Der Augenräuber & Der Kopfsammler - Ed O'Connor - E-Book
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Der Augenräuber & Der Kopfsammler E-Book

Ed O'Connor

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Beschreibung

Ein Londoner Ermittlerduo jagt eiskalte Serienkiller: Der Thriller-Sammelband »Underwood & Dexter ermitteln« von Ed O’Connor als eBook bei dotbooks. Dieser grausige Fund erschüttert London: eine ermordete Profisportlerin, das Gesicht entstellt, die Augenhöhlen leer. An der Wand ein mysteriöser Text, mit ihrem eigenen Blut geschrieben. Detective John Underwood und Alison Dexter beginnen, fieberhaft zu ermitteln, denn sie sind sicher, dass sie es hier mit der ersten Tat eines Serienkillers zu tun haben. Er wird wieder töten, bald, sehr bald … Und es ist nicht der einzige Mörder, der London zu seinem Jagdrevier erklärt hat: Eine Reihe von Opfern, denen ein tödliches Pilzgift injiziert wurde, gibt Rätsel auf. Und was hat es mit den alten Münzen auf sich, die bei ihnen gefunden werden? Underwood hat eine persönliche Verbindung zu dem Fall – eine, die er unbedingt vor Alison Dexter geheim halten muss. Doch das bringt sie beide bald in tödliche Gefahr … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Underwood & Dexter ermitteln« von Ed O’Connor vereint mit »Der Augenräuber« und »Der Kopfsammler« die ersten beiden Thriller der Reihe in einem Sammelband – Gänsehaut-Feeling für Fans von Chris Carter und der TV-Serie »Luther« garantiert. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 940

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Über dieses Buch:

Dieser grausige Fund erschüttert London: eine ermordete Profisportlerin, das Gesicht entstellt, die Augenhöhlen leer. An der Wand ein mysteriöser Text, mit ihrem eigenen Blut geschrieben. Detective John Underwood und Alison Dexter beginnen, fieberhaft zu ermitteln, denn sie sind sicher, dass sie es hier mit der ersten Tat eines Serienkillers zu tun haben. Er wird wieder töten, bald, sehr bald … Und es ist nicht der einzige Mörder, der London zu seinem Jagdrevier erklärt hat: Eine Reihe von Opfern, denen ein tödliches Pilzgift injiziert wurde, gibt Rätsel auf. Und was hat es mit den alten Münzen auf sich, die bei ihnen gefunden werden? Underwood hat eine persönliche Verbindung zu dem Fall – eine, die er unbedingt vor Alison Dexter geheim halten muss. Doch das bringt sie beide bald in tödliche Gefahr …

Über den Autor:

Ed O’Connor lebt in Hertfordshire, England, und arbeitet als Dozent für Geschichte in St. Albans. Er studierte in Oxford und Cambridge, danach arbeitete er mehrere Jahre in London und New York als Investmentbanker.

Bei dotbooks veröffentlichte Ed O’Connor seinen Psychothriller »Der Ritualmörder« sowie seine Underwood-und-Dexter-Reihe mit den Thrillern:

»Der Augenräuber«, Band 1

»Der Kopfsammler«, Band 2

»Der Blutjäger«, Band 3

***

Sammelband-Originalausgabe Dezember 2023

Copyright © der Sammelbandausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Die englische Originalausgabe von »Der Augenräuber« erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »The Yeare’s Midnight« bei Carroll & Graf, New York; Copyright © 2002 by Ed O’Connor. Die deutsche Erstausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Zur dunkelsten Stunde« bei Lübbe; Copyright © 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach. Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.

Die englische Originalausgabe von »Der Kopfsammler« erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Acid Lullaby« bei Constable, London; Copyright © 2003 by Ed O’Connor. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Der Zorn des Mondes« bei Lübbe; Copyright © 2006 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach. Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-881-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Ed O’Connor

Der Augenräuber & Der Kopfsammler

Zwei Thriller in einem eBook

Aus dem Englischen von Ulrike Werner-Richter

dotbooks.

Der Augenräuber

Ein grausiger Fund erschüttert London: eine ermordete Profisportlerin, das Gesicht entstellt, die Augenhöhlen leer. Mit dem Blut seines Opfers wurde ein mysteriöser Text an die Wand geschrieben, der den Detectives John Underwood und Alison Dexter Rätsel aufgibt. Versucht der Killer, sie in ein perverses Spiel zu verwickeln, in dem schon bald der nächste Mord folgt? Auch die junge Literaturdozentin Heather scheint er zu einer seiner Schachfiguren machen zu wollen: Immer wieder liefert er ihr wichtige Hinweise darauf, was ihn antreibt. Aber sollen diese Botschaften dazu dienen, ihn aufzuhalten – oder hat er Heather bereits als seine nächste Beute auserkoren?

Für meine Mutter, meinen Vater und Alix

Verdorrt von Seufzern, Tränenflut um mich,

Nah ich, zu suchen Frühlingszeit:

Mein Aug und Ohr nimmt auf in sich

Solch Balsam, der sonst lindert jedes Leid …

John Donne, Auszug aus »Twicknam Garden«

Teil IEin Bad aus Tränen

Kapitel 1

9. Dezember 2000

Es war sehr dunkel in dieser Winternacht. Die Erde fühlte sich feucht an. Zwar hatte der Dezemberwind den Boden ausgekühlt, aber nicht gefroren. Crowan Frayne hatte auf einen härteren Untergrund gehofft. Gefrorene Erde machte keine Geräusche. Matsch hingegen schmatzte und haftete an einem wie eine hässliche Erinnerung. Aber letztendlich war es egal. Frayne spielte kurz mit dem Gedanken, sein Gesicht in den weichen Boden zu pressen, um so seinen Gesichtsabdruck auf der Erde zu hinterlassen. Die Vorstellung amüsierte ihn. Er würde auf die Toten hinabblicken können, wie Gott auf die Lebenden blickte.

An diesem Abend hörte er wieder die Musik. Es waren von der Zeit losgelöste Stimmen. Als ob die Saiten des Pianos in seinem Kopf vom Geist der Toten herrührten, die bei jeder zarten Tastenberührung einen erlesenen Schmerzensklang von sich gaben.

Der von ihm gewählte Platz lag gut versteckt am Fuß einer dichten Ulmengruppe. Er konnte das Haus genau sehen. Vor einer Stunde war das Licht angegangen; es erhellte einen Teil des kleinen, penibel angelegten Gartens. Blumenbeete schmiegten sich an einen Holzzaun. Im Frühling würden sie sich in all ihrer Pracht zeigen, aber jetzt sahen sie kahl und trostlos aus.

Frayne erkannte hinter dem Fenster die Umrisse der Frau. Jung, hoch gewachsen, von kräftiger Statur. Bestimmt war sie stark. Er würde sich vorsehen müssen. Dass er sie gefunden hatte, verdankte er der Vorsehung. Das Schicksal hatte ihm ein unerwartet gutes Blatt beschert. Lucy Harrington war quasi durch seinen Briefkastenschlitz gefallen.

Er sah auf die Uhr. Nicht mehr lange. Keine Einzelheit durfte dem Zufall überlassen werden. Von jetzt an zählte nur noch Präzision.

Das Haus war alt; ein Cottage aus dem 19. Jahrhundert. Seine Überprüfung hatte ergeben, dass die Hintertür ein wenig schief in den Angeln hing und ein altmodisches Schloss besaß. Mit dem Schloss würde er leicht zurechtkommen. Von keinem der benachbarten Cottages hatte man einen direkten Blick auf den Garten. Er würde ungestört bleiben.

Spätestens um 19 Uhr 50 musste sie das Haus verlassen. Der Empfang würde mindestens zwei Stunden dauern. Das gab ihm ausreichend Zeit. Crowan Frayne zerdrückte die Blüte, die er in seiner linken Hand hielt, bis seine Finger violette Farbspuren zeigten. Aus dem Koffer mit medizinischen Instrumenten, den er bei sich trug, nahm er ein Skalpell und ritzte vorsichtig die Haut unter seinem linken Auge ein. Sofort quoll Blut heraus. Während eine einsame blutrote Träne über seine Wange rann, sagte er leise vor sich hin:

»›Lass mich beginnen, vor dir zu weinen …‹«

Die Worte verflüchtigten sich mit seinem Atem in der kalten Luft. Er wurde still.

Das Cocktailkleid saß perfekt, doch Lucy Harrington gefiel sich nicht. Ihre Oberarme waren zu muskulös, ihre Brüste zu klein. Sie überlegte, ob sie nicht lieber Radfahrerin als Schwimmerin hätte werden sollen. Vielleicht wäre eine Bluse vorteilhafter gewesen; sie hätte weniger von ihrer maskulinen Figur offenbart.

Sie sah auf die Uhr. 19 Uhr 52. Sie hatte keine Zeit mehr. Der Empfang begann um acht, und die Fahrt nach New Bolden dauerte mindestens zehn Minuten. Es würde also bei dem Kleid bleiben müssen. Sie strich es glatt und tupfte sich etwas von ihrem Lieblingsparfüm Issy Miyake auf den Hals. Zufrieden griff sie nach den Autoschlüsseln und lief dann eilig die Treppe hinunter.

Als die Haustür geöffnet wurde und Lucys Gestalt sich gegen die Flurbeleuchtung abzeichnete, hielt Frayne den Atem an. Zwar wusste er, dass sie ihn nicht sehen konnte, aber er fühlte sich dennoch ungeschützt – als ob die Hitze seiner Erregung ihn sichtbar machte. Sie drehte sich um, verschloss die Tür zwei Mal (er hatte gewusst, dass sie das tun würde) und ging mit schnellen Schritten zu ihrem Auto. Während sie im Schlüsselloch herumstocherte, schlug sich ihr Atem an den Autofenstern nieder.

Der Anblick erregte Frayne. Er erinnerte sich, dass Donne die Ansicht Thomas von Aquins, Engel seien geistige Wesen, die in Luftkörpern sichtbar würden, mit seinen Worten verdreht hatte. Wie hieß es noch?

»Des Engels Antlitz und Schwingen so klar

Wie Luft, doch nicht so rein wie sie …«

Vielleicht würde aus Lucy Harrington ein Engel. Er würde ihr helfen.

Die Autoscheinwerfer flammten wie anklagend in seine Richtung auf. Frayne schmiegte sich so eng an den Boden, dass er fürchtete, die Erde könne ihn lebendig in sich aufnehmen. Stotternd erwachte das Auto zum Leben. Es spie sein Licht auf die alten Bäume am Waldrand. Drinnen im Wagen verfluchte Lucy Harrington ihre Eitelkeit, weil sie mit ihren hochhackigen Schuhen von der Kupplung abgerutscht war und den Motor abgewürgt hatte. Doch schließlich setzte sich der gelbe Fiat in Bewegung. Er fuhr unmittelbar an der Stelle vorbei, die Crowan Frayne soeben verlassen hatte.

Es war ein Einbrechertrick, und er funktionierte nur bei älteren Häusern. Neue Gebäude besaßen standardmäßig eingebaute Sicherheitsschlösser, die einer anderen Handhabung bedurften. Doch Crowan Fraynes Forschungsergebnisse der vergangenen Nacht hatten sich als richtig erwiesen.

Er kniete vor der Hintertür auf dem kalten Stein – ein unangenehmes Gefühl. Mit einer geübten Bewegung entnahm er seiner Utensilientasche ein Stück Karton und ließ es unter der Tür hindurchgleiten. Als er den Karton an der richtigen Stelle platziert hatte, führte er vorsichtig einen dünnen Fleischspieß in das Schlüsselloch ein, bis er auf Widerstand stieß. Auf der anderen Seite steckte, wie er richtig recherchiert hatte, der Schlüssel. Mit der linken Hand hielt er den Spieß, mit der Rechten griff er nach einem Hammer und versetzte dem Spieß einen einzigen, entschlossenen Schlag. Zufrieden hörte er, wie der Schlüssel innen aus dem Schloss fiel. Lächelnd zog er den Karton durch den Spalt unter der Tür hervor. Er ging äußerst behutsam bei seiner Arbeit vor. Als der Schlüssel zum Vorschein kam, hob Frayne ihn auf, steckte ihn ins Schloss und drehte einmal um. Der Vorgang hatte weniger als eine Minute gedauert. Er war im Haus.

Wärme schlug ihm ins Gesicht. Sacht fiel die Tür hinter ihm zu. Er schloss ab und spürte zum ersten Mal einen Anflug von Furcht. Crowan Frayne legte seine Angst in eine Schachtel. Er würde sie erst später öffnen.

Im Bürgerhaus wimmelte es von Journalisten, Ortsansässigen und Würdenträgern. Es war heiß und stickig. Lucy Harrington empfand die Atmosphäre als bedrückend. Und dennoch: Genau darum war es ihr gegangen bei ihren einsamen Wintermorgen in der Schwimmhalle von New Bolden, dem schmerzhaften Krafttraining und dem der Pflicht geopferten Sozialleben. Sie bemühte sich, der Situation etwas Gutes abzugewinnen, und konzentrierte sich auf die Worte des Bürgermeisters.

»Nur wenige Landkreise können sich glücklich schätzen, einen Goldmedaillengewinner in ihren Reihen zu wissen.« Der Bürgermeister von New Bolden hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen und Atem zu schöpfen. »Lucys Erfolg hat unseren Ort bekannt gemacht.« Lucy lächelte verlegen. Blitzlichtgewitter flammte ihr entgegen. Der Bürgermeister, dessen Stirn im Licht feucht glänzte, sprach weiter. »Es war ein persönlicher Triumph, so viel ist gewiss. Aber wir alle können mit großem Stolz daran teilhaben. Wie der Name bereits andeutet, ist New Bolden eine neue Stadt, und Lucy ist die Erste einer neuen Generation von Menschen, die eine Spur in der Weltgeschichte hinterlässt. Daher bitte ich Sie, die Gläser zu erheben und auf die Gesundheit unserer Commonwealth-Meisterin über 100 m Freistil zu trinken … Auf Lucy Harrington.« Lautes Gläserklirren. Applaus brandete auf. Nervös stand Lucy Harrington auf und ließ den Blick ihrer blauen Augen über die Anwesenden schweifen.

»Ich denke, eine Schwimmerin dürfte eigentlich nicht ins Schwimmen geraten, aber ich habe schon immer Angst davor gehabt, vor vielen Leuten zu sprechen.« Begütigendes Lachen. »Meine Rede soll auf keinen Fall länger dauern als das Wettschwimmen; das lässt mir etwa eine Minute, Ihnen allen zu danken. Schwimmen kann ein recht einsamer Sport sein, und Athleten müssen mehr an sich als an andere denken. Aber als ich am vergangenen Wochenende auf dem Startblock stand, wusste ich, dass ganz New Bolden bei mir war. Und dieses Gefühl gehört zu den schönsten, die ich je hatte.« Lucy Harrington machte eine Pause und blickte sich in der Halle um: Was sie sah, waren jede Menge unbekannte Gesichter und aufblitzende Kameras. Plötzlich fühlte sie sich müde.

Es war 23 Uhr 07. Eigentlich hätte er sie längst zurückerwartet, doch Frayne machte sich keine Sorgen: Hier hatte von vornherein eine Unwägbarkeit gelegen, und er war vorbereitet. Bisher war die Zeit wie im Flug vergangen. Er hatte sich mit dem Haus vertraut gemacht und seine Instrumente mehrfach überprüft. Jetzt saß er ruhig da und las. Lucy Harringtons Schlafzimmer duftete angenehm nach Blumen und Vanille. Draußen fuhr ein Auto vor.

Crowan Frayne legte sein Buch beiseite.

Müde zog Lucy Harrington die Haustür hinter sich zu, um die Kälte auszusperren. Sie ließ ihre Schlüssel auf einen Tisch im Flur fallen und kickte ihre Schuhe von den Füßen. Einen Augenblick lehnte sie sich gegen die Haustür und schloss die Augen. Sie schickte sich an, in die Küche zu gehen, als sie horchend innehielt. Im oberen Stockwerk lief Wasser. Das Bad. Hatte sie den Hahn nicht richtig abgedreht? Leise fluchend und in Erwartung eines völlig unter Wasser stehenden Badezimmers rannte sie die Treppe hinauf. Doch der Fußboden im Bad war trocken. Wasser strömte aus dem Kaltwasserhahn in die Wanne, die zu knapp einem Drittel gefüllt war. Sie zögerte. Hatte sie Halluzinationen?

Als sie sich über die Wanne beugte, um das Wasser abzudrehen, war Crowan Frayne mit einem Satz hinter ihr. Er holte aus und schmetterte den Hammer gegen ihren Hinterkopf. Eine Blutfontäne spritzte hoch. Lucy Harrington taumelte zu Boden. Frayne schlug ein zweites Mal zu. Härter als zuvor. Es war wichtig, sicherzugehen.

Es war schnell gegangen. Sie hatte kaum einen Laut von sich gegeben. Frayne arbeitete schnell und präzise. Er hatte alles bis ins Detail durchgespielt. Mit einer sicheren Bewegung rollte er sie auf den Rücken und schob ihr linkes Augenlid zurück. Die Pupille war erweitert, schwarz und blind. Er holte seinen Utensilienkoffer und entnahm ihm ein Skalpell, eine Schere und eine Pinzette. Jetzt kam der kritische Moment. Bei der Entfernung des Augenlids erwartete er keine Probleme, aber die seitlichen Muskeln, die das Auge in der Höhle hielten, konnten sich als schwierig erweisen. Auf keinen Fall durfte er den Augapfel beschädigen. Das war wichtig. Sein eigenes Gesicht spiegelte sich verzerrt in Lucy Harringtons toter schwarzer Pupille wider. Leise sprach er die Schwärze an:

»›Auf einen Ball

Malt wohl ein Künstler nach dem Abbild dir

Europa, Afrika und Asien hier,

Und das, was nichts war, macht er rasch zum All.‹«

Crowan Frayne arbeitete angespannt. Er stellte fest, dass er mehr Licht brauchte. Im Schlafzimmer hatte er eine Leselampe aus Metall gesehen. Kein Grund zur Hektik. Er hatte jede Menge Zeit.

Kapitel 2

10. Dezember

Regen trommelte gegen das Schlafzimmerfenster. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen beobachtete Underwood, wie die Tropfen sich sammelten und an der Scheibe hinunterliefen. Die Straßenbeleuchtung spiegelte sich auf dem Glas. Dankbar registrierte er die Wärme der Zentralheizung, obwohl er schwitzte. Vor einer Stunde schon hatte er das Deckbett weggeschleudert. Der Erfolg war gleich null. Das Atmen fiel ihm schwer. Tagsüber fiel es ihm fast nie auf, außer wenn er die Treppen zur Kantine hochstieg. Aber nachts, in der stickigen Luft des zentralgeheizten Schlafzimmers, rang er immer öfter nach Atem. Detective Inspector John Underwood wurde häufig von Schlafproblemen geplagt. Besonders, wenn er allein war. Wenn er sich ärgerte, war es ihm unmöglich seine Nachtruhe zu finden.

Der Wecker gab ihm zu verstehen, dass es bereits 3 Uhr 17 war. Er kam ihm fast höhnisch vor. Julia hätte um Mitternacht zurück sein müssen. Eine Stunde zuvor hatte er das letzte Mal versucht, sie auf ihrem Handy anzurufen. Es war ausgeschaltet. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Er wusste, dass er bestraft wurde, aber er verstand nicht, warum. Vielleicht, weil er nicht verstand, warum. Achtzehn Jahre Ehe schienen ihn und Julia weit auseinander gebracht zu haben. Aus Vertrautheit war nicht nur Verachtung geworden, sondern Entfremdung.

Am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Denken war die Untätigkeit des Schlaflosen. Wenn sein Angstgenerator einmal angesprungen war, lag er da und malte sich jede Unregelmäßigkeit aus, das wusste Underwood ganz genau. Manchmal, wenn er Glück hatte, verschwammen die Unregelmäßigkeiten, und er versank in Wogen der Erschöpfung. Heute Nacht nicht. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Er griff nach der Dose Pepsi, die auf dem Nachttisch stand.

Draußen fuhr ein Auto vor. Er lugte durch den Vorhangspalt. Es war ein Taxi: noch ein schlechtes Zeichen. Wo konnte sie bis 3 Uhr 17 gewesen sein? New Bolden war nicht unbedingt mit Monte Carlo zu vergleichen. Wenn die Pubs um halb zwölf schlossen, war höchstens am Kebab-Wagen noch etwas los. Underwoods Gedanken rasten. Keine der Alternativen gefiel ihm. Julia stieg aus dem Taxi und lief eilig ins Haus.

Er hörte, wie sie die Treppe heraufkam. Sie bemühte sich, leise zu sein. Er zählte ihre Schritte. Die vierte Stufe knarrte, aber er hörte nichts. Sie musste darüber hinweggestiegen sein. Also bemühte sie sich, ihn nicht aufzuwecken. Warum? Die Gedanken fuhren in seinem Kopf Karussell.

Es ist nach drei Uhr morgens. Sie will nicht, dass ich weiß, wann sie heimgekommen ist. Warum? Weil verheiratete Frauen nicht so lange wegbleiben, außer sie vögeln herum. Sie will mich nicht wecken, dann kann sie mich morgen wegen der Zeit anlügen. Aber warum sollte sie lügen? Weil sie nicht möchte, dass ich Verdacht schöpfe. Wenn sie aber lügt, muss ich sie verdächtigen.

Das Badezimmerlicht ging an. Underwood hörte das Rauschen der Dusche. Ein sehr schlechtes Zeichen. Sie hatte geduscht, ehe sie weggegangen war. Wieso duschte sie ein zweites Mal in dieser Nacht? Seine Überlegungen drehten sich immer wieder um denselben harten, unangenehmen Punkt. Underwood versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte sich nicht gestatten, so etwas zu denken. Zwei und zwei ist nicht gleich sechs. Gehe nicht über Start. Ziehe keine zweihundert Pfund ein.

Das Wasser wurde abgedreht. Sehr leise kam Julia ins Schlafzimmer. Sie tastete am Fußende des Bettes nach ihrem Nachthemd und fluchte leise. Underwood nahm den Geruch von Alkohol wahr. Er bemühte sich, regelmäßig ein- und auszuatmen. Das Bett ächzte leise, als Julia unter die Decke schlüpfte. Und dann lag sie unbeweglich wie eine Leiche, bis sie sicher war, dass Underwoods regelmäßige Atemzüge nicht gespielt waren. Endlich entspannte sie zufrieden ihren Körper. Underwood schlug die Enttäuschung auf den Magen. Seine Frau machte ihm etwas vor. Und sie roch wie eine Fremde. Wieder bekam er Durst, aber er wusste, dass der Griff nach der Getränkedose seinen taktischen Vorteil vernichten würde. Stattdessen öffnete er die Augen einen schmalen Spalt und versuchte, sich auf die zufälligen Kollisionen der Regentropfen auf dem dunklen Glas zu konzentrieren.

Kapitel 3

Das Frühstück verlief gezwungen. Underwood genoss die Bitterkeit des Kaffees. Sie erschien ihm geradezu passend zu seiner momentanen Verfassung. Julia versteckte sich hinter dem Telegraph. Er wusste, dass es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war. Die Tage ihrer Ehe waren gezählt. Was sollte er dann tun? Er fühlte sich wie ein waidwundes Tier, hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen und Trost im Vergessen gesucht. Die Idee erschien ihm zunehmend erstrebenswert.

»Na? Wann bist du gestern Abend heimgekommen?« Er bemühte sich, seine Eröffnungssalve forsch klingen zu lassen. Eine kurze Pause entstand. Er spürte, wie seine Frau hinter der Zeitung ihre Gedanken ordnete.

»Ich muss zugeben, dass ich es nicht mehr genau weiß. Ziemlich spät jedenfalls. Halb zwei, zwei vielleicht.« Das war geschickt. Sie gab ein wenig Schuld zu und verbarg auf diese Weise die größere Lüge. Gib dem Fragenden, was er hören möchte und entschärfe damit die Lage. Schlau. Solche Ausweichmanöver hatte Underwood schon tausendmal gehört, und zwar von gewiefteren Lügnern als seine Frau es war. Doch er musste zugeben, dass sie von Tag zu Tag geschickter wurde – und es ging schon seit Wochen so.

»Hm, ganz schön spät. Du musst fix und fertig sein. Wo bist du gewesen?«

»Madeleine und ich waren in einem Haydn-Konzert in St. Peter. Bellini Piano Trio. Anschließend haben wir bei Marco gegessen und sind dann auf eine Flasche Wein zu ihr gegangen.« Julia ließ die Zeitung sinken und blickte ihm direkt ins Gesicht. »Wir haben ein Glas zu viel getrunken und sind beide im Wohnzimmer eingeschlafen.«

Das klang unbestreitbar plausibel. Madeleine trank ganz gerne. Julias berechnend freiwilliger Blickkontakt sollte Ehrlichkeit vortäuschen. Allerdings war die Abfolge der Ereignisse zu wohl geordnet. Sie erinnerte Underwood an die gut durchdachten, unrealistisch symmetrischen Alibis ungeübter Krimineller. Er hoffte, dass er sich täuschte. Im schrecklichen Chaos des Lebens verbarg sich die Schuld meist in den Details, das wusste er.

»Was hast du gegessen?«

Das Telefon klingelte. Zuckte Julia zusammen, oder bildete er sich das ein?

»Fusilli Alfredo.«

Hatte sie zu schnell geantwortet? Underwoods Gedankenzug war entgleist. Er stand auf. Julia schien erleichtert aufzuatmen. Als er durch die Küche ging, spürte er ihren Blick im Rücken wie den einer Katze, die zum Sprung auf eine Beute ansetzt. In seinem Magen brannte die Säure. Er nahm den Hörer ab.

»6 6 2 4.«

»Sir, hier ist Dexter.« Detective Sergeant Alison Dexter hatte einen harten Londoner Akzent. Underwood stöhnte leise auf. Schlechte Nachrichten kündigten sich an.

»Morgen Dex. Was liegt an?«

»Ein ziemlich beschissener Start in den Tag, Sir. Wir haben eine Leiche.«

Normalerweise hätte Underwood jetzt einen Scherz gemacht, aber er war zu müde dazu. Nicht, dass er mit DS Alison Dexter hätte flirten wollen – das wäre vermutlich so, als würde man in ein Dornengestrüpp fallen. Nein, ein neckischer Scherz mit seiner Assistentin hätte ihn einiges von der moralischen Überlegenheit gekostet, die er seiner Frau gegenüber im Augenblick ausspielte, und das wollte er auf keinen Fall. Seine Ehe befand sich im Endstadium. Alles, was blieb, war Taktik.

»Männlich oder weiblich?«

»Weiblich, Mitte zwanzig.«

»Sexualdelikt?«

»Das wissen wir noch nicht.« Sie machte eine kurze Pause. »Sie sollten sich beeilen, Sir. Ich glaube, es ist diese Harrington.«

»Die Schwimmerin?« Underwood ächzte insgeheim. Er hatte die Zeitungen gelesen. New Boidens Heldin war auf dem Weg, eine nationale Berühmtheit zu werden. Ein Albtraum erwartete ihn.

»Genau die. Jemand hat ihr ziemlich übel mitgespielt.«

»Okay, Dex. Versiegeln Sie den Fundort und benachrichtigen Sie die Spurensicherung. Die Presse wird wahrscheinlich über die Story herfallen wie Fliegen über die Scheiße. Sehen Sie zu, dass nichts nach außen dringt.«

»Das dürfte schwierig werden, Sir. Sie sind schon da.«

Underwood schrieb die Adresse auf und griff nach der schweren blauen Jacke, die er bei der Arbeit trug. Er trank den Rest seines Kaffees und wandte sich zu Julia um. Sie versteckte sich noch immer hinter dem Telegraph. Ihre Augen waren weit geöffnet. Sie las nicht.

»3 Uhr 17«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Du hast richtig gehört.«

Sie sah ihm nach. Eine Woge von Schuld und Enttäuschung überrollte sie. Sie hatte keine Kraft mehr, gegen den Strom zu schwimmen. Julia Underwood war erschöpft.

Kapitel 4

Die Hartfield Road schlängelte sich aus den gut situierten Wohngebieten New Boidens in die freudlos flache Landschaft von Cambridgeshire hinaus. Kühler Nebel hing über dem Marschland. Underwood fuhr in nördlicher Richtung und bemühte sich, die vergangene Nacht aus seinen Gedanken zu verbannen. Seine Brust fühlte sich eng an. Die feuchte Luft tat seiner Lunge nicht gut.

Bis Fawley Close brauchte er zehn Minuten. Vier alte Cottages duckten sich am südlichen Waldrand des Fawley Wood zusammen. Früher hatten dort Landarbeiter gewohnt, doch vor ein paar Jahren hatte ein zukunftsorientierter Investor die Häuschen renoviert und an junge Paare verkauft; die meisten von ihnen waren leitende Angestellte oder Lehrer, die in New Bolden oder Cambridge arbeiteten. Lucy Harrington war die letzte Käuferin gewesen.

Ein Streifenwagen blockierte mit hektisch blinkendem Blaulicht die Einfahrt zu der schmalen Sackgasse. Ein paar Neugierige standen herum. Underwood parkte auf der Hauptstraße. Vor einem der Cottages entdeckte er DS Dexter. Sie trug ihr dunkles Haar sehr kurz geschnitten, schien aber nicht vor Autorität zu strotzen. Dexter handelte selbstsicher, und Underwood beneidete sie.

Die erbarmungslose Luft peinigte seine Lunge. Underwood hustete qualvoll. Mit jedem Schritt, den er tat, versank er im Matsch.

»Hört sich nicht gut an, Sir.« Dexters grüne Augen tränten vor Kälte.

»Ist es auch nicht. Ich werde alt.«

»Sie sind schon alt, Sir.«

Obwohl er ihm peinlich war, wusste Underwood den Scherz zu schätzen. Er bedeutete eine Art Intimität zwischen ihnen beiden. »Danke für die Blumen, Sergeant. Nun erzählen Sie mal!«

»Wir haben hier ein ziemliches Chaos. Ein Journalist vom New Bolden Echo erhielt heute Morgen um 7 Uhr 30 einen Anruf. Eine Männerstimme erklärte ihm, Lucy Harrington sei tot, und gab ihm die Adresse. Der Journalist rief sofort unseren Diensthabenden an.«

»Hatte der Typ einen Akzent?«

»Nichts Auffälliges. Der Journalist ist hier, falls Sie ihn sprechen möchten.«

»Später. Was war weiter?«

»Kurz nach acht waren wir hier. Ihr Auto steht in der Auffahrt.« Sie zeigte auf Harringtons Fiat. »Wir rüttelten an sämtlichen Türen und ließen das Telefon klingeln. Keine Antwort. Da haben wir die Tür aufgebrochen.«

»Irgendwelche Anzeichen für Einbruch?«

»Nichts. Außer unseren eigenen natürlich. Die Polizei von New Bolden frönt dem Vandalismus!«

Underwood lächelte. Dexter war ein Energiebündel. Die Londoner Polizei hatte sich nicht in ihr getäuscht. Ermutigt fuhr sie fort: »Drinnen sieht es ganz schrecklich aus. Die Leiche liegt im Bad. Im Moment ist die Spurensicherung oben. Überall ist Blut. Man kommt sich vor wie im Schlachthaus. Der Mörder hat das Wasser laufen lassen. Alles ist nass. Die ganze obere Etage steht unter Wasser. Da noch vernünftige Spuren zu finden, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein.«

»Schlau, wenn er es absichtlich getan hat«, sagte Underwood nachdenklich. Aber Dexter schien noch etwas auf dem Herzen zu haben.

»Da ist noch etwas, Sir.«

Kapitel 5

Die Vorhänge waren zugezogen in dem kleinen Reihenhaus, fünfzehn Kilometer entfernt. Crowan Frayne wollte ungestört seine Feier zelebrieren. Er saß auf dem gemusterten Teppich im Wohnzimmer. Im Schneidersitz, wie ein Kind. Unter seinem linken Auge klebte ein Pflaster. Immer noch waren Blutspuren unter seinen Fingernägeln. Er würde wohl noch einmal baden müssen. Zwar war er müde, aber voller stillem Triumph.

Vor ihm stand das Foto einer alten Frau. Sie lächelte. Ihre Hand ruhte auf der Schulter eines kleinen Jungen, der Crowan Frayne ähnlich sah. Neben dem Rahmen stand ein Usambaraveilchen. Die Blüten waren von intensiver Farbe. Frayne hatte es gedüngt. Einige Blüten waren abgefallen. Auf dem Teppich lagen violette Blütenblätter.

Aus der Innentasche seines Mantels holte Frayne ein kleines, hochglanzpoliertes Holzkästchen. In den Deckel waren kleine Messingbuchstaben eingelassen. »V. A. Frayne« stand da. Vorsichtig stellte er das Kästchen auf den Teppich. Er öffnete es behutsam und voller Respekt. Innen war es mit purpurfarbener Seide ausgeschlagen. Lucy Harringtons linker Augapfel lag in einem der drei Fächer – die beiden anderen waren leer. Frayne war zufrieden. Die Rückseite und die Seiten des Augapfels waren beschädigt. Die Pinzette hatte Verletzungen hinterlassen. Berufsrisiko. Es war seine erste richtige Operation. Das nächste Mal würde er es besser machen.

Er schloss die Augen. Jetzt war er auf dem Wüstenplaneten, auf dem er sich gerne versteckte.

Um ihn herum ist Sand. Sand und Berge sind dort, Felsen und Himmel. Der Sand ist schwarz, und die Berge haben Augen. Die Felsen sprechen, und der Himmel antwortet ihnen. Vor Frayne im Sand liegt ein riesengroßer Zirkel. Die spitzen Stahlschenkel glänzen, obwohl es keine Sonne gibt. Er steigt über den Kompass und geht auf Riesenfloh zu, der ihm zuzwinkert. Er ist groß wie ein Haus und schimmert purpurn vom Blut Millionen Unschuldiger. Der Floh speit Blut.

»Brandmarke mich«, sagt der Floh.

Der Floh hüpft über ein riesengroßes Klavier, das wie der Sand seine Farbe verändert. Der Klavierschemel ist zwei Meter hoch. Frayne klettert hinauf und stellt sich auf die weißen Tasten, die weich und klebrig werden. Es ist schwer, den Deckel zu heben – so schwer, ab müsste man eine ganze Stadt heben. Doch dann bewegt er sich. Frayne blickt hinein. Eine Milliarde lang gestreckter, schreiender Seelen singen ihm ihren Todeskampf und ihre Sinnlosigkeit entgegen. Der Deckel fällt zu.

Dann war er wieder im Wohnzimmer. Er hielt Lucy Harringtons Augapfel in der Hand und leckte über die glatte Oberfläche, als wäre das Auge ein geschliffenes Juwel.

Kapitel 6

Underwood befestigte den vorgeschriebenen Plastikschutz an seinen Schuhen und betrat das Haus. Innen war es ganz im alten Stil gehalten: weiß gestrichene Wände und dunkle, sichtbare Deckenbalken. Der dicke Teppich schmatzte unangenehm unter seinen Füßen. Underwood blickte ins Treppenhaus hinauf. Wasser und Blut strömten die Stufen hinab. Der Teppich musste einst blau gewesen sein; jetzt war er unansehnlich: fleckig und mit Blut besudelt. Nie zuvor hatte Underwood einen so entsetzlich zugerichteten Tatort gesehen. Der Gestank war furchtbar: Es roch modrig, feucht und nach Tod. Dexter hatte Recht gehabt. Die Chancen, Haare oder DNA-Spuren des Mörders zu finden, standen gleich null.

Auf dem oberen Treppenabsatz wartete der Polizeipathologe Roger Leach schon auf ihn. Er stand vor der Badezimmertür. Leach war ein schwerer, bärtiger, untersetzter Mann. Sein üblicherweise grimmiger Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher, als er Underwood mühsam die schmale Treppe erklimmen sah.

»Brauchen Sie Hilfe?«, grinste Leach. »Scheint Sie ganz schön anzustrengen.«

»Ich spüre mein Alter«, antwortete Underwood außer Atem.

»Sie sind jünger als ich.«

»Nur geringfügig.« Als Underwood die letzte Stufe erreicht hatte, stellte er fest, dass der Teppich hier oben noch grauenhafter aussah als der unten. Er verzog das Gesicht. »Das ist ja wie in einem Horrorfilm.«

»Warten Sie erst mal ab, was da drinnen los ist. Ich hab so etwas noch nie gesehen.« Leach konstatierte Underwoods rasselnden Atem. »Sie hören sich ein bisschen verschleimt an, alter Mann. Wenn Sie nicht bald etwas für Ihre Fitness tun, sehe ich schwarz.« Underwood warf einen Blick ins Bad.

»Jesus Christus!«

»Ungefähr so habe ich auch reagiert.« Vorsichtig betrat Leach das Bad. Underwood blieb an der Tür stehen.

Lucy Harrington lag auf dem Rücken. Sie trug das schwarze Cocktailkleid vom Vorabend. Sie lag in einer entsetzlichen Schmiere aus Wasser und Blut, die über den ganzen Boden verteilt war. Die Wanne war bis zum Rand voll Wasser. Jemand hatte sich erbarmt und die Hähne geschlossen. Harringtons verzerrtes, blutverschmiertes Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Ihr rechtes Auge starrte ausdruckslos an die Decke. Das linke Auge fehlte. Die Höhle war mit schwarzem Blutgerinnsel gefüllt.

Underwoods Magen rebellierte. Er biss sich auf die Unterlippe. Der Geruch machte ihm zu schaffen. Er blickte von der Leiche auf. Auf die hintere Wand des Badezimmers hatte der Mörder einen kurzen Satz geschrieben – vermutlich mit Blut. Die Buchstaben waren auf den weißen Fliesen ausgelaufen. Underwood hatte Mühe, den Satz zu entziffern.

»Nicht Flut, dass ich ertrink in deiner Sphäre«, sprach er lautlos vor sich hin.

»Ganz schön abgedreht, nicht wahr? Fast wie Jack the Rippen« Leach hatte sich neben die Leiche gehockt und inspizierte die Verletzung an Harringtons Hinterkopf.

»Schon eine Ahnung, was es bedeuten soll?«

Dexter war ins Badezimmer gekommen. »Irgendein verrückter Bibelspruch, nehme ich an. So wie ›Auge um Auge …‹«, sagte sie. Es klang nicht sonderlich überzeugt.

»Ich finde, es hört sich mehr nach Shakespeare an«, brummte Leach.

»Können Sie schon irgendetwas sagen, Roger?« Underwood fühlte sich immer unwohler. Am liebsten wäre er so schnell wie möglich aus dem Haus verschwunden.

Leach hockte sich auf seine Fersen und dachte einen Augenblick nach. »Gewissheit haben wir natürlich erst nach der Obduktion.« Vorsichtig drehte er Harringtons Kopf, sodass sie die Verletzung am Hinterkopf sehen konnten. »Todesursache ist vermutlich ein heftiger Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, wahrscheinlich aus Metall. Die Wundränder sind zwar unregelmäßig, aber die eigentliche Verletzung ist nahezu rund; der Durchmesser beträgt etwa vier Zentimeter. Ich tippe auf einen Hammer. Vielleicht auch ein Stahlrohr. Euer Mörder hat ihr das Großhirn zermatscht.«

»Ein einziger Schlag?«

»Zwei, möglicherweise drei. Aber das hat sie vermutlich nicht mehr mitgekriegt. Nach der Blutspur auf den Fliesen zu urteilen, hat sie sich gerade über die Wanne gebeugt, als er zugeschlagen hat. Sie ist mit dem Gesicht nach vorn gefallen, danach hat er sie umgedreht.«

»Was ist mit dem Auge?«

»Schwer zu sagen. Er hat das meiste davon mitgenommen. So wie die Beschädigung der Augenhöhle aussieht, hat er sehr vorsichtig angefangen, ist dann aber nervös geworden. Die Prozedur ist ziemlich schwierig, und unser Kandidat ist kein Chirurg. Die Muskeln hat er einigermaßen sachgemäß durchtrennt, aber dann hat er den Augapfel aus der Höhle gezerrt. Der Sehnerv und ein Stück vom Augapfel sind noch drin.«

Underwood runzelte die Stirn. »Sie glauben also nicht, dass unser Mann medizinisch vorgebildet ist?«

»Bestimmt nicht. Allenfalls ein belesener und begeisterter Amateur.«

»Todeszeitpunkt?« Dexter stellte die notwendige Frage, die Underwood vergessen hatte.

»Kann ich nur raten. Vor etwa acht bis zehn Stunden. Aber sicher können wir erst nach der Obduktion sein. Das Wasser hat ihre Körpertemperatur verfälscht. Meine übrigens auch.«

»Bis gegen elf war sie auf einem Empfang«, warf Dexter ein. »Sie könnte gegen halb zwölf zu Hause gewesen sein, wenn sie nicht zwischendurch noch irgendwo angehalten hat.«

Underwood hatte genug gesehen. »Gut. Bis zu den Obduktionsergebnissen nehmen wir also an, dass der Tod gegen Mitternacht eingetreten ist. Ich werde Harrison bitten, die Nachbarn zu befragen.«

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass wir möglicherweise keine verlässlichen Spuren finden, John. Marty Farell kümmert sich, so gut es geht, um Fingerabdrücke, aber wir haben nicht viel Hoffnung. Ich habe noch nie einen derart versauten Tatort gesehen. Wer auch immer das hier getan hat, ist sicher intelligent …«, Leach sah sich ohne große Hoffnung im Bad um, »… und ziemlich krank.«

»Tun Sie, was Sie tun können. Dex, schreiben Sie sich den Satz an der Wand auf. Finden Sie heraus, ob er eine Bedeutung hat. Der Mörder scheint uns etwas mitteilen zu wollen.«

»Na, das nenne ich doch fair!« Dexter schlug ihr Notizbuch auf und schrieb den merkwürdigen Satz ab.

»Ich gehe jetzt und suche den Journalisten.« Underwood warf einen letzten Blick auf die blutige Schweinerei und das, was von Lucy Harrington übrig geblieben war, dann stieg er vorsichtig die Treppe hinunter.

Kapitel 7

George Gardiner stand vor den Cottages. Der einsetzende Regen prickelte unangenehm auf seiner Glatze. Er bemühte sich, seiner Ungeduld Herr zu werden. Schließlich wusste er, dass er im Mittelpunkt der tollsten Geschichte stand, die New Bolden je erlebt hatte. Jedenfalls schlug sie um Längen die Verkehrsunfälle und Tierquälereien, über die er sonst meistens berichten musste. An die Motorhaube eines Streifenwagens gelehnt, tröstete er sich mit einer Zigarette. Underwood kam aus dem Haus.

»Sind Sie George Gardiner?«, fragte der Inspektor.

»Es wurde aber auch verdammt Zeit!« Gardiner gestikulierte mit der brennenden Zigarette unter Underwoods Nase herum. »Seit einer geschlagenen Stunde warte ich hier schon. Es ist scheißkalt. Ohne mich wärt ihr Penner doch gar nicht hier.«

Underwood spürte, wie der Rauch in seine Lunge drang und ihn im Hals kratzte. Er hustete. Gardiner grinste.

»Dann erzählen Sie mir schon, was passiert ist.« Auch Underwood war mit seiner Geduld am Ende.

»Um halb acht rief jemand in der Redaktion an. Manche von uns arbeiten nämlich ganztags.«

»Weiter!«

»Der Typ fragte ausdrücklich nach mir. Er kannte meinen Namen.«

»Warum ausgerechnet Sie? Sind Sie der Sensationsreporter?«

»Nein. Wir sind nur zu viert in der Redaktion. Bis zur Größenordnung der New York Times haben wir es noch nicht ganz geschafft. Vielleicht mag er meinen Stil. Jedenfalls nahm ich den Hörer ab, und der komische Kauz sagte, dass Lucy Harrington tot wäre. Er gab mir ihre Adresse.« Gardiner blickte zum Haus hinüber. »Diese Adresse hier. Ich fragte ihn nach seinem Namen, aber er meinte nur, ich solle mich auf seine ›außergewöhnliche Metapher‹ konzentrieren.«

»Metapher?«

»Seine Worte. Er klang ziemlich arrogant.«

»Hatte er einen Akzent?«

»Nichts, was mir aufgefallen wäre. Er sagte sowieso nicht viel. Hat sofort wieder aufgelegt. Danach hab ich gleich bei euch angerufen.« Gardiner zückte seinen Block. »Wenn Sie fertig sind, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Auch ich muss meine Arbeit tun.«

»Wir geben später eine Pressekonferenz auf der Wache. Aber ehe Sie abhauen, möchte ich, dass Sie mit einem meiner Kollegen reden und ihm Wort für Wort diktieren, was der Typ gesagt hat. Kennen Sie DS Dexter?«

Gardiner schniefte. »Die wie eine Lesbe aussieht?«

»Ich verschweige ihr, dass Sie das gesagt haben.«

»Wenn Sie wollen, können Sie es ihr ruhig erzählen.« Gardiner paffte Zigarettenrauch in den kalten Morgen.

»Sagen Sie ihr nur das, was Sie mir auch gesagt haben.« Underwood ging. Es war erst halb zehn, doch er fühlte sich schon völlig ausgelaugt.

»Übrigens, vielen Dank!«, rief der Journalist bissig hinter ihm her. Doch Underwood war bereits weg.

Kapitel 8

Neben dem Cottage verlief ein schmaler Weg genau zwischen der Mauer auf der Küchenseite und dem hohen Holzzaun. Underwood quetschte sich bis zur Rückseite des Hauses hindurch und stellte einmal mehr fest, dass er unbedingt abnehmen musste. Die Einfachheit des Gartens verblüffte ihn: nichts als Rasen und Blumenbeete. Leicht zu pflegen. Lucy Harrington schien nicht viel von Gartenarbeit gehalten zu haben.

Die Fenster zur Gartenseite waren alle geschlossen und unversehrt. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Einbruch. Die Hintertür war von innen verschlossen. Underwood dachte einen Moment nach. Lucy Harringtons Mörder hatte sie in der ersten Etage überrascht. Mit ziemlicher Sicherheit war er bereits im Haus gewesen, als sie kam, und er war weder durch eines der Fenster noch durch die Eingangstür gekommen. Blieb nur die Hintertür; einen anderen Weg ins Haus gab es nicht. Die Hintertür war abgeschlossen. Aber was bewies das schon? Eigentlich nur, dass der Mörder nicht auf diesem Weg entkommen sein konnte. Vielleicht hatte er irgendwo einen Schlüssel gefunden. Underwood suchte nach einem losen Pflasterstein oder einem Ziegel, unter dem Lucy Harrington einen Ersatzschlüssel versteckt haben könnte. Er entdeckte nichts Auffälliges und verwarf den Gedanken wieder. Eine allein lebende Frau ließ vermutlich keinen Schlüssel außerhalb des Hauses herumliegen. Wieder betrachtete er die Hintertür.

Sie war massiv und bedurfte eines neuen Anstrichs. In der Tür befand sich eine einzelne, große Glasscheibe. Das Haus lag geringfügig höher als der Garten. Underwood stieg die drei Betonstufen hoch und untersuchte sie sorgfältig. Sollte der Mörder hier Fußspuren hinterlassen haben, hätte der Regen sie wahrscheinlich längst weggewaschen. Auch innerhalb des Hauses hatte Underwood keine Schmutzspuren gesehen. Auf der obersten Stufe ging er in die Knie und registrierte den Spalt zwischen Tür und Küchenboden. Plötzlich entdeckte er etwas. Zwischen Türblatt und Rahmen klebte ein winziges, violettes Blütenblatt. War der Fund von Bedeutung? Underwood bezweifelte es. Er dachte an sein eigenes Haus: Unter Türen klemmte immer alles mögliche Zeug; vor allem unter Hintertüren, die zu einem Garten führten. Aber immerhin hatte er etwas in der Hand. Er sah zum Zaun und den öden Blumenbeeten hinüber. Von dort konnte es nicht gekommen sein. Mit Daumen und Zeigefinger klaubte er das Blütenblatt auf und steckte es in einen Beutel.

»Schon irgendwelche Erkenntnisse, Sir?« Mühelos kam Dexter durch den schmalen Weg auf ihn zu.

»Wenn wir davon ausgehen, dass sie ihren Mörder nicht zur Eingangstür eingelassen hat – und ich glaube nicht, dass sie das getan hat – muss er durch die Hintertür gekommen sein. Aber die Tür ist abgeschlossen. Haben Sie einen Stift?«

Dexter reichte ihm einen der dünnen Kugelschreiber, die zum Notizbuch gehörten. Sie hatte immer zwei bei sich. Underwood nahm ihn und steckte ihn ins Schlüsselloch. Das Loch war eng, und Underwood fürchtete schon, der Stift könne abbrechen. Nach kurzem Herumprobieren gelang es ihm, die Spitze des Stiftes unter den Schlüsselbart zu manövrieren. Beim dritten Versuch hatte er Erfolg. Mit leisem Klirren fiel der Schlüssel innen auf den Boden – genau wie mehr als zwölf Stunden zuvor.

»Bingo!«, sagte Underwood.

»Ein alter Trick, Sir.« Dexter blieb unbeeindruckt. »Warum hat er nicht einfach ein Fenster eingeschlagen? Das Risiko, die Sache zu vermasseln, wäre deutlich geringer gewesen.«

»Dafür hätte aber ein größeres Risiko bestanden, dass sie beim Heimkommen etwas merkt. Er hat alles akribisch geplant. Er wollte im Haus auf sie warten. Er wollte, dass sie nach oben kam. Wenn sie ein zerschlagenes Fenster entdeckt hätte, wäre sie bestimmt auf der Hut gewesen.«

»Macht Sinn.« Dexter ärgerte sich, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte. Aber noch eine Frage beschäftigte sie. »Woher wusste er, dass sie hier wohnte? Kannte er sie vielleicht? War es ihr Freund oder jemand, den sie kennen gelernt hatte?«

»Glauben Sie, ein eifersüchtiger Freund würde sich damit aufhalten, ihr ein Auge herauszuschneiden«, sagte Underwood abschätzig, »oder den ganzen Quatsch auf die Wand zu schreiben?«

»Warum nicht? Vielleicht will er uns verwirren.« Dexter betrachtete die winzige Häusergruppe. »Wenn er sie nicht gekannt hat, wäre er dann auf die Idee gekommen, sie ausgerechnet hier am Arsch der Welt zu suchen?«

Nur sein Instinkt sagte Underwood, dass der Mörder Lucy Harrington nicht persönlich gekannt hatte. Seine Ratio suchte nach einem Grund dafür. Es lag am Timing. Wenn der Mörder sie gekannt hätte, überlegte Underwood, hätte er an die Tür klopfen und hereinkommen können, wann immer er es wünschte. Warum hätte er sich ausgerechnet an einem Abend gewaltsam Eintritt verschaffen sollen, an dem Lucy Harrington ausgegangen war und jeder in New Bolden es wusste? Jeder in New Bolden. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe.

»Hat nicht vor kurzem ein Artikel über sie in der Zeitung gestanden?«, fragte er.

»Mehrere. Jedes Käseblatt hat über ihre Goldmedaille berichtet. Für ein Kaff wie New Bolden ein gefundenes Fressen.« Underwood fiel auf, dass Dexter ihren Londoner Snobismus immer noch nicht ganz abgelegt hatte.

»Na ja, so etwas Besonderes war es nun auch wieder nicht«, konterte er.

»Über den Empfang wurde auch viel geschrieben«, fuhr Dexter fort. »Jeder in New Bolden, der des Lesens kundig ist, konnte wissen, dass Lucy Harrington um acht im Bürgerhaus war. Das schränkt den Täterkreis auf Sie, mich und den Bürgermeister ein.«

»Ein bisschen mehr Respekt, bitte!«

»Tut mir Leid, Chef, aber ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich glaube nicht, dass er sie kannte. Da ist etwas anderes im Busch. Ich fürchte, hinter dem Ganzen verbirgt sich ein Plan. Wahrscheinlich hat er den Artikel in der Zeitung gesehen, wurde geil und fing an zu planen. Er ist sehr sorgfältig. Überlässt nichts dem Zufall. Und das sollten wir besser auch nicht tun. Stellen Sie bitte eine Liste von Freunden und Familie zusammen. Leute, mit denen sie zu tun hatte, Leute, mit denen sie trainierte.« Es klang jämmerlich. Underwood wusste, dass es Zeitverschwendung war. Er blickte hinaus auf die dichte Baumgruppe hinter dem Zaun. Dexter las seine Gedanken.

»Es gibt ein paar Waldwege«, sagte sie. »Einige führen zur London Road, ein paar verlieren sich im Gestrüpp, und dann gibt es noch welche zur Hartfield Road. Ich glaube, ich würde mich nicht unbedingt darum reißen, dort im Dunkeln durchzumüssen. Meinen Sie, er kam aus dem Wald?«

Underwood begann mit Blick auf den Boden über den Rasen zu laufen. »Ich glaube, dass er ziemlich sicher dahin verschwunden ist. Erinnern Sie sich an diesen Artikel über kriminelle Aktivität und Landkarten im Kopf, den wir vom Polizeipsychiater bekommen haben?«

»Undeutlich.« Sie blickte nach links ins Nichts. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. »Es ging darum, dass jeder Mensch eine eigene Karte von der Gegend im Kopf hat, in der er lebt. In der persönlichen Perspektive sieht ein Ort ganz anders aus.« Mit zunehmender Erinnerung wurde sie lebhafter. »Wenn man einen Londoner bittet, eine Karte von London zu zeichnen, wird er seine Wohnung näher ans Zentrum platzieren, als es der Wirklichkeit entspricht, und die Themse ohne ihre Windungen malen, denn er sieht sie so.«

»Das kommt der Sache schon sehr nahe. Die meisten Fälle von Vergewaltigung geschehen im Umkreis von einigen Kilometern um die Wohnung des Vergewaltigers.«

»Soviel wir wissen, liegt hier keine Vergewaltigung vor.«

»Stimmt. Aber wie sollte jemand die Wege in diesem Wald kennen …«

»… wenn er nicht von hier ist«, vollendete Dexter den Satz.

Sie nahmen den Zaun genauer ins Visier. Tatsächlich fanden sie eine winzige Blutspur. »Hier ist er über den Zaun gestiegen und in den Wald gelaufen«, sagte Underwood und begutachtete die Stelle. »Irgendwoher wusste er, wo sie wohnt. Und er wusste auch, dass sie um acht Uhr ausgehen und nicht so bald zurückkommen würde. Damit hatte er massenhaft Zeit, sich mit der Hintertür zu beschäftigen, ins Haus zu gelangen und dort seine, wie auch immer gearteten Vorbereitungen zu treffen.«

»Wahrscheinlich ihr Höschen anzuziehen und herumzutanzen.«

»Die Kollegen sollen die Waldwege hinter dem Haus absuchen. Vielleicht hat der Knabe auf dem Rückweg etwas fallen lassen. Zwar ist es unwahrscheinlich, aber immerhin war es dunkel – und er hatte es eilig. Außerdem müssen wir wissen, an welcher Stelle die Wege auf die London Road und die Hartfield Road treffen. Wir suchen nach Stellen, wo er seinen Wagen geparkt haben könnte. Vielleicht hat jemand etwas gesehen.«

Underwood schnaufte. Die kalte Luft wühlte in seiner Brust. Ein quälender Husten peinigte ihn. Er hielt die Hand vor den Mund. Seine Augen tränten. Dexter beobachtete ihn einen Augenblick, ehe sie sich taktvoll zum Haus zurückzog. Wieder hustete Underwood. Dieses Mal war Blut auf seiner Hand. Es war nicht das Blut Lucy Harringtons.

Kapitel 9

Das Southwell College in Cambridge hatte für verschiedene Menschen eine völlig unterschiedliche Bedeutung. Für einige war es zum Beispiel eine »mittelalterliche Mittelmäßigkeit«. Touristen bot es mit seinen wuchernden Gärten und der kuriosen Kapelle eine willkommene Abwechslung auf dem Weg zum »Copper Kettle«. Die Studenten, die dort eingeschrieben waren, betrachteten es als eine Art barockes Ferienlager. Aber für Dr. Heather Stussman bedeutete es Anerkennung. Zumindest einen wichtigen Schritt in diese Richtung.

Sie blickte sich im Gemeinschaftssaal um, wo der Lehrkörper die Mahlzeiten einnahm. Selbst jetzt, zur Mittagszeit, wirkte der Raum düster und bedrückend. Der Hausmeister hatte im Kamin ein helles Feuer entzündet, das nun seltsame Schatten an die eichenholzgetäfelten Wände warf. Stussman saß für ihren Geschmack zu nah am Feuer. Unter ihrer Robe wurde ihr unangenehm warm.

Das Essen war äußerst opulent; sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Die düsteren Ölporträts früherer Lehrer starrten missbilligend auf sie hernieder. In Southwell gab es nur noch ein weiteres weibliches Mitglied der Lehrerschaft – besagte Dame lehrte Teilchenphysik und erschien fast nie zum Essen. Stussman vermutete, dass die frauenfeindlichen Sprüche der männlichen Kollegen sie davon abhielten. Diese nämlich behandelten sie mit einer Mischung aus Verachtung und entsetzter Neugier. Immerhin. Sie hatte sogar mit einer gewissen Feindseligkeit gerechnet.

»Wer sind Sie?«, donnerte ihr der wolfsäugige Professor Dixon über den Tisch entgegen und beäugte sie über seine Lesebrille hinweg.

»Mein Name ist Heather Stussman. Wir haben uns letzte Woche beim Dekan kennen gelernt, Professor Dixon.«

Dixon schien überrascht. »Was halten Sie von unserem Dekan?«, wollte er wissen.

»Ich fand ihn köstlich«, gab Stussman zurück. »Er hat mir sehr geholfen.«

»Sicher. Wissen Sie, er ist eine Queen.« Dixons Widerspruch klang sehr akademisch. »Stockschwul. Ich habe ihn nur aus Ironie gewählt. Alle anderen leider auch. Und jetzt haben wir den Schwindler am Hals.«

Stussman bemerkte, dass ein anderer Professor, ein gewisser Dr. McKensie, sie eingehend beobachtete, während er seine Noisettes de Chevreuil Cumberland kaute. Er erinnerte sie an eine um einen Kadaver schleichende Hyäne.

»Sie sind die neue Professorin für Englische Literaturwissenschaft, nicht wahr? Die Frau!«, stellte er zwischen zwei köstlichen Bissen fest.

»Richtig erkannt.«

»Eine merkwürdige Welt, finden Sie nicht, Roger?«, wandte er sich an Dixon. »Eine Amerikanerin, die Englische Literaturwissenschaft lehrt.«

»Die Erde hat sich weitergedreht. Uns trennt nicht mehr die gleiche Sprache«, sagte Stussman ruhig. Ihr Kragen fühlte sich unangenehm eng an.

»Wissen Sie, wie wir weibliche Fellowsi hier nennen?«, strahlte McKensie. Stussman spürte, wie der Ring der Hyänen sich um sie schloss. Die Gespräche ringsum verstummten.

»Bisher noch nicht.«

»Fellatio!«, trumpfte McKensie auf. Die Männer lachten. Auch Stussman brachte ein Lächeln zu Stande.

»Eigentlich sprich man es Fell-a-zio aus«, erwiderte sie freundlich. »Aber möglicherweise sind Sie mit dem Begriff nicht recht vertraut.«

»Sie hingegen offensichtlich schon.«

»Und wo genau liegt Ihr Spezialgebiet?«, fragte Dixon. Er war immer noch verwirrt.

»Metaphysische Lyrik. Schwerpunkt John Donne.« Stussman legte ihre Gabel hin. Ihr erstes offizielles Mittagessen gefiel ihr nicht.

»Ihr Buch hat sich als ziemlich kontrovers herausgestellt«, sagte McKensie.

»Man kann nicht schwimmen, ohne nass zu werden«, sagte sie und versuchte, heiter zu bleiben. Die ausdruckslosen Gesichter entmutigten sie. »Es wundert mich, dass Sie es gelesen haben, Dr. McKensie«, fuhr sie fort.

McKensie würzte sein sautiertes Gemüse mit einer Prise Salz. Erschrocken sah er Stussman an. »Du lieber Gott, doch nicht alles. Ich habe es gerade einmal bis Kapitel 3 geschafft.«

»Und was hielten Sie davon?« Es war eine dumme Frage, die sie sofort bereute.

»Ich fand Ihre Naivität einfach liebenswert.« Ende des Gesprächs. McKensie wandte sich ab. Sicher genoss er den Klang seiner Schärfe. Stussman schäumte innerlich vor Wut. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass diese schrecklichen Leute für sie nur Mittel zum Zweck waren. Eine Lehrzeit in Cambridge stellte in einem akademischen Lebenslauf nun einmal mehr dar als eine Professur an der Universität von Wisconsin. Zumindest jetzt noch. In Gedanken zog sie sich auf das Thema ihrer Vorlesung über Donnes Lieder und Sonette zurück. »Dein Geist ist ein ausgezeichnetes Versteck«, hatte ihr Vater ihr einst erklärt, »aber der Geist eines Dichters ist noch besser.«

»Erstürme mein Herz! Dreifältiger Gott, der scheu

Bis jetzt nur anklopft, haucht, heilsam bespricht.

O wirf mich nieder, dass ich mich aufricht!

Brauch deine Kraft, blas, brenn und mach mich neu!«

Nicht zum ersten Mal bewunderte sie Donnes verbale Geschicklichkeit und Beherrschung des Versmaßes. Zufrieden widmete sie sich wieder ihren Noisettes de Chevreuil Cumberland.

Kapitel 10

Dexter richtete den Raum mit der ihr eigenen Geschwindigkeit und Genauigkeit her. Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren, lehrte Underwood fast das Fürchten. Alles, was er ihr voraus hatte, war Erfahrung; doch der Vorteil schrumpfte mit jedem Tag. Underwood wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, ehe Dexter mehr Verantwortung anstrebte und bemerkte, dass er sie zurückhielt. Er fragte sich, ob Julia das Gleiche spürte. Vielleicht war er paranoid. Auf jeden Fall hatte er Angst. Angst vor dem Alleinsein. Underwood war noch nie allein gewesen, aber sehr bald würde er es sein: allein mit sich selbst.

Der Raum füllte sich rasch. Dexter hatte drei Polizisten ausgewählt, die ihr und Harrison bei den Befragungen zur Seite stehen sollten, sowie zwei Sekretärinnen, die den Telefondienst versahen und dafür sorgten, dass Informationen weitergegeben wurden. Sie hatte eine große, weiße Tafel aufgestellt. Neben den offiziellen Tatortfotos hatte Dexter dort ein Bild von Lucy Harrington aufgehängt, das die in St. Peterborough lebenden Eltern des Mädchens zur Verfügung gestellt hatten. In Mordfällen tat sie das immer. Sie wollte die Leute daran erinnern, dass das Opfer nicht nur das Motiv für ein paar schreckliche Fotos abgab, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war.

Psychologisch gesehen zeugte die Idee von einigem Geschick, doch Underwood empfand die Gegenüberstellung als unangenehm. Außer den Fotos hatte Dexter alle Zeitungsartikel über den Goldmedaillengewinn an die Tafel geheftet. Darüber hing ein blaues Blatt Papier, auf dem die bisher bekannten Details des Falls vermerkt waren. Underwood und Leach standen innerhalb eines Halbkreises aus Kunststoffschreibtischen. Die Anwesenden unterhielten sich leise. Marty Farell, der ebenfalls am Fall Harrington mitarbeitete, lehnte an einer Heizung. Er bot Dexter eine Zigarette an. Sie lehnte ab.

Underwood hatte Schwierigkeiten, Ordnung in das Gewirr aus Überlegungen in seinem Kopf zu bringen. Julia infizierte seine Gedanken wie ein Virus. Doch schließlich raffte er alle Energie aus sämtlichen verborgenen Reserven zusammen und richtete sich an sein Publikum.

»Fangen wir an. Lucy Harrington, sechsundzwanzig Jahre alt, allein stehend. Bekannte Schwimmerin, hier in New Bolden geradezu berühmt. Gestern Abend verließ sie gegen elf Uhr einen Empfang im Bürgerhaus und fuhr nach Hause. Der Rückweg dauerte etwa fünfzehn Minuten, falls sie nicht zwischendurch angehalten hat. Wir gehen nicht davon aus, dass sie das tat.

Innerhalb des Hauses wurde sie von hinten angegriffen und getötet. Die Leiche wurde heute Morgen im Badezimmer gefunden, nachdem ein ortsansässiger Journalist des New Bolden Echo einen Tipp bekam – wahrscheinlich vom Mörder selbst.

Ich habe Sergeant Dexter gebeten, eine Liste aller Familienangehörigen und Bekannten der Toten aufzustellen. Dieser Ansatz ist allerdings vermutlich umsonst und dient in gewisser Weise nur dem Ritual. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Serientäter handelt.« Underwood nickte Leach zu, der sich räusperte und mit seinem Bericht begann.

»Die Obduktion hat ergeben, dass der Tod irgendwann zwischen elf Uhr abends und ein Uhr nachts eingetreten ist. Leider können wir den Todeszeitpunkt nicht genauer bestimmen, denn die bekleidete Leiche lag teilweise in kaltem Wasser. Todesursache war ein schweres Hirntrauma als Folge mindestens zweier heftiger Schläge auf die hintere Schädeldecke.«

Er hielt ein grässliches Foto von Lucy Harringtons Hinterkopf hoch. »Das Hinterhauptsbein wurde ziemlich genau in Höhe der Lambdanaht eingedrückt. Der Durchmesser der Verletzung beträgt zirka vier Zentimeter. Vermutlich handelt es sich beim Tatwerkzeug um einen Stahlhammer, ein Metallrohr oder etwas Ähnliches. Wahrscheinlich trat der Tod unmittelbar nach dem ersten Schlag ein. Wenn wir bedenken, was anschließend geschah, können wir dafür nur dankbar sein.

Nachdem der Mörder sein Opfer erschlagen hatte, drehte er den Körper um und entfernte den linken Augapfel mit chirurgischen Instrumenten. Das muss einige Zeit in Anspruch genommen haben.« Leach wischte sich den Schweiß von der Stirn, ehe er fortfuhr. »Zunächst versuchte er es auf medizinische Art und Weise, ging aber später zu roher Gewalt über. Ich schätze, die Operation dauerte zwischen einer und zwei Stunden. Nach der Entfernung des Auges drehte der Täter beide Hähne an der Badewanne auf und setzte den Raum unter Wasser. Die Spurensuche dauert noch an, wir haben allerdings nicht viel Hoffnung.«

Jemand hob die Hand. Es war DC Jensen, eine blonde, sehr attraktive Frau. Viele Köpfe wandten sich zu ihr um.

»War sexueller Missbrauch im Spiel?«, erkundigte sie sich bei Underwood.

»Offenbar nicht«, antwortete er.

»Das Opfer wurde vollständig bekleidet aufgefunden und scheint nicht vergewaltigt worden zu sein. Wir haben weder Bissspuren noch Sperma oder Speichel des Mörders sicherstellen können. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass das viele Wasser eine endgültige Bestätigung unserer Annahme so gut wie unmöglich macht«, fügte Leach hinzu.

Underwood übernahm wieder. »Hinter dem Anwesen ist ein Wald. Ich vermute, dass der Mörder das Haus durch die Eingangstür verließ, nach hinten durch den Garten lief, über den Zaun kletterte – am Zaun fanden wir Blutspuren – und im Wald verschwand.«

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Ein paar Kollegen durchkämmen im Augenblick den Wald, sind aber bisher auf keine Auffälligkeit gestoßen.« Underwood trat vor die Umgebungskarte, die Dexter ebenfalls an die Tafel geheftet hatte. »Die Waldwege enden an diesen Stellen hier.« Mit dem Finger zeigte er auf fünf rote Sterne. »Drei führen zur London Road und zwei zur Hartfield Road – hier und hier. Wenn er ein Auto benutzte – und das ist sehr wahrscheinlich angesichts der Tatsache, dass er nach dem Mord über und über mit Blut besudelt gewesen sein muss – dann muss er in der Nähe einer dieser Stellen geparkt haben. Ich möchte, dass Sie alle Anwohner befragen, ob sie einen Wagen oder Lieferwagen beobachtet haben.«

DS Harrison hatte sich sorgfältig Notizen gemacht. Sein Gesicht zeigte zunehmende Verwirrung. Er blickte zu Underwood auf. »Ich verstehe immer noch nicht richtig, Chef. Wo liegt das Motiv? Es handelt sich mit Sicherheit nicht um einen auf frischer Tat ertappten Einbrecher. Eine Sexualstraftat scheidet, soweit wir wissen, aus. Wenn er die Frau einfach nur umbringen wollte – Sie wissen schon, ein Irrer oder so –, dann gab es weiß Gott einfachere Methoden, so etwas zu tun. Und was hat die Sache mit dem Auge zu bedeuten? Der Doc sagt, es hat ziemlich lange gedauert, es zu entnehmen. Zeit ist ein Risikofaktor. Er muss es also wirklich unbedingt gewollt haben.«

»Als Souvenir vielleicht?«, schlug Dexter vor. »Ich habe irgendwo gelesen, dass Psychopathen oft etwas mitnehmen, was dem Opfer gehört hat, damit sie die Tat später besser nacherleben können.«

Harrison schien nicht überzeugt. »Schon, aber warum hat er dann nicht eine Haarsträhne oder ein Kleidungsstück mitgenommen? Wäre doch viel einfacher gewesen – von der Schweinerei ganz zu schweigen. Ich glaube, der Kerl hat ein ziemliches Problem. Sicher wird er die Tat wiederholen.«

Underwood nickte. »Das Auge hat mit ziemlicher Sicherheit eine besondere Bedeutung für ihn. Der Mörder hat übrigens mit dem Blut des Opfers etwas auf die Badezimmerwand geschrieben. Wissen wir schon, was es bedeutet, Dex?«

»Noch nicht, Sir.« Sie schlug ihr Notizbuch auf und las laut vor: »Nicht Flut, dass ich ertrink in deiner Sphäre.«

»Wasser«, sagte Harrison. »Er hat doch das Haus unter Wasser gesetzt. Vielleicht wollte er uns nicht nur in die Irre führen. ›Dass ich ertrink in deiner Sphären.‹ ›Sphäre‹ könnte Auge bedeuten. Ertränke mich nicht in deinen Tränen. Hört sich fast an wie ein Liebeslied.«

Unwillkürlich sah Underwood die blutige Augenhöhle und das Wasser vor sich. Augen. Wasser. Blut. Harrison hatte alles miteinander verbunden. Es war eine Idee. Jetzt ging es richtig los.

»Dex, nehmen Sie Harrison zu Hilfe, wenn Sie nach der Herkunft des Textes suchen.« Dexter nickte und warf Harrison einen finsteren Blick zu. Es störte sie, dass er eine Verbindung gefunden hatte, die ihr nicht aufgefallen war. Underwoods Bitte implizierte zudem, dass er Harrison für fähiger hielt, den Ursprung des Satzes zu finden. So etwas nagte an ihr. Doch nachdem ihr die brutalen Eigentümlichkeiten des Mordes bewusst geworden waren, musste sie sich eingestehen, mit Harrison in einer Sache übereinzustimmen: Das war erst der Anfang gewesen.

Kapitel 11

Heather Stussman verließ ihre Wohnung im Osbourne Court des Southwell Colleges. Auf dem Weg schaute sie in der Portiersloge vorbei. Es war später Nachmittag. Der englische Landregen hatte endlich aufgehört. Dann und wann blitzte ein Sonnenstrahl durch graue Wolkenfetzen und spiegelte sich in den Pfützen, die sich an den Hofecken gesammelt hatten. Der Regen hatte die Touristen verscheucht, das alte College strahlte eine wunderbare Ruhe aus. Die Luft war klar und scharf wie ungeschliffenes Glas. Von jetzt an würde es vielleicht aufwärts gehen.

Der Portier Mr. Johnson nickte Stussman kurz zu, als sie den kleinen Raum betrat. Er sagte nichts. Vermutlich stand er ihr ebenso gleichgültig gegenüber wie McKensie und Dixon. Ihr Postfach quoll fast über: Flugblätter, Ankündigungen von Musikabenden, ein Brief ihres Verlegers, ein Brief von ihrer Mutter und ein weiterer Brief. Die spinnenartige Schrift war ihr unbekannt. Sie stopfte den Papierstapel in ihren Rucksack und machte sich auf den Weg die Trumpington Street hinauf. An der Kreuzung Silver Street wandte sie sich nach links und überquerte den Fluss auf der Silver Street Bridge. Vom The Anchor wehten Bierdünste zu ihr hinüber.

Die Vorlesungsreihe »Die Rekonstruktion John Donnes« basierte auf ihrem letzten Buch. Stussman hatte das orthodoxe akademische Denken über Metaphysische Poesie mit einer Heftigkeit abgeurteilt, die sie inzwischen bereute. Die NewYork Times Book Review hatte das kritische Echo auf den Punkt gebracht: »Stussmans Angriff auf den Poststrukturalismus ist eher seiner Vitalität als seiner Strenge wegen erwähnenswert.« Die anderen Rezensionen waren nicht viel besser. »Versuchen Sie, Dr. Stussman auf ihren düsteren intellektuellen Pfaden aus dem Weg zu gehen«, hatte die Washington Post gewarnt. »Das Gift, das sie verspritzt, ist gemeingefährlich.«

Doch am schlimmsten war die Besprechung im Sunday Telegraph ausgefallen, in der sie als »eine vermutlich Verrückte, der jegliches Mitgefühl abgeht und die man am liebsten zum Schweigen bringen würde« beschrieben wurde. Die kontroverse Diskussion über das Buch hatte zu Verkaufszahlen geführt, die alle Erwartungen übertrafen. Ihre Vorlesungen waren außergewöhnlich gut besucht, und das, obwohl die alte Garde der Fakultät ihr die ausgesprochen unbeliebte Vorlesungszeit um fünf Uhr nachmittags zugeschustert hatte. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, dass sie ihr nichts Gutes gönnten, doch das bezweifelte sie.

Die Fakultätsgebäude konnte man nur als architektonischen Horror bezeichnen. Die bedrückende Ansammlung von Gebäuden erinnerte an ein Militärhospital im ehemaligen Ostblock. Die Vorlesungsräume waren nicht viel besser: klein, schlecht belüftet und unbequem. Manchmal sehnte sich Stussman nach dem luftigen Auditorium der Universität von Wisconsin, das mit fernbedienbaren Diaprojektoren und einem Lautsprechersystem ausgestattet war. Aber immerhin war der Hörsaal voll – nicht viele Professoren genossen so viel Aufmerksamkeit. Schon in der zweiten Woche in Folge fiel ihr auf, dass die Zuhörerschaft vorwiegend männlichen Geschlechts war. Nächstes Mal würde sie lange Hosen anziehen.