identisch: „Denn der extradiegetische Adressat ist nicht, wie der intradiegetische, eine 'Zwischenstation' zwischen dem Erzähler und dem virtuellen Leser: er ist mit dem virtuellen Leser (mit dem der reale Leser sich identifizieren kann oder auch nicht) absolut eins.“8 Jedoch verzichtet Genette auf den Begriff des impliziten Autors und kritisiert ihn als „schattenhaften Doppelgänger“9.

 

Genettes Erzählmodell lässt sich daher folgendermaßen veranschaulichen:

Abb. 1 Erzählmodell nach Genette (eigene Darstellung)

2.2.1.2Chatman

Chatman verwendet hinsichtlich der Erzählsituation die Begriffe realer Autor, impliziter Autor, Erzähler, Adressat, impliziter Leser und realer Leser.1 Dabei stehen der reale Autor sowie der reale Leser außerhalb des Textes und sind daher für die narrative Analyse unerheblich.2 Darüber hinaus ist es für Chatman wichtig „not to confuse author and narrator“3. Mit Rückgriff auf Booth4 spricht er sich für die Verwendung der Begrifflichkeit des impliziten Autors aus. Der implizite Autor ist demnach das Bild vom Autor, das beim Leser durch das Lesen der Erzählung entsteht.5 Er ist es, der die Fäden im Hintergrund zieht, der die Figuren erschafft und die Handlung bestimmt. Der implizite Autor schafft sich einen Erzähler, der dann seine Entscheidungen ausführt, indem er zur Stimme des impliziten Autors wird.6 Chatmans impliziter Autor trägt daher bereits anthro­pomorphe Züge. Das Verhältnis des impliziten Autors zum Erzähler definiert er darüber hinaus folgendermaßen: „Unlike the narator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it has no voice, no direct means of communicating. It instructs us silently, through the design of the whole, with all the voices, by all the means it has chosen to let us learn.”7 Die seines Erachtens notwendige Unterscheidung zwischen dem realen und dem impliziten Autor macht Chatman deutlich, indem er aufzeigt, dass verschiedene Werke desselben realen Autors unterschiedliche implizite Autoren besitzen können.8 Besonders in Bezug auf biblische Literatur ist die folgende Aussage Chatmans zum Verhältnis des realen und impliziten Autors von Bedeutung: „There is always an implied author, though there might not be a single real author in the ordinary sense: the narrative may have been composed by a committee […], by a disparate group of people over a long period of time”9. Das Gegenstück zum impliziten Autor ist bei Chatman der implizite Leser. Er ist „the audiance presupposed by the narrative itself“10 und im Gegensatz zum Erzähler und zum Adressaten immer im Text präsent.11

Eine Erzählung unterteilt Chatman generell in die zwei Ebenen story und discourse. Dabei bezeichnet story die Handlung, also das, was erzählt wird, und der Begriff discourse die Darstellung, also wie etwas erzählt wird.12

 

Chatmans Erzählmodell lässt sich demnach wie folgt skizzieren:

Abb. 2 Erzählmodell nach Chatman (eigene Darstellung)

2.2.1.3Marguerat und Bourqin

Den Ansatz von Chatman aufgreifend, teilen Marquerat und Bourqin eine Erzählung in die beiden Ebenen story und discourse ein.1 Dabei lautet ihre Definition der story: „what the narrative relates, reconstructed in the chronological order which it supposes (the signified)“2. Als discourse wird bezeichnet, „how the story is told (the signifier)”3.

Hinsichtlich der Kommunikationssituation in einer Erzählung schließen sie sich Chatman an, indem sie die Begriffe real author, implied author, narrator, narratee, implied reader und real reader verwenden.4Realer Autor und realer Leser existieren dabei auch in ihrem Modell außerhalb des Textes und sind daher nicht Gegenstand der narrativen, sondern der historisch-kritischen Analyse.5 Genau wie Chatman bestimmen sie den impliziten Autor als „the subject of the narrative strategy“6. Der implizite Autor wird ihrer Ansicht nach sichtbar durch die Summe aller Entscheidungen und Erzählstrategien, die im Text getroffen werden.7 Sie behandeln den impliziten Autor damit – ähnlich wie Chatman – als ein eigenständiges Subjekt, das Entscheidungen innerhalb einer Erzählung trifft.8 Der Erzähler wird bei Marguerat und Bourqin reduziert auf „the voice which guides the reader in the story“9, der damit die Strategie und die Pläne des impliziten Autors ausführt. Der reale Leser wird bei Marguerat und Bourqin nochmals unterteilt in die ersten Leser und in die heutigen Leser.10 In Entsprechung zum impliziten Autor definieren sie den impliziten Leser als „the image which has been modelled corresponding to the readership imagined by the author in his work of writing: capacities for knowledge, attitudes, preoccupations, reactions which the author […] attributes to his future reader“11.

 

Ihr Erzählmodell weist eine starke Ähnlichkeit zu dem von Chatman auf und lässt sich wie folgt skizzieren:

Abb. 3 Erzählmodell nach Marguerat und Bourqin (eigene Darstellung)

2.2.1.4Eco

Eco geht davon aus, dass ein empirischer Autor einen „hypothetischen Modell-Leser“1 formuliert, der eine „enzyklopädische Kompetenz“2 besitzt und der schließlich vom empirischen Leser aus dem Text rekonstruiert wird. Der empirische Autor setzt damit in seiner Erzählung einen Modell-Leser voraus, „der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat“3. Andersherum entwirft der empirische Leser aus dem Text heraus einen Modell-Autor, „den er aus eben den Daten der Textstrategien deduziert.“4 Sowohl der Modell-Leser, als auch der Modell-Autor sind dabei jeweils keine Individuen, sondern Textstrategien, die vom empirischen Leser aus dem Text heraus erkannt und rekonstruiert werden können.5 Im Hinblick auf das Verhältnis des empirischen Lesers zum Modell-Leser macht Eco deutlich, dass der empirische Leser beim Lesen versuchen muss, sich möglichst in den im Text angelegten Modell-Leser und seine enzyklopädische Kompetenz hineinzudenken.6

 

Damit ergibt sich hinsichtlich der Kommunikationssituation das folgende Erzählmodell:

Abb. 4 Erzählmodell nach Eco (eigene Darstellung)

2.2.1.5Schmid

Auf der Ebene der Kommunikationssituation einer Erzählung übernimmt Schmid im Wesentlichen das Kommunikationsmodell von Chatman, modifiziert es jedoch an entscheidenden Stellen. Er geht – wie Chatman – von einem realen Autor sowie von einem realen Leser1 aus, die sich beide außerhalb des Textes befinden und die daher für narratologische Untersuchungen keinerlei Bedeutung haben. Obwohl der reale Autor außerhalb des Textes existiert, ist er nach Schmid dennoch „auf eine bestimmte Weise präsent.“2 Denn der konkrete Leser macht sich beim Lesen des Textes ein bestimmtes Bild vom Autor, von seinen Einstellungen und seiner Person. Dieses Bild bezeichnet Schmid als abstrakter Autor. Als Definition für den abstrakten Autor gibt er „das semantische Korrelat aller indizialen Zeichen des Textes, die auf den Sender verweisen“3, an. Parallel zum abstrakten Autor geht Schmid von einem abstrakten Leser aus, dem er grundsätzlich zwei Funktionen zuschreibt: Zum einen ist der abstrakte Leser ein unterstellter Adressat, an den sich der Text richtet und der aus dem Text und den in ihm enthaltenen Werten, Normen und sprachlichen Codes zu rekonstruieren ist.4 Zum anderen ist der abstrakte Leser ein idealer Rezipient, „der das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshaltung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt.“5

Darüber hinaus verwendet Schmid den Begriff des fiktiven Erzählers und macht durch die Voranstellung des Wortes „fiktiv“ deutlich, dass es sich beim Erzähler nicht um eine reale Person, sondern um eine fiktive und frei erfundene Größe handelt. Den fiktiven Erzähler teilt er weiter auf in einen impliziten Erzähler, der z.B. hinter der Auswahl von Personen und Redehandlungen steht und von dem sich der reale Leser automatisch ein Bild macht, und in einen expliziten Erzähler, der sich selbst präsentiert und der als Stimme im Text deutlich wahrnehmbar ist.6 Auf derselben Ebene wie den fiktiven Erzähler ordnet Schmid den fiktiven Leser ein. Dabei ist der fiktive Leser „der Adressat des fiktiven Erzählers, jene Instanz, an die er seine Erzählung richtet.“7

Im Gegensatz zu den vorherigen Erzählmodellen teilt Schmid eine Erzählung in die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung. Das Geschehen bezeichnet demnach die gesamte, unbegrenzte Situation, die Geschichte steht für die aus dem Gesamtgeschehen getroffene Auswahl von Ereignissen. Als Erzählung versteht Schmid die Komposition dieser selektiven Auswahl aus dem Geschehen; die Verbalisierung der Erzählung bezeichnet er als Präsentation der Erzählung.8

 

Sein Erzählmodell lässt sich folgendermaßen darstellen:

Abb. 5 Erzählmodell nach Schmid (eigene Darstellung)

2.2.1.6Martinez und Scheffel

Im Gegensatz zu Genette unterteilen Martinez und Scheffel in einer Erzählung lediglich – wie Chatman – die zwei Ebenen Handlung und Darstellung.1 Dabei umfasst das „was“, also die Handlung, die Elemente Ereignis, Geschehen, Geschichte und Handlungsschema. Unter dem „wie“, also der Darstellung, fassen sie die beiden bei Genette als eigenständig proklamierten Bereiche Erzählung und Narration. Sie begründen diese Zusammenführung der beiden Bereiche unter die Kategorie Darstellung damit, dass „die ‹Narration› in fiktionaler Rede nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension der ‹Erzählung› umfasst […], d.h. die zeitliche und räumliche Position des fiktiven Erzählers gegenüber seiner Geschichte“2.

Auf der Ebene der Erzählsituation finden sich bei Martinez und Scheffel jedoch nur wenige Begriffe. Im Grunde reduzieren sie die Erzählsituation auf die Instanzen realer Autor, Erzähler und Leser. Es gilt: „Der Autor erfindet den Erzähler“3. Der Leser ist dabei der „narrative Adressat“4 einer Erzählung und kann in einen fiktiven und in einen realen Leser unterteilt werden.5 Der Leser ist darüber hinaus an der Sinnerschließung und Wirkung eines Textes maßgeblich beteiligt, denn die Tätigkeit des Lesers „beschränkt sich […] nicht nur auf das Nachvollziehen logischer Implikationen des explizit Gesagten, sondern sie ergänzt auch aufgrund lebensweltlicher und literaturhistorischer Muster“6.

 

Daraus ergibt sich folgendes Erzählmodell:

Abb. 6 Erzählmodell nach Martinez und Scheffel (eigene Darstellung)

2.2.1.7Finnern

In Bezug auf die Unterteilung einer Erzählung schlägt Finnern die ungewöhnliche und hier nicht näher zu erläuternde Einteilung in Umwelt, Handlung, Figuren, Perspektive und Rezeption vor.1 Auf der Ebene der Erzählsituation spricht sich Finnern dafür aus, den Begriff des impliziten Lesers durch den Begriff des intendierten Rezipienten zu ersetzen. Er begründet diese Änderung wie folgt: „Die (klassische) Rezeptionsästhetik hat […] mehrere Probleme: Sie geht von einem textimmanenten 'impliziten Leser' aus, bei dem das benötigte Vorwissen und die typischen Verstehensprozesse bei der Lektüre nicht berücksichtigt werden und der deshalb durch das kognitive Konzept des intendierten Rezipienten ersetzt werden sollte“2. Anstatt als eine rein textimmanente Größe versteht Finnern den intendierten Rezipienten als eine Vorstellung von der Leserschaft im Kopf des realen Autors. Daher verfügt der vom realen Autor intendierte Leser auch über ein bestimmtes, kulturell bedingtes Vorwissen, auf das der reale Autor gezielt anspielt.3 Auch erwartet der reale Autor bestimmte Reaktionen bei seinen intendierten Rezipienten und schneidet seine Erzählstrategien auf sie zu.4 Für die Analyse ist es daher nach Finnern wichtig, den Text historisch zu verorten, um möglichst genau das Vorwissen und die Verstehensprozesse der intendierten Rezipienten zu rekonstruieren. Finnern übernimmt dabei die in der Forschung übliche Einteilung dieses Vorwissens in statische frames und dynamische scripts.5Frames beschreiben die historisch und kulturell bedingten, sich von Kindheit an verfestigenden Vorstellungen, die wir von bestimmten Dingen, wie z.B. einem Vogel, einem Hochhaus etc. haben. Die scripts stellen dagegen das „prozeduale Vorwissen, also welche Ereignisse uns in einer bestimmten Situation erwarten […] oder wie man etwas tut“6 dar. Zum Verstehen eines Textes und der Leserlenkung des Erzählers ist es daher nach Finnern unumgänglich, die frames und scripts der intendierten Rezipienten zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Figurenanalyse bedeutet dies z.B., dass die intendierten Rezipienten bereits eine bestimmte Vorstellung von den Figuren haben, auch wenn diese zum ersten Mal erwähnt werden. Denn aus „kognitiver Sicht funktioniert die Figurenrezeption nach demselben Muster wie die reale Personenwahrnehmung. Der Rezipient setzt sich dabei auch mit inhaltlichen Standpunkten der Figuren auseinander.“7

Die von Finnern vertretene Berücksichtigung von historischen und kulturellen Kenntnissen der intendierten Rezipienten kann als eine Folge der kognitiven und historischen Wende8 angesehen werden.9 Ebenso kritisiert Finnern den – wiederum textimmanenten – Begriff des impliziten Autors und schlägt dagegen vor, ihn als das „kognitive Modell des Lesers vom Autor – ähnlich dem mentalen Modell, das sich der Leser von Figuren der Erzählung macht“10 zu verstehen. Auch der in der bisherigen Narratologie weitgehend ausgeklammerte reale Autor gewinnt bei Finnern wieder an Beachtung.11 Darüber hinaus definiert er das Verhältnis zwischen dem realen Autor und dem Erzähler neu: „Der Autor einer Erzählung ist zunächst immer selbst ein Erzähler.“12 In den Fällen, in denen auch in fiktionalen Erzählungen realer Autor und Erzähler nicht merkbar auseinandertreten, hält Finnern eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Größen, wie u.a. Genette sie durchführt, für künstlich und „unsinnig“13. Es gibt somit nach Finnern einen realen Autor, der gleichzeitig auch der Erzähler ist. Die realen Rezipienten erhalten durch den Text ein Bild des Erzählers/Autors. Der reale Autor/Erzähler kann sich jedoch auch eine von ihm abweichende Erzählerfigur konstruieren und sich an bestimmte (fiktive) Adressaten wenden. Dabei hat der reale Autor/Erzähler stets ein Bild der Rezipienten mit einem bestimmten Vorwissen vor Augen, auf die er seine Erzählstrategie abstimmt.

 

Finnerns Erzählmodell lässt sich somit folgendermaßen veranschaulichen:

Abb. 7 Erzählmodell nach Finnern (eigene Darstellung)

2.2.1.8Fludernik

Eine Erzählung unterteilt Fludernik grundsätzlich in zwei Ebenen: Die „Ebene der dargestellten Welt (die Geschichte) und die Ebene der Vermittlung“1, womit sie sich Chatmans Zweiteilung in story und discourse anschließt.

Hinsichtlich der Kommunikationssituation in einer Erzählung lehnt sie sich ebenfalls stark an Chatman an und unterscheidet verschiedene Erzählebenen von innen nach außen: Im Inneren, im Kern einer Erzählung, befindet sich demnach eine Erzählfigur, die einer textinternen Leserfigur etwas mitteilt.2 Ganz außen befinden sich ein realer Autor sowie ein realer Leser. In der Mitte unterscheidet sie mit Chatman zwischen einem impliziten Autor und einem impliziten Leser. Dabei ist der implizite Autor ihrer Ansicht nach „in Wirklichkeit keine Figur, sondern ein Leser/Interpreten-Konstrukt, das den Sinn des Werkganzen in eins fasst.“3 Parallel dazu ist für sie der implizite Leser ein „Konstrukt des Interpreten, der eine Rezeptionshaltung aus dem Werk abliest.“4

 

Fluderniks Erzählmodell, das sich stark an das Modell von Chatman anlehnt, kann wie folgt skizziert werden:

Abb. 8 Erzählmodell nach Fludernik (eigene Darstellung)

2.2.2Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell

Im Folgenden soll nun das bei der in dieser Arbeit durchgeführten Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium als Basis dienende und sich aus den im Vorhergehenden vorgestellten Modellen zusammensetzende Erzählmodell kurz skizziert werden. Anschließend werden die verwendeten Begrifflichkeiten erklärt.

2.2.2.1Erzählmodell

Die im Vorangehenden kurz dargestellten Erzählmodelle haben m.E. jeweils ihre Stärken und Schwächen. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit durchgeführte Figurenanalyse des Auferstandenen scheint daher eine Kombination aus verschiedenen Modellen sinnvoll zu sein.

Hinsichtlich der Einteilung einer Erzählung in verschiedene Ebenen schließe ich mich Chatman, Marguerat/Bourqin, Martinez/Scheffel und Fludernik an, die jede Erzählung grundsätzlich in das, was erzählt wird, und in das, wie etwas erzählt wird, also in Handlung und Darstellung einteilen. Die von Genette als Narration bezeichnete Situation des Erzählens sowie die von Schmid als Präsentation der Erzählung bezeichnete Verbalisierung der Erzählung kann m.E. zu Recht mit Martinez und Scheffel zu dem Bereich der Darstellung gezählt werden, da der Erzähler maßgeblich daran beteiligt ist, wie etwas erzählt wird.

Hinsichtlich der Kommunikationssituation dient mir das Erzählmodell von Chatman als Basis, der den realen Autor aus der narrativen Untersuchung ausklammert und den Adressaten als nicht konstitutiv, sondern optional beschreibt. Anders als Chatman setze ich jedoch den Erzähler als konstitutiv voraus, da m.E. eine Erzählung niemals ohne Erzähler sein kann. Auch trenne ich den Erzähler – im Gegensatz zu Finnern – vom realen Autor, da es zwar große Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Größen geben kann, sie jedoch in einer Erzählung (anders als in einer Autobiographie) nicht automatisch identisch sind. Zudem verwende ich in meinem Erzählmodell nicht den bei Chatman und Marguerat/Bourqin als Summe aller Erzählstrategien verstandenen Begriff impliziter Autor, sondern verzichte wie Genette bewusst auf diese Größe, da sie sich in Erzähltexten nur schwer vom Erzähler abgrenzen lässt und daher nicht wesentlich zur Erzähltextanalyse beiträgt. Auch wird der Begriff des impliziten Lesers in Anlehnung an Finnern gegen den Begriff des intendierten Rezipienten getauscht, der jedoch inhaltlich Schmids Zweiteilung in einen unterstellten Adressaten und in einen idealen Rezipienten sowie Ecos Modellleser folgt. Die Entscheidung für die Verwendung dieser Begriffe wird im Folgenden jeweils erläutert.

 

Es ergibt sich daher als Grundlage für diese Arbeit folgendes Erzählmodell:

Abb. 9 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell (eigene Darstellung)

2.2.2.2Begriffsklärungen

2.2.2.2.1Realer Autor

Der reale Autor ist eine historische Person oder eine Gruppe, die den Text produziert hat, sich dabei folglich außerhalb des Textes befindet. Für alle Erzählungen gilt: „Alle Texte sind von realen AutorInnen verfasst und werden von realen LeserInnen gelesen.“1 Sie und ihr Umfeld zu ergründen ist Aufgabe der historisch-kritischen Exegese. Der reale Autor existiert „outside the text, independently of the text, and can only be reconstructed by historical hypothesis.“2 Daher ist er für die narrative Figurenanalyse von keiner Bedeutung.3 Wer der reale Autor des Matthäusevangeliums und wer der reale Autor des Lukasevangeliums war, in welchen sozialen und kulturellen Umwelten sie ihre Evangelien geschrieben haben, welche Quellen sie dabei verarbeitet haben und wie sie dabei vorgegangen sind, fällt nicht in den Bereich der Narratologie.

2.2.2.2.2Realer Leser

Beim realen Leser verhält es sich ähnlich wie beim realen Autor: Auch er befindet sich generell außerhalb des Textes. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Person, sondern um eine unendlich große Anzahl an Menschen, die zu allen Zeiten den Text gelesen haben, lesen und lesen werden (die also später einmal zu realen Lesern werden). 1 Zu rekonstruieren, wer die damaligen Erstleser des Evangeliums waren, auf die der reale Autor sein Evangelium zugeschnitten hat, und wo das Evangelium seinen „Sitz im Leben“ gehabt hat, ist nicht Gegenstand der Narratologie. Denn was im Kopf der Erstleser beim Lesen des Textes vorgegangen ist, welches Vorwissen und welche Verstehensprozesse sie an den Tag legten, kann nicht mehr rekonstruiert werden, da die realen Erstleser sowie der reale Autor im Dunkeln liegen.

Dennoch bin ich als reale Leserin natürlich faktisch an der Erzählung beteiligt, da ich mit meinen kognitiven Verstehens-Prozessen und aus meiner Lebenswelt heraus den Text wahrnehme.2 Bei dieser Wahrnehmung versuche ich jedoch, anhand bestimmter Textsignale die vom Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten und seine vom Text intendierten Reaktionen) zu rekonstruieren.3 Eco spricht dabei sogar von einer gewissen Verpflichtung des realen Lesers, sich dem Code und dem Verstehenshorizont des Modell-Lesers so weit wie möglich anzunähern.4 Darüber hinaus enthält der Text selbst Lese-Anweisungen für eine im Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten) und es geht dabei darum, diese Anweisungen aufzuzeigen, damit sich der reale Leser im Spielraum dieses intendierten Rezipienten bewegen kann.5 Der intendierte Rezipient ist damit eine vom Text angebotene Lese-Rolle, die vom realen Leser eingenommen werden kann, auch wenn diese natürlich im Einzelnen von realen Lesern unterschiedlich eingenommen wird.6

2.2.2.2.3Intendierter Rezipient

In meinem Erzählmodell verwende ich anstelle des in vielen Erzähltheorien begegnenden Begriffs impliziter Leser1 in sprachlicher Anlehnung an Finnern den Begriff intendierter Rezipient. Finnern versteht jedoch unter diesem Begriff das kognitive Bild, das sich der reale Autor von seinem Leser gemacht hat. Parallel dazu existiert bei ihm das Bild, das sich der reale Leser vom Autor macht.2 Jedoch muss mit Schmid bemerkt werden, dass hier „eine verführerische Symmetrie“3 naheliegt. Denn der Schwachpunkt an Finnerns Konzept des intendierten Rezipienten besteht m.E. darin, dass wir in den Kopf des realen Autors nicht mehr hineinschauen können und dass wir daher nicht wissen, welches Bild vom Leser sich der reale Autor gemacht hat.4 Diese „doppelte Brechung“ des Rezipienten als mentales Konstrukt eines im Dunkeln liegenden realen Autors scheint mehr als problematisch zu sein. Der intendierte Rezipient ist daher in meinem Erzählmodell nicht der vom realen Autor, sondern der vom Text intendierte Rezipient.

Der intendierte Rezipient nimmt dabei in meinem Erzählmodell zwei von Schmid5 herausgearbeitete Funktionen wahr: Er ist zum einen der unterstellte Adressat, der vom realen Leser durch die Wortwahl des Erzählers und die von ihm verwendeten sprachlichen und kulturellen Codes rekonstruiert werden kann. Über die unterstellten Adressaten des Matthäusevangeliums kann z.B. gesagt werden, dass sie wahrscheinlich mit alttestamentlichen Texten vertraut waren, da der Erzähler an vielen Stellen alttestamentliche Zitate anbringt. Gleichzeitig ist der intendierte Rezipient aber auch ein idealer Rezipient, der jede Anspielung im Text versteht, ein Lesegedächtnis besitzt und über ein bestimmtes (historisches und kulturelles) Vorwissen verfügt. Der Text selbst und mit ihm der im Text intendierte Rezipient wird somit historisch sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium im 1. Jhd. n. Chr. verortet.6 Das mögliche Vorwissen des intendierten Rezipienten wird daher in den Fällen mit berücksichtigt, in denen der Text ein solches (historisches oder kulturelles) Wissen vorauszusetzen scheint und gezielt darauf anspielt. Dabei beziehe ich mich in diesem Punkt auf Eco und seinen Modelleser, der über ein bestimmtes, kulturell geprägtes enzyklopädisches Wissen verfügt.7 Darüber hinaus werden bei der Analyse des Textes das Lesegedächtnis des intendierten Rezipienten (das die vorhergehenden Kapitel des Matthäus- oder des Lukasevangeliums umfasst) sowie seine wahrscheinlichen und im Text intendierten Reaktionen und Rezeptionsemotionen (wie Empathie, Sympathie, Antipathie, Spannung, Furcht, Freude, Humor)8 stets mit berücksichtigt.

2.2.2.2.4Erzähler

Der reale Autor einer Erzählung schafft sich einen Erzähler, der dann eine Erzählung auf eine bestimmte Art und Weise erzählt. Jeder Erzähltext verfügt somit über einen Erzähler, auch wenn er oft auf den ersten Blick nicht deutlich erkennbar ist. Der Erzähler ist eine fiktive, imaginäre Figur des textexternen Autors und damit gleichzeitig „das vermutlich wesentlichste Formprinzip von Erzähltexten.“1

Der Erzähler begegnet in einer bestimmten Erzählform (z.B. Ich-Erzählung, Er/Sie- Form).2 Für den Erzähler des Matthäusevangeliums gilt durchweg die Er/Sie-Form, der Erzähler des Lukasevangeliums erzählt jedoch in seiner Einleitung zunächst in der Ich-Form und wechselt dann in die Er/Sie-Erzählung. Besonders Erzähler, die selbst im Text als Figur auftreten, besitzen oft ein persönliches Profil (Name, Geschlecht, Alter etc.).3

Darüber hinaus zeigt der Erzähler ein bestimmtes Erzählverhalten: auktorial, personal oder neutral. Bei allen gilt jedoch: „Er präsentiert die erzählte Welt.“4 Beim auktorialen Erzählverhalten (wie es sich im Matthäus- und im Lukasevangelium findet) überblickt der Erzähler das Geschehen und greift durch Kommentare wie z.B. Hinweise für die Leser, Urteile über Personen etc. in die Erzählung ein.5 Der Erzähler leitet den Leser durch die Erzählung. Beim personalen Erzählverhalten schildert der Erzähler die Geschichte aus der Perspektive einer Person, wobei er zwischen verschiedenen Personen wechseln kann. Der Erzähler weiß dabei nur so viel, wie die Person weiß. Das objektive Erzählverhalten zeichnet sich dadurch aus, dass der Erzähler sachlich und ohne jegliche Kommentare das Geschehen berichtet. Aber auch bei einem (scheinbar) objektiven Erzählverhalten gilt folgendes: „Der Erzähler ist anwesend als Quelle, Garant und Organisator der Erzählung, als ihr Analytiker und Kommentator, als Stilist“6.

Des Weiteren nimmt der Erzähler einen bestimmten Erzählstandpunkt und eine Fokalisierung ein.7 Er kann in großer Nähe zum Geschehen stehen oder auch aus einer starken Distanz heraus erzählen. In der Narratologie spricht man von einem offenen und einem verborgenen Erzähler.8 Die Fokalisierung kann dabei innerhalb einer Erzählung wechseln.9 Genette kennt insgesamt drei Formen der Fokalisierung: Nullfokalisierung, Externe Fokalisierung und Interne Fokalisierung.10 Man kann die Wahl des Erzählstandortes mit der Wahl der Kameraeinstellung im Film vergleichen. In einigen Szenen „zoomt“ die Kamera an Personen heran, schildert ihre Gefühle und ihre Sicht, im nächsten Moment wird das Geschehen aus einer Weitwinkel-Einstellung heraus präsentiert und der Zuschauer erhält einen Gesamtüberblick über das Geschehen.

Außerdem zeigt der Erzähler eine bestimmte Erzählhaltung: Er kann sich affirmativ, begeistert, neutral, humorvoll, ironisch, skeptisch, distanziert oder ablehnend zu dem von ihm Erzählten verhalten.11 „Die Überzeugungen, Normen und Werte des Erzählers werden auf verschiedene Weise […] zum Ausdruck gebracht.“12 Durch gezielte Informationsvergabe steuert er die Leseraffekte und erzielt somit bei den Lesern Sympathie, Antipathie, Empathie, etc. in Bezug auf bestimmte Figuren.13

Auch unterliegt der Erzähler einer bestimmten Erzählzeit, da der Akt des Erzählens selbst Zeit benötigt. Diese steht der erzählten Zeit, die die Zeit der erzählten Geschichte und der Handlung bezeichnet, gegenüber.14 Er nimmt darüber hinaus einen bestimmten zeitlichen Standpunkt ein, indem er z.B. von Geschehnissen in der Vergangenheit – also im Präteritum – berichtet oder von Dingen in der Gegenwart oder Zukunft spricht.15

Darüber hinaus wählt der Autor eine Darbietungsform der Erzählung: Entweder behält der Erzähler die gesamte Erzählung hindurch das Wort (Erzählbericht oder auch Erzählung von Ereignissen) oder er lässt auch seine Figuren sprechen (direkte Figurenrede oder auch Erzählung von Worten16). Bei der Figurenrede kann unterteilt werden in direkte Wiedergabe (szenisches Erzählen)17, indirekte Wiedergabe (indirekte Rede) und erzählte Figurenrede.18 Die anglo-amerikanische Erzähltheorie prägte hierfür die Begriffe telling und showing, wobei telling die Erzählerrede und showing die Figurenrede/Handlung bezeichnet.19 Analog zur Figurenrede verhält es sich auch mit den Gedanken einer Figur. So können sie zitiert werden (z.B. in Form eines inneren Monologs oder eines Gedankenzitats), transportiert werden (z.B. in Form einer indirekten Gedankenrede) oder erzählt werden (z.B. als Gedankenbericht).20 Generell gilt dabei: Indem der Erzähler die Figuren innerhalb der Erzählung sprechen und agieren lässt, befindet er sich auf einer anderen, übergeordneten Ebene als die Figuren.

2.2.2.2.5Adressat

Der Adressat kann bezeichnet werden als „the narrative authority to whom the narrator addresses his narrative.“1 In vielen Fällen ist jedoch kein (expliziter) Adressat im Text selbst genannt.2 Dagegen wird von einigen Literaturwissenschaftlern die Ansicht vertreten, der Adressat sei ebenso konstitutiv für eine Erzählung wie der Erzähler.3 Dabei unterscheiden sie aber zwischen einem Adressaten, der ein deutliches Profil aufweist und einem, der nicht existent zu sein scheint. Der Adressat, der kein deutliches Profil aufweist, kann jedoch m.E. ebenso gut mit dem intendierten Rezipienten, der neben der Funktion des idealen Rezipienten ja auch die Funktion des unterstellten Adressaten einnimmt, gleichgesetzt werden. Dadurch wird der Begriff Adressat in dem von mir verwendeten Erzählmodell auf einen im Text selbst explizit genannten Adressaten beschränkt, der im Fall des Matthäus- und des Lukasevangeliums nicht existent ist.4

2.2.2.2.6Handlung

Jede Erzählung lässt sich grundsätzlich in zwei Ebenen aufteilen: In das, „was“ erzählt wird, also die Handlung, und in das, „wie“ etwas erzählt wird, also die Darstellung.1 Jede Handlung besteht dabei aus einer Aneinanderkettung verschiedener Ereignisse oder Motive; sie stellen die kleinste Einheit innerhalb einer Erzählung dar.2 Die „chronologische Gesamtsequenz aller Geschehnisse und Ereignisse“3 wird als Geschehen bezeichnet. Die Geschichte ist die Teilmenge aus dem Geschehen, die für die Bedeutung der Erzählung relevant ist.4 Darüber hinaus kann eine Handlung eine Struktur aufweisen, ein Schema abbilden oder einem bestimmten Verlauf folgen.5

2.2.2.2.7Darstellung

Der Begriff Darstellung bezeichnet, wie und auf welche Art und Weise eine Handlung dargestellt wird. Dieselbe Handlung kann auf viele unterschiedliche Arten und Weisen geschildert werden1, was z.B. im Vergleich der Evangelien deutlich wird.2 Dabei machen Martinez/Scheffel zu Recht deutlich, dass die Erzählerfigur unter den Bereich der Darstellung fällt und nicht extra aufgelistet werden muss. Zum Bereich der Darstellung gehören somit u.a. Aspekte wie die Wortwahl des Erzählers, die dargestellte Umwelt, die charakterisierten Figuren, die erzählte Zeit und der (ideologische) Erzählerstandpunkt.3

2.3Figurenanalyse

Die Analyse literarischer Figuren ist eine von mehreren Kategorien der narratologischen Analyse von Texten. Obwohl der Figurenanalyse besonderes Gewicht beizumessen ist1, stand sie bislang nicht sonderlich im Fokus narratologisch orientierter Arbeiten.2

In der Forschung existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Figur ist und was sie ausmacht.3 Als ein Beispiel sei Eders Definition einer Figur genannt: „Eine Figur ist ein wiedererkennbares fiktives Wesen mit einem Innenleben – genauer: mit der Fähigkeit zu mentaler Intentionalität“4. Die Figurenanalyse kann damit als „systematische Untersuchung einzelner Figuren sowie aller vorwiegend auf sie bezogenen Aspekte fiktionaler Texte, Rezeptions- und Kommunikationsvorgänge“5 beschrieben werden. Mit Poplutz muss jedoch zusätzlich deutlich gemacht werden, dass nicht nur Menschen als Figuren bezeichnet werden können, sondern „alle anthropomorphisierten Wesen oder Objekte“6, die die Merkmale Handeln und/oder Sprechen aufweisen.7

Der Auferstandene ist im Rahmen des Matthäus- und Lukasevangeliums eine bewusst gestaltete und in einer bestimmten Art und Weise dargestellte literarische Figur innerhalb einer Erzählung und wird daher in einer narrativen Figurenanalyse bewusst auch als solche behandelt. Auch Finnern macht dies deutlich: „Für die narratologische Untersuchung einer Erzählung ist es unwichtig, wie stark sich die Erzählung an existierende Personen […] oder historische Ereignisse anlehnt.”8

2.3.1Vorgehensweisen der Figurenanalyse in verschiedenen Bereichen

In der aktuellen Forschung zur Figurenanalyse existieren verschiedene Ansätze und Kategorien, nach denen eine Figur im Erzähltext analysiert wird. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Methoden gegeben. Dabei werden zunächst einige grundlegende theoretische Modelle aus dem Bereich der Literatur- und Filmwissenschaft vorgestellt; tatsächlich handelt es sich ja bei der Figurenanalyse um ein ursprünglich literaturwissenschaftliches Konzept.

Darauf folgt die Behandlung einiger eher praktisch-methodischer Arbeiten, die in die Figurenanalyse bei biblischen Erzähltexten einführen möchten. Schließlich werden in einem weiteren Schritt konkrete Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte beleuchtet. Alle Ergebnisse werden in einem kurzen Fazit gebündelt und hinsichtlich einer Entwicklungslinie mit bestimmten Schwerpunkten ausgewertet. Zuletzt wird in kritischer Auseinandersetzung mit den zuvor dargestellten Figurenanalysemethoden das in dieser Arbeit verwendete Modell entwickelt.

2.3.1.1Figurenanalyse in der Literatur- und Filmwissenschaft

Forster1 unterscheidet in seinem erstmals 1927 erschienenen Werk „Aspects of the Novel“ zwischen runden und flachen Charakteren. Unter einem flachen Charakter versteht er eine Figur, die lediglich um eine einzelne Idee oder Eigenschaft herum konstruiert ist, keine Wandlung vollzieht und damit eindimensional bleibt.2 In Bezug auf den Leser besitzt ein flacher Charakter seiner Ansicht nach zwei Merkmale: Er ist zum einen für den Leser leicht zu erkennen, wann immer er im Text auftaucht. Zum anderen ist es für den Leser auch nach der Lektüre nicht schwer, sich an ihn zu erinnern.3 Zu runden Charakteren werden Figuren „when there is more than one factor in them.“4 Ein runder Charakter ist differenzierter gestaltet, vollzieht möglicherweise eine Wandlung oder Entwicklung und besitzt damit eine gewisse Tiefenschärfe.5 Mit seiner generellen Kategorisierung von Figuren hat Forster in Bezug auf die Analyse von Figuren einen wichtigen Grundstein gelegt, auf den im Verlauf der Geschichte vielfach aufgebaut worden ist und auf den sich auch heute noch viele Forschungsbeiträge zu Figurenanalysen beziehen.

Der russische Formalist Propp6 definiert in seiner Untersuchung russischer Märchen die Figuren fast ausschließlich darüber, welche Positionen sie in der Handlung einnehmen. Dementsprechend unterscheidet er zwischen acht verschiedenen Figuren7, die immer wieder Bestandteil russischer Märchen sind: der Bösewicht als Gegenspieler des Helden; der Spender, der dem Helden etwas Bestimmtes gibt, wodurch dieser seine Mission erfüllen kann; der Helfer, der dem Helden beisteht; die Prinzessin, die den Helden in den meisten Fällen schwierige Aufgaben stellt; der Sender, der den Held auf seine Mission schickt; der Held selbst und der falsche Held.8 Propp fokussiert damit die Figuren auf ihre Rolle und Funktion innerhalb einer Handlung.

Harvey9, der sich ausführlich mit Charakteren in Erzählungen beschäftigt, teilt Figuren in einer Handlung grundsätzlich in vier unterschiedliche Figurentypen ein:10 Der Protagonist, der eindeutig im Vordergrund steht und dessen Geschichte am ausführlichsten präsentiert wird; die Hintergrundfiguren, die lediglich Elemente des Handlungsmechanismus darstellen; die Ficelle, eine Figur, die stärker als die Hintergrundfiguren gezeichnet ist und die eine bestimmte Rolle und Funktion einnimmt; der Card, eine Figur, die den Text über unverändert bleibt und die – anders als die Ficelle – dabei keine bestimmte Funktion erfüllt. Harvey ordnet damit die Figuren innerhalb einer Erzählung bestimmten Positionen zu, die etwas über die Figuren selbst, aber auch über das Verhältnis einer Figur zu anderen Figuren aussagen können.

Ähnlich wie Propp versucht auch Greimas11 in Bezug auf Figuren bestimmte Tiefenstrukturen herauszuarbeiten.12 Er entwickelt zur Beschreibung von elementaren Handlungspositionen ein Aktantenmodell. Greimas reduziert dabei im Gegensatz zu Propp, der von sieben Figurentypen ausgeht, die Anzahl der Aktanten auf drei Handlungs-Paare: Subjekt – Objekt, Sender – Empfänger und Helfer – Opponent.13 Eine Figur kann dabei zugleich mehrere Aktantenrollen einnehmen, genau wie eine Aktantenrolle auch von mehreren Figuren, einem Kollektiv oder von einer Naturkraft ausgefüllt werden kann. Greimas unterscheidet grundsätzlich zwischen Akteuren und Aktanten; dabei sind die Akteure konkrete Erscheinungsformen von Aktanten.14 Mit Hilfe dieses Aktantenmodells lassen sich die Beziehungen der handelnden Personen innerhalb einer Erzählung genauer beschreiben und analysieren. In der Forschung hat das Aktantenmodell rege Beachtung gefunden und dient auch in heutigen Fi­gurenanalysen oftmals noch als Basis, um etwas über die Funktion einer Figur innerhalb der Handlung auszusagen.

Der Strukturalist Barthes15 beschreibt die Entstehung einer Figur als Zusammensetzung verschiedener Sinneinheiten (Seme), die um einen Eigennamen herum gruppiert und mit diesem verknüpft sind.16 Um einen Text zu analysieren nennt Barthes insgesamt fünf Stimmen, die alle zugleich aus dem Text sprechen: Die Stimme der Empirie, die Stimme der Wissenschaft (Kultur), die Stimme der Hermeneutik, die Stimme der Symbole und die Stimme der Personen (Seme), von denen letztere für die Figurenanalyse von größter Bedeutung ist.17 Hinsichtlich der Stimme der Personen versteht Barthes Charaktere grundsätzlich als eine Zusammensetzung von verschiedenen Adjektiven, durch die eine Figur mit bestimmten (Charakter-)Eigenschaften ausgezeichnet wird.18 Mit seinem Verständnis einer Figur als Zusammensetzung verschiedener Eigenschaften legt Barthes gewissermaßen den Grundstein, auf den Chatman in seinen Untersuchungen aufbaut. Im Gegensatz zu Propp, Harvey und Greimas beschränkt Barthes die Figur nicht mehr nur auf ihre Rolle innerhalb einer Handlung, sondern widmet sich stärker der Figur selbst und ihrem Charakter.

Chatman19 der, wie im Vorherigen dargestellt, eine Erzählung in die beiden Ebenen story und discourse einteilt, verhandelt den Bereich der Figurenanalyse und Charakterisierung unter dem Aspekt der story.20 Er vertritt die Ansicht, eine Theorie über Figuren „should preserve openness and treat characters as autonomous beings, not as mere plot functions.“21 Dabei ist es letztlich der Leser, der die Figur aus dem Text rekonstruiert.22 Einer Figur werden im Text verschiedene Eigenschaften, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, die Chatman als traits bezeichnet, zugeschrieben.23 Solche traits sind z.B. Zuschreibungen von Adjektiven wie „einsam“, „intelligent“, „ängstlich“, etc., die vom Leser aufgrund seiner (kulturell bedingten) Kenntnisse der „trait-code[s]“24, entschlüsselt werden. Diese traits sind dabei nach Chatman nicht unbedingt an den Handlungsverlauf gebunden, sondern existieren in vielen Fällen zeitlos und durch die gesamte Erzählung hindurch.25 Genau wie Barthes löst Chatman die Analyse von Figuren von ihrer Gebundenheit an die Handlung und eröffnet durch seine Untersuchung der traits einer Figur einen neuen und wichtigen Bereich der Figurenanalyse.

Bal26, die die drei Ebenen Text, Story und Fabula in einer Erzählung unterscheidet, ordnet die Figurenanalyse sowohl der Story (der Darstellung) als auch der Fabula (der Handlung) zu.27 Auf der Ebene der Story bezeichnet sie Figuren als „characters“28 und definiert sie als „anthropomorphic figures provided with specifying features the narrator tells us about.“29 Charaktere setzen sich demnach auf der Ebene der Story aus unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften zusammen, die sie individuell und einzigartig machen.30 Informationen über (Charakter-)Eigenschaften können entweder durch die Figur selbst oder durch den Erzähler im Text geäußert werden oder sich aus dem Handeln der Figur erschließen.31

Auf der Ebene Fabula bezeichnet Bal Figuren als „Actors“32 und versteht sie als Strukturelemente, die in einer Handlung eine bestimmte Position und Rolle einnehmen.33 Sie bestimmt die Figuren dabei in Anlehnung an Greimas, wechselseitig als Subjekt und Objekt, Sender und Empfänger, Helfender und Gegner innerhalb einer Handlung.34 Bal bringt in ihrer Methodik somit die beiden in der bisherigen Forschung nebeneinander existierenden Analyseverfahren Figur und Handlung (u.a. Propp, Harvey, Greimas) und Eigenschaften einer Figur (Barthes, Chatman) zusammen, indem sie eine Figur in einer Erzählung sowohl auf der Ebene der Handlung (Fabula) als auch auf der Ebene der Darstellung (Story) getrennt voneinander untersucht.

Rimmon-Kenan35 teilt eine Erzählung in die drei Bereiche Text, Story und Narration ein und schreibt die Figurenanalyse sowohl dem Bereich der Story als auch dem Bereich des Textes zu. Zur Figurenanalyse in der Story äußert sie sich folgendermaßen: „I have said above that in the story character is a construct, put together by the reader from various indications dispersed throughout the text.“36 Rimmon-Kenan vertritt damit in Anlehnung an Chatman die Ansicht, dass einer Figur verschiedene Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden.37 Die von Forster eingeführte Einteilung von Charakteren in flache und runde Charaktere kritisiert Rimmon-Kenan jedoch, indem sie deutlich macht, dass eine Figur nicht nur rund oder flach, sondern wesentlich komplexer dargestellt werden kann.38

Zur Figurenanalyse auf der Ebene des Textes schlägt sie eine Einteilung in zwei grundsätzliche Kategorien vor: Direkte Definition39 und indirekte Präsentation.40 Unter den Bereich der indirekten Präsentation fallen dabei folgende Unterbereiche: Handlung, Rede, äußeres Erscheinungsbild und Umwelt.41

Jannidis42 definiert Figuren als „mentale Modelle […], die in der narrativen Kommunikation aufgebaut und verändert werden.“43 Den Figuren werden dabei im Text auf der Ebene des discourse verschiedene Informationen zugeschrieben, durch die das mentale Bild des Modell-Lesers von einer Figur verändert wird.44 Jannidis entwickelt hierfür ein Modell zur Beschreibung der Figureninformationen, das sich in vier verschiedene Dimensionen aufteilt: Zuverlässigkeit, Modus, Relevanz und Offensichtlichkeit.45 Unter dem Aspekt Zuverlässigkeit geht es hinsichtlich der Figureninformationen um die Frage, wie zuverlässig die „Quelle ihrer Zuschreibung“46 ist. Unter dem Bereich des Modus wird der Status der Information in eine bestimmte Kategorie eingeteilt.47 Unter dem Aspekt der Relevanz verhandelt Jannidis die Frage, wie bedeutsam eine bestimmte Information für die Figur ist.48 Unter der Dimension Offensichtlichkeit wird untersucht, ob die Zuschreibung einer Figureninformation direkt oder indirekt geschieht.49 In einem weiteren Kapitel widmet sich Jannidis der Cha­rakterisierung, die bei ihm komplementär zum Konzept der Figureninformationen aufgebaut ist.50 Als Charakterisierung bezeichnet Jannidis „die Summe aller relevanten figurenbezogenen Tatsachen in der erzählten Welt“51. Er entwickelt ein Modell zur Charakterisierung, das sich aus den Aspekten Dauer, Menge, Häufigkeit, Ordnung, Dichte, Informationskontext und Figurenkontext zusammensetzt.52

In seiner Untersuchung zu Figuren im Film definiert Eder53 Figuren wie folgt: „Fiktive Wesen sind kommunikative Artefakte, die durch die intersubjektive Konstruktion von Figurenvorstellungen auf der Grundlage fiktionaler Texte entstehen.“54 Er schlägt für eine Figurenanalyse das Grundmodell „Die Uhr der Figur“55 vor, das Figuren in vier verschiedenen Kontexten als fiktive Wesen, Symbole, Symptome und Artefakte untersucht.56 Als fiktives Wesen besitzt eine Figur Eigenschaften und Merkmale innerhalb einer fiktiven Welt. Zu diesen zählen u.a. ihre „physischen, psychischen und sozialen Merkmale, ihr Verhalten, ihre Erlebnisse und Verhältnisse zu Zeiten und Räumen, anderen Figuren und Objekten, konkreten Ereignissen und abstrakten Regeln“57. Als Symbol weist eine Figur auf etwas Größeres, hinter dem Text Stehendes hin, sie ist damit „Träger indirekter oder höherstufiger Bedeutungen jeglicher Art.“58 In der Rolle als Symptom wird die Figur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Publikum und deren Rezeptionsprozessen untersucht.59 Als Artefakt ist die Figur auf der Ebene der Darstellung das Produkt vielfältiger Gestaltungsformen wie Kameraführung, Schauspielstil, etc.60 Dabei macht Eder deutlich, dass dieses „Uhrenmodell“ lediglich eine Grundlage bildet, auf der in vielerlei Hinsicht aufgebaut werden kann.61

Lahn/Meister62 haben sieben Leitfragen herausgearbeitet, anhand derer eine Figurenanalyse durchgeführt werden kann. Diese lauten: Grad der Profilierung63; Explizite vs. Implizite Charakterisierung; Profilierung im Modus des Zeigens;Prinzipien der Figurenwelt64; Figurentypus65; Genrespezifische Figurenrollen sowie Figurenkonstellationen.66 Dabei müssen ihrer Ansicht nach jedoch stets zwei verschiedene Perspektiven voneinander unterschieden werden: „Einerseits erscheint uns die Figur als ein menschliches oder quasi-menschliches Wesen, mit dem wir […] eine Beziehung eingehen können; andererseits ist die Figur eine symbolische Manifestation gewisser Werte, Ideen oder Konzepte im Gesamtentwurf der Erzählung.“67 Für die Analyse von Figuren ist daher stets diese „doppelte Perspektive“68 zu beachten.

2.3.1.2Figurenanalyse in der Exegese

Die in der Literatur- und Filmwissenschaft entwickelten Konzepte und Methoden zur Analyse von Figuren sind seit den achtziger Jahren vermehrt auch für die Figurenanalyse in biblischen Erzähltexten angewandt worden. Dabei stützt sich die Figurenanalyse in der Exegese zwar hauptsächlich auf literaturwissenschaftliche Figurenanalyseverfahren, entwickelt zum Teil aber auch eigene Methodenschritte. Aufgrund der Fülle an Forschungsbeiträgen zur Figurenanalyse in der Exegese beschränke ich mich beim folgenden Überblick nur auf diejenigen Figurenanalyseverfahren, die im Hinblick auf diese Arbeit am ertragreichsten und relevantesten erscheinen und die zur Entwicklung der in dieser Arbeit verwendeten Methodik beitragen.

2.3.1.2.1Allgemeines zur Figurenanalyse in biblischen Erzählungen

Bar-Efrat1 unterscheidet bei der Analyse biblischer Figuren grundsätzlich zwischen einer direkten und einer indirekten Darstellung und Formung von Figuren.2 Zur direkten Charakterisierung gehören seiner Ansicht nach sowohl Aussagen des Erzählers über die äußere Erscheinung3 einer Figur, wie auch die Schilderung ihrer inneren Persönlichkeit.4 Im Bereich der indirekten Darstellung von Figuren untersucht Bar-Efrat zum einen die Rede der Figuren, die Aufschluss über den Standpunkt, die Ansichten und die Gefühle einer Figur gibt.5 Zum anderen widmet er sich ihren Handlungen sowie der Darstellung von Nebenfiguren.6

Powell7 stellt folgende Definition von Figuren in (biblischen) Erzählungen auf: „Characters are constructs of the implied author, created to fullfill a particular role in the story.“8 Bei der Analyse von Figuren schließt sich Powell zum einen der Unterscheidung in telling und showing an.9 Zum anderen spielt seines Erachtens der jeweils zugeschriebene Point of View einer Figur für deren Verständnis eine wichtige Rolle.10 Außerdem spricht Powell im Rückgriff auf Chatman von bestimmten „Character Traits“11, die einer Figur zugeschrieben werden. Dabei können solche Eigenschaften entweder direkt vom Erzähler genannt werden, oder aber sie ergeben sich indirekt aus den Handlungen und Ansichten einer Figur.12 Auf Grundlage der einer Figur zugewiesenen Charaktereigenschaften entscheidet sich demnach, ob eine Figur nach Forsters Definition flach oder rund ist.13 Außerdem greift Powell die von Abrams14 gemachte Definition eines „stock characters” für Figuren mit nur einer Eigenschaft auf. Zuletzt geht Powell auf die Frage ein, wie beim Leser im Hinblick auf eine bestimmte Figur Empathie, Sympathie oder auch Antipathie entsteht. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass Empathie durch eine Ähnlichkeit der Figur zum Leser hervorgerufen wird.15 Sympathie entsteht seiner Ansicht nach, wenn sich der Leser von einer Figur positiv angesprochen fühlt, auch wenn keinerlei Ähnlichkeit der Figur zum Leser vorhanden ist.16 Antipathie beschreibt Powell hingegen als „feelings of alienation from or disdain for particular characters“17.

In ihrer narratologischen Untersuchung des Alten Testaments widmen sich Gunn und Fewell18 auch der Charakterisierung von biblischen Figuren. Hierbei unterscheiden sie zunächst grundlegend zwei Bereiche: Den Bereich des Erzählers und den Bereich der Charaktere.19 Zum Bereich des Erzählers, der den Lesern etwas über die Figur mitteilt, zählt zum einen die Frage nach seiner Verlässlichkeit, d.h. wie die Informationen, die er den Lesern über eine bestimmte Figur zukommen lässt, zu bewerten sind. Dazu zählt die Frage, was der Erzähler über eine Figur erzählt und die Art und Weise, wie er dies tut.20 Darüber hinaus zählen Gunn und Fewell zum Bereich des Erzählers die Beschreibung von Figuren.21 Als drittes schreiben sie dem Erzähler die Beurteilung und Bewertung von Figuren zu.22 Hierbei machen sie deutlich, dass der Erzähler durch bestimmte Kommentare die Vorstellung der Leser über bestimmte Figuren gezielt prägen kann.23 Im Gegensatz zum Bereich des Erzählers, der sich in irgendeiner Art und Weise über die Figuren äußert, geht es im Bereich der Charaktere nach Gunn und Fewell letztlich um Folgendes: „Alternatively, the narrator will step aside and allow the characters to speak for themselves. For, of course, what characters say and how they say it may tell us much about the kind of people they are.“24 Demnach zählen zum Bereich der Charaktere ihre Rede, ihr Kontext und ihr Kontrast zu anderen Figuren.25 Auch ist die Verlässlichkeit ihrer Aussagen und Urteile über andere Figuren zu prüfen.26 Als letztes schreiben Gunn und Fewell dem Bereich der Charaktere die Fragen nach einer möglichen Widersprüchlichkeit der Figuren, ihres Standpunktes (im Vergleich zum Standpunkt des Erzählers) und möglicher Ironie zu.27

Zuletzt greifen Gunn und Fewell Forsters Unterscheidung in flache und runde Charaktere auf, wobei sie jedoch deutlich machen, dass ein und dieselbe Figur in unterschiedlichen Szenen einmal flach und einmal rund dargestellt werden kann.28

Marguerat und Bourqin29 widmen sich u.a. auch ausführlich der Analyse von Charakteren. Dabei verwenden sie Forsters Unterteilung in flache und runde Charaktere sowie das von Greimas entwickelte Aktantenmodell.30 Zusätzlich stellen sie heraus, dass ein typisches Merkmal biblischer Figuren ihre fehlende Autonomie ist, da sich die Figuren immer in einer Beziehung zu Gott oder Jesus befinden und niemals nur für sich existieren.31Auch untersuchen Marguerat und Bourqin, inwiefern der Leser sich mit bestimmten Figuren identifiziert, bzw. wodurch eine Wirkung wie Sympathie, Empathie oder Antipathie für die Figur entsteht. Dabei kommen sie zu folgender Schlussfolgerung: „The rule is simple: the more the characters resemble real beings, i.e. the more their life coincides with that of the reader (whether real or imaginary), the more attractive these characters will be to the reader.”32 Dem Erzähler kommt dabei eine bedeutende Position zu, da er durch seine gezielt gewählte Erzählstrategie die Wirkung des Lesers auf bestimmte Figuren beeinflusst.33 Zu dieser gezielten Beeinflussung der Leser gehört auch die Position, die der Erzähler seinen Lesern in Bezug auf bestimmte Figuren zuweist. Zentral ist hierbei die Frage, ob die Leser mehr, weniger oder genauso viel wissen wie die Figur.34 Die Rolle des Erzählers und sein Verhältnis zur Figur sind dabei genauso bedeutsam. Entweder beschreibt er das Innenleben einer Figur, ihre Gedanken und Träume, erzählt also aus einer großen Nähe zur Figur; oder er schildert die Figur „von weitem“ aus einer gewissen Distanz heraus.35 Als weiteres Analysekriterium für die Untersuchung von Figuren nennen Marguerat und Bourqin die grundlegende Unterscheidung zwischen telling und showing. Dabei beinhaltet das telling alle direkten Aussagen, die vom Erzähler über die Figur gemacht werden. Das showing bezeichnet dagegen das Handeln und Sprechen der Figur selbst.36 Marquerat und Bourqin entwickeln somit ein Analysemodell, das Aspekte von Forster und Greimas sowie die grundlegende Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Charakterisierung miteinbezieht.

In der letzten Zeit hat v.a. Finnern37 einen Versuch unternommen, eine generell anwendbare Methodik für die Analyse biblischer Figuren auszuarbeiten. Dabei orientiert er sich stark an dem von Eder entwickelten Konzept zur Figurenanalyse im Film.38 Finnern gliedert eine Figurenanalyse in sechs verschiedene Methodenschritte. 1. Figurenbestand und Figurenkonfiguration: Hier werden zunächst die in einer bestimmten Szene vorkommenden Figuren39 die oftmals eine Auswahl aus dem Gesamtbestand aller Figuren darstellen, aufgelistet.402. Figurenmerkmale: Hierunter fallen die folgenden zwölf Kriterien Identität, Charakterzüge, Meinungen, Erleben, Gefühle, Verhaltensweisen, äußere Attribute, sozialer Kontext, Wissen, Pflichten, Wünsche und Intentionen der Figur.41 Auch wird nach ihrer Wirkung auf den Rezipienten gefragt. 3. Figurenkonstellation: